ISBN: 978-3-86911-507-8
1. Auflage 2015, Simmern (Deutschland)
© 2001 Pandion Verlag, Simmern, Deutschland
Titelfoto: © hajo
Alle Rechte vorbehalten.
Es war kalt in der kleinen Dorfkirche. Den spärlichen Sonnenstrahlen des gerade begonnenen Frühlings war es nicht gelungen, die alten, dicken Wände und den Kirchenraum zu erwärmen. Deshalb hatten sich die etwa fünfzehn regelmäßigen Kirchgänger der kleinen Gemeinde Bayberg noch in überwiegend winterlicher Kleidung zur Samstagabendmesse eingefunden.
Aus dem alten Harmonium quälten sich röchelnd die letzten Töne des Sanctus. Pastor Bergheimer schaute etwas verzweifelt zu dem Instrument hinüber. Er hatte schon oft vorgeschlagen, auf die Begleitung durch das alte Harmonium zu verzichten und die Gemeinde a cappella singen zu lassen. Mit seiner kräftigen und sonoren Stimme hätte er schon den richtigen Ton getroffen, um anzustimmen. Aber immer wieder hatte Hedwig Liesenthal die Gläubigen davon überzeugen können, dass ein Gottesdienst ohne ihr Spiel kein richtiger Gottesdienst wäre. Nach Meinung dieser fast achtzigjährigen ehemaligen Musiklehrerin gehörte ein Instrument einfach dazu, um dem Kirchenraum und der Musik die notwendige Fülle zu geben. Und sie musste es wissen. Schließlich hatte sie bereits Weihnachten 1948 zum ersten Mal das schon damals recht betagte Harmonium gespielt, das eine kleine Rheingemeinde den Baybergern geschenkt hatte.
Pastor Clemens Bergheimer, trotz seiner sechzig Jahre und weißen Haare jung und schlank geblieben, richtete seine Blicke während der Wandlung auf die vor ihm Versammelten. Es waren Samstag für Samstag fast immer die gleichen Gesichter und jeder hatte seinen festen Platz in den Kirchenbänken. Zur Rechten des Mittelganges belegten der Getränkehändler Klaus Kaiser und Hans Marsak, Inhaber des kleinen Dorfladens, die vordere Kirchenbank. In der Reihe dahinter war wie stets das etwas verschlagene Gesicht von Günter Steils, dem neunzehnjährigen Bauernsohn, zu finden. Neben ihm, durch Herrn Marsak halb verdeckt, wusste Bergheimer Günters Vater, Willi Steils. Ihnen folgten dann in den nächsten Reihen der Ortsbürgermeister, der Wirt des Dorfkrugs, der ledige Bruder der Organistin, Bäckermeister Liffka und hinter den Bankreihen stehend der Forstarbeiter Anton Schuck und seine Mutter, die allerdings meist zu spät kam und nach der Kommunion auch schon wieder ging. Die erste Bank der linken Seite blieb stets leer; Frau Marsak und Frau Mehrkatz mit ihrer Tochter Kathi pflegten erst in der zweiten Reihe Platz zu nehmen. In der Reihe dahinter knieten die Frau des Bäckermeisters und Frau Siewert, die Lehrerin. Ab und zu verirrte sich auch schon mal ein Tourist in die kleine Kirche, aber um diese Jahreszeit blieben die Touristen lieber im wärmeren Rhein- oder Moseltal.
Bergheimer nahm wahr, dass sich die Blicke und die Aufmerksamkeit der männlichen Kirchenbesucher wieder einmal kaum auf das Geschehen am Altar, sondern vielmehr auf die vierzehnjährige Brigitte Mallmann konzentrierte, wie immer wenn sie als Messdienerin eingeteilt war. Brigitte war in ihrem schlichten, während der Fastenzeit grauen Kittelgewand, über das ihre langen, aschblonden Haare weit über die Schultern hinunterfielen, zweifellos ein reizvoller Anblick. Eine Mischung von kindlicher Unschuld und aufblühender, verführerischer Fraulichkeit. Der Pastor hatte auch schon vielfach beobachtet, wie sich ihre sonst so blasse Gesichtshaut leicht rot färbte und sie ihre zum Gebet gefalteten Hände öffnete, um die Arme verlegen vor dem Oberkörper zu verschränken, wenn sich ihre Blicke mit einem der Männer trafen. Nach einer stillen Fürbitte streckte Bergheimer wie gewohnt seine beiden Hände nach ihr und Carlos Razzmonta, dem anderen Messdiener, aus und sah dabei über seine Goldrandbrille, dass auch Carlos’ Blicke unverhohlen auf die zarten Rundungen Brigittes gerichtet waren.
„Lasset uns beten, wie uns der Herr zu beten gelehrt hat. Vater unser …“, begann Bergheimer mit fester Stimme.
Leiernd und asynchron fiel die Gemeinde in das Gebet ein. Einige Männer vergaßen das Mitbeten und starrten weiter begehrlich auf das für sein Alter recht große Mädchen neben dem Pastor.
Bergheimer spürte Brigittes warme und zarte Hand auf der einen Seite und Carlos kräftigen Griff auf der anderen. Seine Augen streiften während des Gebets zunächst über die männlichen Gemeindemitglieder und blieben dann an Frau Marsak hängen, die ihrem Mann auf der anderen Kirchenschiffseite einen bitterbösen Blick zuwarf. Der nahm ihn allerdings nicht wahr, da auch er wie gebannt in den Anblick der Messdienerin vertieft war.
„… und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen …“
Bergheimer sah aus den Augenwinkeln, dass Brigitte ihren Kopf gesenkt hatte und sichtlich irritiert auf den alten, ausgetretenen Steinboden vor dem Altar blickte. Mit dem „Amen“ ließ der Pastor die Hände der Messdiener los, trat an den Altar, ergriff Kelch und Hostie, hob beides hoch, räusperte sich laut und wartete. Tatsächlich richteten sich endlich wieder ein paar männliche Augenpaare mehr auf ihn und das sakrale Geschehen.
„Seht das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünden der Welt. Herr …“ Er hatte das Wort „seht“ so betont, dass selbst Herr Marsak sichtlich erschrocken aus seinen Fantasien auftauchte und versuchte, sich wieder auf den Gottesdienst zu konzentrieren.
Während der Austeilung der Kommunion spielte Frau Liesenthal inbrünstig auf dem Harmonium. Da einige Töne das Instrument sowieso nur halbwegs richtig verließen, fiel es kaum auf, dass die alte Frau von Zeit zu Zeit eine falsche Taste erwischte. Erst als Pastor Bergheimer den Kelch gereinigt und die restlichen Hostien zurück in den kleinen Tabernakel gebracht hatte, beendete sie ihr Spiel und es trat wieder ehrfurchtsvolle Stille in der kleinen Kirche ein.
„Liebe Schwestern und Brüder“, begann Bergheimer und schaute in die Runde, „zum Abschluss unseres heutigen Palmsonntag-Gottesdienstes darf ich noch auf das bevorstehende Osterfest hinweisen. Wie jedes Jahr findet an diesen Tagen der Gottesdienst nur in St. Martin oder Liebfrauen in Oberwesel statt. Ich darf Sie also alle einladen, dorthin zu fahren oder Fahrgemeinschaften zu bilden. Ich wünsche Ihnen und Ihren Familien deshalb schon jetzt von dieser Stelle aus nicht nur einen schönen Palmsonntag, eine mit Gottes Hilfe erbauliche letzte Fastenwoche, sondern auch Frohe Ostern. Der nächste Gottesdienst hier in St. Anna findet am Samstag nach Ostern, also heute in vierzehn Tagen, wie gewohnt um achtzehn Uhr statt. Morgen ist Palmsonntag. Ich habe einige Palmzweige am Ausgang für Sie bereitgelegt, ebenso habe ich die Pfarrbriefe aus Oberwesel mitgebracht … Wir wollen jetzt um Gottes Segen bitten.“
Er schloss für einen Moment die Augen und wartete, bis sich alle niedergekniet hatten und Ruhe eingetreten war.
„Herr, sieh herab auf deine Gemeinde und schenke ihr deinen Segen, der den Schwachen Kraft, den Sündern Vergebung, den Ängstlichen Mut, den Zweiflern Gewissheit, den Heimatlosen Zuflucht und den Kranken Trost spendet. Dies alles gewähre uns der dreieinige Gott, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist.“ Schwungvoll vollzog er den Segen und breitete dann zur Gemeinde hin seine Arme aus. „Gehet hin in Frieden!“
„Dank sei Gott, dem Herrn“, erwiderten einige, während andere bereits damit beschäftigt waren, eilig die Bankreihen zu verlassen und zum Ausgang zu gehen. Hedwig Liesenthal stimmte auf dem Harmonium das Schlusslied an, wusste aber, dass sie meistens die Einzige war, die noch mitsang. Carlos ergriff auf dem Weg zur Sakristei das Kollektekörbchen, das Brigitte nach der Sammlung auf den Altarstufen abgestellt hatte.
Während Pastor Bergheimer vor dem großen Kruzifix in der Sakristei noch ein kurzes, stilles Gebet sprach, lösten Brigitte und Carlos die dicken Kordelgürtel und schlüpften eilig aus ihren Gewändern. Bei Brigitte wurden ein kurzer, bunter Faltenrock und eine weiße Stehkragenbluse sichtbar. Mit ihrer schlanken Taille und ihren hübschen langen Beinen sah sie fast aus wie ein künftiges Mannequin. Carlos trug unter dem Gewand eine schwarze Jeans und einen schwarzen Rollkragenpullover. Auch er war schlank, hatte die schwarzen Haare glatt nach hinten gekämmt und mit einem Gel zum Glänzen gebracht. Seine Hautfarbe ließ seine südländische Herkunft erkennen, obwohl er im Hunsrück geboren war.
Der Pastor wandte sich seinen beiden Messdienern aufmunternd lächelnd zu. „Dann darf ich euch auch einen schönen Sonntag wünschen. Ich würde mich freuen, wenn ihr an Ostern nach dem Gottesdienst in Oberwesel kurz bei mir im Seniorenheim vorbeischauen würdet. Die Schwestern haben dann kleine Nester vorbereitet, die an die Insassen verteilt werden sollen. Dabei könntet ihr vielleicht etwas behilflich sein.“
Carlos zupfte verlegen an seinem Rollkragen. „Ich kann leider nicht kommen. Meine Eltern fahren in diesem Jahr über Ostern mit mir nach Spanien zu den Großeltern …“
Bergheimer streckte ihm lächelnd die Hand entgegen. „Schon gut, dann wünsche ich dir, deinen Eltern und Großeltern schon jetzt ein frohes Osterfest, eine gute Fahrt und kommt gesund zurück.“
„Ich komme bestimmt, Herr Pastor“, meinte Brigitte vergnügt und kämmte vor dem kleinen Spiegel an der Wand ihr langes Haar.
Der Pastor griff behutsam nach ihrem Handgelenk. „Ich habe die Männer der Gemeinde schon einige Male beobachtet“, sagte er leise und seine Stimme klang beruhigend. „Du musst es ihnen nachsehen, wenn sie dich während des Gottesdienstes wegen deiner schönen Haare manchmal etwas kirchenunwürdig anstarren.“
„Ich glaube, Herr Pastor, es sind weniger die Haare!“ Carlos grinste unverschämt und machte eine eindeutige Geste an seinem Oberkörper entlang.
Das Lächeln verschwand aus Bergheimers Gesicht. „Was willst du damit andeuten?“, fragte er unerwartet barsch.
Carlos merkte sofort, dass er wohl etwas vorlaut gewesen war. „Nun ja“, versuchte er zu erklären, „es sind ja nicht alle, die schauen, und … Brigitte ist auch insgesamt nicht … nicht ganz unansehnlich. Ich meine, sie sieht doch ganz nett aus, oder?“, schloss er betont forsch.
Er wollte sich schnell umdrehen und die Sakristei verlassen, doch Bergheimer hielt ihn an der Schulter fest. „Wie alt bist du jetzt, Carlos?“, fragte er und konnte ein leichtes Schmunzeln nicht verbergen.
„Im Juli werde ich siebzehn.“
Der Pastor ließ langsam die Schulter des Jungen los und gab ihm einen leichten, freundschaftlichen Klaps auf den Hinterkopf. „In dem Alter darf man noch so vorlaut sein“, stellte er leise fest und drehte sich wieder zu Brigitte um. „Grüß mir bitte deine liebe Mutter. Ich werde vielleicht nächste Woche noch einmal vorbeischauen, um zu sehen, wie es ihr geht.“
„Eigentlich geht es ihr in den letzten Monaten ganz gut. Hin und wieder kommt mal wieder ein Tief, aber das wissen Sie ja … sie ist halt sehr allein.“
„Bist du da, wenn ich komme?“
Brigittes Augen begannen zu leuchten. Sie freute sich immer den Pastor zu sehen, denn sie wusste aus Gesprächen zwischen ihm und ihrer Mutter, dass auch er sich oftmals sehr einsam vorkam. „Ich werde bestimmt da sein!“ Sie drehte sich hastig um und nahm ihren knöchellangen dunklen Mantel vom Garderobenhaken. Es dauerte eine Weile, bis sie ihn zugeknöpft hatte.
„Ich weiß, wie schwer es ist, wenn einen ein Mensch nach so vielen Jahren verlässt“, murmelte Bergheimer und starrte gedankenversunken vor sich auf den Steinboden.
„Vielleicht kommt mein Papa irgendwann noch einmal wieder?!“, antwortete Brigitte leise. Plötzlich kicherte sie: „Vielleicht finde ich für die Mama ja auch einen anderen netten Mann, der uns gefällt!“
Fröhlich warf sie sich einen langen Schal um den Hals und zog die Haare darunter hervor.
„Nur Gott kennt unsere Wege und Irrwege. Und er lässt sie zu!“ Bergheimer nahm Brigittes Hand, drückte sie wortlos und lächelte sie an. Ihre Hand war immer noch warm, obwohl auch die Sakristei nicht beheizt war.
Carlos legte den Arm um ihre Schultern und strahlte Bergheimer herausfordernd an: „Aber ein schönes Paar wären wir schon, oder?“
Der Pastor schmunzelte wieder. „Man könnte fast eifersüchtig werden!“, meinte er.
Die beiden Messdiener verließen ausgelassen hüpfend die Sakristei. Bergheimer blieb noch ein paar Sekunden nachdenklich mitten im Raum stehen, bevor er mit einem Ruck auf seine Armbanduhr schaute. Er griff hastig nach dem Kollektekörbchen und begann zu zählen.
Die ersten Sonnenstrahlen streiften bereits die Spitzen der Tannen im nahe gelegenen Stadtwald von Oberwesel und ließen sie gegen den fast wolkenlos blauen Himmel leuchten. Vom Rheintal stiegen graue Nebel auf. Die Nacht war sternenklar und kalt gewesen und nur mühsam hatte sich das Thermometer oben im Hunsrück über null Grad gehalten.
Hedwig Liesenthal tippelte wie immer leicht vorgebeugt, als trüge sie eine ständige Last auf den Schultern, gemächlich die Landstraße entlang. Sie genoss die Wärme der Sonne im Rücken. Ab und zu blieb sie stehen, hielt ihr schmales, faltiges Gesicht gegen die Sonne und atmete tief die frische Morgenluft ein. Dabei griff sie sich mit der Hand an den Rücken und reckte sich, so gut es ging. Fast jeden Tag, soweit es ihre Gesundheit zuließ, besuchte sie als Erstes das Grab ihres verstorbenen Mannes. Sie ging dicht am Straßenrand, aber nicht auf dem Gras, denn das war noch nass vom Morgentau und ihre Schuhe waren nicht mehr besonders neu und dicht.
Der Friedhof von Bayberg liegt etwas außerhalb des kleinen Dorfes, genau gegenüber einer über hundert Jahre alten Eiche, die von den Einheimischen nur die Hunsrückeiche genannt wird. Seit über drei Jahren nahm die Neunundsiebzigjährige das frühe Aufstehen in Kauf, um unbeobachtet und ungestört am Grab ihrem Mann von ihren Erlebnissen des Vortages berichten zu können. Es war immer ein sehr einseitiges Zwiegespräch, aber Frau Liesenthal kannte aus vielen Jahren Ehe genau die Antworten und Fragen ihres Mannes. Zwar gab es kaum etwas Sensationelles zu berichten. Meist war es Alltägliches, das sie am Vortag beschäftigt hatte oder sie las ihm einen Brief vor. Mal von ihrer Tochter, die in Trier-Kürenz mit einem Installateur verheiratet war, mal ein paar Zeilen von Freunden und Bekannten, die sich im Urlaub befanden oder ihr anlässlich eines Geburtstags geschrieben hatten. Heute, so hatte sie beschlossen, würde sie ihm von ihrem Garten berichten, den sie gemeinsam vor vielen Jahrzehnten hinter dem Haus angelegt hatten. Alles begann jetzt zu blühen, die Osterglocken, die Krokusse und die Forsythien. Sie überlegte, wie sie Willi den Duft beschreiben sollte, der ihr in den letzten Tagen morgens entgegenschwebte, wenn sie die Fenster auf der Gartenseite zum Lüften öffnete …
Plötzlich hielt sie inne und blieb stehen. Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Trotz ihres Alters war sie zu eitel, um auf der Straße eine Brille zu tragen, und so modernes Zeug wie Kontaktlinsen kam für sie nicht infrage. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, genau unter der Hunsrückeiche, hatte sie etwas entdeckt, was ihre Aufmerksamkeit erregte. Aber sie konnte nicht recht erkennen, was es war. Es musste etwas sein, was dort nicht hingehörte oder bisher nicht dort gewesen war …
Sie überquerte neugierig die Landstraße und ging auf die große Eiche zu, die knapp fünf Meter von der Straße entfernt in den Himmel ragte. Mit jedem ihrer kleinen Schritte begann die alte Frau schneller zu atmen, denn das Etwas nahm zunehmend menschliche Gestalt an. Sie konnte bereits Schuhe erkennen, schwarze Schuhe. Sie sah auch Hände, die, offenbar gefaltet, leblos aus dem halbhohen Gras herausschauten. Ein Autounfall, schoss es ihr durch den Kopf. Instinktiv blickte sie sich um, ob irgendjemand zu sehen war, den sie zu Hilfe rufen konnte. Doch um diese Tageszeit war sonntags außer ihr nur äußerst selten jemand auf dieser abgelegenen Landstraße unterwegs. Langsam erkannte sie einen dunklen Mantel und ein blasses Gesicht. Lange, nackte Beine lagen merkwürdig angewinkelt im Gras, dann wurde ein bunter Faltenrock sichtbar.
Unwillkürlich blieb Frau Liesenthal stehen und hielt sich die rechte Hand vor die Augen. Ihr Herz schlug so heftig, dass sie glaubte, sich setzen zu müssen. Sie stolperte hastig ein paar Schritte vorwärts, konnte sich aber wieder abfangen. Langsam nahm sie ihre zitternde Rechte wieder herunter. Im gleichen Moment durchfuhr es sie wie ein elektrischer Schlag.
„Mein Gott!“, stieß sie zu Tode erschrocken aus. „Brigittchen!“
Sie glaubte, ohnmächtig zu werden. Vergeblich suchte sie nach einem Halt. Sie schloss die Augen und wartete, bis das plötzliche Brummen und Summen in ihrem Kopf wieder aufhörte und der Pulsschlag im Hals wieder ein einigermaßen normales Atmen zuließ. Dann sah sie wieder hin.
Das Mädchen lag blass, mit geschlossenen Augen und gefalteten Händen, wie aufgebahrt unter der Hunsrückeiche. Ihre Haut war von der Nachtkälte leicht bläulich gefärbt. Fast sah es aus, als schliefe sie. Aber für Hedwig Liesenthal stand sofort fest, das Mädchen war tot. Sie machte unwillkürlich ein Kreuzzeichen und blickte sich erneut um. Hastig schlug sie den Kragen ihres Mantels hoch und knotete ihren Schal fester darum, denn plötzlich fröstelte sie. Mit einem Ruck drehte sie sich um und tippelte, so schnell sie konnte, ins Dorf zurück.
„Der Sonntag fängt schon gut an!“, stöhnte Kriminalhauptkommissar Pistano im Polizeipräsidium Koblenz und legte den Hörer auf. Verdrossen blickte er zu dem neuen Mitarbeiter, der ihm gegenüber am zweiten Schreibtisch saß. „Den Boppardern wurde eine weibliche Leiche gemeldet, ausgerechnet am Bayberger Friedhof.“ Er schüttelte den Kopf und deutete mit seinen wulstigen Fingern auf die Akten neben sich. „Ich muss aber unbedingt den Bericht fürs LKA fertig machen, sonst gibt es wieder eine Beschwerde. Geh zum Fuß und mach das!“
„Zu Fuß ist das wohl ein bisschen zu weit“, grinste Kriminalhauptmeister Wagner, bis vor wenigen Tagen noch bei der Kripo Trier im Dienst. „Das liegt doch oberhalb von St. Goar, oder?“ Er war nie sehr sportlich gewesen und jede übermäßige körperliche Anstrengung forderte dem Endzwanziger echte Selbstüberwindung ab. Fast hätte er vor zwei Jahren deshalb den Polizeidienst aufgegeben.
Pistano schüttelte erneut den Kopf, aber diesmal verständnisvoll lachend, wobei seine dicken Wangen in der Bewegung eine gewisse Eigendynamik entwickelten. „Nicht zu Fuß sollst du gehen, sondern zum Kollegen Fuß. Kommissar Fuß von gegenüber!“
„Heißt der wirklich so?“, fragte Wagner amüsiert und packte sein Butterbrot wieder ein.
„Nee, eigentlich heißt er Wilfried. Wie er mit Familiennamen heißt, weiß ich schon gar nicht mehr. Wir nennen ihn alle immer nur Fuß.“ Er vertiefte sich wieder in seine Akten. Auf seiner Glatze spiegelte sich die Sonne, die durch das große Fenster zur Linken fiel.
Wagner warf einen Blick auf die Landkarte hinter sich. „Da fahren wir wohl am schnellsten über die A 61 bis …“
„Laudert!“, brummte Pistano ohne aufzublicken. „Fuß kennt sich da oben aus.“
Der Hauptmeister steckte sein Frühstückspaket in die Jackentasche. Vielleicht würde er später Gelegenheit dazu haben. Er nahm noch einen Apfel aus der Schreibtischschublade und verließ wortlos den Raum.
Die Tür schräg gegenüber stand weit offen. Kommissar Fuß erwies sich als ein stattlicher Zweizentnermann mit kurz geschnittenen Haaren, einem ebensolchen Vollbart und einem leichten, sich unter dem Hemd vorwölbenden Bäuchlein. Für jemanden, der Verbrecher jagte, hatte er eigentlich einen viel zu sympathischen Gesichtsausdruck. Nur seine Augen wirkten wach und listig und doch gleichzeitig gutmütig. Auch er saß vor einem Stapel Akten. Er hob den Kopf und blickte dem unbekannten jungen Kollegen neugierig entgegen.
„Sie sind Fuß?“, fragte Wagner und blieb zögernd in der Tür stehen.
Der Angesprochene grinste spitzbübisch. „So nennt man mich hier. Ich höre schon kaum noch auf meinen richtigen Namen. Und wer sind Sie?“
„Walter Wagner, seit dem ersten April hier in Koblenz, bisher Kriminalhauptmeister in Trier“, stellte sich Wagner vor. „Wir müssen nach St. Goar fahren, genauer gesagt nach Bayberg. Eine weibliche Leiche ist dort gefunden worden. Wir sollen das übernehmen, meint Pistano. Er muss noch etwas fürs LKA erledigen.“
„Meint er! Muss er!“, wiederholte Fuß spöttisch. „Wie schön von ihm! Ich hab’ ja überhaupt nichts zu tun!“ Er schloss den Aktenordner vor sich mit einem leisen Fluch. „Aber bei mir kann alles ruhig liegen bleiben!“ Missmutig stand er auf und schnappte sich seine Aktentasche neben dem Schreibtisch. „Ist schon die Spurensicherung und ein Arzt verständigt worden?“
„Keine Ahnung! Pistano hat nichts dazu gesagt“, gestand Wagner.
„Das ist typisch für die Kröte!“ Fuß griff zum Telefon und wählte eine Nummer. „Ist von euch schon jemand nach Bayberg unterwegs?“ Er nickte, bedankte sich und hängte wieder ein. „Dann wollen wir mal sehen, dass wir nicht als Letzte dort auftauchen.“
„Wieso eigentlich Kröte?“, erkundigte sich Wagner.
Fuß legte schnell den Finger auf den Mund. „Psst!“, machte er, „den Namen hört er nicht gern!“
Aber auf dem Weg zum Wagen erklärte er dem neuen Kollegen:
„Sein aufgedunsenes, grobporiges Gesicht und die leicht hervorstehenden Augen, wie bei einer Kröte, verstehen Sie? Und sein behäbiger Gang … unverkennbar, die Ähnlichkeit. Wir Polizisten sind nun mal gnadenlos scharfe Beobachter“, setzte er schmunzelnd hinzu. „Und absolut verschwiegen …
Wo kommen Sie her oder können wir uns duzen?“, fragte Fuß, als sie im Auto saßen und über die Hunsrückhöhenstraße in Richtung A 61 fuhren.
„Ich heiße Walter!“
„Ich bin der Wilfried, aber wie du schon mitbekommen hast, auch ich habe einen Spitznamen …“
„Lebst wohl auf großem Fuß, oder?“, fragte Wagner mit einem augenzwinkernden Blick in den Fußraum auf der Fahrerseite.
Der Kommissar lachte laut und herzhaft. „Auf die Idee bin ich bei meinem Gehalt noch nicht gekommen. Da müsste ich wohl erst die Seiten wechseln und mal einen Banküberfall machen. Auch keine schlechte Idee!“
Wagner wurde plötzlich ernst und nachdenklich. „Da hast du Recht. Bei dem Risiko, das unsereiner täglich eingeht, und der Schmutzarbeit, die man machen muss … Und wenn ich dann überlege, was mich allein der Umzug von Trier nach hier gekostet hat!“
„Wolltest du oder musstest du?“, erkundigte sich Fuß.
„Wie man’s nimmt. Ich habe mich letzte Weihnachten mit der Tochter eines Gastwirts in Vallendar verlobt, Beate heißt sie. Und sie wollte natürlich, dass ich mich so bald wie möglich in ihre Nähe versetzen lasse. Die Pendelei an freien Tagen war doch recht anstrengend und Zeit raubend.“
„Na, dann werden wir sicherlich bald in doppelter Weise Kollegen sein!“
Wagner schaute den deutlich älteren Kommissar verständnislos an.
„Ich bin noch Hobbywinzer oder Nebenerwerbswinzer, wie das so schön im Amtsdeutsch heißt“, klärte Fuß ihn auf.
„Winzer? Das hört sich interessant an. So richtig mit Weinbergen, Südhang und Trauben dran? Ich habe vom Weinanbau überhaupt keine Ahnung.“
„Sei froh! Ich kann dir sagen, das ist manchmal ganz schön hart! Selbst wenn ich zur Lese und auch zwischendurch ein paar Helfer habe. Aber das meiste bleibt das Jahr über natürlich an mir hängen.“
„Und wo hast du deinen Weinberg?“
„Drüben an der Mosel, in Alken. Komm uns halt mal besuchen. Meine Frau macht zweimal im Jahr die Straußwirtschaft auf. Jetzt am Gründonnerstag geht es wieder für rund sieben Wochen los.“
Wagner pfiff leise durch die Zähne. „Dann könntet ihr ja mit euren Weinbergen tatsächlich auf großem Fuß leben!“
Wieder lachte der Kommissar herzhaft und sein Gesicht bekam etwas Spitzbübisches. „Was glaubst du, wozu ich noch Zeit hab’? Und dann noch der verdammte Bürokram im Präsidium. Nee, um auf großem Fuß zu leben, fehlt mir die Zeit. Und der Weinberg ist für mich eher ein befriedigender Ausgleich für die Drecksarbeit, für die dir keiner Danke sagt. Oder hast du schon einmal erlebt, dass ein Täter dir Danke gesagt hat, wenn du ihn verhaftet hast? Aber der, der einen schönen Wein zu genießen versteht, der sagt dir fröhlich Danke.“
„Ich komm’ deinen Wein bestimmt mal probieren. Wann ist denn das Weinrestaurant …“
„Straußwirtschaft, heißt das!“, übertönte ihn der Kommissar. „Junge, du kommst aber nicht von der Mosel.“
„Nein. Ich war nur die letzten zwei Jahre in Trier. Geboren bin ich in Melle.“
„Wo liegt das denn?“, stöhnte der Kommissar. Der Name klang für ihn nach plattem Land.
Und tatsächlich: „Oben, östlich von Osnabrück“, sagte Wagner.
„Na gut, dann sei es dir verziehen! Erika, meine Chefin, freut sich sicherlich, wenn du uns besuchen kommst.“
Als sich ihr Wagen mit Blaulicht, aber ohne Martinshorn dem Friedhof von Bayberg näherte, hatte sich bereits das halbe Dorf eingefunden und blockierte die Landstraße. Zwei uniformierte Kollegen aus Boppard hatten, so gut es ging, den Fundort weiträumig mit rotweißem Polizeiband abgesperrt und machten den ankommenden Kollegen von der Kripo ein Zeichen, den kleinen Friedhofsparkplatz anzufahren, auf dem schon einige andere Fahrzeuge standen.
Der Bopparder Polizeimeister Claus Castor, von seinen Kollegen CC genannt, kam sofort auf den Wagen zugeeilt, um Fuß und Wagner erste Informationen zu geben. „Es handelt sich um ein junges Mädchen hier aus dem Dorf, eine gewisse Brigitte Mallmann, vierzehn Jahre. Sie wurde vor gut einer Stunde von einer alten Frau gefunden, einer gewissen Hedwig Liesenthal, auch hier aus dem Ort. Wir mussten sie aber nach Hause fahren lassen. Sie ist fast achtzig und war nervlich fix und fertig.“
„Sind die Eltern des Kindes benachrichtigt?“, fragte Fuß sofort.
CC schüttelte den Kopf. „Es gibt da offenbar nur eine Mutter. Sie wurde sofort vom Ortsbürgermeister verständigt und war auch schon da. Sie ist aber beim Anblick ihrer Tochter zusammengebrochen. Der anwesende Notarzt hat sich ihrer angenommen und sie dann auch mitgenommen.“
„War schon ein anderer Arzt vor Ort?“, wollte Fuß wissen.
„Noch nicht, erledige ich aber sofort“, gab der Uniformierte zurück.
Fuß machte eine Kopfbewegung zu Wagner hin und die beiden Kripobeamten überquerten im Laufschritt die Landstraße. Am Fundort hatten die Kollegen von der Spurensicherung bereits ein paar Zahlentäfelchen aufgestellt und waren dabei, Verdächtiges zu notieren, zu fotografieren und einzusammeln.
„Fundort ist nicht Tatort!“, begrüßte Polizeiobermeister Wendling aus Boppard die beiden Koblenzer Kollegen und hob die Decke an, die man über den Leichnam gelegt hatte. „An dem Mantel und in den Haaren sind Teile von kleinen Ästen und nassem Erdreich, was alles nicht von hier stammen kann. Die wurde hier nur abgelegt.“
„Kann man schon etwas zum Tatumstand sagen?“, fragte Fuß. Er streifte Latexhandschuhe über und beugte sich betroffen über das bläulich-blasse Gesicht der Toten, das einen auffallend friedlichen Ausdruck hatte. Überhaupt lag die Tote da, wie man sich einen Engel vorstellt. Weiche, hübsche Gesichtszüge, langes Haar und ein großer, schlanker Körper in makelloser Kleidung, bis auf ein paar Ästchen, Blätter und Moos.
„Bisher konnten wir keine sichtbare Gewaltanwendung feststellen, aber das wird die Obduktion genauer sagen können. Merkwürdig ist der Umstand, wie das Kind hier abgelegt wurde.“
Fuß nickte. „Fast wie in einem Sarg. Oder hat da schon einer daran herumgefummelt?“
Christian Wendling schüttelte den Kopf. „Soweit uns bekannt, hat die alte Frau die Leiche so gefunden, wie sie jetzt immer noch liegt. Als wir eintrafen, waren außer der alten Frau auch erst zwei andere Personen hier: der Bruder der Frau und ein Herr Muders. Der Mann ist hier Ortsbürgermeister. Von ihm wurden wir in Boppard auch verständigt. Die anderen sind alle erst später nach und nach gekommen.“
„Gibt es Anzeichen eines Sexualdeliktes?“, wollte Wagner wissen.
Der rotblonde Kollege Wendling winkte ab. „Bisher haben wir dazu keine Erkenntnisse.“
„Haltet mal die Decke als Sichtschutz hoch. Man muss ja da drüben nicht alles mitbekommen. Die Leute sollen sowieso nach Hause gehen. Vor allem haben doch die Kinder hier nichts zu suchen!“, brummte Fuß ungehalten.
Nachdem Wagner und Wendling die Decke so angehoben hatten, dass die Neugierigen, die sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite versammelt hatten, nichts mehr sehen konnten, zog Fuß vorsichtig mit zwei Fingern den bunten Rock des Mädchens hoch. Behutsam schob er ihre Beine etwas auseinander. Die Oberschenkel des Mädchen wiesen tatsächlich keine sichtbaren Spuren von Gewalt auf, der hellblaue Slip mit kleinen Blümchen lag ordentlich am Körper an und zeigte ebenfalls keine verdächtigen Spuren. Auch im Bauchbereich war der Slip unverändert.
„Nee, da hat sich nichts abgespielt!“, stellte Fuß fest. Dann knöpfte er vorsichtig die Bluse der Toten auf und legte den Oberkörper frei. „Kein BH, aber auch keine sichtbaren Spuren einer Verletzung!“
Er betrachtete intensiv den Hals und das Gesicht. Seine Augen blieben am linken Mundwinkel des Mädchens hängen. Hier schienen Speichelreste verklebt zu sein, was normalerweise auf Würgen hingedeutet hätte. Da aber am Hals keine Würgemale zu sehen waren, musste die eingetrocknete Flüssigkeit anderen Ursprungs sein, vielleicht die Reste von Erbrochenem. Der Kommissar schloss die Bluse wieder notdürftig. Er betrachtete die gefalteten Hände. Die Fingernägel des Mädchens wirkten sauber, keine sichtbaren Spuren von Blut oder Hautresten, die auf einen Kampf hätten schließen lassen. Schließlich hob er vorsichtig den Kopf der Toten an. Auch hier waren weder Blut noch fühl- oder sichtbare Spuren eines Schlags oder Ähnliches. Zum Schluss nahm er noch die Schuhe in Augenschein. Unter den Sohlen klebte verkrustete Erde, was bei dem Regenwetter der letzten Tage kein Wunder war. Es bedeutete lediglich, dass sie in letzter Zeit nicht nur auf Asphalt gegangen war, mehr nicht.
„Deckt sie wieder zu“, brummte Fuß und richtete sich mühsam auf, denn sein Rücken schmerzte immer, wenn er längere Zeit vornüber gebeugt war. Er streifte die Latexhandschuhe ab, zog aus der Innentasche seiner Jacke ein kleines Diktiergerät und hielt seine ersten Eindrücke auf Tonband fest.
Danach blickte er zur anderen Straßenseite hinüber. „Wer ist dieser Ortsbürgermeister?“
CC, der direkt neben ihn getreten war, deutete auf einen kleinen Mann mit dunklem, bereits gelichtetem Haar, Mitte fünfzig. Der Mann stand etwas abseits von der Gruppe der Neugierigen und starrte regungslos auf den Asphalt der Landstraße. „Ich habe einen Arzt vom Krankenhaus in Oberwesel verständigt“, meldete CC.
Fuß’ Augen gingen noch einmal den Fundort der Leiche ab. „Walter, wir nehmen uns als Erstes diesen Ortsbürgermeister vor. Tatzeugen gibt es wahrscheinlich keine oder hat sich irgendjemand gemeldet, der glaubt, etwas zu wissen?“
Fragend blickte er Castor an, der nur den Kopf schüttelte.
„Weiß man, wo der Notarzt die Mutter der Toten hingebracht hat?“
„Soweit ich weiß, nur zu ihr nach Hause. Irgendeine Freundin oder Nachbarin ist mitgefahren.“
„Gibt es hier im Ort einen Raum, wo wir uns ungestört niederlassen können? Ein Rathaus gibt es wohl nicht?“
Polizeiobermeister Wendling als ortskundiger Oberweseler fühlte sich angesprochen. „In Bayberg gibt es zwei Gaststätten, den Dorfkrug und die Alte Mühle.“
„Was ist näher?“, fragte Fuß.
„Die Alte Mühle!“
„Gut, Walter, geh du schon mal mit dem Bürgermeister dorthin vor. Ich komme nach, sobald ich mich hier noch etwas umgeschaut habe.“ Kommissar Fuß blickte wieder zu der Toten hin. „Wenn der Arzt da war, soll man das Kind sofort wegbringen“, beauftragte er Castor und blickte kopfschüttelnd zu den neugierigen Dorfbewohnern hinüber, die immer noch mit ihren kleinen Kindern dastanden, gafften oder eifrig miteinander debattierten.
So ein Mord musste für ein kleines Dorf wie Bayberg wirklich ein Jahrhundertereignis sein, bei dem keiner fehlen wollte.
Die Alte Mühle wirkte von außen gar nicht wie eine Gaststätte – keine Werbeleuchte einer Brauerei, kein Namensschriftzug, nicht einmal ein Hinweisschild am Straßenrand. Hier trafen sich wirklich nur die Einheimischen, und die wollten offenbar unter sich bleiben.
Die Inneneinrichtung war ebenso einfach wie alt. Dicht beieinander standen sechs klobige Holztische ohne Tischdecken oder irgendeine Dekoration. Nicht einmal Aschenbecher oder Bierdeckel waren vorhanden. Der Linoleumboden, der wahrscheinlich schon seit Jahrzehnten hier lag, war ausgetreten und wirkte ungeputzt. Durch die niedrigen kleinen Fenster fiel nur wenig Tageslicht. Die Tapete war vergilbt und ließ nur noch ahnen, dass sie ursprünglich mal geblümt gewesen war.
Auf Bitten des Kriminalhauptmeisters hatte Erwin Theis, der glatzköpfige und stets unrasierte Wirt, sämtliche Lampen über den Tischen eingeschaltet, doch auf Grund ihrer schwachen Birnen brachten sie auch nicht wesentlich mehr Licht in die Gaststube. Als Theis erfahren hatte, dass sein Lokal Hauptquartier der Polizei werden würde, hatte er sich schnell seine alte Halbschürze um den massigen Bierbauch gebunden, hatte die Kaffeemaschine eingeschaltet und schnaufend und schwitzend die Kühlfächer aufgefüllt, um für die zu erwartende Nachfrage nach Getränken gewappnet zu sein.
Fuß und Wagner hatten an einem Fenstertisch Platz genommen und das kleine Diktiergerät vor sich aufgestellt. Ihnen gegenüber saß Ortsbürgermeister Muders, der immer noch nicht zu begreifen schien, was geschehen war.
„Gestern hat die Brigitte noch die Messe in St. Anna gedient“, jammerte er leise und konnte nur mit Mühe die Tränen zurückhalten.
„Wann war das?“, fragte Wagner und überzeugte sich, dass die Kassette in dem kleinen Recorder ordnungsgemäß lief.
„Der Gottesdienst fängt um achtzehn Uhr an und war gegen neunzehn Uhr zu Ende. Pastor Bergheimer predigt immer etwas länger als allgemein üblich – aber gut!“
„Sie haben hier in Bayberg einen eigenen Pastor?“, fragte Kommissar Fuß erstaunt und blickte von der alten, verschlissenen Wanderkarte auf, die ihm der Wirt ausgeliehen und die er vor sich ausgebreitet hatte.
„Nein!“, erklärte der Ortsbürgermeister. „Pastor Bergheimer kommt samstags immer aus Oberwesel zu uns, wo er unter anderem für das Schwesternkloster und das Seniorenheim als Seelsorger tätig ist. Aber er hat auch noch andere Aufgaben, soweit ich weiß. Manchmal hilft er in den Pfarreien der Umgebung aus, wenn die Pastoren in Urlaub oder verhindert sind. Er springt hier in der Gegend wohl überall mal ein, wo Not am Mann ist. Er ist überall sehr beliebt. Als damals meine Frau starb, hat er mich immer wieder mal mitten in der Woche besucht und mir Trost zugesprochen. Ein wirklich feiner Mensch, der Herr Pastor.“ Fuß vertiefte sich wieder in seine Karte. „Der Fundort der Leiche ist hier.“ Er deutete mit der Spitze seines Kugelschreibers auf die Stelle, wo der Friedhof eingezeichnet war. „Wo wohnt die kleine Mallmann?“ Muders beugte sich über die Karte und zeigte mit seinen krummen Fingern auf eine Stelle etwas abseits des Dorfes. „Wir haben dort vor einigen Jahren ein kleines Neubaugebiet erschlossen. Das klingt vielleicht etwas hochtrabend, denn bisher stehen nur drei Häuser dort. Den Rest der Grundstücke sind wir bisher noch nicht losgeworden …“ Kommissar Fuß berührte mit dem Zeigefinger die Stelle, an der die kleine Dorfkirche eingezeichnet war, und ließ seine Augen zwischen der Kirche und dem Neubaugebiet hin und her wandern. „Welchen Weg wird Brigitte gestern Abend gegangen sein?“, fragte er und schaute sein Gegenüber an.
„Es gibt eigentlich nur zwei Möglichkeiten“, antwortete der Ortsbürgermeister prompt. „Die eine ist eine Sackgasse zu den drei Häusern, die von der Landstraße zwischen Laudert und Oberwesel abgeht. Und die andere, die von den meisten Bewohnern genutzt wird, ist ein kleiner Feldweg. Er beginnt kurz vor dem Ortsausgang und führt direkt auf die Lichtung zu, in der sich das Neubaugebiet befindet. Aber abends, wenn es schon dämmert, so wie gestern, nehmen vor allem die Frauen lieber den Umweg über die Straße in Kauf, weil die Abkürzung nicht einzusehen ist, da wuchern viele Büsche rechts und links.“
Wagner hatte zusätzlich zu dem Bandgerät einen Block vor sich liegen und machte sich einige Notizen. „Wer von den Bewohnern der drei Häuser war denn gestern Abend in der Kirche und könnte zusammen mit Brigitte gegangen oder ihr auf dem Heimweg begegnet sein, sie gesehen oder etwa beobachtet haben?“, fragte er.
„Also gesehen habe ich den Klaus Kaiser. Das ist der Getränkehändler. Der wohnt mit seiner Familie dort draußen und hat auch dort sein Getränkelager, obwohl es eigentlich als reines Wohngebiet ausgewiesen ist. Aber hier auf dem Land sind wir nicht so streng. Das heißt, der Klaus ist auch gar nicht verheiratet, sondern lebt dort mit einer Frau und deren Tochter zusammen. Die Kleine ist fast im gleichen Alter wie die Brigitte. Und dann wohnt da draußen noch der Karl-Heinz, das ist der junge Wirt vom Dorfkrug, und der Schuck, unser Forstarbeiter. Der wohnt dort mit seiner Mutter.“
Wagner schrieb eifrig mit, während Kommissar Fuß weiterhin gedankenversunken die Karte studierte.
„Wie heißt dieser Karl-Heinz mit Familiennamen?“, fragte Wagner.
„Persch!“, kam es wie aus der Pistole geschossen und Wagner hatte plötzlich den Eindruck, als wollte der Ortsbürgermeister zu diesem Mann unbedingt etwas loswerden.
„Waren dieser Persch und der Schuck gestern auch in der Kirche?“
Damit schien er genau die Frage gestellt zu haben, auf die Muders gewartet hatte. Denn plötzlich leuchteten dessen Augen und auch seine Stimme war nicht mehr so brüchig und leise.
„Der Karl-Heinz schon, also der Persch. Aber der lebt mit so einem jungen Ding zusammen. Das heißt, offiziell haben sie zwei getrennte Wohnungen in dem Haus. Sie geht aber nie in die Kirche. Ich glaube eher, die geht auf den …“ Er unterbrach sich, machte ein vielsagendes Gesicht und blickte dabei den Kommissar an. „Das hätte ich jetzt vielleicht nicht sagen sollen.“
Fuß grinste. „Wir sind nicht von der Sitte, sondern wollen hier einen Mord aufklären. Denn ein natürlicher Tod ist das da draußen wohl nicht.“
Muders nickte und schien froh, dass man ihm seine Bemerkung nicht übel genommen hatte, er die Sache mit dem Mädchen aber trotzdem losgeworden war. „Der Schuck ist ein bisschen ein Sonderling, wissen Sie. Zurückgeblieben, wie man so sagt. Der war auch in der Kirche, steht aber immer ganz hinten. Der hat sehr wenig Kontakt zu den Leuten im Ort, hat auch keine Frau oder Freundin. Seine Mutter versorgt ihn immer noch, obwohl er über dreißig ist. Beide wohnen noch nicht allzu lange hier und leben sehr zurückgezogen.“
„War seine Mutter im Gottesdienst?“
Muders blickte nachdenklich auf seine Hände und schüttelte dann den Kopf. „Also gesehen habe ich sie nicht. Aber manchmal kommt sie später, bleibt dann hinten bei ihrem Sohn stehen und geht auch unmittelbar nach der Kommunion wieder. Wie gesagt, die beiden leben sehr zurückgezogen. Ich glaube, ich habe mit der Frau noch keine hundert Sätze gewechselt, seit sie hier wohnt.“
„Wer war denn außer Ihnen, dem Wirt vom Dorfkrug und dem Forstarbeiter noch in der Kirche?“
Muders zählte alle auf, die er glaubte gesehen zu haben, und Wagner schrieb eifrig mit.
Der Kommissar klopfte mit dem Zeigefinger auf die Wanderkarte.
„Walter, die Spurensicherung soll sofort den Feldweg genau absuchen, bevor das halbe Dorf dort entlanggetrampelt ist! Und lass alle Leute hier antanzen, die Herr Muders eben aufgezählt hat. Du hast die Namen notiert?“
Wagner nickte. „Die meisten werden sowieso immer noch draußen an der Hunsrückeiche stehen.“ Er stand auf, drückte sich hinter dem Stuhl seines Kollegen aus der Fensternische und verließ die Gaststube, verfolgt von den neugierigen Blicken des Wirtes.
„Herr Muders, Sie verstehen mich bitte nicht falsch, alles ist reine Routine“, begann Fuß und blickte den Ortsbürgermeister mit seinem verbindlichsten Lächeln an. „Was haben Sie gestern Abend nach dem Gottesdienst gemacht?“
Muders rieb sich betroffen die Hände und sein Kopf, den er immer etwas schief hielt, geriet noch mehr in Schräglage. „Ich?“, antwortete er zögernd. „Ich bin gleich nach Hause gegangen, alleine. Ich bin seit vier Jahren Witwer, wie ich bereits andeutete.“
„Und dafür gibt es aber keine Zeugen, Sie verstehen?“
„Ich verstehe sehr gut“, antwortete Muders spitz, „aber ich kann Ihnen keine Zeugen bieten. Ich lebe allein. Auch wenn ich noch nicht unbedingt in dem Alter bin, wo man nicht mehr wieder heiraten könnte und …“ Er brach ab und betrachtete wieder seine Hände.
„So habe ich das auch nicht gemeint“, lachte der Kommissar. „Aber in einem Fall wie diesem muss ich jede Möglichkeit untersuchen, die mich eventuell weiterbringt. Was haben Sie denn gestern Abend zu Hause gemacht?“
Muders überlegte nicht lange. „Zuerst habe ich mir etwas zu essen gemacht, eine Dose Ravioli. Ich kann selbst nicht kochen. Und wenn ich nicht raus essen gehe oder eingeladen bin, mach’ ich mir etwas Fertiges. Dann habe ich mir die Tagesschau angeschaut und anschließend so einen Kriegsfilm, der drüben in den Ardennen gespielt hat.
Der ging so etwa bis elf. Aberich bin zum Schluss eingeschlafen. Als ich wach wurde, lief etwas anderes, mit mittelalterlichen Kostümen und so. Da habe ich sofort abgeschaltet und bin ins Bett gegangen.“
Noch bevor der Kommissar eine weitere Frage stellen konnte, ging ein kalter Luftzug durch die Gaststätte und ließ alle aufblicken. Ein junger Polizist in Uniform war ins Lokal gekommen, schaute in die Runde, und eilte dann auf Fuß zu.
„Draußen warten einige Journalisten. Auch der SWR ist gerade mit einem Kamerateam vorgefahren. Wir haben deshalb schon aus Boppard und aus Simmern Verstärkung angefordert.“
„Halten Sie die Leute so weit wie möglich vom Fundort fern. Und sagen Sie, dass es heute vielleicht noch eine Pressekonferenz gibt. Wir werden wie immer rechtzeitig Bescheid geben. Aber das soll die Staatsanwaltschaft entscheiden.“
Der junge Polizist nickte und machte sich wieder auf den Rückweg.
„Stopp!“, rief Fuß hinter ihm her. „Schauen Sie sich mal diesen Weg auf der Karte an.“
Der Polizist kam an den Tisch zurück und beugte sich über die Karte.
„Nehmen Sie sich einen Kollegen und sperren Sie diesen kompletten Weg. Keiner darf da durch, bis die Spurensicherung alles abgesucht hat und ihn wieder freigibt. Nicht dass uns jetzt die ganze Pressemeute dort auf Grund von Aussagen der Dorfbewohner alle eventuellen Spuren versaut.“ Dann wandte er sich wieder dem Ortsbürgermeister zu. „Was haben Sie denn gedacht, als die alte Frau Ihnen erzählte, was sie entdeckt hatte?“
Diesmal überlegte Muders recht lange. Fuß ließ ihm Zeit, er wusste, dass man Zeugen so unmittelbar nach der Tat oder in diesem Fall nach Kenntnis der Tat nie drängen durfte.
Dem Ortsbürgermeister war anzumerken, wie schwer es ihm fiel zu sprechen. „Ich … lag noch im Bett und war etwas verschlafen, als die Hedwig kam. Die war völlig außer Atem und zitterte am ganzen Leib. Erst … erst habe ich es nicht glauben wollen. Aber die Hedwig, so alt sie ist, spinnt nicht. Und dass es die Brigitte war, hat mich geschockt. Das Mädchen war hier im ganzen Dorf beliebt, ein richtiger Sonnenschein und schon so erwachsen und hilfsbereit!“ Er schluckte. „Ich bin dann schnell mit dem Auto zum Friedhof gefahren, habe mich überzeugt, dass das auch stimmt, was die Hedwig gesagt hat, und dann habe ich erst die Polizei gerufen. Man will sich doch nicht blamieren, verstehen Sie?“
Fuß notierte sich ein paar Stichworte. „Im Moment habe ich keine weiteren Fragen an Sie. Vielleicht gehen Sie nochmals zur Hunsrückeiche zurück und sorgen mit meinem Kollegen Wagner dafür, dass die Leute, die gestern Abend den Gottesdienst besucht haben, sich so bald wie möglich hier einfinden. Ich werde inzwischen ganz schnell zu der Mutter des Mädchens fahren und schauen, ob sie schon vernehmungsfähig ist.“