Seit Bestehen des BND gab es keine breite, öffentliche Diskussion darüber, was unser Auslandsnachrichtendienst leisten und im Ausland dürfen soll. Soll der BND einfach nur die Welt beobachten und berichten, oder soll er als Krisenfrühwarnsystem fungieren? Steht die klassische Spionage im Vordergrund oder die Einsatzbegleitung der Bundeswehr? Reichen die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten aus, um prioritäre Aufträge zu erfüllen? Und was sind prioritäre Aufträge und wie und von wem werden sie als solche definiert? Wer einen Auslandsnachrichtendienst – noch dazu einen leistungsfähigen – will, sollte wissen, dass dieser im Ausland Rechtsbruch begeht. Spionage ist zwar völkerrechtlich nicht verboten, doch sie wird in dem jeweiligen betroffenen Staat strafrechtlich verfolgt. Gerhard Schindler will einen – bislang fehlenden – Diskurs über den Stellenwert von Sicherheit anstoßen. Er beschreibt die Aufgaben, Probleme und Strukturen unserer Dienste, hinterfragt den Status quo und legt konkrete Reformvorschläge vor. Ein solcher Diskurs könnte die Basis für die notwendigen strukturellen und inhaltlichen Veränderungen unserer Sicherheitsarchitektur werden und auch zu einer anderen öffentlichen Wahrnehmung unserer Sicherheitsdienste führen.
Warum wir mehr Mut beim Kampf gegen die Bedrohungen unseres Landes brauchen. Eine Streitschrift
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Für Rebecca
Um es gleich vorwegzunehmen: In diesem Buch geht es nicht nur um den Bundesnachrichtendienst. Viele Eindrücke und Erfahrungen zum Thema Sicherheit habe ich aber als Präsident des Bundesnachrichtendienstes gewonnen, weshalb der BND stellvertretend für alle anderen Sicherheitsbehörden seinen Platz im Titel dieses Buches gefunden hat.
In meine Amtszeit beim deutschen Auslandsnachrichtendienst fiel eine Reihe von einschneidenden, die Welt verändernden Ereignissen. Zum Beispiel der wachsende Konflikt in Syrien mit den Giftgaseinsätzen des herrschenden Assad-Regimes gegen die eigene Bevölkerung, die Ukraine-Krise mit dem Abschuss des malaysischen Verkehrsflugzeugs MH17 über der Ost-Ukraine oder auch die Migrationswelle im zweiten Halbjahr 2015. Ab Mitte 2013 stand der BND besonders im Licht der Öffentlichkeit. Mit den Veröffentlichungen von Edward Snowden begann für den Dienst die größte Krise seit seiner Gründung im Jahre 1956. Die enge Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen Geheimdienst National Security Agency (NSA) wurde Gegenstand eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestags. Zudem rückte auch die eigene technische Aufklärung des BND in das Visier der parlamentarischen Kontrolleure und der Medien. Der Auslandsnachrichtendienst hatte in dieser Zeit nicht nur die Krisen der Welt aufzuklären, er musste auch die eigene Krise meistern, er stand selbst unter Beschuss.
In dieser Zeit habe ich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des BND intensiv kennengelernt. Leider gibt es keine Studien über die Kultur in den deutschen Nachrichtendiensten, sodass ich auf meine eigenen Eindrücke angewiesen bin. Und diese lassen sich unter dem Begriff »Kultur des Zweifels« gepaart mit einer »Kultur der Kontrolle« zusammenfassen.
Analysten wie Operateure waren zögerlich, überlegten dreimal statt einmal, diskutierten lieber mehr als zu wenig. Um es deutlich zu sagen, im BND gab und gibt es keine »Desperados«, die man bremsen und eng kontrollieren muss. Die nachdenklichen Menschen und jene, die sich nicht mit der schnellen ersten Information zufriedengeben, überwiegen.
Der Grund für das Hinterfragen, für die »Kultur des Zweifels«, hat nach meiner Auffassung etwas mit dem beruflichen Alltag zu tun. Nachrichtendienstler werden jeden Tag belogen, hintergangen, auf falsche Fährten geführt. Menschliche Quellen können einem das Blaue vom Himmel erzählen, was vielleicht gut klingt, aber mit der Realität nichts gemein hat. Eine abgefangene Information kann zutreffend oder eine gezielte Desinformation sein. Es gilt daher der ungeschriebene Grundsatz: »Nichts glauben!«, es sei denn, die Information ist durch unabhängige Zweit- oder Drittquellen bewiesen. Dieser quasi institutionelle Zweifel schafft Distanz zu neuen Sachverhalten und Personen und macht die Angehörigen des Dienstes kritisch und unempfänglicher gegenüber abseitigen politischen Parolen.
Ein weiterer Faktor sind die vielen internen und externen Kontrollinstanzen. Diese »Kultur der Kontrolle« wird im Dienst nicht als lästig, sondern als selbstverständlich empfunden. Selbst wenn es in einem kleinen Kreis von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Bestrebungen gäbe, gezielt rechtliche Grenzen zu überschreiten, würde dies angesichts der Kontrolldichte eher früher als später erkannt werden. Wer also das »System Bundesnachrichtendienst« kennt, der weiß, dass dies nichts mit einem »Staat im Staate« zu tun hat, wie überkritische Stimmen gerade in der Politik hin und wieder behaupten.
Aus der »Kultur der Kontrolle« folgt eine überbordende Bürokratie. Unzählige kleinteilige Regelungen geben scheinbar Handlungssicherheit. Tatsächlich aber – wie in allen Organisationen mit zu viel Verwaltungsvorschriften – hemmen sie die Eigeninitiative und die Handlungsabläufe. In etlichen Diskussionsrunden, an denen ich als Präsident des Bundesnachrichtendienstes und auch noch nach meinem Ausscheiden teilgenommen habe, erläuterte ich die Bürokratie im Dienst gerne mit dem Beispiel des Fahrtenbuchs in Afghanistan. Eine solche Dokumentation für ein Dienstfahrzeug zu führen ergibt in Deutschland Sinn. Es hat den Zweck, dienstliche und private Fahrten zu unterscheiden. In Afghanistan von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des BND ein Fahrtenbuch führen zu lassen, ist dagegen weder sinnvoll noch zielführend, da man in diesem Einsatzland keine privaten Fahrten durchführen kann. Dort ist man 24 Stunden am Tag im Dienst. Die Einführung einer realitätsnahen Lösung war daher eine meiner ersten Modernisierungsmaßnahmen.
Es gibt also keinen Grund, Angst vorm BND – oder vor den anderen Sicherheitsbehörden – zu haben. Es gibt aber viele Gründe, sich mit unseren Sicherheitsbehörden zu befassen. Die Menschen, die dort rund um die Uhr für unser aller Sicherheit arbeiten, haben Respekt verdient. Dabei geht es mir nicht um Lobhudelei, um inhaltslose Sonntagsreden, sondern um den Stellenwert ihrer Aufgabe, um den Stellenwert von Sicherheit. Sicherheit ist auf dem Weg, ein »Igitt«-Thema zu werden. Wer heute für bessere oder mehr Sicherheit eintritt, der wird kritisch beäugt, der stört, wird lästig. Die Arbeit der Sicherheitsbehörden sollte aber nicht nur dann öffentlich thematisiert werden, wenn es um mögliche Pannen oder den pauschalen Vorwurf geht, Dienste würden Gefahren zu spät erkennen.
Ich will mit meinen Ausführungen, wenn es eben sein muss, stören. Ich möchte einen Beitrag leisten für eine Diskussion über den Wert von Sicherheit, über mehr Sicherheit.
Bei meinen Recherchen zu diesem Buch ist mir wieder einmal deutlich geworden, wie sehr sich die Sorge über angeblich übergriffige Sicherheitsbehörden und die Angst vor Nachrichtendiensten in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wiederfinden. Es ist guter Brauch, dass man sich mit Kritik am obersten Gericht unseres Landes zurückhält. Aber die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Mai 2020, wonach die strategische Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung des BND gegen Grundrechte des Grundgesetzes verstoße, darf nicht unkommentiert bleiben.
Mit dieser Entscheidung, die die Aufklärung der Telekommunikation von Ausländern im Ausland deutlich erschwert, hat das Gericht erstmals seit Gründung der Bundesrepublik im Jahre 1949 festgestellt, dass der Schutz der Grundrechte unserer Verfassung nicht auf das deutsche Staatsgebiet beschränkt ist, sondern dass auch Ausländer im Ausland sich auf das Fernmeldegeheimnis nach Artikel 10 berufen können, wodurch ihre Kommunikation geschützt wird. Das Gericht stellt damit die ganze Weltbevölkerung von über sieben Milliarden Menschen unter deutschen Grundrechtsschutz. Ein solcher Vorgang ist in der Staatengemeinschaft ohne Beispiel. Das Gericht geht damit auch weiter als etwa die Europäische Menschenrechtskonvention, die in ihrem Artikel 1 »lediglich« all den Personen die dort angeführten Rechte und Freiheiten zusichert, die der Hoheitsgewalt der Vertragsparteien unterstehen. Der räumliche Geltungsbereich der Konvention ist daher nach Artikel 56 auf das Hoheitsgebiet des jeweiligen Staates beschränkt. Einen ähnlich begrenzten Anwendungsbereich sieht die Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Artikel 56 vor. Unser Grundgesetz ist demgegenüber ab sofort Weltrecht!
Geklagt gegen den Bundesnachrichtendienst hatten überwiegend ausländische Journalisten der Organisation »Reporter ohne Grenzen«. Schon der Umstand, dass Journalisten zum Beispiel aus Großbritannien, Aserbaidschan, Slowenien oder Mexiko in Deutschland gegen den Bundesnachrichtendienst klagen, ist irritierend. Sie haben sich offensichtlich das Land ausgesucht, dessen Rechtsordnung die Tätigkeit seiner Nachrichtendienste am wenigsten schützt – das ist leider Deutschland.
Die Entscheidung aus Karlsruhe hatte ich so nicht erwartet, denn ich vermochte mir nicht vorzustellen, dass nunmehr die Kommunikation der Taliban, die gerade deutsche Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan angreifen, durch unser Grundgesetz geschützt sein soll. Oder dass der Terrorist in Syrien, dem über sein Mobilfunktelefon der Befehl zum Enthaupten von Gefangenen erteilt wird, unter den Schutz des deutschen Fernmeldegeheimnisses fallen soll. Ich glaube, die Väter des Grundgesetzes würden sich im Grabe umdrehen, wenn sie dies wüssten. Dass sich die Betreiber einer islamistischen Propaganda-Webseite im Irak jetzt auf die Pressefreiheit nach Artikel 5 des Grundgesetzes berufen können und deshalb einen besonderen Grundrechtsschutz genießen, ist angesichts der Gesamtproblematik nur noch eine Arabeske am Rande. Ich bedauere, dass das Gericht keinen Mittelweg gesucht hat, um berechtigte Interessen von Journalisten zu berücksichtigen ohne die Tragweite des jetzigen Urteils.
Diese bedenkliche Verabsolutierung deutscher Rechtspositionen hat schon fast etwas Religiöses. Sie wird die Arbeit des Bundesnachrichtendienstes deutlich erschweren. Weil das Gericht viele Voraussetzungen für die technische Aufklärung definiert hat, werden weniger Informationen gewonnen werden können. Wichtig wird es daher sein, trotz reduzierter Erfassung mithilfe künstlicher Intelligenz den bestmöglichen Erkenntnisgewinn zu erzielen. Semantische Selektoren, also Filter, die nicht bloß nach bestimmten Begriffen, sondern nach Inhalten und Sinnzusammenhängen suchen, könnten helfen.
Insgesamt muss es im anstehenden Gesetzgebungsverfahren darauf ankommen, trotz Umsetzung der Gerichtsvorgaben die größtmöglichen Handlungsspielräume zuzulassen, um einen Abstieg des Bundesnachrichtendienstes in die Drittklassigkeit zu verhindern. Ein eingeschränktes nationales Frühwarnsystem hat nicht nur Folgen für das Image des Dienstes, sondern leider auch spürbare Folgen für die nationale Sicherheit.
Sorge bereitet mir in diesem Zusammenhang insbesondere die internationale Zusammenarbeit. Das Bundesverfassungsgericht hat auch für diesen Bereich eine Reihe von Vorgaben aufgestellt, die viele andere Nachrichtendienste, mit denen der BND derzeit zusammenarbeitet, nicht einhalten können oder wollen. Die Dienste etwa im Nahen oder Mittleren Osten, die die vom Gericht geforderten rechtlichen Standards nicht erfüllen, werden zukünftig lieber mit Briten, Franzosen oder Italienern zusammenarbeiten, als mit einem Dienst, der sich vor der Kooperation erst einmal über den rechtsstaatlichen Umgang mit Daten vergewissern will. Wir brauchen aber die Zusammenarbeit mit diesen Diensten, wenn wir deutsche Sicherheitsinteressen nicht nur in der Region wahren wollen. Umgekehrt gilt dies nicht! Die genannten Dienste können auf die Zusammenarbeit mit dem BND verzichten.
Das Karlsruher Urteil wird also noch lange nachhallen. Und nicht nur der Bundesnachrichtendienst ist betroffen, sondern auch die Bundeswehr in ihren Einsatzgebieten, die sich jetzt nicht nur einer feindlichen Konfliktpartei gegenübersieht, sondern auch Grundrechtsträgern. Die Angst vorm BND hat eine rechtliche Entwicklung ausgelöst, deren Folgen noch nicht absehbar sind. »Das ist ein schwarzer Tag für den BND und die Sicherheit unseres Landes«, lautete denn auch der Kommentar meines Vorgängers August Hanning, der von 1998 bis 2005 Präsident des Bundesnachrichtendienstes war. Uns verband das Bemühen, den Bundesnachrichtendienst leistungsfähiger zu machen und seinen Stellenwert im In- und Ausland zu stärken.
Als ich am 2. Januar 2012 meinen Dienst als Präsident des Bundesnachrichtendienstes antrat, fühlte ich mich unsicher. Natürlich hatte ich mich gründlich auf diese Aufgabe vorbereitet, viele Gespräche geführt, viele Berichte gelesen. Aber das änderte nichts an meinem Grundgefühl. Zu viel Kritik am damaligen Zustand des Dienstes wurde mir von aktiven und ehemaligen Angehörigen des BND, von Abgeordneten des Bundestags und von Journalisten teils sehr direkt, teils »durch die Blume« vor meinem Dienstantritt und in den ersten Wochen und Monaten danach übermittelt.
Ich hatte daher einen guten Grund, mich die obligatorischen ersten hundert Tage mit öffentlichen Aussagen zurückzuhalten, um mir selbst ein Bild von der Verfasstheit des BND zu machen. Am 5. April 2012 hatte ich meine ersten beiden Pressegespräche, mittags mit drei Redakteuren vom Spiegel und am Abend mit einem Journalisten von Focus. Das Gespräch mit den Spiegel-Redakteuren war auf eine Stunde begrenzt, während der Abendtermin »open end« war. Dieser zeitliche Unterschied erklärt, dass das Gespräch mit Focus wesentlich umfassender und detaillierter war.
Ich schilderte dabei sehr offen, dass ich einen Auslandsnachrichtendienst vorgefunden habe, in dem eine Null-Risiko-Mentalität weitverbreitet sei. Ich hätte, bildlich gesprochen, ein Atomkraftwerk erwartet, das man durch viele Sicherungsmaßnahmen unter Kontrolle halten müsse. Vorgefunden hätte ich dagegen eine Organisation, die eher einer Verwaltungsbehörde gleiche. Viel zu oft werde die nicht zu garantierende »operative Sicherheit« als Totschlag-Argument gegen gute Ansätze und Ideen gebraucht. Für mich sei aber klar, dass es einen Nachrichtendienst ohne jegliches Risiko nicht geben könne.
In meinem Gespräch mit dem Spiegel gipfelte dies mit Bezug auf den Einsatz in Krisenregionen in dem Satz: »Der BND muss als Erster rein und als Letzter raus.« In dem Abendtermin mit Focus wollte ich noch deutlicher werden und gebrauchte daher die Äußerung: »No risk, no fun«.
Für mich war klar, dass sich etwas ändern musste, dass der BND einen Neustart brauchte. Und da die meisten Probleme bekanntermaßen im Kopf beginnen, propagierte ich diese Art Leitspruch auch nach innen in den Dienst hinein. Heute bin ich von diesem Vorgehen überzeugter als je zuvor. Wenn man bei einer nachrichtendienstlichen Operation, etwa beim regelmäßigen Treffen mit einer menschlichen Quelle im Ausland, jegliches Risiko ausschließen will, dann ist es keine nachrichtendienstliche Operation mehr, sondern diese kann auch von den dortigen Botschaftsangehörigen oder von den Militärattachés übernommen werden. Dafür braucht man keinen teuren Auslandsnachrichtendienst. Die Frage kann daher nur lauten: Wie viel Risiko ist man bereit einzugehen in Anbetracht des zu erzielenden Erfolgs? Das Ziel, der mögliche Erfolg, kam damals aus meiner Sicht bei der entsprechenden Risikoabwägung viel zu kurz. Der Fußballtrainer Jürgen Klopp hat dies wenige Monate später in etwa so formuliert: Nicht die Angst vor dem Verlieren, sondern die Lust auf das Gewinnen bringt den Erfolg!
Natürlich ging es mir bei der Stärkung der »Lust auf das Gewinnen« nicht um ein unüberlegtes, dreistes Vorgehen, sondern um ein kluges, umsichtiges, aber auch mutiges Handeln. Ich wollte, dass der mögliche Erfolg und der daraus resultierende Nutzen mit in die Risikoabwägung einbezogen werden. Eine geringe Risikobereitschaft – um ein fiktives Beispiel anzuführen – ist angebracht für die Anwerbung eines einfachen Soldaten in einer fremden Armee als menschliche Quelle, da von diesem wenig wertvolle Informationen zu erwarten sind. Anders sieht es dagegen bei einem Viersternegeneral aus, bei dem man erwarten darf, dass er über Top-Informationen verfügt. Hier lohnt sich ein höheres Risiko, zum Beispiel die Enttarnung des Anwerbers als BND-Mitarbeiter.
Das Gute war, Beispiele für mutiges und erfolgreiches Vorgehen gab es im Bundesnachrichtendienst. Und zwar nicht wenige! Neben der Veränderung im Kopf, die ich mit »No risk, no fun« anstoßen wollte, war es daher wichtig, das vorhandene gute Methodenwissen auch denjenigen zu vermitteln, die ihre Aufgaben bislang »zaghafter« angingen. Ich habe diese Bemühungen daher zu einer meiner wichtigsten Leitlinien während meiner Amtszeit gemacht. »Der BND muss operativer werden!«, lautete meine Ansage. Unterlegt habe ich diese Forderung nicht nur mit der Vorbildfunktion von guten Beispielen, mit organisatorischen Änderungen und Pilotprojekten, sondern auch mit dem Hinweis auf eine Studie von Wissenschaftlern des Instituts zur Zukunft der Arbeit an der Universität Bonn und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin im September 2005. Demzufolge waren die Probanden der Studie, die sich als risikofreudig bezeichneten, im Durchschnitt mit ihrem Leben zufriedener als die anderen Versuchspersonen. Aufgrund meiner im BND gemachten Erfahrungen bin ich sicher, dass dieses Ergebnis der Studie zutrifft.
Nach der Veröffentlichung des Focus-Artikels am darauffolgenden Wochenende, in dem »No risk, no fun« im Text als mein zukünftiges Motto zur Erhöhung der »Schlagkraft der Auslandsspionage« zitiert wurde, brach allerdings erst einmal nicht unbedingt verhaltene Empörung in den Medien und der Politik aus. Auch später noch hat man mir immer wieder vorgehalten, dass man »so etwas« doch nicht öffentlich sagen könne. Von verantwortungslos bis flapsig und ungeschickt lauteten die Vorhaltungen. Eine inhaltliche Diskussion über mein Anliegen war kaum möglich, da die Losung »No risk, no fun« meist kategorisch abgelehnt wurde. Die Heftigkeit dieser Reaktionen hat mich überrascht. Ich konnte und kann sie mir nicht anders erklären als damit, dass wir Deutschen ein gestörtes Verhältnis zu unseren Nachrichtendiensten haben.
Mit einem gewissen Abstand bin ich heute der Auffassung, dass sich der fehlende Mut auf die gesamte deutsche Sicherheitsarchitektur ausweiten lässt. Wenn zum Thema Sicherheit in Deutschland diskutiert wird, dann meist mit einer negativen Konnotation. Da werden angebliche Pannen der Sicherheitsbehörden zelebriert, werden Fehler unterstellt. Behördenversagen zu behaupten, ist zu einer beliebten und beliebigen Routine unserer Debattenkultur geworden. Auch bei Fahndungserfolgen ist man vor dieser Haltung nicht geschützt. Die Frage, warum erst jetzt, ist noch harmlos gegenüber dem nicht selten geäußerten Verständnis für die Täter. Durchgreifende Sicherheitsbehörden greifen dann angeblich zu hart durch, sind instinkt- und rücksichtslos. Beispielhaft ist die Kritik am Vorgehen der Berliner Polizei gegen die dortige Clan-Kriminalität. Nach langer Zeit der Zurückhaltung hat die zugegebenermaßen schwierige Bekämpfung dieser Kriminalität in den letzten Monaten und Jahren endlich Fahrt aufgenommen. Großeinsätze mit mehreren Hundert Beamten – unter anderem in Shisha-Bars – oder die Beschlagnahme von etlichen Immobilien und deren Mieteinnahmen im Wert von mehreren Millionen Euro konnten diese Strukturen empfindlich stören. Für dieses entschlossene Handeln gab es nicht nur Lob. Das Vorgehen wurde von Vertretern der »Linken« als »rassistisch« bezeichnet, der Begriff »Clan-Kriminalität« sei stigmatisierend, da Muslime »kriminalisiert« würden. Wenn man diese Reaktionen einmal auf sich wirken lässt, muss man den Eindruck gewinnen, die größte Gefahr für unsere Gesellschaft ginge von den Sicherheitsbehörden aus.
Nur wenige Akteure haben bei diesen immer wiederkehrenden Debattenschemata, bei diesen sich stets wiederholenden Argumentationsmustern den Mut, sich klar und deutlich vor die Sicherheitsbehörden zu stellen. Wer heute um Verständnis für die Sicherheitsbehörden und deren Handeln wirbt, wird schnell in eine Ecke geschoben, in der man als Politiker oder Journalist nicht stehen möchte. Ich habe allzu oft im Vieraugengespräch Zuspruch und Zustimmung erfahren, während dieselben Personen sich öffentlich mit ähnlichen Aussagen vollkommen zurückhielten.
Ich glaube, niemand möchte heute als Hardliner gelten. Während es früher, von Franz Josef Strauß bis zum ehemaligen Bundesinnenminister Otto Schily, den anerkannten Typus des »Sheriffs« in der Politik gab, der unbeugsam für Recht und Ordnung eintrat, ist diese Haltung heute inzwischen verpönt und nicht mehr diskutabel. Otto Schily war wohl einer der Letzten seiner Art. Diese Sorte Politiker hatte Mut. Sie wurden nicht von Diskussionen oder Entwicklungen getrieben, sondern sie bestimmten diese. Sie setzten Veränderungen für mehr Sicherheit durch – gegen alle Widerstände. Sie stellten sich an die Spitze der Bewegung, argumentierten unermüdlich, hielten stand. Sie brachten Sachverhalte auf den Punkt, sprachen Klartext, wurden wahrgenommen und erreichten so meist ihr Ziel. Und wenn tatsächlich Fehler passierten, war dieser Typ Politiker bereit, sich schützend vor die betroffene Behörde zu stellen, weil es eben keine Organisation gibt, die gänzlich fehlerfrei ist. Diese Haltung entsprach seinerzeit auch zum großen Teil der Stimmungslage in der Bevölkerung. Heutzutage ist dagegen die Schar der Politiker, der Journalisten und sonstigen Multiplikatoren, die öffentlich und vehement für Vertrauen in die Arbeit unserer Sicherheitsbehörden werben, überschaubar. In einer Gesellschaft, die Straftäter mit der Bezeichnung »Aktivisten« heroisiert, obwohl sie zum Beispiel im Hambacher Forst fremdes Gelände besetzen, fremdes Eigentum beschädigen und Polizisten beleidigen, angreifen und verletzen, in einer solchen Gesellschaft hat man es zugegebenermaßen schwer, für Sicherheit oder gar für mehr Sicherheit einzutreten. Solche Akteure gibt es zwar noch immer, sie sind aber leise geworden beziehungsweise werden kaum gehört. Solche Politiker nerven die eigene Partei, die eigene Fraktion. Und Journalisten, die sich mit Sicherheitspolitik ernsthaft auseinandersetzen, werden gerne der »Hofberichterstattung« bezichtigt. Man läuft daher mit dieser Haltung inzwischen schnell Gefahr, den Status eines Hofnarren zu erhalten, und einige, die am rechten Rand mit dem Thema reüssieren wollen, benehmen sich auch so.
Zwei »Urgesteine« der bundesdeutschen Politik kommen zu einem ähnlichen Schluss. Der FDP-Vize und Vizepräsident des Bundestags Wolfgang Kubicki etwa beklagte im Januar 2020 in einem Interview, dass »viele jüngere Politiker zu ängstlich sind, um auch mal klare Kante zu zeigen«. Und Sigmar Gabriel, unter anderem ehemaliger Vizekanzler und langjähriger Vorsitzender der SPD, hat sein im März 2020 veröffentlichtes Buch mit Mehr Mut! betitelt.
Wie schwierig hierzulande die Situation und Stimmungslage hinsichtlich starker Sicherheitspolitik ist, zeigt das Beispiel der fehlenden gesetzlichen Regelung für das sogenannte Hackback. Dabei werden bei IT-Angriffen aus dem Ausland die dortigen Server in einem gezielten Gegenangriff ausgeschaltet. Bislang darf dies keine unserer Behörden. Also müssen wir zuschauen, wenn eine Hackerattacke aus dem Ausland wichtige Infrastrukturen schädigt oder zerstört. Unsere Behörden dürfen nur durch Umlenken der Angriffsviren oder durch Abschalten der angegriffenen Systeme reagieren. All diese Maßnahmen sind aber in ihrer Schutzwirkung eher begrenzt. Nachhaltig agieren, indem man das angreifende System wo auch immer auf der Welt durch einen virtuellen Gegenangriff ausschaltet, dürfen wir nicht.
Seit über zehn Jahren wird in Deutschland wieder und wieder über dieses Thema diskutiert. Bedenken über Bedenken werden vorgebracht mit der Folge, dass die Politik es bis heute nicht gewagt hat, eine gesetzliche Regelung zu erlassen, dass der Staat seinen Schutzauftrag wahrnehmen kann. Ganz anders ist zum Beispiel die Situation in der Schweiz. Dort hat man schon im Jahre 2016 eine entsprechende Regelung erlassen. In Artikel 37 des Bundesgesetzes über den Nachrichtendienst heißt es: »Werden Computersysteme und Computernetzwerke, die sich im Ausland befinden, für Angriffe auf kritische Infrastrukturen in der Schweiz verwendet, so kann der NDB (Nachrichtendienst des Bundes) in diese Computersysteme eindringen, um den Zugang zu Informationen zu stören, zu verhindern oder zu verlangsamen.« Keines von den in Deutschland diskutierten Bedenken ist bislang aufgetreten; die Schweiz hat keine Katastrophen im Ausland verursacht, und niemand hat der Schweiz den Krieg erklärt. Wir hingegen sind mutig im Erfinden solcher Szenarien und zaghaft in der Übernahme von Verantwortung.
Diese Regelung in Artikel 37 wurde im Rahmen einer – wie in der Schweiz oft üblichen – Volksabstimmung eingeführt und mit einer deutlichen Mehrheit von 65,5 Prozent angenommen. Die Befürworter dieser Gesetzesnovelle hatten zuvor mit einer Kampagne für die Zustimmung geworben unter dem Motto »Glück ist eine Frage der Sicherheit!«. Ein solches Motto kann man sich heute in Deutschland gar nicht vorstellen.
Es lohnt sich auch, genauer hinzuschauen, wenn denn neue Regelungen geschaffen werden mit dem vorgeblichen Ziel, die Sicherheit zu verbessern. Meistens wird es für die Sicherheitsbehörden komplizierter, weil nahezu jede Neuregelung mit Datenschutzauflagen verbunden ist oder früher vorhandene Ermessens- und Handlungsspielräume eingeengt werden. Und es gibt Regelungen, die mit viel Furore eingeführt werden, in Wirklichkeit aber wirkungslos sind. Der ehemalige Abgeordnete des Deutschen Bundestags Wolfgang Bosbach (CDU) hat dies bereits einmal sinngemäß mit dem Kauf eines Wachhundes verglichen. Alle seien dafür, aber nur, wenn der Hund mindestens 20 Jahre alt sei, an der Leine liege, keine Zähne mehr habe und noch einen Maulkorb trage.
Die neue gesetzliche Regelung für das Auslesen von Mobiltelefonen von Asylantragsstellern beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist eine solche Regelung. Im Jahre 2017 wurde das Asylgesetz so geändert, dass ein Asylbewerber »auf Verlangen alle Datenträger (gemeint sind insbesondere Mobiltelefone), die für die Feststellung seiner Identität und Staatsangehörigkeit von Bedeutung sein können […] vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen« hat. Das klingt erst einmal gut.
Die Regelung hat allerdings einen Haken. Kluge Antragsteller haben nämlich bei der Befragung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erst gar kein Handy dabei. Und genau die Ausländer, die man wegen ihrer kriminellen Energie als solche erkennen wollte, haben seit ihrem Grenzübertritt schon das dritte oder vierte Mobiltelefon in Gebrauch und geben natürlich zum Auslesen nur ihr »sauberes« Handy heraus. Dementsprechend vermelden die Statistiken des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, dass das Auslesen der Telefone entweder keine zusätzlichen Erkenntnisse erbracht oder überwiegend die Angaben der Antragsteller bestätigt habe. Daher wäre es viel wirkungsvoller gewesen, man hätte die Aufgabe des Auslesens der »Datenträger« der Bundespolizei an der Grenze übertragen. Direkt bei Grenzübertritt hätten die Maßnahmen kaum unterlaufen werden können. Fazit ist also: Ein guter Ansatz, aber der Politik ist auf halber Strecke die Luft, der Mut ausgegangen. Weitere Beispiele aus dem Alltag der deutschen Sicherheitsbehörden gibt es zur Genüge.
Ein anderer Blick auf das Thema Sicherheit ergibt sich, wenn man es aus der Perspektive der Angehörigen der Polizei oder der Nachrichtendienste betrachtet. Die mangelnde Wertschätzung ihrer Arbeit ist allenthalben festzustellen. Sie leisten, auch unter Einsatz von Leib und Leben, Dienst an unserer Gesellschaft, oft unter schwierigsten Rahmenbedingungen. Aufreibender Schichtdienst und teilweise gigantische Überstundenkontingente sind nur zwei Stressfaktoren von vielen. An den Rahmenbedingungen ändert sich entweder nichts oder nur langsam. Zu wenig Personal, keine sachgerechte Besoldung und ein demotivierender Umgang mit Fehlern sind hinlänglich bekannte Umstände.
Besonders deutlich wird das latente Misstrauen zum Beispiel gegenüber unserer Polizei dann, wenn ein Polizist im Einsatz jemanden erschießt. Innerhalb von Sekundenbruchteilen muss er in einer Bedrohungs- und Gefahrensituation entscheiden, ob eine Notwehr- oder Nothilfelage vorliegt. Am Schreibtisch klingt dies einfach, vor Ort ist es wahrscheinlich die schwierigste Entscheidung, die ein Polizist jemals in seinem Leben zu treffen hat. Kein Polizist erschießt gerne einen Menschen. Das Erste, was allerdings nach einem solchen Vorfall offiziell veranlasst wird, ist, dass ein staatsanwaltschaftliches Strafverfahren wegen vorsätzlicher (!) Tötung gegen ihn eingeleitet wird. »Routinemäßig« – sagt man gerne –, um keine Zweifel aufkommen zu lassen. Man gehe aber davon aus, dass der Kollege sich korrekt verhalten habe. Wie mag das auf den betroffenen Beamten wirken, und welches Signal sendet ein solches Strafverfahren nach außen aus? Wie viel Misstrauen gegenüber der Polizei wird dadurch gesät? Wenn der Sachverhalt so ist, dass man davon ausgehen kann, dass sich der Kollege korrekt verhalten hat, und auch sonst keine Fakten dagegensprechen, dann stellt sich die Frage, warum standardmäßig ein staatsanwaltschaftliches Strafverfahren eingeleitet werden muss. Natürlich muss der Sachverhalt durchleuchtet werden, aber das kann auch die vorgesetzte Behörde des betroffenen Beamten durch Befragungen der Beteiligten ordnungsgemäß erledigen. Dazu muss man nicht gleich zur Keule eines Strafverfahrens mit dem Vorwurf der vorsätzlichen Tötung greifen. Warum hat der Staat nicht den Mut, nicht nur verbal, sondern auch faktisch erst einmal vom korrekten Verhalten des Polizisten auszugehen? Zudem hat der Beamte nicht als Privatperson, sondern als Vertreter der Staatsgewalt gehandelt. Für viele Beamte stellt sich daher immer öfter die Frage, warum sie noch den »Kopf hinhalten« sollen für einen Staat, der ihnen als Erster in den Rücken fällt.
Eine ähnliche Lücke zwischen öffentlichen Bekundungen und tatsächlichem Tun liegt bei dem Phänomen der Angriffe auf Uniformierte vor. Nicht nur für Angehörige der »Party- und Eventszene« in Stuttgart ist ein Angriff auf Polizeibeamte eine Art Erweckungserlebnis. Seit Jahren reißen derartige Straftaten nicht ab, die sich sowohl gegen Polizisten als auch gegen sonstige uniformierte Helfer wie Feuerwehr oder Rettungssanitäter richten. Eine Anfang 2020 veröffentlichte Befragung von 2000 Beschäftigten des öffentlichen Sektors, also nicht nur von Polizisten, durch das Umfragezentrum Bonn im Auftrag des Deutschen Gewerkschaftsbundes ergab sogar, dass 67 Prozent und somit zwei Drittel der Befragten Beleidigungen, Bedrohungen und Angriffe in den vergangenen zwei Jahren erlebt hatten. Sie wurden angepöbelt, bespuckt, bedroht, körperlich bedrängt; elf Prozent wurden geschlagen oder getreten. Auch Steinwürfe oder sonstige Attacken gegen Einsatzfahrzeuge sind inzwischen keine Seltenheit mehr. Die jährlich steigenden Zahlen all dieser Vorfälle sind ein erschreckendes Indiz dafür, wie weit sich immer mehr Menschen aus der gesellschaftlichen Grundordnung wegbewegen. Hier liegt keine mangelnde Wertschätzung vor, sondern blanker Hass.
Eine Möglichkeit, sich schützend vor die Beamten zu stellen, ist das Strafrecht. Allerdings erst 2017 ist auf Druck der Polizeigewerkschaften der neue § 114 in das Strafgesetzbuch eingefügt worden, wonach ein tätlicher Angriff auch dann einer »gesonderten Strafbarkeit« mit höherer Strafandrohung unterliegt, wenn ein solcher bei einer sogenannten Diensthandlung erfolgt. Zuvor war diese gesonderte Strafbarkeit nur auf »Vollstreckungshandlungen« beschränkt, also nur auf einen viel kleineren Ausschnitt des Behördenalltags. Das ist schon ein Fortschritt, aber warum hat die Politik nicht den Mut, generell alle tätlichen Angriffe auf uniformierte Stützen unseres Gemeinwesens strafrechtlich besonders zu ächten und damit den Staat zu stärken und seine Vertreter zu schützen? Viele Politiker auf kommunaler und Landesebene werben zum Beispiel darum, dass Polizisten in Uniform mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Dienst oder nach Hause fahren. Damit will man, was eine gute Idee ist, das Sicherheitsgefühl der Mitfahrenden stärken. Der Nachhauseweg in Uniform ist aber keine Diensthandlung, und damit greift die gesonderte Strafbarkeit nach dem neuen § 114 Strafgesetzbuch eben nicht. Warum setzt man kein Zeichen, indem man die Wertschätzung gegenüber Polizisten dadurch zum Ausdruck bringt, dass man jeden tätlichen Angriff gegen sie besonders sanktioniert? Diese Attacken sind im Übrigen auch Angriffe gegen den Staat, den die Uniformierten verkörpern.
Sicherheit geht alle an, und leider sind die meisten Menschen nicht immer oder besonders mutig. Zivilcourage fordert sich leicht ein; sie aber in bestimmten Konstellationen auch zu zeigen, ist schwer. Ich selbst habe in meinem Leben einige Situationen erlebt, auf die ich im Nachhinein nicht sonderlich stolz bin, weil mir der Mut zum Eingreifen gefehlt hat. Mit einem Fallschirm aus einem Flugzeug zu springen fällt einigen leichter, als im Nahverkehrszug den Mund aufzumachen und einen aggressiven Mitreisenden zu bitten, seine verbalen Attacken gegenüber schwächeren Dritten zu unterlassen. Ich habe daher immer wieder diejenigen Alltagshelden bewundert, die solche, ähnliche oder noch gefährlichere Situationen gemeistert haben. Es gibt inzwischen viele Auszeichnungen und Preise für Zivilcourage, der bekannteste ist wohl der »XY-Preis - Gemeinsam gegen das Verbrechen«. Diese Auszeichnung, die unter der Schirmherrschaft des Bundesinnenministers steht, wird seit 2002 einmal jährlich von der ZDF-Fernsehsendung Aktenzeichen XY … ungelöst an Menschen verliehen, die sich in beispielhafter Weise für den Schutz des Lebens, der Gesundheit oder des Eigentums von Mitbürgern eingesetzt haben. Viele dieser Beispiele zeigen, dass Heldentum oft nicht einmal erforderlich ist, dafür aber Hinschauen, Aufmerksamkeit und Umsicht. Vermutlich können wir alle diesbezüglich noch an uns arbeiten.
Ich möchte mit meinen Ausführungen aber nicht nur sorgenvoll Fehlentwicklungen beklagen. Mir geht es vor allem darum, einen – bislang fehlenden – Diskurs über den Stellenwert von Sicherheit und von unseren Sicherheitsbehörden in der Gesellschaft anzustoßen. Im Idealfall wäre ein solcher Diskurs dann Grundlage für die fehlende »Sicherheitskultur« in unserem Land und Basis für die notwendigen strukturellen und inhaltlichen Veränderungen unserer Sicherheitsarchitektur. Die verantwortlichen Akteure müssen dies anpacken wollen, sie müssen Position beziehen, »Farbe bekennen« und entscheiden. Angesichts der Unbeliebtheit des Themas brauchen sie dafür Mut. Vorsichtiger Optimismus ist dabei angesagt. Die Entscheidungsträger und Multiplikatoren werden sich dem Druck auf Dauer nicht entziehen können. Die Kraft des Faktischen, der Druck durch die zunehmenden Gefährdungen, der Druck durch die fordernde Bevölkerung, der Druck durch die Staatengemeinschaft, insbesondere durch unsere Nachbarn, wird die Bereitschaft bestärken, unsere Sicherheit zu optimieren.
Da es auch positive Beispiele gibt, soll ein solches hier erwähnt werden. Im Februar 2020 wurden in Berlin zwei Straßen nach getöteten Polizisten benannt. Beide Beamte wurden im Dienst erschossen. Uwe Lieschied verstarb im März 2006, als er einen Räuber stoppen wollte. Ein gesuchter Straftäter schoss 2003 Roland Krüger in den Kopf, nachdem dieser gemeinsam mit Kollegen eine Wohnung gestürmt hatte. Mit dieser Geste wurde nicht nur der beiden Beamten gedacht, sondern auch die schwierige tägliche Arbeit unserer Polizei gewürdigt.