In die Falle gehen alle

Hunsrück-Krimi Band V

Heinz-Peter Baecker


ISBN: 978-3-86911-509-2
1. Auflage 2015, Simmern (Deutschland)
© 2002 Pandion Verlag, Simmern, Deutschland

Titelfoto: © hajo

Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

1.

Der Funkwecker begann leise zu piepsen. Monika Meyer-Liebrecht hatte die Weckzeit am Vortag um eine Stunde vorgestellt. Sie wollte nach dem Aufstehen ihre heutige Antrittsrede als Ministerin noch einmal durchlesen.

Obwohl sie den Wecker schnell abschaltete, schreckte ihr Mann sofort hoch und blickte sich schlaftrunken im Halbdunkel des Zimmers um.

„Wie spät?“, murmelte er.

„Halb sechs“, flüsterte sie und kuschelte sich an seinen warmen Körper.

Er grummelte zufrieden und nahm sie in den Arm, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und begann zärtlich ihren nackten Körper zu streicheln.

„Immer noch aufgeregt?“, erkundigte er sich leise und spürte ihr Nicken an seiner Schulter. Er fuhr ihr beruhigend mit der Hand durch die blonden Locken und schob ein Knie zwischen ihre Schenkel.

„Nicht“, wehrte sie ab. „Ich muss meine Rede noch mal durchgehen.“

Sie löste sich aus seiner Umarmung, schlüpfte unter der Bettdecke hervor und tastete fröstelnd mit den Füßen nach ihren Hausschuhen. Vergebens. Ach so, ja, gestern Abend … Sie musste schnell noch die Kleidungsstücke im Wohnzimmer und in der Diele zusammensuchen, bevor Aysha kam, ihr türkisches Hausmädchen! Man wusste ja nie, wie anfällig diese jungen Mädchen waren, wenn neugierige Journalisten geschickt mit Geld lockten, um Informationen aus dem Privatleben von Politikern zu bekommen. Gerade jetzt waren viele Medien scharf auf Intimes aus dem Leben der neu ernannten Ministerin. Da war besondere Vorsicht geboten.

Doch zunächst trieb die Neugier die junge Frau ans Fenster. Erich Meyer-Liebrecht stützte sich auf und betrachtete mit unverhohlenem Stolz den schlanken, hoch gewachsenen Körper seiner Frau in dem spärlichen Licht, das durch die Ritzen der Rollläden fiel. Trotz der Geburt zweier Kinder hatte Monika ihre sportliche, wohl proportionierte Figur behalten. Sie konnte sich wirklich sehen lassen – das jüngste Kabinettsmitglied der rheinland-pfälzischen Landesregierung!

Die Ministerin zog langsam, um möglichst wenig Geräusch zu verursachen, einen Rollladen hoch und spähte hinunter in den Vorgarten. Schon einen Tag nach ihrer Ernennung war dort ein Wachencontainer für den Personenschutz aufgestellt worden. Halb Morbach war seither am Grundstück der Meyer-Liebrechts vorbeispaziert, rein zufällig natürlich. Eine leibhaftige Ministerin in den eigenen Reihen, mit der einige noch zur Schule gegangen waren, und dazu Tag und Nacht Personenschutz – das erregte Aufsehen in der Hunsrückgemeinde.

Im fahlen Morgenlicht erblickte die Ministerin die bullige Gestalt von Karl Gifhard, der für die Nachtschicht eingeteilt war. Als er das Aufziehen des Rollladens oben bemerkte, drückte er seine Zigarette am Fensterrahmen des Containers aus und blickte freundlich lächelnd am Haus empor.

Hastig machte die Ministerin einen Schritt zurück, um nicht entdeckt zu werden. An den ständigen Schatten, wie alle die Leute vom Personenschutz nannten, hatte sie sich noch nicht so recht gewöhnt. Aber Ministerpräsident Beck hatte ihr gleich nach ihrer Ernennung versichert, dass alles halb so schlimm sei und man rasch mit diesen Dingen zu leben lernte.

Sie eilte aus dem Schlafzimmer und gab im Vorbeigehen ihrem Mann, der inzwischen ebenfalls aufgestanden war, einen Klaps auf den nackten Po.

„Aber, aber, Frau Ministerin!“, mahnte er mit gespielter Strenge.

Sie lachte nur leise, hastete die Treppe hinunter in den Wohnbereich, sammelte rasch die überall verstreuten Kleidungsstücke von sich selbst und ihrem Mann ein und räumte auch die leere Sektflasche und die zwei Gläser weg.

„Den Anzug kannst du heute nicht anziehen“, rief sie, wieder die Treppe hinaufgestiegen, in die offen stehende Badezimmertür. „Aysha muss die Hose erst aufbügeln.“

„Wie Sie meinen, Frau Ministerin!“, kam es vergnügt zurück. Dann begann der Rasierapparat im Bad zu surren.

Sie schüttelte den Kopf. An den neuen Titel musste sie sich auch erst noch gewöhnen! Im Vorbeigehen lauschte sie an den Kinderzimmern. Manuela und Robert schienen noch zu schlafen. Zumindest war nichts von drinnen zu hören. Rasch warf sie sich den lachsfarbenen Morgenmantel über, schlüpfte in die Hausschuhe und stieg, je zwei Stufen auf einmal nehmend, die schmale Treppe hinauf in das kleine Arbeitszimmer im ausgebauten Dachgeschoss. Im Schneidersitz nahm sie auf der alten Couch Platz, die noch aus ihrer Studentinnenzeit stammte, und schaltete die Stehlampe ein. Die Blätter ihrer Rede waren vom vielen Lesen schon abgegriffen. Gut, dass sie gestern gleich einen zweiten Ausdruck angefertigt hatte!

„Herr Ministerpräsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren! Rheinland-Pfalz gehörte schon immer zu den Bundesländern, die – lassen Sie mich diese Bildsprache verwenden – die Nase vorn hatten. So ist es mir nicht nur eine große Freude, sondern auch eine große Herausforderung, als jüngstes Kabinettsmitglied …“

Inzwischen beherrschte sie die Rede schon fast auswendig. Trotzdem hatte sie sich mit kleinen Strichen und Haken Pausen und Betonungen eingezeichnet. Hoffentlich wurde sie nicht zu oft durch Zwischenrufe unterbrochen! Zwar hatte sie bereits als Staatssekretärin in der letzten Legislaturperiode etliche Reden halten müssen, aber ein Ministeramt war doch noch mal etwas anderes. Und als jüngstes Kabinettsmitglied würde sie besonders im Rampenlicht stehen. Auch der Südwestrundfunk hatte sich angemeldet und würde die Sitzung live im Fernsehen übertragen. Das war eine Seltenheit und wurde nur bei besonderen Anlässen und Themen so gehandhabt.

Ein klein wenig hatte sie sich diesmal beim Verfassen der Rede von ihrem Mann helfen lassen. Immerhin hatte er, knapp zehn Jahre älter als sie und ein erfolgreicher Rechtsanwalt, schon etliche brisante Reden und feurige Plädoyers gehalten und wusste, wie man mit sorgfältigen Formulierungen und Wortspielen Effekte erzielte.

Als sie auf der vierten Seite angelangt war, hörte sie von der Treppe her ein leises Geräusch. Sie blickte auf.

Manuela, ihre siebenjährige Tochter, stand barfuß im Nachthemd in der Tür. Schlaftrunken blinzelte sie zu ihr hinüber.

„Mama, darf der Dennis auch zu meiner Geburtstagsfeier kommen?“

Ihre Mutter legte belustigt die Blätter beiseite. „Aber Maus, bis zu deinem Geburtstag ist noch soo lange hin! Jetzt hast du erst mal noch drei Wochen Schule, dann kommen die Sommerferien, und dann erst ist dein Geburtstag!“

Manuela kuschelte sich neben sie auf die Couch und schmiegte sich an ihre Schulter.

„Aber dann darf der Dennis zu meinem Geburtstag kommen?“, beharrte sie.

„Klar, warum nicht?“ Zärtlich strich die Mutter ihrer Kleinen eine blonde Locke aus der Stirn. „Nur solltest du dann noch wenigstens einen anderen Jungen dazu einladen. Sonst fühlt sich der Dennis sicher ziemlich verloren unter all den Frauen!“

Manuelas spitzbübisches Gesicht wurde nachdenklich. „Aber wen soll ich denn noch einladen? Die anderen Jungs sind alle blöd!“

Die Ministerin seufzte. „Hör zu, Mäuschen, das überlegen wir ganz gründlich im Urlaub. Aber jetzt lass die Mama noch ein paar Minuten in Ruhe etwas lesen, einverstanden?“

„Lies mir vor, bitte!“

Ihre Mutter lachte und griff nach ihrem Manuskript. „Damit beweist Rheinland-Pfalz, dass nicht mehr der Begriff notwendiger Generationenwechsel die politische Erneuerung prägt, sondern …“

„Mann, das ist ja ätzend langweilig!“ Maulend tappte Manuela zur Tür. „Ich geh runter zum Papa.“

„Tu das!“, stimmte die Ministerin zu und vertiefte sich wieder in ihre Rede.

 

Schwungvoll betrat der Handelsvertreter Rolf Meissner mit seinem schwarzen Pilotenkoffer das Büro der Autovermietung Kiefer im Cochemer Stadtteil Brauheck. Zuvor hatte er seinen Voyager in die nahe Chrysler-Werkstatt zur Inspektion gebracht.

„Tach!“

Der junge Mann der Autovermietung erkannte den korpulenten Mittdreißiger sofort wieder, auch an der wulstigen Stirn und der auffallend rosigen Gesichtsfarbe. Vor ein paar Tagen hatte dieser Mann einen Mondeo für heute reserviert. „Ich habe so weit schon alles vorbereitet, Herr …“, er warf einen Blick auf die Vertragsunterlagen, „Meissner! Ich benötige nur noch Ihren Führerschein.“

Etwas umständlich zog Meissner seine pralle Brieftasche aus dem Jackett, nahm eine kleine Plastikkarte heraus und überreichte sie dem jungen Mann.

„Wahrscheinlich bringe ich den Wagen heute bis 17 Uhr wieder zurück“, erklärte er. „Es sei denn, bei der Inspektion wird eine größere Sache entdeckt und die Reparatur dauert länger.“

„Kein Problem, Herr Meissner, nur rufen Sie bitte an, sobald Sie wissen, ob der Mietwagen auch morgen noch benötigt wird.“

Der junge Mann schob Meissner den Vertrag hin. Der Handelsvertreter unterschrieb, sammelte Wagenschlüssel, Fahrzeugpapiere und seinen Führerschein ein und nickte dem jungen Mann zum Abschied freundlich zu.

„Also dann, bis heute Nachmittag oder – ich rufe an!“

Mit der freien Hand packte er seinen Pilotenkoffer und verließ beschwingt das Büro. Den Mietwagen hatte er auf dem Parkplatz der Autovermietung schnell gefunden. Er warf seinen Koffer in den Kofferraum und überzeugte sich durch einen schnellen Rundgang ums Auto davon, dass keine sichtbaren Schäden am Fahrzeug waren. Dann warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. Die Übergabe war zügig verlaufen, er lag gut in der Zeit.

Ächzend schob er sich in den Wagen. Gar nicht so leicht bei seiner Körperfülle. Ein Mondeo war eben kein Voyager.

 

Günter Berger schnappte sich den Trenchcoat von der Garderobe, griff nach seiner abgewetzten Aktentasche und warf noch einen letzten Blick in den Wandspiegel in der Diele. Die schwarzen Haare standen ihm wirklich gut, hätte er gar nicht gedacht! Nervös fuhr er sich erneut durchs Haar. Von Hause aus war er eigentlich ein ruhiger und besonnener Mensch, der sich immer gut im Griff hatte, wenn es wirklich darauf ankam. Aber in den letzten zwei Stunden hatte er nicht verhindern können, dass sich eine gewisse Nervosität bei ihm eingeschlichen hatte. Immerhin hing heute einiges von ihm ab!

Bevor der arbeitslose Elektronikingenieur in den bereits von Rost befallenen Polo, den früheren Wagen seiner geschiedenen Frau, einstieg, warf er einen kurzen Blick hinauf zum Himmel. Reichlich grau verhangen! Aber Hartmut Mühlbauer von der Wetterredaktion des SWR hatte noch vor wenigen Minuten angekündigt, es würde trocken bleiben und sogar im Laufe des Vormittags sonnig werden. Na, hoffentlich! Günter hasste Regen, vor allem, wenn er ohne Schirm unterwegs war. Und heute musste er, komme was wolle, ohne Schirm agieren.

Die Fahrt von seiner Wohnung zur Tankstelle an der Ortsausgangsstraße von Emmelshausen war kurz. Der Tankstelle war eine Autovermietung angeschlossen. Günter stellte den Polo gegenüber der Tankstelle auf dem Parkplatz ab, auf dem sich auch die Miet-Lkw befanden. Einer davon war für ihn reserviert. Die Formalitäten mit Herrn Weinand, dem Tankstellenpächter, hatte er schnell erledigt. Dann schwang er sich in das Fahrerhaus, legte die Fahrtenschreiberscheibe ein und ließ den Dieselmotor vorglühen.

Mit einem leichten Satz setzte sich der Lkw in Bewegung. Verdammt, er hatte die Kupplung zu schnell losgelassen! Wie lange war es her, dass er einen so großen Wagen mit Kofferaufbau gefahren hatte!? Egal. Jetzt musste er erst noch einmal zu seinem Haus zurück und aus der Garage die langen Alu-Rampen einladen, die er eigens hatte anfertigen lassen.

 

Piotr Szalbowski und Ursula Felten räkelten sich im Wohnschlafzimmer der kleinen Wohnung auf der Bettcouch und rauchten gemeinsam eine Zigarette.

„Ich wünschte, es wäre schon Nachmittag“, stöhnte Ursula und blies den Rauch gegen die Decke.

„Hey, Baby, wovor hast du Angst?“, amüsierte sich ihr Freund.

Piotr war in Morbach geboren, aber polnischer Abstammung. Seine Eltern waren im Dritten Reich aus Polen geflüchtet und über Frankreich und Spanien schließlich im Hunsrück gelandet. Seit knapp zwei Jahren lebte der 32-Jährige mit seiner vier Jahre älteren Freundin zusammen. Kennengelernt hatten sie sich beim Tanken, als sie ihren Tankdeckel nicht geöffnet bekam. Es schien für beide so etwas wie Liebe auf den ersten Blick gewesen zu sein, obwohl sie vom Aussehen wenig zueinander passten. Der lebenslustige Piotr war klein und schmächtig, die eher zurückhaltende Ursula hingegen mollig und ein gutes Stück größer als er.

Bereits nach einem Monat waren sie auf sein Drängen zusammengezogen. Kurze Zeit später hatte Piotr seine Anstellung als Werbegrafiker wegen Insolvenz seines Arbeitgebers verloren. Seither lebten sie von Ursulas Sekretärinnengehalt, das hier im tiefen Hunsrück nicht überwältigend hoch ausfiel. Doch Piotr machte zu Ursulas Leidwesen keine großen Anstalten, eine neue Arbeit zu finden. Er schien das Lotterleben zu genießen. Deshalb hatte es in letzter Zeit immer wieder lautstarke Auseinandersetzungen gegeben. Und immer wieder hatte Piotr seine Usch vertröstet und ihr zugesichert, mehrere Eisen im Feuer zu haben – die allerdings jedes Mal schnell wieder verglühten.

„Angst habe ich nicht, aber es wäre mir trotzdem wohler, wenn alles vorbei wäre“, meinte Ursula und reichte Piotr die Zigarette. „Und sag nicht immer Baby zu mir!“

Piotr grinste breit. „Nichts ist heute Nachmittag vorbei, dann geht es doch erst richtig los!“ Er machte einen Lungenzug, ließ den Rauch zur Nase entweichen und rollte sich zu seiner Freundin hin. „Es kann gar nichts schief gehen, Baby. Wenn das Timing stimmt, wird alles ablaufen wie im Film. Und du wirst sehen, es wird ein grandioser Film mit Happyend!“

Er richtete sich im Bett auf und griff nach der Fernbedienung des Fernsehers, der auf einem kleinen Tisch gegenüber der Bettcouch stand. Mit einem leisen Zischen schaltete sich das Gerät ein. Piotr zappte durch die Kanäle, bis die Buchstaben RP in der oberen Ecke zu sehen waren. Über den Bildschirm flimmerte ein Aerobic-Programm. Er schaltete den Ton weg, ließ sich wieder zurück in sein Kopfkissen fallen und blickte auf seine protzige Armbanduhr.

„Jetzt werden sich Rolf und Günter wohl gerade in Brodenbach treffen.“

Auch Ursula blickte auf ihre Uhr.

„Noch zwei Stunden“, flüsterte sie und nahm ihrem Freund ungeduldig die Zigarette aus dem Mund.

 

Tatsächlich wartete Günter bereits auf dem Parkplatz an der Uferstraße in Brodenbach. Er hatte das Seitenfenster heruntergekurbelt und die Augen geschlossen. Der leichte Morgenwind streifte durch seine gefärbten Haare und spielte mit ihnen. Jedes Mal, wenn ein Fahrzeug in der Nähe des Parkplatzes seine Geschwindigkeit verringerte, blickte Günter auf. Doch wieder war es nicht Rolf.

Die ersten Sonnenstrahlen drangen mühsam durch das Grau der Wolken über dem Moseltal. Günter schaltete das Radio ein und schloss die Augen wieder. Steffi Peña zählte gerade die ganze Liste von Verkehrsbehinderungen auf. Günter mochte ihre Art, so wurden die Staus fast schon zum Vergnügen! Doch es war keine Meldung dabei, die ihn aufhorchen ließ. Nach dem Verkehrsfunk kam wieder Hartmut Mühlbauer mit dem Wetter, und dann ertönte Abbas „Money, money“. Günter musste schmunzeln. War dies nicht ein gutes Omen?

Ein Fahrzeug stoppte neben ihm. Rolf Meissner hatte offenbar denselben Sender eingeschaltet – der Abba-Song aus seinem Wagen übertönte noch den aus Günters Lkw-Lautsprechern.

„Startklar?“, schrie Rolf in die Musik hinein.

Günter hob wortlos den Daumen. Dann startete er den Motor und kurbelte das Fenster hoch. Beim Zurücksetzen des Lkw fiel sein Blick auf die Cochemer Zulassung des Mondeo. Wäre es nach ihm gegangen, hätte man einen Wagen mit Mainzer Zulassung angemietet. Aber das war Rolfs Sache, und der hatte gemeint, für den Fall, dass doch etwas schief ging, sei es unglaubwürdig, dass er sich in Mainz einen Leihwagen nehmen würde, wenn er seinen Wagen in Cochem in die Werkstatt brachte. Sicher, für den wirklichen Ernstfall hatte er Recht, musste Günter zugeben. Aber wer rechnete schon mit einem Ernstfall?

Er legte den Vorwärtsgang ein und folgte Rolf, der sich bereits mit seinem Mondeo vor ihn gesetzt hatte. Der Termin im Bundeswehrkrankenhaus in Koblenz war erst um 9 Uhr. Sie konnten sich Zeit lassen.

 

Aysha hatte wie jeden Morgen frische Brötchen mitgebracht. Sie verbreiteten zusammen mit dem Kaffee einen verführerischen Duft im ganzen Erdgeschoss. Karl Gifhard, den der Hausherr zum Frühstück hereingebeten hatte, stand in dem kleinen Erker und warf immer wieder einen verstohlenen Blick auf die grazile Türkin mit dem hübschen, schmalen Gesicht, den großen dunklen Augen und der aufregenden Figur. Wie attraktiv sie wohl erst ohne ihr Kopftuch wirken würde?

„Na, Karl, sind Sie auch so unausgeschlafen wie ich?“, lächelte sie, während sie geschickt den halben Kühlschrankinhalt auf einem riesigen Tablett hereintrug und auf dem runden Erkertisch verteilte.

„Von wegen unausgeschlafen! Im Dienst ist mit Schlafen überhaupt nichts. Ich kann erst ins Bett gehen, wenn die Ministerin abgeholt und von meinem Kollegen übernommen worden ist.“

Monika Meyer-Liebrecht war die dritte Person im Ministeramt, für die Gifhard als Personenschützer und Chauffeur tätig war. Und jedes Mal war es anders gewesen. Der Vorgänger von Meyer-Liebrecht hätte ihn niemals zum Frühstück gebeten!

Von oben waren Stimmen zu hören. Rasch richtete Gifhard seinen Blick zur Treppe hin. Als Erstes erschien die Ministerin mit ihren etwas herben Gesichtszügen und der modischen Brille. Gifhard sah sofort, dass sie beim Frisör gewesen sein musste, denn ihre Locken lagen im Gegensatz zu sonst fein säuberlich nebeneinander.

Die Ministerin hatte seinen Blick bemerkt. Sie rümpfte die Nase. „Sonst halte ich ja nicht viel von einem Frisör, aber heute, wo auch das Fernsehen da ist …“

Hinter ihr stakste der fünfjährige Robert die Treppe hinunter, seinen Teddy fest unter den Arm geklemmt. Auch er war ein blonder Lockenkopf wie seine Mutter und seine ältere Schwester. Und nun tauchte auch die stupsnasige Manuela, inzwischen angezogen, an der Hand ihres Vaters auf.

„Karl, bringen Sie mich heute in die Schule?“, rief sie Gifhard übermütig entgegen und stürzte sich auf ihn.

Er nahm sie spontan auf den Arm. „Natürlich, kleines Fräulein, wenn mein Kollege rechtzeitig kommt, wird es mir ein Vergnügen sein!“

Manuela strahlte. Sie sah schon die neidischen Blicke ihrer Freundinnen vor sich, wenn sie von dem bulligen Gifhard vor der Grundschule abgesetzt wurde.

„Aber nur, wenn die Schule sowieso auf Ihrem Weg liegt, Karl“, mischte sich die Ministerin ein. „Ich möchte nicht, dass Sie über Ihre offizielle Dienstzeit hinaus arbeiten müssen, zumal es gar nicht zu Ihren eigentlichen Aufgaben gehört.“

„Wir haben die Kinder Ihres Vorgängers, wenn Zeit war, auch immer zum Gymnasium gebracht und abgeholt. Ganz offiziell. Warum sollte das bei Ihnen anders sein?“

Die Ministerin schaute ihn überrascht an. „Ist das denn notwendig?“

Erich legte seiner Frau die Hand auf die Schulter. „Da siehst du, was für eine wichtige Person du jetzt geworden bist!“

 

Ursula hatte ausgiebig geduscht, sich bereits die dunkle Kurzhaarperücke aufgesetzt und den Frühstückstisch gedeckt. Nun stand sie am Fenster, rauchte und schaute träumend auf die grauen Schieferdächer. Aus den Bögen der Dachziegel wurden kleine Meereswellen, Strand und Sonne kamen hinzu … Alles, alles würde anders werden nach dem heutigen Tag!

Noch einmal ging sie in Gedanken die geplanten Schritte durch. Jedes Wort, sogar jede Handbewegung der nächsten Stunden hatte sie immer und immer wieder geübt. Es hing so viel davon ab. Wenn etwas schief ging, wollte auf keinen Fall sie schuld daran sein!

Sie drückte die halb gerauchte Zigarette im Aschenbecher aus und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.

„Setz dich, Baby!“ Piotr hatte im bunt gemusterten Bademantel den Raum betreten und sich am Frühstückstisch niedergelassen. „Dein Umherlaufen kann einen richtig nervös machen!“

„Du hast es ja noch am einfachsten!“, gab Ursula gereizt zurück. Aber auch sie setzte sich an den Tisch und begann eine Scheibe Brot zu streichen.

„Quatsch!“, knurrte er mit vollen Backen. „Erstens hab ich schon eine Meisterleistung mit euren Ausweisen vollbracht, und dann muss ich heute total überzeugend klingen, sonst gehen wir alle baden, Baby!“

Er warf einen Blick zu dem Fernseher, der immer noch tonlos vor sich hin flimmerte. „Ich hoffe nur, dass es keine Verzögerung bei der Übertragung gibt oder die Reihenfolge der Redner geändert wurde.“

Ursula hörte auf zu kauen. „Passiert so was denn öfter?“

„Eigentlich nicht“, korrigierte sich Piotr schnell. „Das ist ungefähr das Einzige, was wir nicht genau kalkulieren können. Aber selbst dann lässt sich noch alles übers Handy regeln.“

Er blickte zum Sideboard, auf dem zwei Handys lagen. Die Dioden der Netzteile leuchteten nicht mehr, also waren die Akkus randvoll geladen. Zufrieden zog Piotr die Kabel aus der Steckdose.

 

Günter und Rolf waren mit ihren Fahrzeugen am Bundeswehrkrankenhaus in Koblenz-Metternich vorbeigefahren und nach links in Richtung Polch abgebogen. Rolf lenkte den Mondeo auf den Autohof kurz vor der Auffahrt zur A 61, Günter parkte seinen Lkw hinter ihm, schloss ab und kam zu Fuß auf ihn zu.

„Jetzt wird's eng für dich“, frotzelte er mit einem Blick auf Rolfs Leibesfülle.

„Die Bemerkung hättest du dir sparen können“, entgegnete Rolf. „Äwa watt seijn muss, muss seijn.“

Er stieg schnaubend aus und sah zu, wie Günter den Kofferraumdeckel des Mondeo öffnete. „Fahr nur ja vorsichtig und meide Schlaglöcher. Sonst soll dich der Teufel holen.“

Er blickte sich unauffällig um. Der Vorplatz war menschenleer. Dann schob er seinen Pilotenkoffer beiseite und stieg schwerfällig in den Kofferraum, darauf bedacht, seinen Anzug nicht zu verknittern.

„Hol noch mal tief Luft!“, lachte Günter und ließ vorsichtig den Kofferraumdeckel ins Schloss fallen.

Immer noch war weit und breit niemand zu sehen. Erleichtert stieg Günter auf der Fahrerseite des Mondeo ein, startete und fuhr zurück in Richtung Bundeswehrkrankenhaus.

 

Martin Markmann war fast zwei Meter groß, auffallend schlank und schlaksig. Er war an diesem Tag für die Frühschicht der Ministerin eingeteilt und fuhr zu ihrer Freude überpünktlich vor. Auch Manuela strahlte. Gifhard konnte sie also in die Schule fahren!

Nachdem sich Rechtsanwalt Dr. Meyer-Liebrecht vor dem Haus von seiner Tochter verabschiedet hatte, gab er seiner Frau einen Kuss auf die Stirn. In Anwesenheit der beiden Sicherheitsbeamten schien ihm das angemessen.

„Ich drück dir die Daumen!“, flüsterte er ihr ins Ohr.

Sie nickte dankbar, nahm tief Luft und ließ sich in den Fond ihres Dienstwagens fallen. Robert, der noch nicht so recht begriff, was sich durch die Berufung seiner Mutter in der Familie geändert hatte, war bei Aysha im Haus geblieben.

Sein Vater winkte den beiden abfahrenden Wagen hinterher, bis sie um die Ecke gebogen waren. Auch er musste jetzt langsam losfahren. Er wollte im Büro noch unbedingt die Post durchsehen, bevor die Antrittsrede seiner Frau im Fernsehen übertragen wurde.

 

Vor der Schranke zum Bundeswehrkrankenhaus hielt Günter an. Der Wachhabende trat ans Fahrerfenster und grüßte höflich.

„Ich habe um neun einen Termin beim Leiter des Materialeinkaufs!“ Günter reichte dem Mann unaufgefordert den Kraftfahrzeugschein und seine Visitenkarte. „Heute Morgen habe ich meinen eigenen Wagen in die Inspektion gebracht und leider meine Papiere darin vergessen. Ich weiß“, entschuldigte er sich, „so etwas ist unverzeihlich. Aber der Kraftfahrzeugschein des Leihwagens und meine Karte müssten Ihnen doch genügen. Ich komme regelmäßig hierher. Vielleicht rufen Sie kurz oben an. Man erwartet mich sicherlich bereits.“

Der junge Mann nickte. „Das geht schon in Ordnung“, meinte er mit einem Blick ins Wageninnere und begann einen Passierschein auszufüllen. „Sie kennen sich hier aus?“

Günter nickte, nahm dankend den Passierschein und seinen Kfz-Schein entgegen und gab sofort Gas. Im Kofferraum gab es ein dumpfes Geräusch. Erschrocken nahm Günter den Fuß vom Pedal und ließ den Wagen gleichmäßig zum Parkplatz rollen. Er hatte Glück. Am Ende des Parkplatzes neben einem olivgrünen Bundeswehrkrankenwagen war noch eine Lücke frei. Behutsam stellte Günter sich dicht neben den Kastenwagen, so dass der Mondeo zum Krankenhaus hin durch das Nachbarfahrzeug verdeckt war. Er stieg aus und blickte sich auf dem Parkplatz um. Zwei Bundeswehrsoldaten, einer davon mit Krücken, waren gerade dabei, eines der abgestellten Fahrzeuge zwei Reihen weiter zu besteigen. Günter tat, als suche er etwas auf dem Rücksitz, und wartete, bis die beiden eingestiegen waren und den Parkplatz verlassen hatten. Dann half er Rolf aus dem Kofferraum.

„Wird auch langsam Zeit!“, schimpfte Rolf mit hochrotem Kopf. „Ganz schön heiß hier drin.“

Er richtete seinen Anzug und griff nach dem Pilotenkoffer.

„Jetzt sieh zu, dass du ganz schnell wieder wegkommst“, sagte er leise, nahm ein Handy aus dem Aktenkoffer und schaltete es ein. „Hast du dein Handy auch eingeschaltet?“

„Schon seit heute früh.“ Günter wies auf sein Jackett.

„Nu dann, toi, toi, toi!“

Während Rolf abwartend hinter dem Kastenwagen stehen blieb, fuhr Günter den Mondeo wieder in Richtung Tor.

Aus dem heruntergelassenen Beifahrerfenster rief er dem Wachmann lachend zu: „Ich habe leider was vergessen, komme gleich zurück! Da kann ich doch sicher den Passierschein behalten?“

Der Wachmann nickte zustimmend und ließ den Schlagbaum hoch.

Als Rolf sah, dass der Mondeo das Krankenhausgelände verlassen hatte, machte er sich schnaufend auf den Weg zu seiner Verabredung.

 

Erleichtert erspähte SWR-Moderator Michael Lueg beim Betreten des Sendegebäudes in Mainz die zufällig offen stehende Aufzugstür. Das kam ihm sehr gelegen! Er war wegen einer Tagesbaustelle auf der Autobahn knapp mit der Zeit. Laut Dienstplan war er verantwortlich für den Vormittagsblock von SWR 1 und musste pünktlich um neun Hanns Lohmann ablösen, der die Morgensendung gefahren hatte.

Im ersten Stock angekommen griff Lueg, die pralle schwarze Aktentasche in der einen Hand, mit der freien Hand die BILD, die ihm Headliner Frank Schanze beim kurzen Guten-Morgen-Blick in die Redaktionstür entgegenhielt.

„Vielleicht findest du was, woraus du was machen kannst“, meinte Schanze missmutig, „heute war bis jetzt noch nicht viel los.“

„Dann wird's ja Zeit, dass ich komme!“, lachte Lueg, und schon schloss sich hinter ihm die Glastür, die den Flur mit den Studios von den Redaktionsräumen trennte.

Etwa auf der Hälfte des Gangs schwenkte der einsneunzig große Moderator mit Schwung nach rechts in die technische Regie und winkte durch die Scheibe seiner Kollegin Birgit Steinbusch im Studio zu. Gegenüber der Moderatorin hatte bereits Steffi Peña vor ihrem Mikrofon Platz genommen, um die Verkehrsnachrichten zu lesen. Doch noch sortierte sie ihre Manuskripte, blickte von Zeit zu Zeit auf den Monitor vor sich und notierte eifrig die letzten Änderungen.

Lueg trat hinter Johannes Held, den Dienst habenden Studiotechniker, der gerade mit Mühlbauer von der SWR-Wetterredaktion in München telefonierte und die Leitung für die bevorstehende 9-Uhr-Schaltung prüfte.

„Alles klar?“, fragte Lueg und legte Held freundschaftlich die Hand auf die Schulter.

„Am liebsten ja!“, gab Held zurück, der immer drei Dinge gleichzeitig und mit höchster Konzentration machen konnte und dabei nicht aus der Ruhe zu bringen war. Gelassen drückte er die Sprechtaste zum Studio.

„Reichen dir zehn für die Absage, Birgit?“

„Sieben reichen mir!“, kam die Antwort über den Lautsprecher.

Lueg wartete, bis seine Kollegin ihre Absage gemacht hatte, und eilte dann hinüber ins Studio, wo er mit einem zweifachen „Hallo!“ von Birgit und Steffi begrüßt wurde.

Während des Werbeblocks und der Nachrichten zur vollen Stunde, die von einem anderen Studio zugespielt wurden, wechselte Lueg noch ein paar Worte mit Birgit und sortierte die Unterlagen, die er für die bevorstehenden drei Stunden am Mikrofon vorbereitet hatte.

 

Monika Meyer-Liebrecht saß im Fond ihres Dienstwagens und blätterte in der Frankfurter Allgemeinen. Zuvor hatte sie kurz die Schlagzeilen der Süddeutschen überflogen und zwei oder drei Artikel auch komplett gelesen. Es machte sich immer gut, wenn man in Reden da und dort auf tagesaktuelle Dinge Bezug nahm. Noch hatte sie nichts Passendes gefunden, aber neben ihr lagen noch etliche andere regionale und überregionale Blätter, die Markmann mitgebracht hatte.

Als das Handy zu piepsen anfing, legte sie rasch die Zeitung aus der Hand.

„Ja!“

Längst hatte sie es sich angewöhnt, sich nur so zu melden, denn zu oft waren es Verwähler oder Leute, die ihre Rufnummer erfahren hatten und versuchten, ihre Anliegen, aber auch ihren Frust und Ärger bei ihr abzuladen. Doch diesmal war es ihre Mutter.

„Liebes, ich wünsch dir nochmals alles Gute für die heutige Sitzung und deine Rede! Papa und ich werden natürlich alles im Fernsehen mit verfolgen.“

„Danke, Mama, ich melde mich heute Abend von zu Hause aus!“, sagte sie hastig und legte auf.

„Huuch!“, stieß sie überrascht aus. „Ich glaube, das war das kürzeste Gespräch, das ich je mit meiner Mutter geführt habe. Ich hoffe, es klang nicht allzu unhöflich.“

Im Rückspiegel sah sie, dass Markmann verständnisvoll schmunzelte. Offensichtlich kannte auch er Leute, die am Telefon nie ein Ende fanden.

Die Ministerin nahm sich die nächste Zeitung vor. Doch kaum hatte sie die Titelseite überflogen, piepste das Handy ein zweites Mal. Ihr Amtsvorgänger meldete sich am anderen Ende. Auch er wollte ihr einen guten Start wünschen.

Nach diesem Anruf überlegte die Ministerin, ob sie bis Mainz das Handy abschalten solle, ließ es dann aber doch eingeschaltet, in der Hoffnung, dass man sie für den Rest der Fahrt in Ruhe ließ. Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Inzwischen hatten sie die Hunsrückhöhenstraße verlassen und waren auf die B 50 in Richtung A 61 abgebogen.

 

„Du hast ganz feuchte Hände!“, wehrte Piotr ab, als Ursula ihm zärtlich über die Wange strich. „Das gefällt mir gar nicht, Baby!“

Sie ließ gereizt von ihm ab. „Es ist nur das Warten. Günter könnte inzwischen schon mal angerufen haben.“

„Günter hat gesagt, er ruft erst an, wenn er in Morbach eintrifft. Und dafür ist es noch viel zu früh.“

Zum x-ten Mal blickte Piotr auf seine Uhr. Dann zog er seine Freundin zu sich auf die Couch und begann, die Knöpfe ihrer Bluse zu öffnen.

„Die Zeit reicht noch für eine tolle Nummer, Baby!“

„Dass du jetzt an so was denken kannst!“, stieß sie aufgebracht hervor und rückte von ihm ab.

„Hey, Baby, mach keinen Scheiß!“

Er sprang so rasch auf, dass sein goldenes Amulett aus dem Hemd hüpfte, nahm die beiden Handys vom Sideboard und schaltete sie ein. Eines legte er auf den Couchtisch, das andere reichte er seiner Freundin.

„Wo sind die Walkie-Talkies?“, fragte er.

Ursula erhob sich, froh über die Ablenkung. Die Walkie-Talkies waren in der Küche, wo Ursula sie über Nacht aufgeladen hatte. Piotr stellte unterdessen ein Kofferradio mit Kassettendeck auf den Couchtisch und schloss es an. Vom Band kamen Sprechfunkdurchsagen. Was genau gesprochen wurde, war nicht zu verstehen.

Piotr nahm die beiden Walkie-Talkies entgegen, die Ursula ihm reichte, und klebte über die Sprechtaste des einen ein schmales Gewebeband, so dass die Taste gedrückt blieb. Er stellte das Gerät etwa vierzig Zentimeter vor den Lautsprecher des Kofferradios.

„Wenn ich von draußen rufe, geh mit dem Mund ganz dicht an das Funkgerät und sag irgendetwas, klar?“

Mit dem anderen Gerät ging er in die Diele hinaus und schloss die Tür hinter sich. Dann regulierte er die Empfangslautstärke.

„Jetzt!“, rief er laut in Richtung Wohnzimmer.

Deutlich drang Ursulas Stimme aus dem Lautsprecher seines Gerätes. „Ich liebe dich, auch wenn du manchmal ein Scheißkerl bist.“

„Alles klar!“, rief er. Leise fügte er hinzu: „Warte nur ab, du dumme Gans.“

Mit einem zufriedenen Grinsen betrat er wieder das Wohnzimmer.

„Lass den Lautstärkeregler unter allen Umständen auf vier stehen, dann klingt es absolut echt“, meinte er und reichte ihr sein Gerät.

Im gleichen Moment klingelte das Telefon. Ursula zuckte zusammen. Vor Aufregung stolperte sie über den schmalen Teppichläufer vor dem Telefontischchen.

„Ja?“ Ein befreites Lächeln ging über ihr Gesicht. „Günter! Wo bist du jetzt?“

 

Günter parkte seinen Wagen in der Schulstraße, unweit der Stelle, an der man vom Fenster des Rektorenzimmers der Grundschule Morbach aus gut gesehen werden konnte. Er hatte die Örtlichkeiten in den letzten Tagen ausgiebig erkundet. Sorgfältig vergewisserte er sich, dass niemand die Straße entlangkam. Dann öffnete er seine Aktentasche und entnahm ihr einen kleinen Ausweis, den er in seine Trenchcoattasche steckte, sowie ein Walkie-Talkie, das denen von Ursula und Piotr zum Verwechseln ähnlich sah. Er schaltete es ein und konnte sofort deutlich den Sprechfunkverkehr von Piotrs Kassette empfangen.

Er nahm das Handy vom Beifahrersitz und wählte erneut die Nummer von Ursula.

„Alles im grünen Bereich. Habe meinen Standort erreicht und kann euch sehr gut empfangen. Ich melde mich wieder, nachdem ich die Polizei angerufen habe.“

Er drückte die Trenntaste, legte Funkgerät und Handy zurück auf den Sitz und machte es sich bequem. Von ihm aus konnte es losgehen.