RÜCKKEHR ZUR MENSCHLICHKEIT
NEUE WERTE IN EINER GLOBALISIERTEN WELT
Aus dem Englischen von Waltraud Götting
RÜCKKEHR ZUR MENSCHLICHKEIT
NEUE WERTE IN EINER GLOBALISIERTEN WELT
Aus dem Englischen von Waltraud Götting
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen.
Titel der englischen Originalausgabe:
»Beyond Religion: Ethics for a Whole World«
Für die Originalausgabe:
Copyright © by Tenzin Gyatso, the Fourteenth Dalai Lama of Tibet, 2011
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2011 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dr. Anita Krätzer
Umschlaggestaltung: Gisela Kullowatz
Umschlagmotiv: © shutterstock/nagib
E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-8387-1020-4
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Als ich dieses Buch schrieb, hatte ich das Glück, von dem gleichen, noch um ein paar weitere Personen verstärkten Team unterstützt zu werden, mit dem ich bereits beim Buch der Menschlichkeit zusammengearbeitet habe. Ich möchte daher den beteiligten Mitarbeitern meines Privatbüros für ihr großes Engagement, meinem langjährigen Übersetzer Thupten Jinpa Langri für seine unschätzbare Hilfe sowie Alexander Norman und seinem Partner George FitzHerbert für ihre redaktionelle Sorgfalt danken.
Ich hoffe von Herzen, mit dem, was ich hier geschrieben habe, einen Beitrag – und sei er auch noch so klein – dazu leisten zu können, eine von mehr Mitgefühl geprägte, friedlichere Welt zu schaffen. Natürlich werden wir die Welt nicht über Nacht verändern. Und wir werden sie auch nicht mit einem schmalen Büchlein wie dem vorliegenden ändern. Die Veränderung kann sich nur schrittweise durch ein wachsendes Bewusstsein einstellen, und das Bewusstsein wird durch Bildung entstehen. Wenn die Leserin oder der Leser in diesem Buch irgendetwas Nützliches findet, hat sich unsere Mühe gelohnt. Wer allerdings nichts dergleichen findet, sollte keine Hemmungen haben, es aus der Hand zu legen.
Dharamsala
Juni 2011
Ich bin jetzt ein alter Mann. Geboren wurde ich 1935 in einem kleinen Dorf im Nordosten Tibets. Aus Gründen, die nicht meinem Einfluss unterliegen, habe ich den größten Teil meines Erwachsenenlebens als staatenloser Flüchtling in Indien zugebracht, das seit über fünfzig Jahren meine zweite Heimat ist. Ich bezeichne mich oft scherzhaft als Indiens Gast mit der längsten Verweildauer. Ebenso wie andere Menschen in meinem Alter habe ich viele der dramatischen Ereignisse miterlebt, welche die Welt, in der wir leben, geformt haben. Seit Ende der 1960er Jahre bin ich auch viel in der Welt herumgekommen und hatte die Ehre, Menschen unterschiedlichster Herkunft kennenzulernen – nicht nur Präsidenten und Premierminister, Könige, Königinnen und die Oberhäupter aller Weltreligionen, sondern auch unzählige Durchschnittsmenschen aus allen gesellschaftlichen Schichten.
Wenn ich auf die vergangenen Jahrzehnte zurückblicke, sehe ich viel Grund zur Freude. Dank des medizinischen Fortschritts wurden tödliche Krankheiten besiegt. Millionen Menschen wurden aus der Armut befreit und haben Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung bekommen. Wir haben eine UN-Menschenrechtscharta, und das Bewusstsein für die Bedeutung dieser Rechte hat ungemein zugenommen. Das hatte zur Folge, dass sich der Gedanke der Freiheit und der Demokratie in der Welt weiter verbreitet hat, und es wächst die Erkenntnis, dass die Menschheit ein zusammengehöriges Ganzes ist. Auch die Bedeutung einer intakten Umwelt wird uns zunehmend bewusst. In vielerlei Hinsicht waren die letzten fünfzig Jahre eine Zeit des Fortschritts und der positiven Veränderungen.
Gleichzeitig gibt es ungeachtet der großen Fortschritte in sehr vielen Bereichen immer noch großes Leid, und es türmen sich weiterhin gewaltige Schwierigkeiten und Probleme vor der Menschheit auf. Während die Menschen in den reicheren Ländern der Welt ein von hohem Konsum geprägtes Leben führen, können unzählige Millionen nicht einmal ihre elementarsten Bedürfnisse befriedigen. Mit dem Ende des Kalten Krieges ist die Gefahr eines weltweiten Atomkrieges in den Hintergrund getreten, aber immer noch leiden viele Menschen unter den tragischen Folgen bewaffneter Konflikte. In vielen Teilen der Welt haben Menschen zudem mit Umweltproblemen zu kämpfen, die ihren Lebensunterhalt bedrohen oder noch schlimmere Konsequenzen für sie haben, während sich andere in einem Umfeld der Ungleichheit, Korruption und Ungerechtigkeit behaupten müssen.
Nöte dieser Art sind nicht auf die Entwicklungsländer beschränkt. Auch die reichen Industrienationen sehen sich mit Problemen konfrontiert, zu denen weitverbreitete gesellschaftliche Probleme wie Alkoholismus, Drogenmissbrauch, häusliche Gewalt und der Zerfall der Familie gehören. Die Menschen machen sich Sorgen um ihre Kinder, um deren Bildung und Erziehung und darum, was die Zukunft für sie bereithält. Zu alledem müssen wir erkennen, dass wir mit unserer Lebensweise unseren Planeten möglicherweise unwiderruflich zerstören, und auch das ist eine Bedrohung, die weitere Ängste erzeugt. Und all die Belastungen unserer Zeit führen dazu, dass wir unter Stress, Angstgefühlen und Depressionen leiden und zunehmend vereinsamen. Die Folge ist, dass die Menschen, wohin ich auch komme, klagen. Sogar ich selbst ertappe mich manchmal dabei, dass ich klage!
Fest steht, dass in der Art, wie wir Menschen an die Dinge herangehen, irgendetwas Entscheidendes fehlt. Aber was ist es, das uns fehlt? Das grundlegende Problem besteht meiner Ansicht nach darin, dass wir den äußeren, materiellen Aspekten des Lebens in jeder Hinsicht zu viel Aufmerksamkeit schenken, während wir die ethischen, inneren Werte vernachlässigen.
Mit inneren Werten meine ich die Qualitäten, die wir alle bei anderen schätzen und die in uns angelegt sind, weil wir durch unsere biologische Natur zu den Tieren gehören, die nur in einem Umfeld der Fürsorge, Zuneigung und Warmherzigkeit – mit einem Wort: des Mitgefühls – überleben und gedeihen können. Das Wesen des Mitgefühls besteht in dem Wunsch, das Leid anderer zu lindern und ihr Wohlergehen zu fördern. Das ist der spirituelle Grundsatz, aus dem alle anderen positiven inneren Werte hervorgehen. Wir alle schätzen an anderen Eigenschaften wie Güte, Geduld, Toleranz, Versöhnlichkeit und Großzügigkeit, und im gleichen Maße sind uns alle Anzeichen von Habgier, Bosheit, Hass und Engstirnigkeit zuwider. Wenn wir also die positiven inneren Qualitäten des menschlichen Herzens fördern, die unserer Grundveranlagung zum Mitgefühl entspringen, und lernen, gegen unsere destruktiveren Neigungen anzukämpfen, wird dies jedermanns Zustimmung finden. Und die Ersten, die von einer solchen Stärkung unserer inneren Werte profitieren, sind zweifellos wir selbst. Wenn wir gleichgültig sind gegenüber unserem Innenleben, tun wir dies auf eigene Gefahr, denn ein großer Teil der gravierendsten Probleme, mit denen wir in der heutigen Welt konfrontiert sind, ist das Ergebnis dieser Gleichgültigkeit.
Vor kurzem war ich in Orissa, einem Bundesstaat im Osten Indiens. Die Armut, die in diesem Teil des Subkontinents vor allem unter den Stammesvölkern herrscht, hat in den vergangenen Jahren zunehmend zu Konflikten und Unruhen geführt. Bei einem Treffen mit einem Parlamentsmitglied aus der Region habe ich das Thema angesprochen. Ich erfuhr, dass es bereits Gesetze zum Schutz der Stammesvölker sowie eine Reihe finanziell gut ausgestatteter Regierungsprogramme zur Verbesserung ihrer Lebenssituation gibt. Das Problem, so sagte mein Gesprächspartner, sei aber, dass die von der Regierung zur Verfügung gestellten Mittel diejenigen, für die sie bestimmt seien, nicht erreichen. Wenn solche Hilfsprojekte durch die Unfähigkeit, Korruption und Verantwortungslosigkeit derer, die sie leiten sollen, unterlaufen werden, sind sie nutzlos.
Dieses Beispiel zeigt deutlich: Selbst wenn ein System auf gesunden Füßen steht, hängt seine Leistungsfähigkeit davon ab, wie es umgesetzt wird. Letztlich können alle Systeme, Gesetze und Maßnahmen nur so wirkungsvoll sein wie die Menschen, die für ihre Umsetzung verantwortlich sind. Wenn ein gutes System aufgrund mangelnder persönlicher Integrität missbraucht wird, kann es leicht mehr Schaden als Nutzen stiften. Das ist eine allgemeine Wahrheit, die für alle Bereiche des menschlichen Tuns gilt, selbst für die Religion. Auch sie kann, wenn sie missbraucht wird, zu einer Quelle des Streits und der Spaltung werden, obwohl ihr sicher die Möglichkeit innewohnt, den Menschen dabei zu helfen, ein sinnvolles und glückliches Leben zu führen. Gleiches gilt für den Handel und die Finanzen: Auch wenn die Systeme selbst gesund sein mögen, werden ihre Vorteile unterminiert, wenn sie von skrupellosen Menschen benutzt werden, deren Denken und Tun von Eigennutz und Habgier bestimmt sind. Leider können wir dies in vielen gesellschaftlichen Bereichen beobachten, sogar im internationalen Sport, wo Korruption oft das fundamentale Prinzip des Fair Play gefährdet.
Natürlich sind sich viele scharfsichtige Menschen dieser Probleme bewusst und versuchen in ihrem eigenen beruflichen Umfeld ernsthaft dagegen anzugehen. Politiker, Beamte, Anwälte, Pädagogen, Umweltschützer, Aktivisten und andere – Menschen aus allen erdenklichen Bereichen – engagieren sich bereits in diesem Sinne. Tatsache ist jedoch, dass wir, so positiv diese Bemühungen auch sein mögen, unsere Probleme nicht allein dadurch lösen werden, dass wir neue Gesetze und Vorschriften erlassen. Letztendlich sind unsere Probleme auf der individuellen Ebene angesiedelt. Wenn es den Menschen an Werten und Integrität fehlt, reicht das beste Regel- und Gesetzeswerk nicht aus. Solange sich das Hauptinteresse der Menschen auf materielle Werte richtet, wird es Ungerechtigkeit, Ungleichheit, Intoleranz und Habgier – alles äußere Zeichen einer Vernachlässigung der inneren Werte – geben.
Was also sollen wir tun? Wo sollen wir Hilfe suchen? Die Wissenschaft hat bisher bei allem Nutzen, den sie für die materielle Welt gebracht hat, noch keine wissenschaftliche Basis für die Entwicklung der Grundlagen persönlicher Integrität geliefert, also für die elementaren inneren Werte, die wir an anderen schätzen und die in uns selbst zu fördern wir gut beraten wären. Vielleicht sollten wir die inneren Werte in der Religion suchen, wie es die Menschen jahrtausendelang getan haben? Sicher, die Religion hat in der Vergangenheit Millionen Menschen geholfen, hilft heute noch Millionen und wird dies auch in der Zukunft tun. Aber so hilfreich sie als moralische Orientierungshilfe und als Sinnstiftungsmoment für uns auch sein mag – in der säkularen Welt von heute reicht die Religion als ethische Grundlage nicht mehr aus. Einer der Gründe hierfür ist, dass viele Menschen keiner bestimmten Religion mehr anhängen. Ein weiterer Grund liegt darin, dass die Menschen im Zeitalter der Globalisierung und in multikulturellen Gesellschaften immer stärker miteinander vernetzt sind und eine in einer bestimmten Religion verwurzelte Ethik nicht für alle eine Bedeutung hat, sondern nur einige von uns anspricht.
Früher, als die Völker noch relativ isoliert voneinander waren – wie wir Tibeter beispielsweise, die wir viele Jahrhunderte lang einigermaßen glücklich hinter unserer Wand aus Bergen lebten –, war es kein Problem, dass die einzelnen Gemeinschaften ihre jeweils eigenen, religiös begründeten ethischen Einstellungen vertraten. Doch keine auf der Basis einer Religion entwickelte Antwort auf das Problem der Vernachlässigung unserer inneren Werte kann heute für alle gelten, und deshalb ist solch eine Basis nicht mehr angemessen. Was wir heute brauchen, ist eine ethische Grundlage, die sich nicht auf Glaubenssysteme bezieht und daher sowohl für religiöse als auch für nichtreligiöse Menschen annehmbar ist: eine säkulare Ethik.
Diese Aussage mag aus dem Munde eines Mannes, der von klein auf die Mönchskutte getragen hat, seltsam klingen. Aber ich sehe darin keinen Widerspruch. Mein Glaube schreibt mir vor, mich für das Wohlergehen und den Nutzen aller empfindenden Wesen einzusetzen, und ich handele vollkommen in diesem Sinne, wenn ich über meine eigene Religion hinaus auch den Angehörigen anderer Religionen und jenen, die keiner Religion angehören, die Hand reiche.
Ich bin zuversichtlich, dass es möglich und lohnend ist zu versuchen, einen neuen Weg zu einer allgemeingültigen säkularen Ethik zu beschreiten. Diese Zuversicht speist sich aus meiner Überzeugung, dass alle Menschen im Grunde ihres Wesens zu dem neigen oder zu dem streben, was wir als gut empfinden. Was wir auch tun, wir tun es, weil wir glauben, dass es in irgendeiner Weise nützlich ist. Zugleich wissen wir alle die Güte anderer zu schätzen. Wir alle fühlen uns naturgemäß zu den elementaren menschlichen Werten der Liebe und des Mitgefühls hingezogen. Uns allen ist Nächstenliebe angenehmer als Hass gegenüber anderen. Die Großzügigkeit anderer ist uns lieber als ihre Gemeinheit. Und wer von uns würde nicht lieber mit Toleranz, Respekt und Nachsicht behandelt werden als mit Engstirnigkeit, Nichtachtung und Feindseligkeit?
Angesichts dessen bin ich fest davon überzeugt, dass wir über Wege und Mittel verfügen, eine Basis für unsere inneren Werte zu schaffen, die keiner Religion widerspricht, aber auch, und das ist von entscheidender Bedeutung, von keiner Religion abhängig ist. Im Verlauf dieses Buches werde ich Vorschläge für die Entwicklung und Umsetzung eines solchen neuen Ethiksystems machen. Ich hoffe, auf diese Weise zu einem besseren Verständnis der Notwendigkeit einer ethischen Bewusstheit und innerer Werte in unserem Zeitalter des ausufernden Materialismus beitragen zu können.
Von Anfang an möchte ich klarstellen, dass ich nicht die Absicht habe, moralische Werte zu diktieren. Das würde niemandem nützen. Der Versuch, anderen moralische Grundsätze von außen aufzuzwingen und sie sozusagen auf Befehl vorzuschreiben, wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt. Vielmehr appelliere ich an jeden Einzelnen von uns, sein eigenes Verständnis von der Bedeutung innerer Werte zu entwickeln. Denn diese inneren Werte bilden den Urgrund, aus dem sich sowohl eine ethisch harmonische Welt als auch der individuelle innere Frieden, die Zuversicht und das Glück, nach dem wir alle streben, speisen. Natürlich können alle großen Weltreligionen mit ihrer Betonung der Liebe, des Mitgefühls, der Geduld, der Toleranz und der Versöhnlichkeit innere Werte fördern, und das tun sie auch. Aber angesichts der Realität unserer heutigen Welt ist es nicht mehr angemessen, die Ethik auf die Religion zu gründen. Darum ist es, glaube ich, an der Zeit, unserem Verständnis von Spiritualität und Ethik einen neuen Weg jenseits der Religion zu eröffnen.