Berlin, 1870: Die Französin Madeleine und der junge deutsche Arzt Paul feiern gerade ihre Verlobung, als eine schreckliche Nachricht ihre Pläne durchkreuzt: Zwischen Preußen und dem Französischen Kaiserreich ist der Krieg ausgebrochen. Überstürzt brechen Madeleine und ihr Vater in ihre Heimatstadt Metz auf. Paul muss als preußischer Militärarzt zurück zu seinem Regiment nach Coblenz. Von nun an Feinde zu sein und auf unterschiedlichen Seiten zu stehen, ist für Paul und Madeleine unerträglich. Kann ihre Liebe den Krieg überstehen?
Packender historischer Roman über das Schicksal dreier Familien, die der Deutsch-Französische Krieg auseinanderreißt.
Mit vielen Schauplätzen in Deutschland, Lothringen & dem Elsass.
Maria W. Peter ist seit Langem von Amerika begeistert. Während ihres Studiums der Amerikanistik und Anglistik war sie Mitglied eines amerikanischen Chors auf dem Militärstützpunkt in Kaiserslautern und pflegte intensive Kontakte zu amerikanischen Familien. Später lebte sie in Columbia, Missouri, wo sie als Fulbright-Stipendiatin die School of Journalism besuchte. Dort erlag sie endgültig der Faszination amerikanischer Kultur und Geschichte. Schon zu Studienzeiten arbeitete Maria W. Peter als Journalistin. Heute ist sie als freie Autorin tätig und pendelt zwischen dem Rheinland und dem Saarland.
EINE LIEBE
ZWISCHEN DEN
FRONTEN
Historischer Roman
Mit umfangreichem Glossar,
Personenverzeichnis sowie Reise- und Stöbertipps
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Die Übertragung der französischen Gedichte erfolgte durch Angelika Lauriel
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.
Copyright © 2020 by Maria W. Peter
Copyright Deutsche Originalausgabe © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, Bonn
Kartenillustration: Helmut W. Pesch, Köln
Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München
Unter Verwendung von Motiven von © Magdalena Russocka / Trevillion Images und © shutterstock: Yudychev Stefan |Here | Annmarie Young | Tursunbaev Ruslan
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7325-8614-1
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Für meine Mutter
»Der gegenwärtige Krieg ist ein Krieg der
Kapitulationen, von denen offenbar eine jede ihre
Vorgängerin an Größe übertreffen soll.«
(Friedrich Engels: Über den Krieg)
’s ist Krieg! ’s ist Krieg! O Gottes Engel wehre,
Und rede du darein!
’s ist leider Krieg – und ich begehre
Nicht schuld daran zu seyn!
Matthias Claudius, »Kriegslied«, 1778
Berlin, 15. Juli 1870
Un conte de fées … ein Märchen. Das alles hier musste ein Märchen sein … Un rêve, ein Traum. Zu schön, um wahr zu sein.
Obgleich Madeleine sich grundsätzlich für eine junge Frau von wachem Verstand und nüchternem Charakter hielt, zitterte sie ein wenig, als sie am Arm ihres Vaters das festlich geschmückte Speisezimmer derer von Gerlau betrat. Es war ein hoher, nicht allzu großer Raum von gediegener Eleganz mit Stuckdecken und geschmackvollen Tapeten in einem schlichten, floralen Muster. Ein fast bodenlanges, gestärktes Tafeltuch bedeckte den runden Speisetisch, um den vier passende barocke Stühle standen. Weißes, dezent mit kleinen Ranken aus Blau und Gold verziertes Porzellan strahlte mit dem auf Hochglanz polierten Silberbesteck und den in der Abendsonne funkelnden Kristallgläsern um die Wette. Ein Strauß Rosen in warmen Gelb-, Rot- und Orangetönen schmückte die Tafel mit sommerlichen Farben. Das Arrangement trug die stilvolle Handschrift ihrer zukünftigen Belle-Mère, ihrer Schwiegermutter. Sie hatte Helma von Gerlau bei ihrer ersten Begegnung auf Anhieb in ihr Herz geschlossen.
Madeleines Puls beschleunigte sich, als sie Pauls vertraute Gestalt neben dem Tisch stehen sah, Paul von Gerlau, Doktor von Gerlau, der Mann, dessen Braut sie heute werden würde. Beinahe körperlich spürte sie seine Augen auf sich ruhen. Stumme, aufrichtige Bewunderung lag darin, und die Schmetterlinge in Madeleines Bauch flatterten entzückt auf.
Sie wusste, dass sie an diesem Abend gut aussah. Auf Anraten von Pauls Mutter hatte sie sich zu diesem besonderen Anlass in einer exklusiven Schneiderei an der Flaniermeile Unter den Linden ein neues Kleid aus dunkelblauer Seide anfertigen lassen. Zwar war es von schlichter Eleganz und keineswegs so üppig und verspielt, wie es die aktuelle Mode vorschrieb, doch hatte Madeleine beim Blick in den Spiegel feststellen können, dass es ihrem hellen Teint und den haselnussfarbenen Haaren ausgesprochen schmeichelte.
»Schön, dass du da bist, Madeleine.«
Paul war auf sie zugetreten und hatte ihr einen Kuss auf die Wange gehaucht. Wie von selbst glitten ihre Hände ineinander, und einige Atemzüge lang genoss sie das Gefühl, seine Nähe zu spüren. Dann begrüßte er ihren Vater, der schweigend, aber mit einem wohlwollenden Lächeln neben ihnen stand, und reichte seinem ehemaligen Medizinprofessor, Mentor und zukünftigen Schwiegervater, Docteur Albert Tellier, die Hand.
Warmes Abendlicht flutete durch die großen Fenster herein, die Kerzen auf dem Tisch waren entzündet. Pauls Mutter ging auf ihre Gäste zu, entbot zunächst dem Vater der Braut ihren Gruß und geleitete ihn zu Tisch. Anschließend wandte sie sich Madeleine zu, ergriff ihre Hände und drückte ihr einen mütterlichen Kuss auf Stirn und beide Wangen. Dann erst nahmen alle Platz, und die Hausherrin gab der Köchin ein Zeichen, das Essen auftragen zu lassen.
Madeleine nahm kaum wahr, wie das gemeinsame Diner verlief, wie all die erlesenen Speisen, welche die Köchin gezaubert hatte, schmeckten. Die ganze Zeit über dachte sie nur daran, was dieser Abend noch bringen würde. Eine einzige Frage, die ihr ganzes Leben verändern und die sie ohne Zögern mit »Ja« beantworten würde. Madeleine, die ihrem Vater hier in Berlin den Haushalt führte, die Ergebnisse seiner Forschungsarbeiten ins Reine schrieb und ihn auf jedwede Art unterstützte, wusste, dass es ein Glücksfall war, einem Menschen wie Paul zu begegnen. Er stand kurz davor, eine eigene Praxis zu eröffnen, sein Leben ganz dem Dienst an den Kranken zu widmen. Und selten hatte Madeleine zwei Menschen erlebt, die sich in ihren Zielen und Interessen so sehr ähnelten, sich auf solch selbstverständliche Art verstanden, wie Paul und ihr Vater Albert. Hatten sich doch beide mit aufrichtiger Hingabe der medizinischen Wissenschaft und der Heilung ihrer Patienten verschrieben.
Pauls Vater, Oberst von Gerlau, war einige Jahre zuvor verstorben, sodass Madeleine ihn nicht mehr kennengelernt hatte.
Nach dem wenigen, was Paul über den alten Obersten erzählt hatte, musste dieser ein harter, unerbittlicher Mann gewesen sein, mit starren, sehr rückwärtsgewandten Ansichten, der sich zudem stets seiner persönlichen Bekanntschaft mit Otto von Bismarck rühmte. Daher hätte es beinahe zu einem Zerwürfnis geführt, als Paul gegen den ausdrücklichen Wunsch seines Vaters ein Medizinstudium aufgenommen hatte, was dessen Plänen grundlegend zuwiderlief. Hatte er seinem gesellschaftlichen Stand entsprechend doch für seinen Sohn ebenfalls eine Offizierskarriere vorgesehen.
Nur höchst widerstrebend hatte sich Paul schließlich dem Druck seines Vaters gebeugt, sein Studium unterbrochen und nicht nur seinen Wehrdienst im Garderegiment, der Elitetruppe des preußischen Monarchen angetreten, sondern dort anschließend auch noch zwei zusätzliche Jahre als Freiwilliger abgeleistet. Genauer gesagt, im 4. Garde-Grenadier-Regiment Königin, das in Coblenz, in der weit entfernt gelegenen preußischen Rheinprovinz, stationiert war. Fünf lange Jahre, die Paul, der nicht das geringste Interesse für das Militärhandwerk aufbringen konnte und es vorgezogen hätte, sich ausschließlich der Medizin zu widmen, wie eine Ewigkeit vorgekommen waren.
Als dann im Januar des Jahres 1864 der Krieg gegen Dänemark ausbrach, war Paul gezwungen gewesen, mit seinem Regiment in die Schlacht zu ziehen, und zwei Jahre später, im Sommer 1866, ein weiteres Mal beim Feldzug gegen Österreich. Erfahrungen, über die er nur selten sprach, die ihn jedoch tief geprägt haben mussten. Denn gleich nach dem plötzlichen Tod seines Vaters hatte Paul seinen Dienst bei der Armee quittiert, um – endgültig, wie er hoffte – ins zivile Leben zurückzukehren, seine Studien beenden und als Arzt wirken zu können.
Verheißungsvolle Zukunftsaussichten, würde da nicht das Damoklesschwert einer drohenden Wiedereinberufung über ihm hängen. Madeleine wusste, wie besorgt Paul aufgrund der jüngsten politischen Entwicklungen war. Ereignisse, durch welche sich die Fronten zwischen dem Französischen Kaiserreich und Preußen, ja dem gesamten Norddeutschen Bund, bedeutend verhärtet hatten. Allen voran die unselige Frage nach dem Fortgang der spanischen Thronfolge, bei der die französische Seite unbedingt verhindern wollte, dass ein Hohenzoller den verwaisten spanischen Thron besetzte. Durch einen wohl recht rüde verlaufenen Zusammenstoß zwischen dem französischen Botschafter und dem preußischen König Wilhelm I., der sich jüngst in Ems abgespielt hatte, drohte die ohnehin schon angespannte Lage nun vollständig zu kippen.
Aber das war nicht der einzige Grund, weshalb Madeleines Mutter Clotilde nicht nach Berlin gereist war, um der Verlobung ihrer einzigen Tochter mit einem Preußen beizuwohnen. Obgleich dieser aus wohlhabendem Hause und von Stand war.
Nicht jetzt, beschwor sich Madeleine, während sie langsam den Dessertlöffel ablegte, nicht jetzt darüber nachdenken …
Dennoch schmerzte es sie, dass auch ihr Bruder nicht gekommen war. Clément, dem sie in Kindertagen so nahegestanden, dessen ungezügeltes Temperament sie stets fasziniert hatte. Doch seit er nach Paris gegangen war, um Jura zu studieren, war es zwischen ihnen zu einer spürbaren Entfremdung gekommen. Nur ein einziges Mal hatte er ihren Vater und sie in Berlin besucht und bei dieser Gelegenheit auch Paul kennengelernt. Bis heute fragte sie sich, ob ihr Bruder damals aus Zorn oder aus Eifersucht so plötzlich wieder abgereist war. Eifersucht auf einen jungen Mann, den offensichtlich so viel mehr mit seinem Vater Albert verband als Clément selbst und der ihm zudem die Schwester abspenstig machte.
»Liebe Familie …« Pauls sonore Stimme ließ sie ins Hier und Jetzt zurückkehren. Er lächelte. »Ich bin dankbar und glücklich, dass wir heute hier zusammengekommen sind, um zu essen, zu trinken und gemeinsam unsere Verlobung zu feiern.«
Madeleine errötete, hielt aber Pauls Blick stand. An der Art, wie er sich durch das kurze aschblonde Haar fuhr, erkannte sie, dass er nicht ganz so gelassen war, wie er sich gab. Ein angenehmer Schwindel erfasste sie, als er aufstand und neben sie trat. Fest ergriff er ihre Hände und zog sie hoch. Sie spürte die Wärme seines Körpers, nahm den ihm eigenen Geruch nach Sauberkeit wahr, nach Lauge und medizinischem Alkohol.
»Ich habe heute die besondere Ehre, Mademoiselle Madeleine, der Tochter des geschätzten Docteur Tellier …« Wie durch Nebel hindurch vernahm sie seine Worte. Weit entfernt und doch unendlich nah. »… die wohl schönste aller Fragen zu stellen.«
Er sah sie an, und in seinen grauen, sonst meist konzentriert blickenden Augen stand ein anderes Gefühl … eines, das ihr eigenes widerspiegelte, in all seiner Aufrichtigkeit und Tiefe.
Ein angespanntes Warten schien über dem Raum zu liegen. Das Wohlwollen und die Zustimmung in den Mienen seiner Mutter und ihres Vaters mischten sich mit der Wärme des Sommerabends, dem Rausch ihres eigenen Glücksgefühls.
»Sicherlich wird es Leute geben«, fuhr Paul fort, »die uns vorwerfen werden, es sei nicht wirklich die passende Zeit für eine derartige Verbindung, da die politische Lage zwischen unseren beiden Ländern so angespannt ist. Ich aber bin der Meinung, dass es gerade in Zeiten der Krise Menschen geben muss, die fest zueinanderstehen, die in ihrem privaten Leben ein Beispiel geben für Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Vertrauen und Freundschaft, auch über die Landesgrenzen hinweg. Und mir genügt es zu wissen, dass alle, die sich heute mit mir in diesem Raum befinden, diese Verbindung gutheißen und segnen werden.« Seine Augen lächelten, als er endlich zu der lang ersehnten Frage ansetzte. »Madeleine, seit du in mein Leben getreten bist, ist nichts mehr, wie es einmal war. Die Welt mag sich seither nicht verändert haben, sie ist noch genauso dunkel, korrupt und grausam wie zuvor. Und doch ist es um mich herum heller geworden, heller, freundlicher und strahlender. Durch dich habe ich die Hoffnung auf ein besseres Morgen, eine bessere Zeit … Deshalb frage ich dich hier und jetzt vor den Augen meiner Mutter, die ich über alles liebe, und deines Vaters, den ich mehr schätze, als ich es auszudrücken vermag: Würdest du mir die Ehre erweisen …«
Das Läuten der Türglocke ließ ihn verstummen.
Madeleine fuhr zusammen und sah ihn an. Er schüttelte kurz den Kopf und schien nicht gewillt, sich bei dieser wichtigen Angelegenheit stören zu lassen. Im Flur wurden Stimmen laut.
Paul räusperte sich. »Madeleine, würdest du mir die Ehre erweisen, meine …«
Ein zaghaftes Klopfen unterbrach ihn erneut. Unwillig wandte er sich um, die Brauen leicht zusammengezogen. Die Tür öffnete sich, und die Haushälterin trat mit hochrotem Kopf herein. Es fiel ihr sichtlich schwer, die traute Runde zu stören, und mit plötzlich aufkeimender Furcht fragte sich Madeleine, was geschehen sein mochte.
»Auguste«, sagte Paul ruhig. Es klang wie eine Frage.
Die korpulente Frau knickste. »Entschuldigen Sie, dass ich störe, gnädiger Herr …« Sie stockte, und ihr fülliges Gesicht wurde noch eine Spur dunkler. Hastig blickte sie über die Schulter, was darauf hindeutete, dass sich im Flur noch eine weitere Person befand. »Aber das hier ist für Sie abgegeben worden … Es sei dringend. Ich möge es direkt übergeben und auf Antwort warten … Es ist …«
Paul zögerte einen Moment. Dann löste er sich aus der Starre und ging steifbeinig auf die Haushälterin zu.
Mit bebenden Händen reichte sie ihm das Schreiben. »Es tut mir leid, Herr Doktor«, murmelte sie kaum hörbar. »Es tut mir so leid.«
Ohne auf ihre Worte einzugehen, nahm er das Papier entgegen, warf einen Blick auf das Siegel und brach es. Schnell hatte er das Schreiben auseinandergefaltet und überflog es. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht, seine Augen wurden hart.
Madeleine hatte das Gefühl, als würde sich eine eiskalte Hand fest um ihr Herz krallen. Sie sah, wie Paul nickte und der aufgeregten Haushälterin beruhigend die Hand auf die Schulter legte.
»Ich danke dir, Auguste. Es war richtig, dass du gekommen bist.«
Die ältere Frau entspannte sich sichtlich, ihre Stimme zitterte nur noch leicht, als sie zögernd hinzufügte: »Im Flur … im Flur wartet ein Uniformierter auf den gnädigen Herrn.«
Madeleines Mut sank. Auch ohne dass es ausgesprochen wurde, wusste sie, dass das nichts Gutes zu bedeuten hatte.
Langsam, mit der ihm eigenen Ruhe, die sie so sehr an ihm liebte, warf Paul einen Blick in die Runde, die in ein betretenes Schweigen verfallen war. »Ihr entschuldigt mich?« Ohne eine Antwort abzuwarten, trat er nach draußen.
Durch die nur angelehnte Tür drangen gedämpfte Gesprächsfetzen ins Speisezimmer. Obgleich Madeleine kein Wort verstand, ahnte sie, was da besprochen wurde.
Eine Ewigkeit verstrich, in der niemand etwas sagte, niemand sich rührte. Die gesamte Szenerie wirkte wie eingefroren. Nur die Flammen der Kerzen auf dem Tisch bewegten sich in der durch das Fenster hereinströmenden Abendbrise.
Als Paul zurückkam, war er so blass, wie Madeleine es nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Einem Impuls folgend machte sie zwei Schritte auf ihn zu, fasste kurz seine Hände, die so kalt waren wie ihre eigenen.
»Meine Lieben«, sagte er langsam. »Ich bedaure sehr, euch mitteilen zu müssen, dass unsere kleine Feier leider zu Ende ist.«
Ein heftiges Ausatmen war zu hören. Es kam von Helma, die sich bei den Worten ihres Sohnes erhoben hatte. In ihrer Miene zeichnete sich die gleiche Bestürzung ab, die auch Madeleine empfand.
»Die Lage hat sich zugespitzt«, fuhr Paul fort. »Der Norddeutsche Bund wird morgen offiziell die Mobilmachung anordnen, und auch ich bin wieder einberufen worden.«
Wie in Trance sah Madeleine, dass ihr Vater bei diesen Worten zusammenzuckte, Tränen in seine Augen traten.
Stumm ging Helma von Gerlau auf ihren Sohn zu und drückte seine Hand. »Wann?«, fragte sie dann leise und gefasst, und wieder spürte Madeleine die Zuneigung, die sie für diese zierliche Frau empfand.
»So schnell wie möglich. In zwei Tagen. Mir bleibt gerade noch Zeit, meine Sachen zu packen und mich nach Coblenz aufzumachen. Und von dort aus …« Er ließ den Rest des Satzes unausgesprochen, doch jeder der Anwesenden wusste, was er sagen wollte.
In den Krieg, der nicht nur das Land mit Tod und Verderben überziehen, sondern eine womöglich unüberbrückbare Kluft zwischen ihren beiden Ländern aufreißen würde. Zwischen Frankreich und Preußen – und vielleicht sogar den anderen deutschen Staaten.
Erschüttert schloss Madeleine die Augen. Der schwelende Hass, der all die Jahre unter der Oberfläche geschlummert hatte, würde neue Nahrung bekommen, an allen Ecken und Enden auflodern. Paul und sie würden sich genau dazwischen befinden, im Herzen eines Konfliktes, den keiner von ihnen gewollt hatte. Sie würden sich lange nicht wiedersehen – vielleicht niemals.
Von diesem Tage an standen sie auf gegnerischen Seiten.
Berlin, 15. Juli 1870
Paul war allein im Speisezimmer zurückgeblieben. Der Tisch war abgedeckt, Geschirr, Servietten und das wertvolle Tafelsilber waren verschwunden. Nur noch die Kandelaber standen verloren auf der sorgsam geplätteten Tischdecke, auf der ein Rotweinfleck prangte. Wie ein blutiges, unglückverheißendes Omen.
Krieg … nach nur vier Jahren wieder ein Krieg. Allzu gut wusste Paul, was das bedeutete. Übelkeit stieg in ihm auf, das Dröhnen der Geschosse, die Schreie von Sterbenden und Verwundeten hallten in seinem Kopf wider. Sein Mund war trocken, und doch fühlte er sich nicht dazu in der Lage, zur Kommode zu gehen, um sich einen Schluck Branntwein einzuschenken. Eine Tür knarrte leise, und er hob den Kopf.
Im hereinfallenden Licht des Flures stand Madeleine. Wann war sie zurückgekommen? Sie hatte doch ihren Vater nach Hause gebracht. Er hatte es nicht läuten hören.
Mit herabhängenden Armen blieb sie im Türrahmen stehen und sah ihn an. Er sprang auf, eilte auf sie zu und zog sie wortlos an sich. Sie rührte sich nicht, verharrte regungslos in seiner Umarmung.
»Wir werden abreisen«, sagte sie nach einer Weile. »Papa ist schon dabei, die Wohnung aufzulösen. Gleich morgen kümmern wir uns um die Zugfahrkarten. Ende des Monats dann …«
Sie sprach nicht weiter, doch Paul verstand, was sie damit sagen wollte.
Ende des Monats werde ich Preußen verlassen …
Nur die anerzogene Beherrschung hinderte ihn daran, seine Verzweiflung hinauszuschreien, seine Wut, seine brennende Enttäuschung, seine Liebe.
»Das Sanitätscorps hat mich ohne weitere Rücksprache meinem früheren Regiment zugewiesen, im Rang eines Stabsarztes. Daher muss ich mich auf direktem Weg nach Coblenz begeben«, sagte er leise und nahm dankbar wahr, dass die junge Frau in seinem Armen sich wieder gefasst hatte. »Wenn da nicht Bismarck seine Hände … Sonst hätte ich euch doch … Verflucht!«
»Pst.« Ein Finger legte sich auf seine Lippen. »Ne dis rien. Sag nichts.«
Langsam hob Madeleine den Kopf, schmiegte ihre Stirn an seine Wange. Dann suchten ihre Lippen die seinen, hastig, verzweifelt. Er presste sie an sich, wollte sie nie wieder loslassen.
»Je vais t’attendre.« Ihre Worte klangen wie ein Schwur, während sie sich langsam von ihm löste. »Ich werde auf dich warten. Ganz gleich, wie lange es dauert … notfalls bis … jusqu’à la mort. Bis in den Tod.«
Paul ergriff ihre Hand und drückte sie fest. »Dann hilft es nur noch zu beten, dass es nicht dazu kommt.«
*
Zwei Tage später standen Madeleine und Paul auf dem Bahnhof, in dem es zuging wie in einem Bienenstock. Zivilisten und Uniformierte, Männer, Frauen und Kinder jeden Alters schoben sich über die in beißenden Rauch gehüllten Bahnsteige.
Immer wieder das gleiche Bild: Mütter, die sich weinend an ihre Söhne klammerten. Soldaten, die – den Ausdruck von Siegesgewissheit und Triumph in den Augen – die Waggons bestiegen. Frauen, die sich voller Inbrunst, teils mit Stolz, teils mit Sorge und Trauer von ihren Männern verabschiedeten.
Der Anblick versetzte Paul einen Stich. All diese Paare, diese Männer und Frauen mochten zwar in der gleichen Situation sein wie Madeleine und er – ungewiss, ob sie sich je wiedersehen würden, voller Furcht, dass einer von ihnen einer Kugel oder Granate zum Opfer fallen würde. Doch gab es einen entscheidenden Unterschied: Die anderen Paare wussten, dass sie auf der gleichen Seite standen, für die gleiche Sache, das gleiche Land, den gleichen König kämpften, hofften, bangten und beteten. Und sie würden über die preußische Feldpost auch in der Ferne Freud und Leid miteinander teilen, den Liebsten zu Hause und im Feld neben einigen zärtlichen Worten auch Geschenke zukommen lassen und so füreinander sorgen können. Dieser Trost war ihnen beiden versagt, und der Gedanke lastete schwer auf seiner Seele.
Unwillkürlich stiegen in Paul die Erinnerungen an all die wundervollen Momente auf, die er mit Madeleine geteilt hatte: im Hause seiner Mutter, in ihrem Lieblingscafé unweit des Stadtschlosses bei einem der Konzerte, die an warmen Sommerabenden auch im Freien aufgeführt wurden, und besonders gern bei ihren Spaziergängen im Zoologischen Garten. Wie oft hatten sie dort die Unverdorbenheit und Schönheit der göttlichen Schöpfung, der Natur bewundert. Dabei endeten ihre Gespräche meist bei dem Thema, das sie beide am meisten faszinierte, am tiefsten miteinander verband, der Medizin.
Wie war es nur möglich, dass diese schillernde Stadt ihres gemeinsamen Glücks mit einem Male derart abweisend und bedrohlich wirkte? Berlin hatte sich in eine dröhnende Lawine marschierender Soldaten nebst Munition und Ausrüstung verwandelt, die in den nächsten Tagen und Wochen von verschiedenen Seiten aus auf die Grenze zu Frankreich zurollen würde.
»Du wärst besser zu Hause geblieben. Sicher hast du noch eine Menge zu tun«, sagte er hilflos, doch war er nicht überrascht, als Madeleine den Kopf schüttelte.
Tränen schimmerten in ihren Augen. »Nein, nicht besser … Uns bleibt so wenig Zeit …«, widersprach sie, so leise, dass niemand der Umstehenden ihren weichen, singenden Akzent vernahm, der ihre französische Herkunft verriet.
Stumm fuhr sich Paul mit der Hand über den schweißfeuchten Nacken, während die schrillen Stimmen der Zeitungsjungen in seinem Kopf widerhallten, die Schlagzeilen, die unheilschwanger die vergangenen Tage überschattet hatten: Keine Einigung in der Frage der spanischen Thronfolge – Leopold von Hohenzollern zieht seine Kandidatur zurück – Der französische Botschafter bedrängt König Wilhelm bei seiner Kur in Ems – Endgültige Absage des Königs an Frankreich. Keine weiteren Zugeständnisse. Und immer wieder Neuigkeiten zur allgemeinen Mobilmachung, der sich nun auch die süddeutschen Staaten, ja sogar Bayern, anschließen würden.
Mühsam verdrängte Paul diese Gedanken und wandte sich wieder Madeleine zu, die ihm noch nie so zart, noch nie so verletzlich erschienen war wie hier auf diesem Bahnsteig. »Wenn du sicher in Metz angekommen bist«, sagte er, »warte bitte nicht auf Post von mir.« Seine Stimme klang heiser. »Ich werde dir nicht schreiben.«
Ein heftiges Aufbegehren trat in Madeleines Augen. »Mais pourquoi? Du könntest es doch zumindest versuchen, wenn …«
Er schüttelte den Kopf. »Es ist sicherer so.« Sein Blick suchte den ihren. »Und ich werde nichts tun, das dich in Gefahr bringt. Still …«, sagte er sanft, als sie erneut protestieren wollte. »Metz ist eine der bedeutendsten militärischen Festungen Frankreichs. Möglich, dass es dort zu Kämpfen kommt … Und dann wird man anfangen, sich gegenseitig zu misstrauen, Verräter und Spione auszumachen. Eine junge Frau, die in dieser Zeit Post von einem preußischen Offizier erhielte, wäre ein gefundenes Fressen für alle, die einen Sündenbock suchen. So etwas könnte ich nie verantworten …«
Das schrille Pfeifen einer Lokomotive zerriss den Rest des Satzes. Madeleine zuckte zusammen, und Pauls verzweifeltes Bedürfnis, sie vor allem Leid und Unbill zu schützen, wurde schier übermächtig. Wie konnte er sie jetzt einfach allein ziehen lassen? Er wäre bereit, sein Leben zu geben, um das ihre zu schützen.
»Haben wir nicht geahnt, dass es so kommen musste?«, flüsterte sie. »Der wachsende Hass zwischen unseren Völkern?« Ihre Stimme klang so traurig, dass Paul spürte, wie seine Kehle eng wurde.
»Womöglich«, gab er ebenso leise zurück. »Aber ist es denn ein Verbrechen, wider besseres Wissen zu hoffen? Darauf, dass die Menschen endlich zur Vernunft kommen, statt blind einem Feldherrn, Kanzler, König oder Kaiser hinterherzulaufen?«
Madeleine war stehen geblieben und ergriff seine Hände. Obwohl ihre Augen feucht schimmerten, drückten sie die ihr eigene Ruhe und Entschlossenheit aus, die er so an ihr liebte. »Kein Verbrechen. Mais, tout de même …« Sie zögerte, als suche sie nach den richtigen Worten. »Vielleicht unklug … in einer trügerischen Hoffnung zu leben, die dann doch nur enttäuscht wird. Einer Hoffnung oder …«
… Liebe. Das Wort stand unausgesprochen zwischen ihnen. Unwillkürlich packte Paul Madeleines Hände fester, so fest, dass sie zusammenzuckte. Einen Moment lang sahen sie sich schweigend an.
Wieder pfiff eine Lokomotive und zerstörte den Moment der stummen Zwiesprache und Nähe.
»Tu dois t’en aller!«, sagte sie. »Du musst gehen.«
Er hatte das Gefühl, dass der Kragen der preußischen Uniform ihm fast die Luft abschnürte. Er zog sie noch einmal an sich, und sein Mund suchte den ihren. Der Kuss schmeckte süß und zugleich bitter wie die Verzweiflung und salzig nach Tränen.
Ein weiteres Pfeifen ertönte und mahnte ihn zum Aufbruch. Widerwillig löste er sich aus der Umarmung.
»Au revoir«, flüsterte Madeleine, während sie noch immer seine Hand hielt.
Ich liebe dich, formten seine Lippen lautlos.
Sie nickte stumm.
Schnell wischte er sich mit dem Handrücken über das Gesicht und wandte sich dann ruckartig ab. Mit ausdrucksloser Miene ging er auf sein Bahngleis zu und stieg in einen der überfüllten Waggons. Madeleine hatte die Hand zum Abschiedsgruß erhoben. Der Zug ruckte an und fuhr langsam los. Paul schaute zurück, bis ihre Gestalt aus seinem Blickfeld verschwunden war. Erst dann schickte er sich an, einen freien Platz in einem Abteil zu suchen.
Coblenz, Preußische Rheinprovinz, 19. Juli 1870
Bleigrau schimmerte der Rhein unter der Pfaffendorfer Brücke, über die zwei Tage später der in dichten Rauch gehüllte Zug hinüber zum linken Rheinufer rumpelte. Ein Schatten fiel auf Pauls Gesicht, als sie die wuchtigen Brückentürme passierten. Das Gittertor, das die Gleise sperren konnte, war weit geöffnet. Schnaufend passierte das Gefährt die weitläufige Anlage des prächtigen, aus dem vorigen Jahrhundert stammenden Schlosses, in dem zu früheren Zeiten der Trierer Erzbischof und Kurfürst logiert hatte und das nun dem preußischen Königspaar gelegentlich als Residenz diente. Links von den Bahngleisen zogen vor Pauls Augen die sternförmig gezackten Wallanlagen von Coblenz vorbei, der Hauptstadt der preußischen Rheinprovinz, welche an den Hauptausfallstraßen durch massive zweigeschossige Torbauten durchbrochen wurden. An den Bahnübergängen der breiten Straßen warteten bei den Toren noch vereinzelte Fußgänger und eine Kolonne Soldaten auf die Vorbeifahrt des Zuges. Auf der rechten Seite waren die Straßenzüge der Coblenzer Neustadt zu sehen, bevor sich in einer letzten lang gezogenen Kurve die mächtigen Magazinbauten des Heeres erhoben.
Schließlich kam der repräsentative Personenbahnhof in Sicht, in den sie langsam einfuhren. Die Bremsen quietschten, die Lokomotive ließ ein schrilles Pfeifen ertönen. Steifbeinig erhob sich Paul von seinem Platz, schulterte sein Gepäck und bahnte sich an den anderen Soldaten vorbei den Weg nach draußen, wo ihn beißender Rauch empfing, der ihm in Augen, Nase und Mund brannte.
Das Bahnhofsgelände war schwarz vor Menschen, hallte wider vom Gedränge, von den lauten Rufen und gebrüllten Befehlen, den harten Schritten militärischer Stiefel und genagelter Schuhe auf den Bahnsteigen. Einige Herzschläge lang musste er die Augen schließen und den Impuls unterdrücken, sich an Ort und Stelle umzudrehen, wieder in den Zug zu steigen und zurück nach Berlin zu fahren. Nach Berlin oder lieber noch dorthin, wo auch immer sich Madeleine derzeit aufhalten mochte.
Wieder überfielen ihn der Schmerz und die Trauer ob ihrer unfreiwilligen Trennung. Die ganze Fahrt über hatte er an Madeleine gedacht. An die letzten, kostbaren Momente ihres Zusammenseins, überschattet von Ungewissheit. Wann würden sie sich wiedersehen? Würden sie sich überhaupt je wiedersehen?
Mühsam schob Paul den Gedanken beiseite, während seine Augen über den sich langsam leerenden Bahnsteig glitten. Schließlich blieben sie an einem jungen Mann in blauer Uniform hängen, der sich suchend umblickte. Einen kurzen Moment lang musterte Paul den Soldaten, der ein wenig verloren inmitten des ganzen Treibens wirkte: dunkle, lockige Haare, rehbraune Augen hinter runden Brillengläsern.
Ganz offensichtlich seine Eskorte … Paul grinste schief. Kurz entschlossen ging er auf ihn zu.
»Herr Stabsarzt von Gerlau?« Der junge Mann nahm sofort Haltung an.
Paul nickte. »In Person.«
Eilig salutierte der andere, machte jedoch keinerlei Anstalten, sich zu rühren, geschweige denn, seinem Vorgesetzten das Gepäck abzunehmen.
Eine Weile wartete Paul, bevor er den Gruß erwiderte und freiheraus fragte: »Und Sie sind …?«
Ein unsicheres Blinzeln, dann schien der junge Mann verstanden zu haben, dass tatsächlich er gemeint war. »Hagemann, Herr Stabsarzt. Eucharius Hagemann.«
Eucharius? Unwillkürlich musste Paul lächeln. Katholisches Landei von der Mosel oder aus der Eifel, vermutete er, dessen Mutter ihren Sohn nach einem Trierer Heiligen benannt hatte. »Und weiter?«, hakte er nach, ohne sich seine Erheiterung anmerken zu lassen.
»Ach so, ja …« Die ansprechenden, beinahe klassisch anmutenden Züge liefen rot an. »Ich bin als Ihr persönlicher Bursche abgeordert … und soll Sie zu Ihrem Quartier bringen.«
»Quartier, aha.« Tatsächlich verspürte Paul nach der langen Reise das dringende Bedürfnis, sein Gepäck loszuwerden, sich seiner durchgeschwitzten, staubigen Uniform zu entledigen und ein Bad zu nehmen. Falls ein solcher Luxus hier überhaupt denkbar war, in dieser allem Anschein nach hoffnungslos überfüllten Festungsstadt. Er gab dem jungen Mann ein Zeichen, das Gepäck zu schultern und sich auf den Weg zu machen. In einigen Schritten Abstand folgte er ihm. Sein neuer Bursche war von schlanker Gestalt, durchschnittlicher Größe, und obgleich seine Uniform tadellos sauber und gepflegt war, wirkte sie an ihm irgendwie fehl am Platz. Zudem erschien es Paul, als wünschte sich Hagemann im Augenblick an jeden anderen Ort auf der Welt als diesen.
Damit wären wir derer schon zwei, schoss es ihm durch den Kopf, während er sich durch die Eingangshalle des Bahnhofs schob und mit seinem Begleiter durch die engen, verwinkelten Gassen von Coblenz eilte. Eine Stadt, von der er geglaubt hatte, sie nicht allzu bald wiederzusehen. Und die er wahrscheinlich schneller wieder in Richtung Frankreich verlassen müsste, als ihm lieb war.
*
In der engen Wohnung der Witwe Faßbender in der Castorpfaffenstraße war es trotz der sommerlichen Temperaturen, die wie eine Dunstglocke über dem Rhein- und Moseltal hingen, angenehm kühl und ruhig. Zwar waren die Zimmer winzig, die Decken niedrig, doch hielten die fest verschlossenen Fenster notdürftig Hitze, Staub und den Lärm der Straße ab.
Erleichtert stieß Paul die Luft aus, als er sein Gepäck auf dem Boden abstellte. Die kleine Kammer war sauber, die Möblierung bestand aus einem Bett, einem Tisch und zwei Stühlen. Der auf dem Boden ausgebreitete Strohsack war offensichtlich für seinen Burschen gedacht und machte ihm deutlich, dass es ab sofort wieder mit jeder Privatsphäre vorbei war. Als er nach draußen blickte, sah er am östlichen Horizont die mächtige Feste Ehrenbreitstein auf ihrem Felsplateau über dem rechten Rheinufer thronen.
»Ich hoffen, et gefällt Inne, Herr Stabsarzt.« Die Stimme seiner Gastgeberin klang weich, fast ein wenig singend, auf jeden Fall ziemlich atemlos, nachdem sie ihren üppigen Körper die schmale, steile Treppe hinaufgeschleppt hatte. »Et is dat scheensde Zimmer im Haus. Et hot frieher meinem Sohn gehiert. Vor’m letzte Krieg, versteh’n Se?« Tränen schimmerten in ihren von Falten umgebenen blassblauen Augen. »Er hätt’ sich gefreut, dat Sie et nu bekumme, Herr Stabsarzt.«
Also nicht nur Witwe, sondern auch Mutter eines in einem der letzten beiden Kriege Gefallenen. Die Luft im Raum erschien Paul mit einem Male ungeheuer stickig, doch er nickte. »Gewiss hätte er das. Ich danke Ihnen.« Er zwang sich zu einem Lächeln, das die ältere Frau zögernd erwiderte, die Hände in die blütenweiße Schürze vergraben, die sich um ihren fülligen Busen und ihre Hüften spannte.
»En Eintopfsopp stieht off em Herd, für Sie on Ihre Bursch! Wenn Se sich frisch gemacht hann, könne Se runterkomme und …«
Ein Tumult, der von draußen heraufdrang, ließ sie innehalten. Mit einer knappen Geste bat Paul die Frau um Entschuldigung und eilte zum geöffneten Fenster.
Auf der Straße hatten sich Passanten versammelt, die lautstark miteinander redeten und mit den Armen gestikulierten.
Im gleichen Moment stürzte Hagemann herein, das Gesicht gerötet, die Haare verschwitzt. Noch ehe Paul ihn aufgefordert hatte zu sprechen, stieß er atemlos hervor: »Krieg! Gerade kam die Nachricht. Napoleon III. hat Preußen offiziell den Krieg erklärt.«
*
Wie an jedem Morgen erwachte Paul früh. Grauer Himmel schimmerte durch die sauber polierten Fensterscheiben. Ein Hauch von Rosa kündigte den neuen Tag an.
Schnell stand er auf und massierte sich die Schultern, die von der langen Reise noch immer verspannt und verhärtet waren, und ließ den Blick durch den Raum gleiten. Er war allein. Hagemanns Decke und sein Kissen lagen sorgfältig gefaltet auf dem Strohsack. Seine Uniform war verschwunden, also hatte er sich wohl schon für den Dienst bereit gemacht. Ein Frühaufsteher, wie es schien.
Nachdenklich blickte Paul nach draußen, wo sich ein atemberaubender Sonnenaufgang über dem Mosel- und Rheintal ankündigte. Gleißendes Rot und Gold ergoss sich über die alten Mauern der Stadt, die Häuser, die Kirchtürme und Wälle, welche die Festungsstadt schützten. Wo Madeleine sich wohl gerade befand? War sie noch in Berlin, damit beschäftigt, zusammen mit ihrem Vater die Wohnung aufzulösen? Oder saß sie bereits im Zug, der sie nach Frankreich bringen würde? Pauls Magen knurrte und erinnerte ihn daran, dass er am Abend zuvor kaum einen Löffel von dem Eintopf heruntergebracht hatte. Er war nicht in der Lage gewesen, seine Sorge um Madeleine abzuschütteln.
Hagemann schien nicht vorzuhaben, ihm ein Frühstück zu bringen. Paul rieb sich den Nacken. Wo war der Kerl? Litt er an der Ruhr, oder war der so weltfremd erscheinende junge Mann ein Herumtreiber? Es warf kein gutes Licht auf ihn selbst als Arzt und Offizier, wenn er nicht einmal seinen eigenen Burschen im Griff hatte. Er würde ihn also suchen müssen. Unwillig streifte Paul die Uniform über.
Gerade als er die Klinke herunterdrücken wollte, ging die Tür auf, und Hagemann kam herein. Irritiert blinzelte er hinter seinen Brillengläsern, als er seinen Vorgesetzten sah, der bereits fertig angekleidet war und ihn mit einem Blick maß, der Unheil verhieß.
»Guten Morgen, Herr Stabsarzt.« Ein Hauch von Röte huschte über das jungenhafte Gesicht.
Paul trat einen Schritt zur Seite und winkte seinen Burschen herbei. Offensichtlich verunsichert folgte dieser der Aufforderung, sagte jedoch nichts, sondern vermied es weiterhin, ihn anzusehen.
»Ich nehme an, du hast dich um das Frühstück gekümmert«, bemerkte Paul unbewegt.
»Frühstück, Herr Stabsarzt?« Der Ausdruck, mit dem Hagemann nun doch zu ihm aufsah, wirkte wie der eines Mannes, der gerade aus seinen Gedanken gerissen worden war.
Paul entschloss sich, ein wenig eindringlicher zu werden, und zog die Augenbrauen zusammen. »Ja, Frühstück. Sicher hat man nicht versäumt, dich darauf hinzuweisen, dass die vorrangige Aufgabe eines Burschen darin besteht, sich um die Bedürfnisse seines Offiziers zu kümmern. Und dazu gehört zweifelsohne auch eine nahrhafte Morgenmahlzeit. Also Hagemann, wie sieht’s damit aus? Hat unsere werte Wirtin nichts für uns vorbereitet?«
Die Röte, die in das Gesicht seines Burschen schoss, hatte die Farbe von schwerem französischem Wein. »Entschuldigen Sie bitte, Herr Stabsarzt. Gerade war ich wohl … ich bin … Ich meine … Ich werde mein Versäumnis gleich wiedergutmachen.« Schon wollte er umkehren und zur Tür hinausstürzen, doch Paul stellte sich ihm in den Weg.
»Nun, junger Mann. Ein Langschläfer bist du offensichtlich nicht, wie du heute Morgen bewiesen hast. Trotzdem ist es dir nicht gelungen, auch nur die einfachste deiner Aufgaben zu erfüllen.« Paul bemühte sich um eine strenge Miene, was ihm angesichts der Zerknirschtheit des Jungen jedoch nur unzureichend gelang. »Da stellt sich einem doch die Frage, was du heute in aller Frühe schon getrieben hast.«
Statt einer Antwort wurde das Gesicht seines Burschen noch eine Spur dunkler.
»Nun?«, hakte Paul nach.
»Nichts, Herr Stabsarzt!« Hagemanns Zunge schien fast über sich selbst zu stolpern. »Nichts von Bedeutung. Erst habe ich draußen den Abtritt aufgesucht und dann …« Er unterbrach sich. »Es war etwas Privates, Herr Stabsarzt, nichts von Belang. Aber natürlich werde ich mich sogleich um Ihr Frühstück kümmern. Benötigen Sie auch ein Bad … ich könnte die Witwe danach fragen und vielleicht … eine Rasur?« Skeptisch beäugte der Junge Pauls Gesicht, das tatsächlich seit dem vorigen Morgen kein Rasiermesser mehr gesehen hatte.
Der plötzliche Eifer des Burschen, der eindeutig das Gespräch auf unverfänglichere Dinge lenken sollte, machte Paul zwar stutzig, doch zog er es vor, es gut sein zu lassen. »Ein Frühstück sollte fürs Erste genügen«, sagte er knapp und bemerkte die Erleichterung, die sich augenblicklich auf Hagemanns Gesicht ausbreitete, als dieser Haltung annahm und den Befehl bestätigte.
»Kommt sofort, Herr Stabsarzt.« Er machte kehrt und wandte sich zur Tür.
»Und eine Rasur wäre tatsächlich auch nicht schlecht«, fügte Paul hinzu.
Hagemann nickte hastig und eilte hinaus. Bevor er die Tür hinter sich schloss, sah Paul noch, wie er etwas Kleines, Glitzerndes in der Hosentasche verschwinden ließ.
Er runzelte die Stirn. Nun, diesen seltsamen Kerl würde er die nächste Zeit wohl besser im Auge behalten.