Onettis Roman aus dem Jahr 1943 spielt in einer einzigen Nacht in einer Hafenstadt im Bürgerkrieg und folgt einem Mann, der alles daransetzt, seinen politischen Gegnern und früheren Weggefährten zu entkommen und die eigene Haut zu retten, obwohl er um die Vergeblichkeit dieses Unterfangens weiß. Ein Roman, der etwas von der schwarzen Serie der Kriminalromane der frühen vierziger Jahre hat: ein thrill von existentieller Eindringlichkeit.
Juan Carlos Onetti, 1909 in Montevideo geboren, ist, neben Borges, der andere große Autor aus dem Süden des amerikanischen Subkontinents. Joseph Conrad, Marcel Proust, James Joyce, Louis-Ferdinand Celine, William Faulkner – Onetti hat wiederholt die großen Romanautoren des 20. Jahrhunderts benannt, die ihn geprägt haben. An ihm selbst haben sich nachfolgende Schriftstellergenerationen nicht nur in Lateinamerika maßgebend orientiert. Sein langsam, aber stetig wachsender Ruhm hinderte die Militärregierung 1974 nicht, ihn für einige Monate zu inhaftieren. Er emigrierte nach Madrid, wo er 1994 starb. Im Suhrkamp Taschenbuch sind bisher die Romane Das kurze Leben (st 4849), Leichensammler (st 4848), Die Werft (st 4847), Der Schacht (st 5038) und Niemandsland (st 5039) sowie eine Auswahl seiner Erzählungen, Die so gefürchtete Hölle (st 4992), erschienen.
Svenja Becker übersetzt seit vielen Jahren Literatur aus dem Spanischen, unter anderem Milena Busquets, Augusto Monterroso und Isabel Allende. Sie lebt in Saarbrücken.
Juan Carlos Onetti
Für diese Nacht
Roman
Aus dem Spanischen von Svenja Becker
Suhrkamp
Die Originalausgabe erschien 1943 unter dem Titel Para esta noche. Nähere Angaben in der Editorischen Notiz.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2020
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 5040.
© Heirs of Juan Carlos Onetti 1943
© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2020
Suhrkamp Taschenbuch Verlag
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eISBN 978-3-518-76748-1
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In vielen Teilen der Welt gab es 1942, als dieser Roman geschrieben wurde, Menschen, die verschiedene Überzeugungen des Autors physisch verteidigten. Unter der Vorstellung zu leiden, daß nur sie ein wirklich bemerkenswertes Schicksal erfüllten, war erniedrigend und traurig.
Dieses Buch ist aus dem – auf schäbige und risikolose Weise befriedigten – Drang geschrieben, an fremden Schmerzen, Ängsten und Heldentaten teilzuhaben. Es ist folglich ein zynischer Versuch der Befreiung.
Dieser Roman besitzt sein kleines, beharrliches Schicksal. Er wurde Auch für den Hund kommt der Tag getauft, und für den Hund kam er auch. Aber 1943 in Buenos Aires wog der Verleger ab und wollte lieber auf den Roman verzichten und nicht auf seinen Verlag. Die Überschrift einer Rubrik von Crítica lieferte den neuen Titel.
Jetzt und hier kommt mir in den Sinn, daß die Ballade des alten Yeats ihre boshafte prophetische Kraft behalten hat.
Sollte es noch jemanden geben, der sich an die erste Auflage erinnert, wird er feststellen, daß die nun von Arca veröffentlichte um einiges kürzer ist. Ich versichere, daß sämtliche Streichungen das persönliche und ausschließliche Verdienst des Autors sind, zwanzig Jahre später.
Für Eduardo Mallea
Weiss hatte am Telefon gesagt:
»Sieht aus, als gäbe es eine Passage für Sie. Nicht sicher. Ein Junge von droben, er kennt Sie. Im First and Last. Sagt Ihnen was? Gut, heute abend um neun. Viel Glück, das war’s. Schicken Sie welche von diesen Ansichtskarten mit Bucht, auf denen oben ›die Schönheiten der Welt‹ steht. Tschau.«
Ossorio betrachtete den Himmel, an dem er nichts als die Sterne sah. Kein ferner Lärm, der erheblicher gewesen wäre als die Musik in den Cafés und die Satzgeflechte mit ihrem genau in der Mitte plazierten Gelächter, die auf die Straße drangen, wenn für einen Augenblick die Türen geöffnet wurden. Nichts, was dort am Himmel gewesen wäre, kein Licht außer den Sternen, keine Bewegung außer den kleinen, rundlichen Wolken, die langsam vor dem Mond vorbeizogen. Er berührte das Bündel Scheine in seiner Hosentasche und ging geradewegs von der Bordsteinkante auf das erleuchtete Fenster zu, das von der Straße durch ein Kreuz aus Stäben getrennt war. Dort war eine Frau in gelblicher Atmosphäre vor einem Schrank mit Spiegel. Der Arm, angehoben, um die Frisur zu richten, zeigte eine dicke und kräftige Schulter, und in der eingegrabenen Mulde der Achsel glänzten die Härchen; der Rest ihres Körpers war halb nackt, und er war zerbrechlich im Dunkeln und unter den runden Muskeln der großen, angehobenen Schulter. Ossorio glaubte für einen Augenblick, das Parfüm der fast unbekleideten Büste durch die Fensterscheibe zu sehen.
Einen halben Block weiter hing die Ecklaterne, die Maschine des Erdnußverkäufers pfiff zweimal und schickte der Laterne einen flüchtigen Nebel entgegen. Auf dem Schild an der Bartür stand The First and Last, und die Tür war zweifüglig, eine Schwingtür, die, angestoßen, unruhig vor und zurück klappte, die Bewegung abgeschnittener Köpfe sehen ließ und Beine, die keinen Körper zu tragen hatten. The First and Last, hier war es. ›Und der Mensch ward verurteilt, Nadeln in Heuhaufen zu suchen‹, dachte er.
Die Frau hatte ihre Frisur vor dem Spiegel des Kleiderschranks geordnet, ließ den Arm sinken, querte mit kurzen klackenden Schritten auf den hochhackigen neuen Schuhen das Schlafzimmer, strich den Unterrock über den zusammengepreßten Schenkeln glatt und hob das Kleid aus dunkler Seide an, schaute vom Bett aus, ein Knie auf die Matratze gestützt; wieder ihr kleiner, in Unterwäsche gehüllter Körper im Schrankspiegel, und sie lächelte sich zu und dachte: ›Das bin ich, das bin ich. Die dort mit den weißen, nackten Armen bin ich mit den hochgewölbten Brüsten und meinem parfümierten Körper. ‹
»Das bin ich«, flüsterte sie, begriff aber nicht ganz, daß sie selbst es war, die dort wieder eine Nacht im Spiegel zubrachte, wartend; und während sie hin und her ging, Schritte und Drehungen ausführte in der nicht endenden Aufgabe, sich anzukleiden, mit der Puderquaste ihr Dekolleté zu streicheln und sich mit dem Zerstäuber Brüste, beide Seiten am Hals und die noch kindliche Haut in den Mulden hinter ihren Ohren zu parfümieren, kreiste ihr Lauschen fortwährend um die eichenfarben gebeizte Tür wie ein Scheinwerfer, der suchend über die Tür glitt und rings um die Tür, näher jetzt, schon über den quadratischen Teppich zwischen Tür und Bett, den Tisch, die Frisierkommode, und auch jenseits der Tür rastlos in den Geräuschen der Nacht im Innenhof suchte, in der Nacht auf der Straße, und erneut auf die Geräusche rings um die Tür achtete, sie untersuchte, und sie richtete ihr Gehör wie einen grellen Scheinwerfer auf jedes kleine oder große Geräusch, um es fast sofort, traurig, mit einer leichten Regung der Befangenheit in ihrem Körper zu verwerfen. Schon angetan mit ihrem dunklen Kleid für die Nacht, betrachtete sie sich wieder im Spiegel, betrachtete ihre Zähne, die Augen, das Rosa ihrer Wangen; sie drehte die Hände mit ihren Ringen und den Spitzenbündchen, die ihre Handgelenke verdeckten, und ging, jetzt aller Ausflüchte bar, zum Tisch, um sich unter das vom Lampenschirm gedämpfte Licht zu setzen, und bewegte die gealterten Hände und blassen Erinnerungen, bis die erste Bö der gestorbenen Nacht aufkam und ihr die grauen Strähnen über Schläfen und Hinterkopf wehte, aus einer Ferne voller Hufgetrappel, Detonationen, Schreie und dem gleichmäßigen Vibrieren der Motoren. Da wollte sie schon nicht mehr zur Tür schauen, und auch in dieser Nacht begann sie sich allein auszuziehen, und als sie nackt war, spürte sie, wie ihr Gesicht feucht wurde, und sie wollte auch ihren Körper im Spiegel nicht mehr ansehen und betrachtete allein die Stelle der Grotte, die sie in den Stunden mit ihren alten Erinnerungen gegraben hatte.
Nach wenigen Schritten in der Wärme blieb Ossorio vor einer Frau stehen, stieß fast an ihren Bauch. Die Frau sah, aufrecht neben ihm, weiter zu ihm hin und hob ihre Fingerspitzen vor ein scheues Lächeln.
»Ich tanze nicht«, sagte Ossorio. Sie lachte und entblößte unvermittelt ihren Mund.
»Heute nacht wird nicht getanzt, niemand tanzt.«
»Wieso heute nacht nicht?«
Er wußte, sie würde lügen, alle logen, als könnten die Dinge dadurch, daß man sie beim Namen nannte, heraufbeschworen werden. Sie log und wandte dabei den Kopf zur Saalmitte.
»Nein«, sagte sie, »es ist sehr voll, und die Tanzfläche ist mit Tischen zugestellt.« Dann fügte sie im Tonfall einer gewagten Frage hinzu: »Wir finden nie und nimmer einen freien Platz«, und hängte sich bei ihm ein.
Ossorio verlagerte das rechte Bein ein wenig, um weiter das Gewicht der Scheine zu spüren. Er redete und betrachtete dabei die Gesichter im Saal. ›Ich kenne nicht einmal den Namen‹, dachte er und sagte dabei zu der Frau:
»Ein Jammer, daß wir keinen Platz finden, wo es soviel zu sagen gäbe… «
Sie ermunterte ihn, riß begeistert die Augen auf, strich über seinen blanken Hals mit ihren Fingern, die kurz und rosig waren, mit geschwollenen Gelenken. ›Jedes Gesicht könnte es sein‹, dachte Ossorio weiter.
»Sind Sie sicher, daß man sich nirgends hinsetzen kann?«
Die Frau sah ihm neugierig ins Gesicht und lachte gleich darauf.
»Aber ja«, sagte sie. »Gehen wir in eine Nische.«
Während sie gingen, richtete sich sein Argwohn auf die Stimme der Frau, die tief geklungen hatte, ausländisch. Dann tätschelte er ihr die Wange und sagte:
»Wir können uns in irgendeine Nische setzen, und ich halte Sie fest und wärme Ihnen die Hände. Hören Sie, eins nur. Wir werden uns immer, in jedem Fall, siezen.«
Sie nickte. In einer Ecke stand die Bühne für das Orchester; an der abgewandten Seite fanden sie einen freien Tisch und setzten sich mit dem Rücken an die Trennwand aus schwarzem Holz. Ossorio nahm seinen Hut ab und umfaßte die Hände des Mädchens, um sie zu wärmen.
»Noch etwas«, sagte er. »Keinen Alkohol. Ich zahle alles mögliche. Aber keinen Alkohol.«
Sie lächelte weiterhin mit seliger und verkindlichter Miene; sie streckte eine Hand aus und strich Ossorio übers Gesicht, duckte sich zum Lachen zusammen.
»Du bist stoppelig.«
Er zog eine Pfeife und einen Tabaksbeutel aus der Tasche und ließ den Beutel einen Augenblick an einer gelben Schnur tanzend von seinem Finger baumeln.
»Wir hatten ausgemacht, uns nicht zu duzen«, sagte er.
»Oh, ja!« antwortete sie, und der glückliche Ausdruck verbreitete sich über ihr ganzes rundes Gesicht, und sie schlug die Augen nieder und schob die gespitzten Lippen vor. »Sie, Sie, Sie… «
Das S wand sich ein wenig, ehe es sich vom Gaumen löste. Dann kniff sie ihm ins Kinn und wandte sich lachend dem Kellner zu.
»Für mich Anis. Für ihn, für Sie, keinen Alkohol.«
Ohne sich umzudrehen, klopfte Ossorio mit der Pfeife gegen die Trennwand über seiner Schulter.
»Was ist dort?« fragte er.
Er beugte sich zum Anrauchen vor und lehnte sich mit der Pfeife zwischen den Zähnen, von Rauch umgeben, erneut zurück. Die Frau gab keine Antwort; als der Kellner kam, schob sie Ossorio den Kaffee hin, trank den Anis zur Hälfte und saß eine Weile schweigend nach vorn gelehnt, die Hände vorm Gesicht, die Daumenballen kräftig gegen den Mund gepreßt, wobei die ausgestreckten kurzen Finger kaum die Brauen erreichten. Er konnte die schmutzigen Fingernägel sehen, die runden, fleischigen Ohren und die gemalten, fast verwischten Linien über den Augen, anstelle der abhanden gekommenen Brauen. »Viens, viens … «, flüsterte sie; ihr Gesicht war entschlossen und erhitzt. Sie schob ihre Finger zwischen Beine und Sitzfläche und wiegte sich »viens, viens« summend im Rhythmus des Orchesters.
Bedächtig, ohne sie aus den Augen zu lassen, hob Ossorio den Arm und klopfte erneut mit dem Pfeifenholm gegen die Trennwand; da verstummte die Frau und saß still, verbarg ihren Blick und sagte schließlich undeutlich:
»Die Séparées sind da.«
Dann sang sie weiter. Er beugte sich über den Tisch und rührte in seinem Kaffee. ›Ich muß ihn finden, ehe es hell wird‹, dachte er. ›Verrecken gut und schön, aber ich hätte es gerne nicht jetzt und nicht hier.‹ Er sah geistesabwesend auf den Kaffeedampf vor dem Rauch über den Tischen. Plötzlich, als hätte jemand genau hinter seinem Kopf den Mund an die Trennwand gedrückt, hörte er eine Baßstimme bedächtig einen Satz beenden: » … daß jeder einzelne seinen Traum erfüllt.« Jemand, der in einem Séparée trank und sich unterhielt und sich eben umgedreht und zu guter Letzt gegen die Holzwand geredet hatte. Er wandte sich der Frau zu, die ihm mit ihrem heiteren Blick entgegensah.
»Du hast nichts gesagt, oder?«
Sie steckte einen Finger zwischen ihre Brüste und hob die aufgemalten Brauen.
»Ich?« fragte sie eingeschnappt.
»Gut, wer hat also vom Traum geredet? Ich weiß ja, daß es hier dahinter war.«
»Was weiß denn ich«, sagte sie. »Irgendein Betrunkener. Du willst nichts trinken und redest nicht einmal mit mir, und dann hörst du noch den Betrunkenen zu.«
Sie schob die Hände wieder zwischen Stuhl und Beine und sah zu zwei Musikern hin. Ossorio trank den Kaffee in einem Schluck und streckte den Arm nach der Frau aus:
»Gib her. Ich wärm dir die Hände.«
Sie wollte sich nicht umdrehen, hob die Nase und murmelte:
»Ich wärm sie mir lieber so.«
Jetzt schmurgelte der Rauch in der Pfeife und war zu heiß. Die fünf schwarzen Musiker warteten an einem Tisch in der Mitte des Saals auf ihren Einsatz. Der hellste und dickste Schwarze sang lächelnd einen Refrain auf englisch, bewegte den Kopf und das Glas, aus dem er niemals trank, und die anderen lachten und fielen zwischendurch jäh in melancholisches Schweigen, in dem ihre Blicke umherwanderten, als suchten sie jemand. ›Es kann auch ein Schwarzer sein‹, dachte Ossorio, ›und wenn er never more in Alabama sagt, meint er vielleicht mich damit und sucht nach mir.‹ Er pfiff sachte den Refrain des Schwarzen mit.
»Klar«, sagte die Frau und drehte sich um. »Du willst nichts trinken, und dann fängst du an und hörst Unsinn.«
Aber sie ließ sich eine Hand anfassen, die linke, gerötet und mit einem blutleeren Streifen, den das Gewicht des Beins hinterlassen hatte.
»Gut, wenn es das ist«, sagte er.
Er rief den Kellner, bestellte Klaren und kippte ihn in einem Zug, sog danach die Luft durch den geöffneten Mund, während sie schallend lachte, ihr bleiches Zahnfleisch sehen ließ, einige dünne, schimmernde Speichelfäden zwischen ihren Kiefern. Sie schnitt das Lachen mit der Hand ab und schenkte ihm nach, sah ihn herausfordernd an, ließ die Zunge über die Lippen huschen.
»Du kommst nie hierher. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich dich hier je gesehen habe, aber an dein Gesicht schon. Woher kenne ich dich?«
Er dachte, während er trank: ›Sie will wissen, weshalb ich hier bin, sie will mich betrunken machen, sie will, daß ich mich nicht um die Séparées kümmere.‹ Und als er eben das Glas absetzte, hörte er die Baßstimme im Séparée sagen: »Wer sich selbst sehen könnte.« Gemächlich streckte er die Hand mit dem leeren Glas aus. Die Frau lächelte immer weiter; es hatte keinen Sinn, sie zu fragen, und Ossorio stützte sein Gesicht auf beide Hände und spürte, daß es hager und unrasiert war. Als die Musik endete, sagte die Stimme: »Es gibt kein Entrinnen, niemand kann sich rühren.« Ossorio schob den Oberkörper vor, weg von der Wand. ›Es kann bloß ein Betrunkener sein‹, dachte er. ›Irgendein Unglücksvogel, der sein Ende nahen sieht wie ich, eine in die Enge getriebene Ratte, und dann stöbert er in der Apokalypse. Aber man kann auch nicht ausschließen, daß die Nadel im Heuhaufen mich sticht.‹
Ossorio stand auf und sagte: »Bin gleich wieder da.« Vorne drückte er dem Kellner einen Schein in die Hand, suchte im Vorübergehen in den Gesichtern, die er sah, und hob den grünlichen Vorhang an, der die Séparées vom Saal trennte und über den das im Türsturz eingelassene Licht glitt. Er trat in den Korridor, dunkel, mit Lichtstreifen unter einigen der Türen rechts und links; er stieß an einen Spucknapf und blieb stehen, um sich klarzuwerden, woher die Stimme gekommen sein mußte. Behutsam öffnete er die Tür zum Séparée, das grell ausgeleuchtet war. Am Boden lag ein Mann, ausgestreckt, mit dem Gesicht nach oben, schwarz gekleidet, mit einer großen Brille, starr, die Hände dichtbehaart und vor der Brust gekreuzt. Eine Frau saß weinend in einer Ecke, der Oberkörper schlaff gegen die lederne Lehne des Diwans gesunken, ausdruckslos; eine zweite kniete neben dem Mann und weinte ebenfalls. Ossorio schloß die Tür und wartete. Der Kopf auf dem Boden war weiß und glattrasiert und schien außergewöhnlich schwer auf dem Teppich mit den roten Rosen zu lasten. Keine der beiden Frauen schenkte Ossorio Beachtung. Er fragte:
»War er es, der geredet hat? Gerade eben?«
Sie antworteten ihm nicht, und Ossorio kaute auf seiner Pfeife und betrachtete die gewaltigen Schuhe des Mannes am Boden. Die kniende Frau stand auf, immerzu weinend, und wühlte mit den Fingern auf der Höhe des Bundes in den Rockfalten ihres langen blumengemusterten Abendkleids. Sie war sehr klein, und ihr gealtertes und schlaues Gesicht schien unter der fast starren Oberfläche der Schminke zu grimassieren.
»Was schauen Sie ihn so an?« sagte sie. »Man muß sein Gesicht zudecken.«
Die andere stand auf, trat zum Tisch und griff nach einem Glas. Sie hielt es einen Augenblick nah an Ossorios Gesicht in die Höhe und sagte dann:
»Wird er jetzt gleich mitgenommen? Er hat sich umgebracht. Er hat gesagt, wenn keiner käme, der ihm was bringt, es sei die letzte Frist, hat er gesagt. Getrunken hat er nichts, aber er war wie besoffen. Er hat gesungen und Zeug geredet, und dann hat er sich umgebracht.«
Mit der freien Hand packte die Frau Ossorio am Jackenaufschlag und schüttelte ihn wortlos, zeigte ihre zornig aufeinandergebissenen Zähne. Unvermittelt ließ sie ihn wieder los und stieg mit einem Schritt über den Toten, streifte seine Hände mit dem Saum ihres Kleides und drehte sich um, als der reglose Körper zwischen ihnen war, so daß ihre Worte, um Ossorio zu erreichen, den hingestreckten Mann überqueren mußten:
»Aber er war besser als alle«, sagte sie. »Die kann’s bestätigen. Deshalb weinen wir auch.«
Sie war schlank, groß, mit ebenmäßigen Schultern zwischen den Falten ihres himmelblauen Kleides. Unaufhaltsam begann das Gesicht am Boden einem Marmorkopf zu gleichen, hart, absichtlich unbewegt. Die Augen waren in die Höhlen gesunken, und die geschwollenen Lider betonten die Wölbung der Pupille. Ossorio klopfte die Pfeife am Holz der Wand aus.
»Was hat er über das Schiff gesagt?« fragte er, ohne die beiden anzusehen.
Die kleine Frau trat mit dem karierten Tischtuch näher und breitete es über das Gesicht des Toten.
»Nein«, sagte sie vom Boden aus. »Was wird er gesagt haben über das Schiff, der Ärmste, wo sie ja doch keinen drauflassen! Er hat gewußt, daß er gesucht wird, und hat gewartet, daß einer von droben kommt, der ihm vielleicht geholfen hätte, weil er ihm mal das Leben gerettet hat. Aber er hat gesagt, daß er diese Nacht nicht übersteht, daß er nichts mehr hat, wo er hinkann.«
Sie stand auf und rührte sich nicht, betrachtete das Aussehen des Toten; mechanisch stocherte ihre Hand wieder im Rockbund. Dann gab sie mit gegen die Zähne gepreßter Oberlippe ein Sauggeräusch von sich und löste ihr Tuch vom Hals. Auf den zugedeckten Leichnam schauend, kratzte sie sich am Kopf und machte noch einmal das Geräusch mit dem Mund. Sie wandte sich Ossorio zu:
»Und Sie?«
Aus ihrer Kleinheit hob sie den Blick.
»Was soll mit mir sein? Ich bin nicht von ungefähr da.«
Die Frau zuckte die Achseln und achtete nicht weiter auf ihn. Schließlich setzte sie sich breitbeinig in eine Ecke und ließ den Kopf sinken, blickte jetzt müde und schlaff drein. Die andere sprach mit bedächtiger Stimme, sah ihn geistesabwesend an und wiegte die Schultern:
»Sie gehen besser, ehe die hier sind. Ich meine nur. Falls jemand reinkommt.«
Ossorio antwortete nicht und ging, um nicht über den Leichnam zu steigen, in einem Bogen zu einem Stuhl am Tisch. Die großgewachsene Frau drehte sich um, beharrte:
»Sie gehen besser. Was schauen Sie so?«
»Nichts. Ich habe nur geschaut.«
»Jetzt sind wir geliefert. Nicht zu merken, daß in dem Fläschchen Gift sein mußte! Wenn jemand damit anfängt, wir hätten ihn vergiftet…«
»Gut«, sagte Ossorio. »Besser für Sie beide. Sie bekommen einen Prostituiertenausweis. Mit Foto vom Chef und mit Wappen.«
Die Frau mit dem alten Gesicht strich seufzend ihren Rock über den Beinen glatt.
»Sie, junger Mann, sind Sie wegen ihm hier?«
»Nein. Ich habe die Stimme gehört.«
»Was soll man da machen!« redete die Frau in Himmelblau im Stehen weiter. »Das konnte doch keiner ahnen. Gut, er hat es gesagt. Aber er hat oft gesagt, daß er sich umbringt, wenn keiner kommt, und sich nicht umgebracht und gesagt, dann morgen.«
Die Ältere saugte wieder an ihren Zähnen und drückte eine Handfläche auf ihre Augen. Die andere Hand streckte sie aus:
»Haben Sie eine Zigarette?«
Ossorio klopfte auf seine Taschen, wußte, daß er keine hatte; da lachte die Frau mit den weißen Schultern verhalten und sagte:
»Ich habe welche.«
Von wer weiß woher hielt sie plötzlich dieses flache Etui aus mattem Metall in der Hand und ließ es aufschnappen. Mit einem langen, anmutigen Schritt stieg sie über die Brust des Toten. Beide Frauen steckten sich eine an. Die in Himmelblau ging mit der Zigarette in der hängenden Hand auf und ab, lächelnd. Die Kleine pustete den Rauch aus, rückte ihren Stuhl heran, stützte die Ellbogen auf den Tisch und redete schnell, mit einem rhythmischen Zucken, das ihren Mund verzerrte, einer rastlosen Brandung, die unter der Haut hinablief, von der schmalen Stirn abwärts, den Mund verziehend, bis sie in den harten Sehnen am Hals erzitterte und im Ausschnitt zur Ruhe kam:
»Ich weiß nicht, aber der war weder besoffen noch verrückt. Er hat gesagt, er wartet auf einen, der ihn retten würde, und hat geredet und geredet. Gut, es war Unsinn, habe ich zu der da gesagt; oder irgendeine Losung, damit der, auf den er wartet, ihn hört und herkommt, um ihn zu retten, wie er gesagt hat. Durch Zufall hätte er ihn hören können, vielleicht, und dann hätten sie sich getroffen. Aber zu uns war er sehr gut, und wenn er nicht mehr fürs Trinken bezahlt hat und dafür, daß wir bei ihm waren, dann, weil er nicht mehr hatte. Er ist keinem zur Last gefallen und hat sich rausgehalten, hat die ganze Zeit geredet und geredet.«
Weiter umhergehend sagte die andere:
»Mir hat es gefallen, was er gesagt hat. Ich weiß nicht, was es war, und manchmal hat es mir angst gemacht; aber es hat mir gefallen.«
Sie lachte schlicht, wiegte die Schultern, eine unter dem Schein der Lampe, eine gerundet im Dunkeln. Sie knickte die Zigarettenasche mit dem Fingernagel ab und lachte wieder.
»Die hat ihm nicht zugehört.«
»Was weißt du, ob ich ihm zugehört habe?« entgegnete die kleine Frau, ohne ihre Haltung zu verändern. »Aber du hast auch nicht verstanden, wovon er redet. Und ich habe mich um ihn gekümmert, und das hat er sehr wohl gemerkt, keine Sorge. Aber manchmal ist er auch böse geworden. Manchmal war das Cafe voller Leute, und irgendwer kam samstags und hat an die Tür geklopft, und er ist aufgestanden und hat keinen Ton gesagt, bis der andere die Tür aufmacht und er sein Gesicht sehen kann. Und wenn er reinkam, hat er ihn mit verschränkten Armen angeschaut ohne ein Wort; und dann hat er ihn hereingewunken und ihm einen Platz angeboten, sich aber die ganze Zeit dumm gestellt, dabei war er dem Kerl haushoch überlegen. Und wenn er ihn sich eine Weile genau angeschaut hatte, hat er ihn rausgeworfen wie einen Hund. Ohne Ekel hat er sie rausgeworfen. Klar, er hat auf einen gewartet und gesehen, daß der es nicht ist, und die Wut bekommen.«
Sie stützte den Kopf auf eine Hand, rauchend, und betrachtete den halb unter den Tüchern verborgenen Mann am Boden.
»Aber das gibt Ärger«, sagte sie.
Die andere stand noch immer, wiegte sich und schob eine Schulter in den Schatten, zog sie wieder heraus und schob die andere hinein.
»Aber gut. Du wirst nicht behaupten wollen, daß er mich nicht auch bemerkt hat. Er hat mich gern gehabt wie eine Tochter, und einmal hat er mir das gesagt.«
Sie lächelte mit gedankenverlorenem Blick. Sie drehte sich zu Ossorio um, und der nickte zwinkernd und bewunderte dieses eigenartige, dranglose Begehren, das von der Frau ausging und ihn glauben machte, man könne mit ihr schlafen und zugleich mit den Gedanken woanders sein. Die Kleine schnaubte; die Zigarette, schon sehr niedergebrannt, bewegte sich, befeuchtet, zwischen den Lippen:
»Was ein Schlamassel… Mordsärger jetzt.«
Auf den Gesichtern der beiden Frauen, über die Lächeln und Ablenkungen gegangen waren, erkannte man noch die Spuren des Weinens, und ohne die Trauer fand Ossorio das Glitzern der Tränen und die schlecht abgewischte Rotze abstoßend.
»Hören Sie, ich an Ihrer Stelle würde gehen«, fing die Kleinere wieder an. »Man wird Nachforschungen anstellen, und es gibt Ärger.«
»Wegen der Verwicklungen«, bestätigte die andere. »Sie sind jeden Moment hier. Hätten wir besser auf ihn aufgepaßt, wer weiß.«
Ossorio sah sie nacheinander an; dann klemmte er die Pfeife zwischen die Zähne und fragte:
»Und wem müßt ihr jetzt Bescheid geben? Keine Sorge; übel wäre gewesen, wenn der euch abgehauen wäre.«
Die Kleinere sah ihn zornig an:
»Und wer hat dir gesagt, daß du dich einmischen sollst? Ich weiß selber, was zu tun ist. Wenn du hierbleiben willst, sieh allein zu, wie du klarkommst.«
»Sicher. Aber wenn man’s recht bedenkt, ist es gerade so, als wäre er abgehauen. Ihr hättet auf ihn aufpassen sollen und ihn abliefern, wenn er verlangt wird.«
Die Kleinere musterte ihn mißtrauisch. Die andere flüsterte verängstigt:
»Ich habs dir gesagt…«
»Ja, du hast es gesagt, das hast du. Er hat sich umgebracht und fertig, da war nichts zu machen, wer kann ahnen, was er für eine Schweinerei in dem Fläschchen hat. Und in letzter Zeit habe immer ich auf ihn aufgepaßt und bin ihm nachgelaufen, wenn er raus ist, und du nie. Du hast nur hier gesessen, in aller Ruhe.«
Da verschränkte die Frau mit den ebenmäßigen Schultern die Arme im Rücken und legte für die andere ein unerschütterliches, weißes Lächeln bloß.
»Gut«, sagte sie, weiter lächelnd, als würde sie an etwas zurückdenken. »Gut. Soll ich dir was sagen? Jetzt wo er tot ist. Nur, daß du’s weißt, einmal hat er angefangen, mir den Rock hochzuheben. So ein bißchen.«
Die andere spuckte den Zigarettenstummel aus, wischte sich über den Mund und zeigte mit dem Finger:
»Er?«
»Ja. Da kannst du mal sehen.«
»Hat angefangen, ihn hochzuheben? Und dann?«
Die Frau lachte aufrecht, schaukelte hin und her, schön und heiter.
»Was weiß ich, was dann. Er hat mich von sich weggestoßen und weiter Unsinn geredet. Aber angehoben hat er ihn, das hat er. Ich weiß noch, daß es eine Regennacht war.«
Ossorio richtete sich auf und steckte die Pfeife ein, betrachtete das Lachen der Frau und dachte an eine Regennacht. Die andere begann hastig zu sprechen, verschränkte die Arme vor der Brust und ließ das Lachen der Frau in Himmelblau nicht aus den Augen.
»Hör zu, es gibt Dinge, von denen verstehst du nichts. Du denkst, weil er deinen Rock angehoben hat, ist er auch so gewesen wie jeder Kunde, der kommt und zahlt. Du merkst nicht, daß er anders gewesen ist, daß er Dinge getan und gesagt hat, die nie das waren, wonach sie ausgesehen haben. Und wenn er gesagt hat, daß du schön bist, dann nicht wegen dem Gesicht, das du hast. Immer hat er was anderes gesucht als das, wovon er geredet hat.«
Die andere wiegte sich noch immer, sanft und unergründlich.
»Möglich«, sagte sie. »Aber wenn er meinen Rock angehoben hat, wird er sicher gewußt haben, was er findet.«
Ossorio sah die beiden aufmerksam an, die eine, die auf dem Stuhl eine intelligente Affenmiene aufgesetzt hatte, und die andere, die über dem Toten ihre Brüste und ihr Lachen wiegte. Dann ging er hinaus.
Er folgte dem dunklen Korridor, hörte auf die Geräusche im Saal, und am Vorhang vor dem Durchgang drehte er sich um. Ein beleibter Mann klopfte an die Tür zum Séparée. Fast sofort wurde geöffnet, wortlos, eine Stimme fragte etwas, und im flüchtigen Lichtschein konnte er den Mann sehen, seine beringten Finger, den schwarzen, schrägsitzenden Hut, ein staubiges und mürrisches Gesicht mit kräftigen Brauen, wie er mit schweren, verächtlichen Schritten durch die Tür ging. Ossorio wartete kurz und trat dann in den Saal, der nun fast bis auf den letzten Platz gefüllt war, und in seine stickige Luft. Er blieb stehen, besah prüfend die Gesichter, suchte nach der Frau von gerade eben, und an der Theke erkannte er Martins, der ihn mit dem Blick grüßte ohne eine Regung im Gesicht, sich dann gleichgültig ins Profil drehte. Ossorio trat an die Theke und bestellte ein Glas Wein; sie standen Schulter an Schulter, jeder mit seinem Glas in der Hand, und schauten mit leeren Augen auf die Etiketten der Flaschen im Regal.
»Alles erledigt?« fragte Ossorio leise.
Der andere stützte die Wange in die Hand und wartete, daß der Barkeeper sich entfernte.
»Und ob«, sagte er in portugiesischem Singsang. »Es gibt keine Front, keine Grenzlinie. Ein Fetzen Watte auf einem klaffenden Schlund. Keine zwei Tage, dann…« Seinen Gedanken fortspinnend, strich er sich mit den Fingern über den Hals.
Ossorio nahm einen Schluck und hielt seine Lippe mit der Hand fest, um sie zu trocknen. Er steckte seine Pfeife an, während der Barkeeper am Regal lehnte und die Augen halb schloß, für einen Moment, um die Müdigkeit zu hintergehen, ehe er den Kopf schüttelte und den Hebel der Kaffeemaschine zur Seite schob.
»Und hier?« fragte Martins. »Bin eben erst angekommen.«
»Alles faul.« Er kehrte Martins den Rücken zu und schaute nach hinten in den Saal.
»Ich habe Dicke en masse gesehen, viele von denen, von der Leine gelassen«, bemerkte Martins’ schleppende Stimme an seiner Schulter.
Er lehnte sich wieder an die Theke und leerte sein Glas.
»Alles faul. Doch, der Gestank ist schon unverkennbar. Mit dem ersten Flugzeug, das hier auftaucht, ist Schluß mit der Stadt. Sie sind geliefert.«
»Genug«, sagte Martins.
Sie schwiegen, während die Eingangstür aufschwang und Stimmen und Schritte hinter ihnen vorbeizogen. Ein weiteres Glas tranken sie schweigend und warfen die Münzen auf die Theke.
»Dort wird ein Tisch frei«, sagte Martins. »Warte, und komm dann nach. Ist besser als hier.«
Ossorio ließ ihn sich setzen, trat wenig später zu ihm und bat mit lauter Stimme darum, Platz nehmen zu dürfen. Martins zuckte wortlos die Achseln; nach einer Weile sagte er:
»Was ist das für eine Geschichte mit den Flüchtlingsschiffen?«
Er konnte so nicht reden, ohne Martins anzusehen, ohne etwas im Glas zur Tarnung. Er bestellte weiteren Wein; jetzt spürte er, daß er nicht gehen würde, daß alles verloren war, daß man ihn bei Tagesanbruch umbringen würde.
»Versprochen waren drei Schiffe«, sagte er. »Gekommen ist nur die Bouver; sie läuft am frühen Morgen aus. Die Regierung hat jeden Passierschein ausgestellt, um den sie gebeten wurde, die ganze Stadt hat einen Passierschein in der Tasche. Aber es gibt keine Passagen. Die Regierung war für die Passagen zuständig, aber jetzt gibt es weder eine Regierung noch Passagen. Dafür gibt es diese Falle, in der man warten darf, bis man abgeschlachtet wird. Irgendwer hat und verkauft die Passagen.«
Er betrachtete Martins’ unbewegtes Gesicht, gealtert, mit seinem albernen Schnurrbärtchen. Wie sollte er ihm sagen, daß er Himmel und Erde in Bewegung gesetzt hatte, um eine Passage zu bekommen, daß er gefleht hatte, seine Angst zu erkennen gegeben hatte, das Geld von Martins und all den anderen, die in dieser Nacht oder bei Tagesanbruch sterben würden, gestohlen hatte, um eine Passage zu kaufen und abzuhauen. Martins zuckte die Achseln.
»Ich bin sehr müde«, sagte er.
Ossorio spürte, daß ihm schwindlig war, und bestellte noch einen Wein, ein großes Glas.
»Ich bin sehr müde«, sagte der andere wieder. »Dort gab es keine Waffen, kein Essen und Kampfgeist auch nicht. Jetzt gibt es noch dazu keine Schiffe. Hier werden sie auch nicht kämpfen. Ich habe eine Frau zum Schlafen, und die nehme ich mit ins Parteihaus. Müde. Dort kämpfen sie vielleicht; dann werde ich wach.«
Er schlug abschließend mit der flachen Hand auf den Tisch. Ossorio betrachtete die Hand: ›Ihm fehlt noch immer ein Finger‹, dachte er und trank seinen Wein aus. Er nickte.
»Ja«, sagte er. »Ich werde mich betrinken. Seit einer Woche weiß ich, daß hier alles erledigt ist; man ergibt sich für ein Schiff, das beladen ist mit Haien.«
Er schrieb mit seiner Pfeife ein Kreuz in die Luft. Martins seufzte:
»Sehr müde.«
»Viele Freunde draufgegangen?« fragte Ossorio.
»Pah«, sagte der andere. »Von jetzt bis morgen alle. Aber für dich gab es was. Jetzt trinke ich doch einen mit.«
Er gab dem Kellner ein Zeichen und zog sich wartend in sein Schweigen zurück wie in einen Schildkrötenpanzer, bis die Gläser kamen.
»Zum Wohl«, sagte er und trank.
»Zum Wohl«, antwortete Ossorio.
Den Blick wie zuvor von der Theke auf die Farben der Flaschen im Regal gerichtet, sah Martins wieder aus, als redete er mit sich selbst, als er sagte:
»Die Korporalin …«
»Ja«, bemerkte Ossorio.
»Haben sie tanzen lassen.«
»Schweinehunde.«
Ossorios Gesicht und seine Stimme wurden plötzlich sanft und heiter.
»Schon viele Tage her?«
Martins hob die Arme und ließ sie fallen.
»Wer weiß das, jetzt. Eine Woche, zwei. Sie haben sie tanzen lassen, allein, auf ihrem Karren, das Pferd haben sie getötet.«
»Am neunten war ich mit ihr zusammen«, sagte Ossorio und überlegte, was das heißen sollte: ›Am neunten war ich mit ihr zusammen.‹
»Ich bin sehr müde«, sagte Martins und stand auf.
Sie sahen einander an, Martins schürzte sein Bärtchen und ging rasch, die Tür mit der Schulter aufstoßend, hinaus. Ossorio lehnte sich auf dem Stuhl zurück und schlug ein Bein über das andere. ›Wir haben viele tanzen lassen‹, dachte er. Jemand hatte sie die Korporalin genannt, weil ihr Haar und die Nase an Napoleon erinnerten. Die Korporalin Luisa war allein im ausgestorbenen Kasernenraum, im Kasino, saß am Tisch, und ihre Hände bewegten sich zwischen Wattepacken, und als er eintrat, sah sie ihn lächelnd an, sie hatte tief in den Höhlen sitzende runde Augen und sagte: »Grüßdich«. Er hätte sie gern Grüßdich genannt, aber am Ende nannte er sie die Korporalin, wie alle. Ihr Körper war groß und weiß, und manchmal sah man ihr Gesicht übersät von Sommersprossen rings um ihr Lachen und den treuen Blick, und dann wieder vergaß man die Sommersprossen. Wenn die Nacht anbrach, umgeben von fernem Geschützlärm, hielt die Korporalin angestrengt den Mund, lauschte in seinen Armen auf das Wachsen der Nacht, und später, als sie Zutrauen gefaßt hatte, schenkte sie ihm eine Geschichte von Stränden und Herbst, eine feuchte Geschichte, in der ein Mädchen, als tanzte es für sich allein, die zernagte Küstenlinie entlangrannte, und weiter nichts, und jetzt konnte sie ihm nichts weiter geben, war in die dunkle und schmutzige Masse und in den Krieg geraten; und während der Trennungen gab sie ihm zu denken an die Träume und die Laken, in denen die von ihr geträumten Träume zu Grabe getragen worden waren, früher; und an die Küsse, die sich auf ihren Mund gedrückt hatten, früher; und an die Orte, die Bäume, die Wände, die Möbel, die Kleider, die ihre Augen gesehen hatten, früher. Und, früher, ihre Finger, ihre Hüften, ihr Lachen, die Ohren, die Knie, der Geschmack und die Stunde ihrer Tränen. Wieder fand er sie unbegreiflich im Leben und im schweren Geruch von Fäulnis und Tod, und mit ihrem ersten Wort der Begrüßung war alle Vergangenheit von der Korporalin Luisa geflohen. Jetzt sah er sie vor sich sitzen; ein Mädchen mit einem großen Körper, die Hände zwischen Papieren vergraben, und sie sagte »Grüßdich« und sah und lächelte ihn an mit ihren runden Augen. Und all das, was er dachte, war wie ein Gebet für den verunglimpften und durchlöcherten Körper des Mädchens. Von dieser monatelangen Leidenschaft zwischen sinnlosen Toden, von all der Arbeit, dem Hunger, der schmerzenden Müdigkeit, den Reisen, dem Schlamm, dem Blut, der Angst war nur dieses eine geblieben, was sich wie ein unbekannter Gegenstand in Händen halten ließ, nur die Erinnerung an einen Morgen am Strand der weiten Lagune, an der Grenze, mit drei Flugzeugen, die sehr hoch oben kreisten und sich über dem Meer entfernten, und dann war er vollkommen allein bis zum Wasser gegangen und hatte sich in Hemdsärmeln in die Sonne gesetzt und in den Tag geschaut, in den Himmel und aufs Meer, lange, über Stunden, ohne einen einzigen Gedanken, friedlich in der Natur, ungerührt wie ein Tier.
Er zahlte beim Kellner und ging nach hinten in den Saal. Die Musiker warteten an einem Tisch auf ihren Einsatz; der Sänger lächelte und betrachtete seine Fingernägel im Licht. Die Frau saß in derselben Ecke, aber um ihren Tisch hatten sich Männer und eine Frau in einem grünen Kleid geschart. Ossorio schob sich den Hut in den Nacken und setzte sich. Ein blonder Matrose stand kopfschüttelnd auf und setzte sich wieder hin. Alle lachten, alle waren betrunken und er ein bißchen. Die Frau in Grün sah ihn an und sagte:
»Dieses Gesicht sieht krank aus.«
Alle lachten erneut und ließen die Gläser klingen. Er sagte: »Ich darf doch«, füllte aus der Ginflasche, die auf dem Tisch stand, das Glas der Frau und begann zu trinken. Er sah in die Runde und hörte zu, ohne weiter darauf zu achten, was gesagt wurde, füllte das Glas und trank. Er bemerkte eine seltsame Verschiebung an der Tür; etwas Eigenartiges ging vor oder würde gleich geschehen. Es waren neue Leute da, eben gekommen, im Saal verteilt, als warteten sie auf etwas. Der Matrose strich sich über die Brust, bewegte entmutigt den Kopf und warf Ossorio freundliche Seitenblicke zu. Neben dem Matrosen hatte ein dicker, teuer gekleideter Mann den Arm um den Hals der Frau in Grün geschlungen, zog behäbig an einer Zigarette mit goldener Spitze, das versonnene Gesicht ohne Regung. Auf der anderen Seite der Frau saß ein kleiner Mann mit einem Gebiß voller Gold und bewegte beim Sprechen den Hals in dem zu weiten Kragen hin und her. Er redete schnell und grub dabei in den Innentaschen seines Sakkos.
»Weil es keine Frage des Gefühls ist«, sagte die Frau in Grün. »Was sollte mich das kümmern. Ihr versteht. Weil die Leute sich die Wahrheit so und so ausmalen, wie sie gern hätten, daß sie aussieht, gerade wie es ihnen paßt. Ja? Eine Wahrheit, die jeder in sich austrägt, die neun dafür vorgesehenen Monate lang, und wenn er sie am Ende, noch ein bißchen zerknautscht, in die Welt entläßt und ihr Heititei vorsingt, na? dann sieht man doch gleich, daß die Nase ganz der Papa ist, und ein bißchen später dann, ja, ja, genau wie der Opa, wie er die Uhr in der Weste gesucht hat, wenn es am Sonntag auf die Pferderennbahn ging.«
Die beiden Frauen unterdrückten gleichzeitig das Gähnen, der Mann, der die Frau in Grün umfaßt hielt, zwinkerte der Leere zu. Der mit dem vergoldeten Gebiß ließ über die anderen ein feuchtes Lächeln gleiten und beugte sich über die Papiere, die er aus den Taschen gezogen hatte.
»Nein, nein«, sagte er. »Wir wollen uns nicht streiten, und ich betreibe auch keine Propaganda. Ich bin nun mal ein schlechter Mensch, stellen Sie sich vor. Ungerechtigkeit und dergleichen sind mir einerlei; komme, was da wolle in der Welt… Wenn ich so bin, kommt es, wie es kommen muß. Und wenn ich auf die andere Art bin, die Zustände verbessern will, mir um alles Gedanken mache, ebenso. Wie es kommen muß… Ob ich also etwas tue oder lasse, es bleibt sich gleich. Ich bringe mich nicht für Ideen um.«
Er lachte eine Weile und hob ein Glas an seine spuckefeuchten Lippen. Der dicke Mann zwinkerte noch einmal mit demselben Auge; er zupfte mit zwei Fingern an der Haut der Frau in Grün, oberhalb des Stoffs.
Ossorio trank weiter schweigend, unter den Blicken des Matrosen. Die Frau vom Anfang der Nacht sah ihn hin und wieder forschend an und lächelte, sie beugte sich zu dem kleinen Mann und sagte etwas, er lachte auf und steckte die Papiere weg. Anschließend stieß die Frau mit ihrem Knie an Ossorios Bein.
»Ich dachte gerade an ein Mädchen, das gestorben ist«, sagte Ossorio.
»Und was ist dabei? War sie vielleicht deine Schwester?«
»Nein, sie war nicht meine Schwester.«
»Eine Freundin? Und wie ist sie gestorben?«
Er schüttelte den Kopf. Er sah, wie der Matrose etwas mit Bleistift auf ein vergilbtes Stück Papier schrieb, die Rückseite eines Flugblatts, wie er sich unterbrach, um zu trinken und an die Decke zu sehen.
»Meinst du die Italienerin?« beharrte die Frau. »Die ist neulich gestorben. Sag: War es eine, die hier verkehrt hat, sehr dünn, die den Mund so zusammengekniffen hat, mit einem langen roten Kleid mit einer Blume auf der Brust?«
»Nein. Es war ein Mädchen«, sagte Ossorio.
»Ein Mädchen, das sagtest du bereits«, sagte die Frau verdrossen. »Ich meine, wie sie war.« Sie hob die Stimme, um über den dicken Mann hinweg mit der Frau in Grün zu sprechen. »Jetzt behauptet er, er hat ein Mädchen gehabt, das gestorben ist.«
Die Frau in Grün lächelte ihn freundschaftlich an und nahm die Finger des dicken Mannes und entfernte sie für einen Augenblick, atmete erleichtert auf, während sie sich auf dem Stuhl zurechtsetzte. Der kleine Mann stand auf und ging.
»Dreckschwein«, sagte eine von den beiden.
Der Matrose schrieb immer gelöster mit schweißüberzogener Stirn. Ossorio schüttelte über seinem Schwindelgefühl den Kopf.