Richard Wagner
Parsifal
Richard Wagner
Parsifal
Textbuch
Einführung und Kommentar
von Kurt Pahlen
unter Mitarbeit von Rosmarie König
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Bestellnummer SDP 67
ISBN 978-3-7957-8615-1

Originalausgabe März 1981
© 2014 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz
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Inhalt
7   Zur Aufführung
9   Textbuch mit Erläuterungen zu Musik und Handlung
158   Inhalt
183   Zur Geschichte des Parsifal
250   Quellen, Gedanken, Interpretation en zu Parsifal
277   Biographische Daten aus dem Leben
  Richard Wagners
301   Die Bühnenwerke Richard Wagners
5
Richard Wagner im letzten Lebensjahrzehnt
(Nach einem Stich von A. Weger)
Zur Aufführung
TITEL
Parsifal
BEZEICHNUNG
Ein Bühnenweihfestspiel in drei Akten
DICHTUNGUNDMUSIK
Richard Wagner
URAUFFÜHRUNG
Bayreuth, am 26. Juli 1882
PERSONENVERZEICHNIS
Amfortas, König des Grals
................
Bariton
Titurel, sein Vater
..............................
Baß
Gurnemanz, Gralsritter
......................
Baß
Klingsor, abtrünniger
Gralsritter, Zauberer
...................
Bariton
Kundry
..............................................
Mezzosopran oder
Dramatischer Sopran
Parsifal
...............................................
Tenor
2 Gralsritter
......................................
Tenor und Baß
4 Knappen
.........................................
Sopran, Alt,
2 Tenöre
Klingsors Zaubermädchen
.................
6 Solistinnen
(»Blumenmädchen«)
...................
und Frauenchor
Die Gralsritter
....................................
Tenöre und Bässe
(Chor)
Stimmen von Knaben
(aus unsichtbarer Höhe                     Sopran und Alt
ZEIT
(nicht von Wagner angegeben): Wahrscheinlich um die Mitte
des 9. christlichen Jahrhunderts.
7
ZUR AUFFÜHRUNG
ORT
(von Wagner nur ungenau angegeben) Wahrscheinlich am Südhang der Pyrenäen, wo seinerzeit die Grenze zwischen christlichem und islamischem Gebiet verlief.
SCHAUPLÄTZE
I. Akt: Im Gebiete des Grals, Waldlichtung nahe einem See
In der Gralsburg
II. Akt: In Klingsors Zauberschloß und -garten
III. Akt: Im Gebiete des Grals, eine Frühlingsaue
In der Gralsburg
ORCHESTERBESETZUNG
3 Flöten, 3 Oboen, Englischhorn, 3 Klarinetten, Baßklarinette, 3 Fagotte, Kontrafagott; 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Baßtuba; Pauken, 2 Harfen; Violine 1 und II, Viola, Violoncello, Kontrabaß.
FERNERBUHNENMUSIK
2 Trompeten, 4, nach Möglichkeit 6 Posaunen, 4 Glocken,
1 Rührtrommel.
SPIELDAUER
etwa 5 Stunden.
8
Textbuch mit Erläuterungen
zu Musik und Handlung
ERLÄUTERUNGEN
Richard Wagner schrieb, als er (im Münchener Hoftheater am 12. November 1880) König Ludwig II. das Vorspiel zu »Parsifal« vorführte, eine Einführung, der er die Überschrift gab: »Liebe-Glaube-: Hoffen?«1 Darin spricht er von zwei »Themen«: »Liebe« und »Glauben«, die gemeinsam zweifellos den Inhalt dieses ausgedehnten Tonstückes ausmachen. Wenn wir aber zum Zwecke einer Analyse von den musikalischen Themen sprechen, so müssen wir ihrer drei erwähnen. Wagner selbst hat bekanntlich seinen Motiven keine Namen gegeben; das haben erst seine Jünger und Erklärer getan (Hans von Wolzogen schuf den heute überall verwendeten Begriff des »Leitmotivs«), wobei es keineswegs eindeutig feststellt, wie weit diese Motive tatsächlich mit einem –
einengenden – Wort bezeichnet werden können.
Das erste Motiv, das im Parsifal-Vorspiel vorkommt,
kann wohl als »Liebesmotiv« bezeichnet werden, bedeutet aber keinesfalls die sinnlich-menschliche Liebe (die etwa Tristan und Isolde zueinander trieb), sondern eine höhere, sublimierte Liebe, die durch eine Vereinigung mit Gott ihre Erfüllung erfährt. Diese Tonfolge erklingt in der ersten Gralsszene dann, von »Stimmen aus der Höhe « gesungen, mit dem Text: »Nehmet hin meinen Leib, nehmet hin mein Blut um unsrer Liebe willen«, womit der Bogen zur christlichen Liebe – zur Kommunion im katholischen Sinne –
gezogen erscheint.
1     vgl. Zur Geschichte des »Parsifal« in diesem Band, S. 181
10
VORSPIEL
VORSPIEL
11
ERLÄUTERUNGEN
Das Motiv erklingt unisono, von je einer Klarinette, einem Fagott, vier Solostreichern gespielt, denen sich im zweiten Takt noch das Englischhorn zugesellt. Es erfährt eine stimmungsvolle Entwicklung, bis zum verschwebenden Abschluß. Darauf setzt es abermals einstimmig ein, aber dieses Mal (von As-Dur) nach c-Moll versetzt,
was ihm einen unendlich schmerzlichen Charakter verleiht.
Nach weiterer Entwicklung und einem erneuten Verschweben bringt
Wagner ein Motiv,
das mit dem Gral identifiziert werden könnte (»Gralsmotiv«). Es ist allerdings weniger mystisch als das »Liebesmotiv«, seine Instrumentation mit Trompeten und Posaunen läßt eher an die weltlichen Missionen der Gralsgemeinschaft denken; trotzdem bleibt die innerliche Versenkung, das Gottesvertrauen, das Bewußtsein
einer heiligen Aufgabe unüberhörbar.
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VORSPIEL
13
ERLÄUTERUNGEN
Unmittelbar schließt sich nun mit zusätzlichen Hörnern das
felsenfeste »Glaubensmotiv« an.
Es bildet den dynamischen Höhepunkt des Vorspiels, das im wesentlichen mit den drei genannten Themen arbeitet und klanglich eine fast unglaubliche Fülle von Stimmungen durchläuft, von ätherischer Zartheit zum gewaltigen Ausdruck der Glaubensstärke.
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VORSPIEL
15
ERLÄUTERUNGEN
Die drei Motive untermalen auch noch, zum Teil hinter der Bühne – wie aus der fernen Gralsburg – geblasen, den Beginn der ersten
Szene.
Hier gewinnt Wagner aus einer rhythmischen Belebung der Anfangstöne des »Glaubensmotivs« (Nr. 4) ein frisch bewegtes Motiv des Tagesbeginns, das bei der ersten Erwähnung des Königs die Violoncelli (die Singstimme unterstreichend) als
»Amfortasmotiv« schon andeuten.
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1. AUFZUG
ERSTER AUFZUG
Im Gebiete des Grals
Wald, schattig und ernst, doch nicht düster
Eine Lichtung in der Mitte. Links aufsteigend wird der Weg zur Gralsburg angenommen. Der Mitte des Hintergrundes zu senkt sich der Boden zu einem tiefer gelegenen Waldsee hinab. –
Tagesanbruch.
Gurnemanz (rüstig greisenhaft) und zwei Knappen (von zartem Jünglingsalter) sind schlafend unter einem Baume gelagert. – Von der linken Seite, wie von der Gralsburg her, ertönt der feierliche
Morgenweckruf der Posaunen.
Gurnemanz (erwachend und die Knappen rüttelnd):
He! Ho! Waldhüter ihr,
Schlafhüter mitsammen,
so wacht doch mindest am Morgen!
(Die beiden Knappen springen auf)
Gurnemanz:
Hört ihr den Ruf? Nun danket Gott,
daß ihr berufen, ihn zu hören!
(Er senkt sich mit den Knappen auf die Knie und verrichtet mit
ihnen gemeinschaftlich stumm das Morgengebet)
(Sie erheben sich langsam.)
Jetzt auf, ihr Knaben! Seht nach dem Bad.
Zeit ist’s, des Königs dort zu harren.
(Er blickt nach links in die Szene.)
Dem Siechbett, das ihn trägt, voraus
seh ich die Boten schon uns nahn!
(Zwei Ritter treten, von der Burg her, auf.)
Heil euch! Wie geht’s Amfortas heut?
Wohl früh verlangt’ er nach dem Bade:
Das Heilkraut, das Gawan
mit List und Kühnheit ihm gewann,
ich wähne, daß (es)1 Lind’rung schuf?
Zweiter Ritter:
Das wähnest du, der doch alles weiß?
1    Textvariante (TV): Anstelle von »es« steht »das«.
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ERLÄUTERUNGEN
Es würde zu weit führen, alle motivischen Anspielungen zu nennen, die Wagner verwebt, ja es würde den Hörgenuß beeinträchtigen, ohne Entscheidendes zum Verständnis beizutragen. Nur
Wesentliches sei hervorgehoben:
Bei Gurnemanz’ Worten »Toren wir ... « erklingt leise das »Erlösungsmotiv« oder »Motiv des ›durch Mitleid wissenden Toren‹« (also Parsifals, der später allerdings noch ein anderes, entgegengesetztes Motiv haben wird: das des seiner Mission noch
unkundigen weltfahrenden Ritters, Beispiel Nr. 11):
Gleich danach, bei starker Belebung des Orchesters, wird Kundry in der Musik angekündigt. Auch sie ist mit einer Mehrzahl von Motiven, wie es ihrer vieldeutigen Persönlichkeit entspricht, gezeichnet. Hier etwa: als die sich aufopfernde, rasende, fast durch die Luft fliegende
Gralsbotin.
(Fortsetzung des Notenbeispiels S. 20)
18
1. AUFZUG
Ihm kehrten sehrender nur
die Schmerzen bald zurück:
schlaflos von starkem Bresten,
befahl er eifrig uns das Bad.
Gurnemanz (das Haupt traurig senkend):
Toren wir, auf Lind’rung da zu hoffen,
wo einzig Heilung lindert!
Nach allen Kräutern, allen Tränken forscht
und jagt weit durch die Welt:
ihm hilft nur eines –
nur der Eine.
Zweiter Ritter:
So nenn uns den!
Gurnemanz (ausweichend):
Sorgt für das Bad!
(Die beiden Knappen haben sich dem Hintergrunde zugewendet
und blicken nach rechts.)
Zweiter Knappe:
Seht dort die wilde Reiterin!
Erster Knappe:
Hei!
Wie fliegen der Teufelsmähre die Mähnen!
Zweiter Ritter:
Ha! Kundry dort.
Erster Ritter:
Die bringt wohl wicht’ge Kunde?


Zweiter Knappe:
Die Mähre taumelt.


Erster Knappe:
Flog sie durch die Luft?
19
ERLÄUTERUNGEN
Sofort darauf erklingt ein zweites, ebenfalls Kundry zugehöriges
Motiv:
Ein greller, hart dissonierender Orchesterakkord, der sich in einen wilden Absturz der Streicher bis in die Tiefen löst, aus der dann Seufzer vernehmbar werden: Kundrys jäher Übergang von einer Existenz, einer Welt in die andere, entgegengesetzte, findet hier
plastischen musikalischen Ausdruck.
Das Abflauen der heftigen, rhythmisch stark pulsierenden Bewegung deutet Kundrys Erschöpfung an, ein langer Hornton ihr Einschlafen.
20
1. AUFZUG
Zweiter Knappe:
Jetzt kriecht sie am Boden hin.
Erster Knappe:
Mit den Mähnen fegt sie das Moos.
(Alle blicken lebhaft nach der rechten Seite.)


Zweiter Ritter:
Da schwingt sich die Wilde herab!
Kundry (stürzt hastig, fast taumelnd herein. Wilde Kleidung, hoch geschürzt; Gürtel von Schlangenhäuten lang herabhängend; schwarzes, in losen Zöpfen flatterndes Haar; tief braun-rötliche Gesichtsfarbe; stechende schwarze Augen, zuweilen wild aufblitzend, öfters wie todesstarr und unbeweglich. Sie eilt auf Gurnemanz zu und dringt ihm ein kleines Kristallgefäß auf):
Hier! Nimm du! – Balsam ...
Gurnemanz:
Woher brachtest du dies?
Kundry:
Von weiter her, als du denken kannst.
Hilft der Balsam nicht,
Arabia birgt
dann nichts mehr zu seinem Heil. –
Fragt nicht weiter! (Sie wirft sich an den Boden.)
Ich bin müde.
21
ERLÄUTERUNGEN
Auf diesem gleichen Ton setzt, nun da der Zug mit dem auf einer Bahre hereingetragenen König sichtbar wird, das Amfortas-motiv in
voller Breite ein:
Schwer, aber nicht gedehnt
Es klingt schwer, leidvoll – mit einer »übermäßigen« Harmonie (fis-b-d), die den Eindruck schmerzlicher Sehnsucht erweckt – und doch noch irgendwie majestätisch, wie ein Anflug von einstiger Größe. Bei Gurnemanz’ kommentierenden Worten (»Er naht ... «) läßt sich Wagners motivische Arbeit recht genau verfolgen und verstehen: Das Motiv des Amfortas wird großartig umgestaltet zu den Worten »des siegreichsten Geschlechtes Herrn«, und es sinkt zu leidvollen
Seufzern herab bei »Behutsam! Hört, der König stöhnt ... «
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1. AUFZUG
Ein Zug von Knappen und Rittern, die Sänfte tragend und geleitend, in welcher Amfortas ausgestreckt liegt, gelangt, von links her, auf die Bühne. – Gurnemanz hat sich von Kundry ab-, sogleich den
Ankommenden zugewendet.
Gurnemanz (während der Zug auf die Bühne gelangt):
Er naht: sie bringen ihn getragen. –
O weh! Wie trag ich’s im Gemüte,
in seiner Mannheit stolzer Blüte
des siegreichsten Geschlechtes Herrn
als seines Siechtums Knecht zu sehn!
(Zu den Knappen.)
Behutsam! Hört, der König stöhnt.
(Die Knappen halten an und stellen das Siechbett nieder)
Amfortas (erhebt sich ein wenig):
Recht so! – Habt Dank! Ein wenig Rast. –
Nach wilder Schmerzensnacht
nun Waldesmorgenpracht
Im heil’gen See
wohl labt mich auch die Welle:
es staunt das Weh,
die Schmerzensnacht wird helle. –
Gawan!
Zweiter Ritter:
Herr! Gawan weilte nicht.
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ERLÄUTERUNGEN
Beim Erwähnen der »Gralsgebote« erklingt im Orchester zart
das Gralsmotiv.
Aus dem dramatischen Rezitativ, das – wie immer bei Wagner – weite Strecken beherrscht und die Handlung vorwärtstreibt (und das immer wieder Motive oder motivische Anspielungen, vor allem im Orchester, verarbeitet) tritt bei Amfortas’ Erwähnung der Prophezeiung das Erlösungsmotiv (Nr. 10), das hier wie in
Erinnerung zitiert wird.
Bei Amfortas Frage, wer das Gefäß aus Arabien gebracht, erklingt, noch vor Nennung ihres Namens, Kundrys Motiv (Nr. 7), verkürzt und weniger dramatisch, gewissermaßen nur als Andeutung, um das musikalische Element mit dem szenisch-dramatischen in Einklang zu bringen. Das Kundry-Motiv kommt, stets umgestaltet, noch mehrmals in dieser Szene vor, bis es beim Aufbruch des Königs zum See in das Amfortas-Motiv (Nr. 8) übergeht, das hier, breiter als
zuvor, ausgedehnt wird.
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1. AUFZUG
Da seines Heilkrauts Kraft,
wie schwer er’s auch errungen,
doch deine Hoffnung trog,
hat er auf neue Sucht sich fortgeschwungen.
Amfortas:
Ohn’ Urlaub? – Möge das er sühnen,
daß schlecht er Gralsgebote hält!
O wehe ihm, dem trotzig Kühnen,
wenn er in Klingsors Schlingen fällt!
So breche keiner mir den Frieden;
ich harre des, der mir beschieden.
»Durch Mitleid wissend« –
war’s nicht so?
Gurnemanz:
Uns sagtest du es so.
Amfortas:
»Der reine Tor!«
Mich dünkt, ihn zu erkennen:
dürft’ ich den Tod ihn nennen!
Gurnemanz (indem er Amfortas das Fläschchen Kundrys über-
reicht):
Doch zuvor1 versuch’ es noch mit diesem!
Amfortas (es betrachtend):
Woher dies heimliche Gefäß?
Gurnemanz:
Dir ward es aus Arabia hergeführt.
Amfortas:
Und wer gewann es?
Gurnemanz:
Dort liegt’s, das wilde Weib. –
Auf, Kundry, komm!
(Kundry weigert sich und bleibt am Boden.)
Amfortas:
Du, Kundry?
Muß ich dir nochmals danken,
du rastlos scheue Magd? –
Wohlan!
1    TV: Anstelle von »zuvor« steht »hier«
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ERLÄUTERUNGEN
Bezeichnend für Wagners Motivtechnik ist diese Stelle: Ein Knappe wendet sich heftig an Kundry, die er mit einem »wilden Tier« vergleicht. Noch bevor sie antwortet, erklingt das Gralsmotiv (Nr. 3) im Orchester, dem Kundry die Frage unterlegt, ob denn »hier« (also
im Gralsgebiet) »die Tiere nicht heilig« seien?
Um Kundry erhebt sich heftiger Streit: Gurnemanz verteidigt sie gegen die Knappen, die in ihr nur »die Heidin«, das Böse, Feindliche sehen wollen. Das Orchester ergeht sich dabei in wechselvollen Bildungen, die vor allem den Text deutlich werden
lassen.
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1. AUFZUG
Den Balsam nun versuch’ ich noch;
es sei aus Dank für deine Treue!
Kundry (unruhig und heftig am Boden sich bewegend):
Nicht Dank! – Haha! Was wird es helfen?
Nicht Dank! Fort, fort! Ins Bad!
(Amfortas gibt das Zeichen zum Aufbruch.)
(Der Zug entfernt sich nach dem tieferen Hintergründe zu. – Gurnemanz, schwermütig nachblickend, und Kundry, fortwährend auf dem Boden gelagert, sind zurückgeblieben. Knappen gehen
ab und zu.)
Dritter Knappe:
He! Du da!
Was liegst du dort wie ein wildes Tier?
Kundry:
Sind die Tiere hier nicht heilig?
Dritter Knappe:
Ja; doch ob heilig du,
das wissen wir grad noch nicht.
Vierter Knappe:
Mit ihrem Zaubersaft, wähn’ ich,
wird sie den Meister vollends verderben.
Gurnemanz:
Hm! – Schuf sie euch Schaden je?
Wann alles ratlos steht,
wie kämpfenden Brüdern in fernste Länder
Kund sei zu entsenden,
und kaum ihr nur wißt, wohin –
wer, ehe ihr euch nur besinnt,
stürmt und fliegt dahin und zurück,
der Botschaft pflegend mit Treu und Glück?
Ihr nährt sie nicht, sie naht euch nie,
nichts hat sie mit euch gemein;
doch wann’s in Gefahr der Hilfe gilt,
der Eifer führt sie schier durch die Luft,
die nie euch dann zum Danke ruft.
Ich wähne, ist dies Schaden,
so tät’ er euch gut geraten.
27
ERLÄUTERUNGEN
Nur an einer Stelle erklingt, von der ausdrucksstarken Baßklarinette geblasen, das Motiv der Liebe oder Gemeinschaft durch die Liebe (Nr. 1) – bei Gurnemanz’ Worten über Kundry: »Hier lebt sie heut – vielleicht erneut, zu büßen Schuld aus früh’rem Leben ... « Wagners Gedankengänge werden in der Verwendung der Motive oft
deutlicher als in den Worten.
Im Orchester, das eine Zeitlang nur »begleitet« hat, kristallisiert sich ein neues Motiv, das starke Bedeutung erlangen wird. Es symbolisiert etwa den »Zauber«, Klingsors Schloß, Kundrys andere,
»zweite« Existenz:
Seine Aussage ist hier klar: Einst Titurel, dann Gurnemanz selbst fanden Kundry, verborgen im Gestrüpp, gerade als sie nach ihrer Zauberin-Rolle in todesähnlichen Schlaf versunken war. Das Motiv kehrt weiterentwickelt wieder bei Gurnemanz’ Frage an Kundry, wo sie gewesen sei, als Amfortas jene unselige Begegnung in Klingsors Schloß hatte. Wieder ahnt der Hörer etwas, was den handelnden Personen auf der Bühne unbekannt ist – einer der wesentlichen
Punkte der Motivtechnik Wagners.
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1. AUFZUG
Dritter Knappe:
Doch haßt sie uns. –
Sieh nur, wie hämisch dort nach uns sie blickt!
Vierter Knappe:
Eine Heidin ist’s, ein Zauberweib.
Gurnemanz.:
Ja, eine Verwünschte mag sie sein.
Hier lebt sie heut’ –
vielleicht erneut,
zu büßen Schuld aus früh’rem Leben,
die dorten ihr noch nicht vergeben.
Übt sie nun Buß’ in solchen Taten,
die uns Ritterschaft zum Heil geraten,
gut tut sie dann und recht sicherlich,
dienet uns – und hilft auch sich.
Dritter Knappe:
So ist’s wohl auch jen’ ihre Schuld,
die uns so manche Not gebracht?
Gurnemanz (sich besinnend):
Ja, wann oft lange sie uns ferne blieb,
dann brach ein Unglück wohl herein,
Und lang schon kenn ich sie:
doch Titurel kennt sie noch länger.
Der fand, als er die Burg dort baute,
sie schlafend hier im Waldgestrüpp,
erstarrt, leblos, wie tot.
So fand ich selbst sie letztlich wieder,
als uns das Unheil kaum gescheh’n,
das jener Böse1 über den Bergen
so schmählich über uns gebracht. – (Zu Kundry.)
He! Du! – Hör’ mich und sag’:
wo schweiftest damals du umher,
als unser Herr den Speer verlor?
(Kundry schweigt düster.)
Gurnemanz:
Warum halfst du nur damals nicht?
1    TV: Hier ist »dort« eingeschoben
29
ERLÄUTERUNGEN
So ist das Gespräch auf den heiligen Speer gekommen, und damit tritt ein neues Motiv in den Vordergrund, das sich im Orchester mit großer Deutlichkeit vernehmen läßt: Es ist aus den letzten beiden Noten des zweiten Taktes und dem ganzen dritten Takt des Motivs
Nr. 1 gebildet.
In Gurnemanz’ Schilderung der damaligen Begebenheit tauchen nun immer weitere Motive auf, deren Bedeutung dem Hörer schon klar ist: das des »Zaubers« – also Kundrys in ihrer Rolle als zauberischer Verführerin – und ihr anderes, das »Verwandlungs-
Motiv« (Nr. 7).
Das Motiv des Amfortas (Nr. 8) ertönt, als zwei Knappen vom See mit der Meldung kommen, es gehe dem König vorübergehend
besser.
30
1. AUFZUG
Kundry:
Ich – helfe nie.
Vierter Knappe:
Sie sagt’s da selbst.
Dritter Knappe:
Ist sie so treu, so kühn in Wehr,
so sende sie nach dem verlor’nen Speer!
Gurnemanz (düster):
Das ist ein andres:
jedem ist’s verwehrt. –
(Mit großer Ergriffenheit.)
O, wunden-wundervoller
heiliger Speer!
Ich sah dich schwingen1
von unheiligster Hand! –
(In Erinnerung sich verlierend.)
Mit ihm bewehrt, Amfortas, Allzukühner,
wer mochte dir es wehren
den Zaub’rer zu beheeren? –
Schon nah dem Schloß wird uns der Held entrückt:
ein furchtbar schönes Weib hat ihn entzückt:
in seinen Armen liegt er trunken,
der Speer ist ihm entsunken. –
Ein Todesschrei! – Ich stürm’ herbei:
von dannen Klingsor lachend schwand,
den heil’gen Speer hatt’ er entwandt.
Des Königs Flucht gab kämpfend ich Geleite;
doch eine Wunde brannt’ ihm in der Seite:
die Wunde ist’s, die nie sich schließen will.
(Der erste und zweite Knappe kommen vom See her zurück.)
Dritter Knappe:
So kanntest du Klingsor?
Gurnemanz (zu den zurückkommenden beiden Knappen):
Wie geht’s dem König?
Erster Knappe:
Ihn frischt das Bad.
1    TV: Dich sah ich schwingen
31
ERLÄUTERUNGEN
Dann setzt Gurnemanz seine Erzählung aus der Vergangenheit fort. Als er die Gralsgründung durch Titurel erwähnt, erklingen sinngemäß die Motive der Liebe, der Gemeinschaft und des Grals
(Nr. 1 und 3).
Bei der Schilderung Klingsors, des gescheiterten und dann abtrünnigen Gralsritters, klingt nun dessen Motiv (Nr. 23) zum
ersten Male auf.
32
1. AUFZUG
Zweiter Knappe:
Dem Balsam wich das Weh.
Gurnemanz (für sich):
Die Wunde ist’s, die nie sich schließen will! –
(Der dritte und vierte Knappe hatten sich zuletzt schon zu Gurnemanz’ Füßen niedergesetzt; die beiden anderen gesellen sich jetzt
gleicherweise zu ihnen unter dem großen Baum.)
Dritter Knappe:
Doch, Väterchen, sag’ und lehr’ uns fein:
du kanntest Klingsor – wie mag das sein?
Gurnemanz:
Titurel, der fromme Held,
der kannt’ ihn wohl.
Denn ihm, da wilder Feinde List und Macht
des reinen Glaubens Reich bedrohten,
ihm neigten sich in heilig ernster Nacht
dereinst des Heilands selige Boten:
daraus er trank beim letzten Liebesmahle,
das Weihgefäß, die heilig edle Schale,
darein am Kreuz sein göttlich Blut auch floß,
dazu den Lanzenspeer, der dies vergoß –
der Zeugengüter höchstes Wundergut –
das gaben sie in uns’res Königs Hut.
Dem Heiltum baute er das Heiligtum.
Die seinem Dienst ihr zugesindet
auf Pfaden, die kein Sünder findet,
ihr wißt, daß nur dem Reinen
vergönnt ist, sich zu einen
den Brüdern, die zu höchsten Rettungswerken
des Grales1 Wunderkräfte stärken
Drum blieb es dem, nach dem ihr fragt, verwehrt,
Klingsorn, wie hart ihn Müh’ auch drob beschwert
Jenseits im Tale war er eingesiedelt;
darüberhin liegt üpp’ges Heidenland:
unkund blieb mir, was dorten er gesündigt;
doch wollt’ er büßen nun, ja heilig werden.
Ohnmächtig, in sich selbst die Sünde zu ertöten,
1    TV: Eingeschoben »heil’ge«
33
ERLÄUTERUNGEN
Gurnemanz’ ausgedehnte »Rückblende« auf vergangene Zeiten gipfelt in der Prophezeiung, die Amfortas in der Stunde tiefster Not empfing: die Rettung käme durch »einen reinen Toren«, der »durch
Mitleid wissend« geworden sei:
(Notenbeispiel S. 36)
34
1. AUFZUG
an sich legt’ er die Frevlerhand,
die nun, dem Grale zugewandt,
verachtungsvoll des’ Hüter von sich stieß.
Darob die Wut nun Klingsorn unterwies,
wie seines schmähl’chen Opfers Tat
ihm gäbe zu bösem Zauber Rat;
den fand er nun. –
Die Wüste schuf er sich zum Wonnegarten,
drin wachsen teuflisch holde Frauen;
dort will des Grales Ritter er erwarten
zu böser Lust und Höllengrauen:
wen er verlockt, hat er erworben;
schon viele hat er uns verdorben.
Da Titurel, in hohen Alters Mühen,
dem Sohn1 die Herrschaft hier verliehen:
Amfortas ließ es da nicht ruh’n,
der Zauberplag’ Einhalt zu tun.
das wißt ihr, wie es dort2 sich fand:
der Speer ist nun in Klingsors Hand;
kann er selbst Heilige mit dem verwunden,
den Gral auch wähnt er fest schon uns entwunden.
Vierter Knappe:
Vor allem nun: der Speer kehr’ uns zurück!
Dritter Knappe:
Ha, wer ihn brächt’, ihm wär’s zu Ruhm und Glück!
Gurnemanz:
Vor dem verwaisten Heiligtum
in brünst’gem Beten lag Amfortas,
ein Rettungszeichen bang erflehend:
ein sel’ger Schimmer da entfloß dem Grale, (leise)
ein heilig Traumgesicht
nun deutlich zu ihm spricht
(immer leiser)
durch hell erschauter Worte3, Zeichen, Male:
(Sehr leise.)
1    TV: dem Sohne nun die Herrschaft ...
2    TV: Anstelle von »dort« steht »da«
3    TV: Anstelle von »Worte« auch »Wunder«
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ERLÄUTERUNGEN
Gurnemanz
Die einprägsame Tonartenfolge – das harmonische mehr als das melodische Element – wird vom Hörer zutiefst empfunden. Ergriffen wiederholen die Knappen die Prophezeiung, die lange anhaltend
immer leiser verklingt.
Hörner, Holzbläser, Tremolo und harte Akzente der Streicher deuten unmittelbar darauf einen völligen Stimmungswechsel an. Große Erregung unterbricht die Waldesstille und Gurnemanz’ Erinnerungen: Parsifals Motiv taucht erstmals auf, zuerst nur mit den Anfangstönen, die aber in ihrer Prägnanz sehr deutlich erkennbar sind; danach, als Parsifal hereingeführt wird und sich zur
Tötung des Schwans bekennt, in ganzer Ausdehnung.
36
1. AUFZUG
»Durch Mitleid wissend,
der reine Tor;
harre sein,
den ich erkor.«
Die vier Knappen (in großer Ergriffenheit):
»Durch Mitleid wissend,
der reine Tor –«
(Vom See her vernimmt man plötzlich Geschrei und das Rufen der
Ritter und Knappen.)
(Gurnemanz und die vier Knappen fahren auf und wenden sich
erschrocken um.)
Knappen und Ritter:
Weh! – Weh! – Hoho!
Auf! – Wer ist der Frevler?
(Ein wilder Schwan flattert matten Fluges vom See daher; die
Knappen und Ritter folgen ihm nach auf die Szene.)
Gurnemanz (währenddem):
Was gibt’s?
Vierter Knappe:
Dort!
37
ERLÄUTERUNGEN
Der junge Parsifal steht vor uns –, der wild durch die Welt stürmende, frohe, mutige, seiner Taten in Wahrheit unbewußte, kaum
zur Rechenschaft zu ziehende Parsifal:
Eindringlich beginnt nun Gurnemanz, Parsifal die Schwere seiner mutwillig begangenen Tat klarzumachen. Nahten ihm im heil’gen
Walde die Tiere nicht alle zutraulich und freundlich?
38
1. AUFZUG
Dritter Knappe:
Hier!
Zweiter Knappe:
Ein Schwan!
Vierter Knappe:
Ein wilder Schwan!
Dritter Knappe:
Er ist verwundet.
Alle Ritter und Knappen:
Ha! Wehe! Wehe!
Gurnemanz:
Wer schoß den Schwan?
(Der Schwan sinkt, nach mühsamem Fluge, matt zu Boden; der
zweite Ritter zieht ihm den Pfeil aus der Brust.)
Erster Ritter:
Der König grüßte ihn als gutes Zeichen,
als überm See1 kreiste der Schwan:
da flog ein Pfeil –
Knappen und Ritter (Parsifal hereinführend):
Der war’s! Der schoß!
(Auf Parsifals Bogen weisend.)
Dies der Bogen!
Zweiter Ritter (den Pfeil aufweisend):
Hier der Pfeil, den seinen gleich.
Gurnemanz (zu Parsifal):
Bist du’s, der diesen Schwan erlegte?
Parsifal:
Gewiß! Im Fluge treff’ ich, was fliegt.
Gurnemanz:
Du tatest das? Und bangt’ es dich nicht vor der Tat?
Knappen und Ritter:
Strafe den Frevler!
Gurnemanz:
Unerhörtes Werk!
Du konntest morden, hier im heil’gen Walde,
des stiller Friede dich umfing?
1    TV: »dort« eingeschoben
39
ERLÄUTERUNGEN
Das Orchester malt eine äußerst melodische Phrase zu diesen Worten, die auch Gurnemanz’ Stimme mit ungewöhnlich zärtlichem
Ausdruck singt:
Gurnemanz
Bei diesen Worten fährt Parsifal bereuend auf; sie treffen bei ihm auf eine Saite, die noch nie berührt wurde: das Mitleid. Die Streicher jagen aufwärts, während er seinen Bogen zerbricht, die Hörner und andere Bläser setzen mit seinem Motiv ein, aber schon die Harmonie des zweiten Takts ist aus heldischem, schmetterndem Dur in einen wie gequält klingenden, »verminderten« Akkord gewandelt. Das Motiv bricht ab, als gälte es jetzt nicht mehr – wieder ein typisches Beispiel für Wagners »motivische Arbeit«: Die Motive sind nichts Feststehendes, sie werden nach wechselnden Stimmungen variiert und dem jeweiligen Seelen- oder Lebenszustand
angepaßt, den es zu schildern gilt.
Reste des Motivs klingen auf, wenn Parsifal nach seiner Kindheit und Jugend befragt wird: Sie zerlegen es, als erlebten wir die Entstehung seiner Persönlichkeit; da er sich an nichts mehr erinnert, bildet Wagner stark modulierende Phrasen im Orchester, die
gewissermaßen »Unwissenheit« ausdrücken könnten:
(Notenbeispiel S. 42)
40
1. AUFZUG
Des Haines Tiere nahten dir nicht zahm,
grüßen dich freundlich und fromm?
Aus den Zweigen, was sangen die Vöglein dir?
Was tat dir der treue Schwan?
Sein Weibchen zu suchen flog der auf,
mit ihm zu kreisen über dem See,
den so er herrlich weihte zum1 Bad.
Dem stauntest du nicht? Dich lockt’ es nur
zu wild kindischem Bogengeschoß?
Er war uns hold: was ist er nun dir?
Hier – schau her! – hier trafst du ihn,
da starrt noch das Blut, matt hängen die Flügel,
das Schneegefieder dunkel befleckt –
gebrochen das Aug’, siehst du den Blick?
(Parsifal hat Gurnemanz mit wachsender Ergriffenheit zugehört: jetzt zerbricht er seinen Bogen und schleudert die Pfeile von sich.)
Gurnemanz:
Wirst deiner Sündentat du inne?
(Parsifal führt die Hand über die Augen.)
Grunemanz:
Sag, Knab’, erkennst du deine große Schuld?
Wie konntest du sie begeh’n?
Parsifal:
Ich wußte sie nicht.
Gurnemanz:
Wo bist du her?
Parsifal:
Das weiß ich nicht.
Gurnemanz:
Wer ist dein Vater?
1    TV: Eingeschoben »heilenden«
41
ERLÄUTERUNGEN
Eine zarte Tonfolge formt sich, als Parsifal von seiner Mutter erzählt: Nun wird, was vorher nach jugendlicher Unsicherheit klang, zur zärtlichen, von den Bratschen gespielten Muttermelodie, also fast zu einem Motiv Herzeleides, das allerdings schnell wieder verklingt, als Parsifal sich nun der Taten seiner jungen Tage erinnert: »Im Wald und auf wilder Aue ... «: Da kehrt, nun leiser von den Hörnern intoniert als zuvor, das kecke, frische, zupackende Parsifalsmotiv wieder (Nr. 11), doch wird es im vierten Takt umgestaltet zu größerer Weichheit und nimmt erst wieder den ursprünglichen Charakter an, als Parsifal seinen Satz vollendet: » ...
die wilden Adler zu verscheuchen«.
42
1. AUFZUG
Parsifal:
Das weiß ich nicht.
Gurnemanz:
Wer sandte dich dieses Weges?
Parsifal:
Das weiß ich nicht.
Gurnemanz:
Dein Name denn?
Parsifal:
Ich hatte viele,
doch weiß ich ihrer keinen mehr.
Gurnemanz:
Das weißt du alles nicht?
(Für sich.) So dumm wie den
erfand bisher ich Kundry nur. –
(Zu den Knappen, deren sich immer mehr versammelt
haben.) Jetzt geht!
Versäumt den König im Bade nicht! – Helft!
(Die Knappen heben den toten Schwan ehrerbietig auf eine Bahre von frischen Zweigen und entfernen sich mit ihm dann nach dem See zu. – Schließlich bleiben Gurnemanz, Parsifal und – abseits –
Kundry allein zurück.)
Gurnemanz (wendet sich wieder zu Parsifal):
Nun sag! Nichts weißt du, was ich dich frage:
jetzt meid’, was du weißt;
denn etwas mußt du doch wissen.
Parsifal:
Ich hab eine Mutter; Herzeleide sie heißt:
im Wald und auf wilder Aue waren wir heim.
Gurnemanz:
Wer gab dir den Bogen?
Parsifal:
Den schuf ich mir selbst,
vom Forst die wilden Adler zu verscheuchen1.
Gurnemanz:
Doch adelig scheinst du selbst und hochgeboren:
warum nicht ließ deine Mutter
1    in der Partitur: wegzuscheuchen
43
ERLÄUTERUNGEN
Kundry ist mit hastigen Worten eingefallen, mit einer schneidenden Dissonanz beendet sie ihre Rede: Kurz wird ihr Motiv (Nr. 7) gebracht und geht in Parsifals lebhafte Schilderung seines Erlebnisses mit den Rittern über, in dauernder (dem Thema Nr. 6 verwandter) Steigerung wächst das Orchester noch einmal zum vollen Parsifalsmotiv (Nr. 11) empor: Es ist die Erinnerung an die strahlenden Ritter, die ihn von Heim und Mutter fort in die Welt
lockten.
(Fortsetzung des Notenbeispiels S. 46)
44
1. AUFZUG
bessere Waffen dich lehren?
(Parsifal schweigt)
Kundry (welche während der Erzählung des Gurnemanz von Amfortas’ Schicksal oft in wütender Unruhe heftig sich umgewendet hatte, nun aber, immer in der Waldecke gelagert, den Blick scharf auf Parsifal gerichtet hat, ruft jetzt, da Parsifal schweigt, mit rauher Stimme daher):
Den Vaterlosen gebar die Mutter,
als im Kampf erschlagen Gamuret;
vor gleichem frühen Heldentod
den Sohn zu wahren, waffenfremd
in Öden erzog sie ihn zum Toren –
die Törin! (Sie lacht.)
Parsifal (der mit jäher Aufmerksamkeit zugehört, lebhaft):
Ja! Und einst am Waldessaume vorbei,
auf schönen Tieren sitzend,
kamen glänzende Männer;
45
ERLÄUTERUNGEN
46
1. AUFZUG
ihnen wollt’ ich gleichen:
sie lachten und jagten davon.
Nun lief ich nach, doch konnt’ ich sie nicht erreichen.
Durch Wildnisse kam ich, bergauf, talab;
oft ward es Nacht, dann wieder Tag:
mein Bogen mußte mir frommen
gegen Wild und große Männer ...
Kundry (hat sich erhoben und ist zu den Männern getreten;
eifrig):
Ja, Schächer und Riesen traf seine Kraft:
den freislichen Knaben lernten sie fürchten.1
Parsifal (verwundert):
Wer fürchtet mich? Sag!
Kundry:
Die Bösen.
Parsifal:
Die mich bedrohten, waren sie bös?
(Gurnemanz lacht.)
Parsifal:
Wer ist gut?
1    TV: fürchten sie alle
47
ERLÄUTERUNGEN
Herzeleides zarte Tonfolge klingt auf, verstummt aber sofort unter der Kundrys, die Parsifal in rauhen Worten und Tönen den Tod seiner Mutter mitteilt. Wütend springt Parsifal ihr an die Kehle.
Sein Motiv wird fortissimo, aber verzerrt angedeutet, es geht in wilder Orchestererregung unter. Parsifal bricht zusammen, in seine Erstarrung bläst die Baßklarinette eine sehr zarte Reminiszenz an
das Herzeleidemotiv.
Abwandlungen des Kundrymotivs beherrschen das Orchester, als diese eilt, um Wasser für Parsifal zu schöpfen. Eine Anspielung auf das Gralsthema erklingt, als Gurnemanz des Grals Gebot erwähnt, Böses mit Gutem zu vergelten. Dann verbindet Wagner die beiden Kundry-Themen miteinander: das der Büßerin und das der Zauberin. Kundry verlangt es nach Schlaf, aber dieser Schlaf bedeutet für sie zugleich Verwandlung –, gegen die sie sich wehrt, der sie aber verfallen ist durch den Fluch, der sie bindet –, bedeutet
Klingsor, dessen Motiv in das Orchester verwoben ist.
48
1. AUFZUG
Gurnemanz (wieder ernst):
Deine Mutter, der du entlaufen
und die um dich sich nun härmt und grämt.
Kundry:
Zu End’ ihr Gram: seine Mutter ist tot.
Parsifal (in furchtbarem Schrecken):
Tot? – Meine Mutter? – Wer sagt’s?
Kundry:
Ich ritt vorbei und sah sie sterben:
dich Toren hieß sie mich grüßen.
(Parsifal springt wütend auf Kundry zu und faßt sie bei der
Kehle.)
Gurnemanz (hält ihn zurück):
Verrückter Knabe! Wieder Gewalt?
(Nachdem Gurnemanz Kundry befreit, steht Parsifal lange wie
erstarrt.)
Was tat dir das Weib? Es sagte wahr;
denn nie lügt Kundry, doch sah sie viel.
Parsifal (gerät in heftiges Zittern):
Ich verschmachte! –
(Kundry ist sogleich, als sie Parsifals Zustand gewahrte, nach einem Waldquell geeilt, bringt jetzt Wasser in einem Harne, besprengt damit zunächst Parsifal und reicht ihm dann zu trinken.)
Gurnemanz:
So recht! So nach des Grales Gnade:
das Böse bannt, wer’s mit Gutem vergilt.
Kundry (düster):
Nie tu ich Gutes; – nur Ruhe will ich.
(Sie wendet sich traurig ab, und während Gurnemanz sich väterlich um Parsifal bemüht, schleppt sie sich, von beiden ungeachtet, einem Waldgebüsch zu.)
nur Ruhe!1 ach, der Müden! –
Schlafen! – Oh, daß mich keiner wecke!
(Scheu auffahrend)
Nein! Nicht schlafen! – Grausen faßt mich!
(Sie verfällt in heftiges Zittern, dann läßt sie die Arme matt sinken.)
1    TV: »Ruhe« eingeschoben
49
ERLÄUTERUNGEN
In langsamem, feierlichem Rhythmus kehrt der König in seine Burg zurück, die Violoncelli drücken den lastend schreitenden Gang seines Zuges aus, zarte Geigen und Bratschen beginnen, das
Glockenmotiv des Grals anzudeuten:
Es geht in das Gralsmotiv über, aber das Läuten der Glocken wird nun nicht mehr verstummen: Es durchläuft die verschiedensten Instrumente, wird Wandlungen und Modulationen unterworfen, während nun Gurnemanz und Parsifal ihre Wanderung zum
Gralstempel unternehmen:
(Fortsetzung des Notenbeispiels S. 52)
50
1. AUFZUG
Machtlose Wehr! Die Zeit ist da.
(Vom See her gewahrt man Bewegung und endlich den im Hintergrund sich heimwendenden Zug der Ritter und Knappen mit der Sänfte des Amfortas.)
Schlafen – schlafen – ich muß.
(Sie sinkt hinter dem Gebüsch zusammen und bleibt von jetzt an unbemerkt.)
Gurnemanz:
Vom Bade kehrt der König heim;
hoch steht die Sonne:
nun laß zum frommen Mahle mich dich geleiten;
denn bist du rein,
wird nun der Gral dich tränken und speisen.
(Er hat Parsifals Arm sich sanft um den Nacken gelegt und dessen Leib mit seinem eigenen Arme umschlungen; so geleitet er ihn bei sehr allmählichem Schreiten. – Hier hat die unmerkliche Verwandlung der Bühne bereits begonnen.)
Parsifal:
Wer ist der Gral?
Gurnemanz:
Das sagt sich nicht;
doch bist du selbst zu ihm erkoren,
bleibt dir die Kunde unverloren. –
Und sieh’!
Mich dünkt, daß ich dich recht erkannt;
kein Weg führt zu ihm durch das Land,
und niemand könnte ihn beschreiten,
den er nicht selber möcht’ geleiten.
Parsifal:
Ich schreite kaum,
doch wähn’ ich mich schon weit.
Gurnemanz:
Du siehst, mein Sohn,
zum Raum wird hier die Zeit.
51
ERLÄUTERUNGEN
Die »Verwandlungsmusik« ist von besonderer Bedeutung: musikalisch, szenisch, dramatisch, psychologisch, ja wenn man will sogar philosophisch (»zum Raum ward hier die Zeit«). (Wagner selbst hat geschildert, welche Mühe ihm die Anpassung dieser Musik an das sich verwandelnde Bühnenbild machte und wie er für die szenischen Erfordernisse noch mehrere Minuten Musik
dazukomponieren mußte.)
Das großartige Tonstück gipfelt in dem Einsatz der (hinter der Bühne gespielten) sechs Posaunen, die das »Liebesmotiv« oder »Gemeinschafts-«, auch »Kommunionsmotiv« (Nr. 1) blasen. Und schließlich wird das schon so lange vorher angedeutete Glockenmotiv (Nr. 15, 16) nun wirklich von Glocken übernommen,
die es eine Zeitlang allein spielen:
Dann setzen leise, zu Gurnemanz’ ersten Worten nach der fast unbemerkt geschehenen Verwandlung, die Streicher in hellem C-Dur in gleicher Melodie ein. Sie steigern sich, unter Einsatz des gesamten Orchesters und in gewaltigem Crescendo mit dem Gralsthema (Nr. 3) zu einem donnernden Höhepunkt orchestraler Stärke unter Einschluß des feierlichen Glockengeläutes der
Gralsburg:
(Notenbeispiel S. 54)
52
1. AUFZUG
(Allmählich, während Gurnemanz und Parsifal zu schreiten scheinen, hat sich die Szene bereits immer merklicher verwandelt; es verschwindet so der Wald, und in Felswänden öffnet sich ein
Torweg, welcher die beiden jetzt einschließt.)
(Durch aufsteigende gemauerte Gänge führend, hat die Szene sich vollständig verwandelt. Gurnemanz und Parsifal treten jetzt in den
mächtigen Saal der Gralsburg ein.)
Gurnemanz:
Nun achte wohl und laß mich sehn:
bist du ein Tor und rein,
welch Wissen dir auch mag beschieden sein. –
53
ERLÄUTERUNGEN
Der Tempel hat sich vor dem Beschauer geöffnet. Rittergruppen betreten in langsamem Schritt und feierlichem Gesang den Raum. Das Orchester webt ein neues Motiv, das aus dem Glockengeläut zu entstehen scheint und von einigen Instrumenten weiter geführt wird, während andere darüber eine neue Melodie entwickeln (die – wohl zufällig – stark an »Die Meistersinger von Nürnberg« erinnert):
54