Leela Faber ist Schriftstellerin, ihr Freund Jakob Glaziologe. Die beiden erwarten Zwillinge und wollen heiraten. Doch als Jakob bei einem Gletscherabbruch in der Antarktis ums Leben kommt, bricht für Leela eine Welt zusammen – bis sie erfährt, dass Jakobs Tod kein Unfall war. Da entscheidet sie sich, Jakobs Kampf gegen die Klimakatastrophe weiterzuführen, und tritt mutig gegen übermächtige Gegner an. Denn während weltweit die Umweltkatastrophen zunehmen, in Brasilien und Australien gewaltige Brände wüten und Deutschland in Wassermassen versinkt, treiben skrupellose Konzerne die Zerstörung der Erde voran. Als Leela ins Visier dieser Männer gerät, beginnt ein Wettlauf um Leben und Tod.
Roman
Ullstein
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Sämtliche Handlungen und Personen in diesem Buch sind frei erfunden.
Die Begebenheiten, Gedanken und Dialoge sind ebenfalls erfunden.
Die Fakten zum Klimawandel wurden an die nahe Zukunft angepasst.
Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage Februar 2021
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: Feuerregen, Raster: FinePic®, München; Sturmflut: © gettyimages/Nick Barkworth/EyeEm; Wolkenhimmel: © gettyimages/john finney photography
Autorenfoto: © Bernd Brundert
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ISBN 978-3-8437-2336-7
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Ich heiße Leela Faber, ich bin vierundzwanzig Jahre alt. In einer halben Stunde werde ich mein Hotelzimmer verlassen, zum Kongresszentrum gehen und eine Gaskartusche mit dem Rotationswärmetauscher der Klimaanlage verbinden. Um Punkt acht Uhr fünfzehn werde ich das Ventil aufdrehen und die Präsidenten von Amerika, China, Russland, Brasilien sowie die Chefs von ExxonMobil, BP, Shell, Saudi Aramco und noch einigen mehr, insgesamt einundzwanzig Personen, umbringen.
Ich weiß, dass das eine wahnsinnige Ansage ist. Und du fragst dich natürlich, ob ich irre bin, eine Spinnerin, eine geistesgestörte Psychopathin. Das bin ich nicht. Ich begehe dieses ungeheure Verbrechen, weil es keinen anderen Weg gibt. Weil endlich jemand handeln muss, bevor es zu spät ist und der Untergang der Welt sich nicht mehr aufhalten lässt. Und wenn du meinst, dass ich übertreibe, weil es schon nicht so schlimm werden wird, kann ich nur sagen, du hast recht. Es wird tatsächlich nicht so schlimm werden, wie die Wissenschaftler vorhersagen. Aber das gilt nur, wenn du zu den wenigen gehörst, die an der Macht sind, die die großen Konzerne führen, die Medien kontrollieren, die Banken besitzen und an der Klimakatastrophe verdienen. Die bringen sich schon längst in Sicherheit.
Für alle anderen, für dich und mich, wird es mit jedem Tag schlimmer. Das Perfide ist, dass es nicht auf einen Schlag passiert wie bei einem Vulkanausbruch oder einem Erdbeben, das Städte und Menschen verschlingt, sondern so schleichend und langsam, dass wir uns daran gewöhnen, wenn es im Sommer immer heißer wird und Tausende verdursten, wenn das Meer immer weiter ins Land vordringt und unsere Häuser und Wohnungen zerstört. Wenn es bald keine Gletscher mehr gibt, von schneebedeckten Gipfeln ganz zu schweigen, dafür aber Überschwemmungen, gegen die die große Sintflut ein Witz war. Wenn unsere Kinder irgendwann nicht mehr genug zu essen haben. Aus all diesen Gründen handele ich.
Sicher, ich trage auch einen Teil der Schuld. Ich fahre Auto, fliege durch die Welt und konsumiere gelegentlich, als gäbe es kein Morgen. Und ich kann durchaus einen Beitrag leisten, um das Problem zu verkleinern. Die Leute allerdings, die ich eben aufgezählt habe, vergrößern das Problem jeden Tag. Sie beuten die Natur aus, als wäre sie nicht Teil des Lebens, sondern eine Sklavin, die man vergewaltigen kann, wie es einem gerade in den Sinn kommt. Sie rasen in ihrer Herrenrassementalität, vor der das Leben ein Wurm ist, den man zertreten kann, und hinterlassen Zerstörung, Leid und Tränen. Sie wissen, was sie anrichten, und trotzdem machen sie immer weiter.
Das alles klingt verrückt, ich weiß, und ich verstehe selbst nicht recht, wieso ausgerechnet ich hier vor dem Fenster stehe und das zu dir sage. Ich war eigentlich immer ein zurückhaltendes und ängstliches Kind. Als kleines Mädchen hatte ich Angst vor dem Kettenkarussell, weil ich befürchtete, die Ketten könnten reißen und ich würde ins schwarze Weltall geschleudert werden. Später war es der Keller, in dem ein Monster hauste, das mich verschlingen wollte, wenn ich für meinen Vater Bier holen ging. In der Sechsten habe ich mich nicht getraut, den schönen Jan anzusprechen. In der Neunten habe ich weggeschaut, als die Coolen den Neuen gemobbt haben, weil ich nicht auch ihr Opfer sein wollte. Als ich in den Ferien bei Amazon Retouren ausgepackt habe, war ich nicht solidarisch mit den Streikenden, einfach, weil ich das Geld gebraucht habe, um mit Jakob nach Tibet reisen zu können.
Und das sind nur die Momente, die mich selbst betrafen, in denen meine Angst größer war als mein Mut. Es gibt mindestens genauso viele Momente, in denen ich Ereignisse einfach schulterzuckend hingenommen habe. Etwa als im vergangenen Jahr halb Los Angeles das Opfer eines Feuertornados wurde und so viele Menschen starben, dass man sie bis heute nicht gezählt hat. Oder als das riesige Maeslantkering-Sperrwerk an der niederländischen Küste sich nicht schließen ließ und die Sturmflut Rotterdam zerstörte. Oder als in Sibirien vier riesige Öltanks gleichzeitig brachen, weil dort der Permafrostboden taut und die arktische See auf Jahrzehnte hinaus mit Hunderttausenden Litern Diesel vergiftete, da habe ich wegen der Bilder von den sterbenden Eisbären und Robben geweint. Und eine Woche später habe ich mich wieder den Dingen zugewandt, die für mein alltägliches Leben wichtig waren. Meiner Arbeit, meiner Familie, meiner Liebe. Aber dann ist vor drei Monaten eine Katastrophe ebenso mühelos wie schmerzhaft in mich eingedrungen und hat mich restlos aus der Bahn geschleudert. Das war der Moment, in dem die grübelnde und zaudernde Version meines Selbst gestorben ist und ich beschlossen habe, endlich mutig zu sein und zu handeln.
Noch zwanzig Minuten.
Ich muss mich fertig machen. Mich anziehen, Kaffee trinken, das Croissant essen oder wenigstens den Apfel, obwohl ich kaum was runterkriege. Meine Spuren in dem Hotelzimmer verwischen, soweit es geht. Es ist nicht gut, wenn ich zu viel darüber nachdenke, was gleich passieren wird. Nicht weil es falsch sein könnte, sondern weil ich Angst habe, dass mich der Mut verlässt. Er muss schließlich all die Zweifel übertönen, die eine verdammte Teufelin namens Vernunft unaufhörlich in mir zu wecken versucht. Sie versucht mir einzureden, dass ich kein Recht habe, auch nur einen Menschen umzubringen. Ich antworte, dass ich in Notwehr handele. Sie wirft mir vor, ich könne allein nicht bestimmen, was Notwehr ist, ich würde mich zur Richterin über Leben und Tod erklären, ich würde Leute schuldig sprechen, obwohl auch sie nur Teil eines Systems sind. Sie häuft Gründe auf Gründe, und wenn das alles nichts nützt, kommt sie mir mit Jakob.
Ja, es stimmt, ich wusste nicht, wie ich damit fertigwerden sollte. Ich habe mich verkrochen und mit niemandem mehr geredet. Aber dann dachte ich, dass das feige und selbstmitleidig ist. Und dann habe ich ihm das Versprechen gegeben.
Seitdem hat sich fast alles in meinem Leben verändert. Ich habe mich so sehr verwandelt, dass ich mich selbst nicht wiedererkenne. Die Frau mit den kurzen Haaren, den müden Augen, den Blick in die leere Ferne jenseits des Spiegels gerichtet, bin ich das? Ich habe sieben Kilo abgenommen. Ich bin dünn und sehe klein aus. Selbst meine Mutter würde mich nicht wiedererkennen. Ich trage eine blonde schulterlange Perücke. Meine Augen huschen hinter der dicken Brille hin und her, um alles zu erfassen, damit mein Gehirn es bedenken kann.
Zehn Minuten.
Es schneit. Dicke weiße Flocken, die ausgelassen zur Erde herabtaumeln. Ich könnte ihnen stundenlang zuschauen, wie sie vor meinem Fenster schweben, sich vom Wind zum Tanz auffordern lassen, und mich dabei dorthin zurückträumen, wo es friedlich war und ich noch nicht diesen Weg eingeschlagen hatte. Es ist seltsam. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal Wasser so friedlich erlebt habe. In den vergangenen Monaten ist es vor allem in seiner wütenden Gestalt als Gewitter über uns hergefallen und hat alles ertränkt, was es erreichen konnte. Vielleicht machst du es, weil du schwanger bist, Leela. Da ist sie ja wieder. Ich wusste, dass sie mich nicht in Ruhe lassen kann. Es sind die Hormone, glaub es mir, Leela. Schwangere Frauen sind nicht zurechnungsfähig. Östrogen, Gestagen, und wie das Zeug alles heißt, verhindern, dass du klar denken kannst. Es geht dir nicht um den Planeten und die Umwelt. Das ist nur eine Ausrede, weil die eigentliche Antwort so banal und biologisch ist. Es geht dir um die Zwillinge in deinem Bauch. Was absolut nachvollziehbar ist. Das Leben hat zwei wesentliche Interessen. Unsterblichkeit oder Reproduktion. Es ist unmöglich, sich dagegen zu wehren. Was du schon allein daran erkennst, dass dein Körper zwei Wesen ernährt, die du noch gar nicht kennst. Alles, was du von ihnen bisher gesehen hast, sind Ultraschallfotos. Du hast dich ja noch nicht mal für Namen entschieden.
Sei still! Bitte. Sei endlich still, verdammt noch mal!
Ich muss sofort losgehen. Wenn ich noch eine Minute länger warte, mache ich es nicht mehr. Ich ziehe den weißen Arztkittel an, darüber den grauen Mantel, die weißen Sportschuhe. Ich stecke den Ausweis ein, den Leon mir besorgt hat. Jetzt bin ich Claudia Schmidt, frischgebackene Ärztin der Inneren Medizin, geboren in Leipzig. Ich hefte das entsprechende Namensschild an den Arztkittel, das mich zur Angehörigen des Deutschen Roten Kreuzes macht. Die Akkreditierung und Übermittlung der gefälschten Daten hat Leon ebenfalls übernommen.
Ich nehme die schwarze Arzttasche, die ich seit Tagen mit mir herumtrage. Ich öffne die Zimmertür und trete auf den Flur hinaus. Der Aufzug steht bereit. Ich drücke auf den Knopf mit dem Buchstaben L, woraufhin sich die Kabine rumpelnd nach unten bewegt und sich in der Lobby stöhnend öffnet, als sei sie genervt. Ich trete auf die Straße hinaus. Es hat aufgehört zu schneien. Der Himmel erstrahlt in diesem tiefen Blau, das es nur in den Alpen gibt, und die Sonne verschwendet sich noch einmal, bevor sie uns dem Winter überlässt.
Ich frage mich, wie du wohl über mich urteilen wirst. Mörderin? Durchgeknallte Irre? Oder gäbe es auch noch ein paar andere Optionen? Wie wäre es mit Widerstandskämpferin? Oder Retterin der Menschheit? Wie auch immer du urteilst, warte ab, bis du die ganze Geschichte kennst.
Und trotzdem kann man darin ertrinken, sagt die Wetterfee im Fernsehen. Ich habe vergangene Nacht sechsunddreißig Stunden lang Sandsäcke beladen, um die Elstervorstadt vor der Flut zu schützen, die wütend die Elbe herunterkommt. Nachdem ich ein paar Stunden geschlafen habe, bin ich für den nächsten Einsatz bereit. Ich trage frische Jeans und einen sauberen Pullover. Die Regenjacke liegt bereit, eine Basecap auch. Seit acht Uhr verfolge ich in der Küche meiner Zweizimmerwohnung die Sondersendung zum Hochwasser. Die Flutwelle, die die Elbe herunterkommt, übertrifft alles, was Wittenberg bisher erlebt hat, hat mein Vater gesagt. Er sitzt im Katastrophenstab und koordiniert seit drei Tagen die Abläufe. Tausend Helfer wechseln sich ab, um die Deiche zu schützen. Die Bevölkerung ist gewarnt oder bereits evakuiert. Anders als 2002 und 2023 ist man diesmal auf die Wucht der Wassermassen von Elbe und Mulde vorbereitet. Und wenn die Talsperren halten, kommen wir mit zwei blauen Augen davon, wiederholt mein Vater wie ein Roboter, als könne er durch Beschwörungen die Natur gnädig stimmen.
Ein Balearen-Tief schickt Luftmassen über Frankreich zum warmen Mittelmeer. Dort saugen sie sich mit Tonnen von Wasser voll, bilden hohe Wolkentürme. Von da geht es über Norditalien und Tschechien weiter nach Norden. An den Alpen kühlen die regenschwangeren Wolken ab. Komischer Begriff, denke ich. Regenschwangere Wolken. Bergbäche verwandeln sich in reißende Flüsse, die nach allem greifen, was sich ihnen in den Weg stellt. Erzgebirge und Riesengebirge können kein Wasser mehr aufnehmen, sagt die Wetterfee, weil der Boden vollgesogen ist. Es sieht nicht gut aus. Aber diesmal sind die Katastrophenstäbe besser vorbereitet.
Wie wäre es, wenn man nicht erst wartet, bis es überhaupt zu einer Katastrophe kommt?, denke ich. Die Leute sind wie die Maus vor der Schlange, die meint, es wird schon nichts passieren, weil die Schlange sich ja nicht bewegt.
Als das Telefon klingelt, schrecke ich hoch. Der Bildschirm des Notebooks auf meinen Knien ist schwarz. Ich schaue auf das Display meines Handys. Papa, steht dort. 22:54. Ich bin eingeschlafen.
»Wo bleibst du? Wir brauchen dich«, brüllt er.
Ich höre Wortfetzen, Rufe, die Motoren der Lkws. Dann bricht das Gespräch ab. Die Flutwelle ist da. Und irgendeine der Talsperren ist übergelaufen. Vielleicht auch mehrere. Wir werden nicht mit zwei blauen Augen davonkommen.
Vor dem Haus steht mein Fahrrad bereit, um mich in die Nähe der Elbebrücke zu bringen. Wallstraße, Stadtgraben, Kurfürstenring. Unter der Bundesstraße 2 hindurch, dann unter der Elbebrücke. Ich lasse das Fahrrad fallen, laufe zu den Lkws, wo bereits Hunderte Menschen am Ufer stehen und in einer eingeübten Kette Sandsäcke weiterreichen, um die Deiche zu befestigen. Starke Scheinwerfer tauchen die Szenerie in ein gespenstisches Licht.
»In Dresden haben sie zehn Meter«, ruft einer von der Feuerwehr. »Das sind anderthalb Meter mehr als 2002.« Das Jahr des Jahrtausendhochwassers. Ich reihe mich in die Kette ein. Vor mir steht unser Pfarrer, hinter mir der Bürgermeister. Unsere Bewegungen sind routiniert. Links nehmen, nach rechts weiterreichen. Ein paar Stunden lang wird es so gehen. Wie bei der letzten Flut. Da haben wir tagelang geschuftet, nur um am Ende zu erleben, wie der Deich mit einem lauten Knall gebrochen ist. Die Frau neben mir hat noch etwas gerufen, dann ist sie von der Flut weggespült worden. Wieso geht es nicht weiter? Ich schaue zu dem Lkw hin. Die Ladefläche ist leer.
»Der Lkw hängt fest!«, ruft jemand.
Sofort wird die Kette unterbrochen. Mehrere Männer bauen sich hinter dem Lkw auf und versuchen, ihn aus dem aufgeweichten Boden herauszuschieben. Die Hinterräder drehen durch, spritzen Schlamm hoch, und sofort sehen die Männer aus wie Gestalten der Hölle.
»Wir brauchen Bretter, um sie unter die Reifen zu legen«, ruft mein Vater.
Als ich mich nach Brettern umschaue, sehe ich flussaufwärts etwa hundert Meter entfernt ein Himmelbett, das an einem entwurzelten Baum festhängt. Jemand kniet darauf. Nein, nicht jemand, ein Tier. Ein Reh und mit ihm zwei Rehkitze. Ich blinzele. Womöglich spielt die Erschöpfung meiner Fantasie einen Streich. Aber es ist keine Einbildung. Da ist ein Himmelbett ohne Himmel mit drei Rehen darauf. Das Bett schaukelt in den Fluten. Nicht mehr lange, und es kippt, und die Ricke und die beiden Jungen werden in der Elbe ertrinken.
Ich schaue zu meinem Vater hin. Er ist mit dem Lastwagen beschäftigt. Selbst die Leute, die weiter flussaufwärts stehen, bemerken die Tiere nicht. Ich stapfe los. Über den Deich und die Sandsäcke, die darauf getürmt sind. Immer wieder rutsche ich weg, weil der Deich aufgeweicht ist. Die Rehkitze rufen. Ich kann es deutlich hören, je näher ich komme. Helle Töne, die sich wie ein Pfeifen anhören. Die Tiere starren mich an.
Ich muss langsam gehen, vorsichtige Bewegungen machen. Darf die Tiere nicht erschrecken. Ich mache mich klein, gehe gebückt Schritt für Schritt auf das Himmelbett zu. Die Ricke schaut zum reißenden Fluss, dann wieder zu mir und wieder zurück. Wenn sie das Bett verlässt, wird sie ertrinken und die Kitze mit ihr. Das scheint sie zu wissen. Woher auch immer. Vielleicht hat sie von den Überschwemmungen der letzten Jahre gelernt.
Noch fünf Meter. Ich steige in die Elbe. Das Wasser ist eiskalt und reicht mir bis zur Brust. Ich ahme den Ruf der Jungtiere nach. Keine Ahnung, ob das hilft. Noch zwei Meter, einen Meter. Dann kann ich die beiden Kitze greifen. Die Ricke schaut mich mit den ängstlichen Augen des Muttertieres an. Aber da ist auch noch etwas anderes. Sie lässt mich gewähren, als wüsste sie, dass ich ihr helfen will.
»Zuerst muss ich die beiden Kleinen absetzen«, rufe ich ihr zu. »Dann hole ich dich!«
Ich kämpfe mich durch die reißende Strömung zum Deich hin. Treibgut schlägt unter Wasser gegen meine Beine. Mein linker Schuh bleibt im Schlamm stecken. Aber auf allen vieren schaffe ich es und kann die beiden Tiere oben absetzen.
Als ich nun zu der Ricke zurückgehen will, macht die einen großen Satz von dem Bett herunter und schwimmt auf den Deich zu.
»Was machst du?«, rufe ich. »Das schaffst du nicht!«
Die Augen weit aufgerissen, rudert sie auf den Deich zu. Ich lege mich flach auf den Bauch, strecke die Hand nach ihr aus, packe sie am linken Vorderlauf und ziehe sie herauf. Aber dann, kaum hat sie Boden unter den Läufen, springt sie auf der anderen Seite des Deiches hinunter. Die Kitze bleiben stehen, sehen ihrer Mutter hinterher.
»Lauft!«, rufe ich. »Lauft hinter eurer Mutter her!«
Ich richte mich auf, scheuche sie, und im selben Moment bricht der Damm mit einem krachenden Schlag. Eine Flutwelle packt mich und reißt mich mit, drückt mich unter Wasser.
Es ist dunkel, laut. Ich verliere die Orientierung, schlucke Wasser, rudere mit Armen und Beinen, um wieder an die Wasseroberfläche zu kommen. Ich huste mir die Seele aus dem Leib, aber irgendwie schaffe ich es, über der Wasseroberfläche zu bleiben. Hektisch schwimmend, schaue ich mich um. Neben mir treibt ein herrenloses Schlauchboot. Ich greife danach, kann es aber nicht festhalten. Und wieder drückt mich eine Welle nach unten in den braunen Fluss. Ich stoße mit dem Bein gegen etwas Hartes. Der Schmerz jagt durch meinen Körper. Ich will schreien und muss den Schrei an den Lippen aufhalten. Auftauchen, brüllt mein Verstand. Auftauchen! Du musst sehen, wohin du schwimmst.
Schwimmst? Lachhaft! Ich werde getrieben, gezogen. In die Mitte der wütenden Elbe. Wo sie mich mit sich nehmen will, den ganzen Weg bis nach Hamburg. Ruhig bleiben! Nicht in Panik geraten! Du hast eine Chance, zu überleben, aber dazu musst du am Rand bleiben, in der Nähe des Ufers. Vielleicht kannst du einen Ast fassen, irgendetwas, das sich am Ufer verhakt hat. Du bist jung. Du bist trainiert. Du läufst dreimal die Woche zehn Kilometer, ohne außer Atem zu sein. Mit kräftigen Stößen schwimme ich aufs Ufer zu.
»Leela!«
Jemand ruft nach mir. Mein Vater? Ja, es ist mein Vater! Hauke läuft auf dem Deich neben mir her. Winkt mit einem Seil, holt in einem weiten Bogen aus, schleudert es in meine Richtung. Beim ersten Versuch landet es hinter mir. Ich drehe mich herum, will dem Seil entgegenschwimmen und werde von einer Welle überschwemmt. Etwas gerät in meinen Mund. Es schmeckt nach Erde und Scheiße. Ich strecke den Kopf aus dem Wasser. Huste weiter, spucke.
»Leela!«
Er hat das Seil eingeholt. Dann deutet er flussabwärts. Die Eisenbahnbücke über die Elbe. Noch etwa zwanzig Meter entfernt. Ich treibe direkt auf einen Pfeiler zu. Ein zweiter Versuch. Endlich kann ich das Seil greifen, schlinge es um das rechte Handgelenk. Mein Vater zieht mich ans Ufer, heraus aus der Elbe.
»Mich kriegst du nicht«, brülle ich den Fluss an. »Der Einzige, der mich kriegt, ist Jakob. Er mich und ich ihn.« Ich spüre das Ufer, die Steine, über die ich gezogen werde, an Bauch und Beinen. Dann lässt der Zug nach. Stiefel treten neben mich, Hände packen mich und richten mich auf. Mein Vater steht vor mir, wischt mir über das Gesicht. Umarmt mich und drückt mich an sich.
»Gott, Kind, wo warst du? Ich habe solche Angst um dich gehabt«, sagt er.
»Was ist mit den Rehen?«, frage ich.
Er sieht mich verwundert an.
»Welche Rehe?«
Gerade zehn Jahre alt, wurde er auf einer Wanderung am Corbassièregletscher von einer Lawine überrollt und unter einer dicken Schneedecke begraben. Er hatte kein Handy, um Hilfe zu rufen, weil Zehnjährige mit einem eigenen Handy damals noch eine Seltenheit waren. Zu seiner eigenen Überraschung blieb er unverletzt. Aber unter einem Meter Schnee begraben, vor Kälte zitternd und bewegungsunfähig, dachte Jakob, er würde erfrieren und niemand würde ihn jemals finden. Es sei denn als tiefgekühlte Leiche, wenn es irgendwann so warm wird, dass der Gletscher taut. In hundert Jahren. Oder vielleicht auch früher. Er hatte Angst. Erbärmliche Angst. Doch dann dauerte es nur fünfzehn Minuten, bis die Suchmannschaft ihn fand. Eine Atemhöhle hatte ihn vor dem Ersticken bewahrt, und der Schnee hatte eine isolierende Schutzschicht gebildet, in der ihn seine eigene Körperwärme rettete. Von diesem Moment an wusste er, dass er sich mit Schnee beschäftigen würde.
Der erste Satz, den er noch im Krankenhaus dazu las, stand in einem alten Erdkundebuch. Johannes Kepler hatte ihn bereits 1611 geschrieben. Plättchen aus Eis. Sehr flach, sehr poliert und sehr transparent, ungefähr von der Dicke eines Blattes Papier. Aber perfekt in Sechsecken geformt. Ihre sechs Seiten sind so gerade und die sechs Winkel so gleich, dass es unmöglich für einen Menschen wäre, etwas so Genaues herzustellen. Eine Woche später wurde Jakob aus dem Krankenhaus entlassen. Weitere neun Jahre später stürzte er sich in das Studium der Hydrologie an der Technischen Universität Dresden, gefolgt von sechs Semestern Glaziologie am Scott Polar Research Institute in Cambridge. Seitdem ist er mit Schnee und Eis verheiratet.
Seine derzeitige Adresse lautet Forschungsstation Neumayer III, Ekström Schelfeis, Atka-Bucht, nordöstliches Weddellmeer, Antarktis. Beziehungen, auch die zu Leela, hält er auf Distanz. Andere Freundschaften sind zerbrochen, weil er sich lieber mit den weißen Kristallen in all ihren Erscheinungsformen als mit den Problemen beschäftigt, die sich zwischen Menschen auftun können.
Vor ein paar Sekunden hat ihn ein furchtbares Bersten, gefolgt von heftigen Erschütterungen, aus dem Schlaf gerissen. Es war, als würde eine Hand, groß wie die eines Gottes, ein Haus in der Mitte auseinanderreißen und zu Boden schmettern. Im Grunde handelt es sich tatsächlich um ein Haus, nur ist es hier eines, das aus Milliarden Tonnen Eis gebaut ist. Seit einigen Tagen treten die Erschütterungen in immer kürzeren Abschnitten auf. Heute Morgen viel lauter und dröhnender als in den Tagen zuvor.
Der Blick auf das Messgerät sagt ihm, dass der Spalt im Schelfeis in den letzten zwei Stunden um zehn Zentimeter zugenommen hat. Das ist bedrohlich. Wenn der Gletscher sich nicht beruhigt, muss die Forschungsstation evakuiert werden. Das geht, was die Besatzung betrifft, recht einfach, weil sich in der Wintersaison außer ihm nur noch seine Kollegin Aniela in der Station aufhält. Und dieser mysteriöse Besucher, der ihm nicht gefällt.
Fünf Uhr. Also hat er fast vier Stunden geschlafen. Er schaut zur Decke hoch, wo ein Foto von ihm und Leela mit Tesafilm befestigt ist, aufgenommen auf dem Yamdroksee in Tibet. Leela und er hatten gestritten, als er Wittenberg vor einem Monat verlassen musste. Eigentlich war es vorbei zwischen ihm und ihr. Er hatte es nur noch nicht ausgesprochen. Doch dann hat er vergangene Nacht ihre Mail geöffnet, und das Foto ist ihm entgegengesprungen. Zwei Zellklumpen, sechs Wochen alt, winzig klein. Sie versucht es mit allen Mitteln, hat er zuerst gedacht. Wieso versteht sie das nicht? Er hat ihr doch gesagt, dass er kein Baby in diese Welt setzen will. Und schon gar nicht zwei. Es gibt dafür vier Gründe. Erstens will er einem Kind ersparen, in einer Welt aufzuwachsen, die gerade den Bach runtergeht. Zweitens hat er bereits ein Baby, sein Name lautet Glaziologie, die Wissenschaft von den Formen, dem Auftreten und den Eigenschaften von Eis und Schnee samt ihren Ausformungen als Gletscher und Schelfeis. Drittens ist er erst neunundzwanzig, und viertens hat er etwas getan, das ihn für Jahre ins Gefängnis bringen wird, sobald sie ihm auf die Spur kommen.
Aber dann hat er diese seltsamen Wesen auf dem Ultraschallfoto genauer angeschaut. Sie sehen aus wie Kaulquappen, hat er gedacht. Sie werden in Leelas Bauch nahezu alle Stufen der Evolution im Schnelldurchlauf von wenigen Monaten passieren und schließlich zwei richtige Babys sein. Seine Babys. Bevor es ihm noch richtig bewusst wurde, hat das Foto ihn verwandelt. Der Gedanke, dass er Vater wird, hat ihn hinterrücks mit einer unbekannten Wärme erfüllt, die tief aus seinem Inneren hervorströmte. Unfassbar.
Er richtet sich auf, öffnet das MacBook und schreibt. Liebe Leela. Er stockt. Liebe Leela? Ist das der richtige Beginn? Aber was soll er sonst schreiben? Geliebte? Zu sentimental. Hey Leela? Zu unpersönlich. Er schreibt von der Metamorphose, die in ihm stattgefunden hat, und löscht das Wort gleich wieder, ersetzt es durch Veränderung. Wir sind hier ja nicht im Biologieseminar. Er kommt nicht gut voran. Sein Herz läuft über, und der Verstand kommt nicht hinterher. Die Synapsen jagen in seinem Gehirn hin und her. Irgendwo muss es da doch so was wie ein Wörterbuch der Romantik geben. Doch alles, was die Synapsen finden, ist ein dünnes, zerfleddertes Heftchen.
Er schreibt, dass jetzt alles anders werden wird und wo er war, nachdem er Wittenberg verlassen hat. Es war ihr aufgefallen, dass er eine Woche länger brauchte, um zurück auf die Station zu kommen. Sie hat gedacht, er würde sich mit einer anderen Frau treffen. Er hat geantwortet, dass es aufgrund eines Sturms nicht möglich war, in Ushuaia zu starten. Sie hat daraufhin am Flughafen angerufen und natürlich erfahren, dass das eine Lüge war.
Jetzt schreibt er, dass er noch einen Kollegen getroffen hat, der wichtige Informationen für ihn hatte. Sie muss nicht wissen, dass er bei ExxonMobil eingebrochen ist und Gigabytes an Dateien kopiert hat.
Ich werde meine Arbeit auf Neumayer beenden und in vier Tagen zurück nach Deutschland fliegen. Ich hänge drei Dateiordner an die Mail. Sie sind verschlüsselt. Du musst sie auf einen Stick ziehen und dann löschen. Den Stick gibst Du an Mackenzie Little weiter. Ich könnte das auch selbst machen, aber ich befürchte, dass ihr Mailaccount überwacht wird. Mackenzie müsste wissen, wie die Dateien geöffnet werden können. Wenn ich zurück in Deutschland bin, werde ich alles Weitere koordinieren. Wir werden diesen Mördern die Masken von ihren hässlichen Fratzen reißen. Wir beide, Leela. Sprich außer mit Mackenzie mit niemandem. Pass auf Dich und die Babys auf. Ich liebe Dich.
Dann drückt er auf Senden. Er schaut zum Fenster hinaus. Obwohl draußen minus achtundvierzig Grad herrschen, ist es in der Station dank der Windkraftanlage angenehme einundzwanzig Grad warm. Er sieht den Mann, der vor zwei Tagen auf der Station angekommen ist. Angeblich hat das amerikanische Militär ihn geschickt, um das Observatorium unweit der Forschungsstation zu reparieren. Dort werden Daten zur Kontrolle des Verbots von Kernwaffenversuchen gesammelt. Der Mann steht zwanzig Meter entfernt mit dem Rücken zur Station und telefoniert mithilfe eines Satellitentelefons. Und dann, als würde er Jakobs Blick spüren, dreht er sich abrupt um. Er sieht aus wie ein Schauspieler. Schlank, groß gewachsen, scharf geschnittenes Gesicht, volles, dunkles Haar. Ein Frauentyp. Die Augen sind hellblau wie der Schnee am frühen Morgen. Und genauso kalt. Wie bei einem Raubtier. Der Mann ist ihm nicht geheuer.
Jakob duscht kurz, zieht sich an. Dann überprüft er ein paar Daten. Der Riss ist schon seit zehn Monaten sichtbar, aber zuletzt ist er gewachsen. Wenn es so weitergeht, wird der Gletscher kalben, und Neumayer III wird auf einem Eisberg in der arktischen See treiben. Auf dem Monitor sieht Jakob, dass es jetzt bereits fünfzehn Zentimeter sind. Fünfzehn Zentimeter sind viel. Mehr, als er erwartet hat. Er muss es vor Ort begutachten.
Aber vorher braucht er einen Kaffee.
Dr. Aniela Wozniak, Ärztin. Ihr Forschungsprojekt nennt sich »Auswirkungen mehrmonatiger Isolation in lebensfeindlicher Umgebung«. Sie arbeitet für die Europäische Raumfahrtbehörde ESA. Die wollen wissen, ob Leute durchdrehen, wenn sie ein Jahr lang auf dem Mars leben müssen. Auf dem Mars! Wir drehen ja schon nach sechs Monaten auf der Station durch. Und was ist denn da der Plan? Wir ruinieren die Erde, und dann verkrümeln wir uns auf den Mars?
»Was hältst du von ihm?«, fragt Jakob.
Mit einem knappen Blick deutet er zu dem Amerikaner hin. Der sitzt am hintersten Tisch in der Messe, das rechte Bein auf den Tisch gelegt. Vor ihm steht eine gelbe Tasse, aus der feiner Dampf aufsteigt. Außer ihm sitzt niemand in der Messe. Die anderen acht Wissenschaftler, die sich während der Wintermonate auf der Station aufhalten, sind auf einer Expeditionstour.
»Sieht gut aus«, antwortet Aniela.
»Sieht gut aus?«
»Okay, nicht so gut wie du. Kaffee?«
»Schwarz.«
»Wie deine Seele, ich weiß.«
Jakob greift nach einem Apfel und einem Becher Joghurt.
»Was Neues von dem Riss?«, fragt Aniela.
»Wird konstant größer.«
»Muss ich mir Sorgen machen?«
»Nein, aber ich würde an deiner Stelle kein Buch mit mehr als hundertzwanzig Seiten anfangen.«
»Sehr witzig. Im Ernst, was passiert, wenn der Riss … ich meine, wenn er noch größer wird?«
»Er wird größer.«
»Und was ist mit der Station?«
»Wir gehen im Südatlantik auf Reise.«
Aniela sieht ihn besorgt an. Es wäre eine Katastrophe, wenn die Forschungsstation im Meer versinken würde. Sie ist nach dem Geophysiker Georg von Neumayer benannt. Koordinaten 70°40‘S, 008°16‘W. Antarktis, Atka-Bucht. Außenmaß 68 m × 24 m. Masse 2300 Tonnen. Höhe über Boden sechs Meter. Plattform mit vier Etagen. 4470 Quadratmeter Nutzfläche, klimatisierte Nutzfläche auf drei Etagen 1850 Quadratmeter. Fünfzehn Räume mit vierzig Betten für die Besatzung. Energieversorgung durch ein Blockheizkraftwerk mit zwei Dieselgeneratoren, die 300 Kilowatt Leistung liefern, und drei Windkraftwerken mit je 50 kW. Neun Motorschlitten für Erkundungsfahrten, elf Pistenbullys, zwei schwere Kettenfahrzeuge. Besatzung im Sommer zweiundfünfzig, im Winter neun. Ein Monstrum aus Stahl auf sechzehn Stelzen, welche in einem 8,20 Meter tiefen Graben auf dem Schneegrund aufsetzen und jährlich um zwei Meter hochgefahren werden müssen, damit die Station nicht im Neuschnee versinkt. Inbetriebnahme 2009. Geplantes Ende der Betriebsdauer 2039. Vor neun Monaten auf 2031 korrigiert. Wenn es so weitergeht, kann es auch morgen passieren. So was geht schnell. Wie 2002 bei Larsen B und 2017 beim Abbruch von Larsen C. Das Ding war so groß wie das Saarland. 720 Milliarden Tonnen Eis.
Normalerweise treibt Neumayer III auf dem circa 200 Meter dicken Ekström-Schelfeis 160 Meter pro Jahr in Richtung offenes Meer. Vor einigen Wochen hat sich das Tempo auf 600 Meter erhöht. Das heißt, der Gletscher bewegt sich jetzt ungefähr zwei Meter pro Tag unaufhaltsam auf das Meer zu. Wenn man geduldig ist, kann man es sehen. Wenn man ganz still ist und den Atem anhält, auch hören. Als Jakob es das erste Mal hörte, klang es für ihn, als würde ein Bär sich beschweren, weil man ihn aus dem Winterschlaf geweckt hat. Aber das ist ein romantisches Bild, das nur ungenügend beschreibt, was mit Neumayer III passiert.
»Ich sag dir Bescheid, damit du noch schnell deine Kosmetiktasche packen kannst.«
Aniela zeigt ihm den Finger und widmet sich den Rühreiern in der Pfanne.
Jakob geht zu dem Amerikaner, setzt sich ihm gegenüber. Er will ihm auf den Zahn fühlen.
»Wie geht’s?«, fragt er.
»Am liebsten gut.«
Jakob reicht ihm die Hand. Sie fühlt sich hart an. Als würde er auf dem Bau arbeiten. Oder sich im Fitnessstudio an den Hanteln quälen. Auf dem Tisch liegt eine Mundharmonika.
»Spielst du?«, fragt Jakob.
»Hin und wieder, wenn ich Zeit und Lust habe. Und du?«
»Was meinst du?«
»Vögelst du sie?«, fragt der Amerikaner und deutet mit dem Kopf zu Aniela hin.
Jakob ist von der Frage überrascht.
»Nein, sie ist verheiratet.«
»Ein Grund mehr.«
Vom ersten Moment an hat Jakob ein unangenehmes Gefühl gehabt. Jetzt weiß er, dass sie keine Freunde werden, egal, wie lange der Amerikaner hierbleibt.
»Was macht Mata Hari?«, fragt Jakob.
Der Mann sieht ihn erstaunt an.
»Welche Mata Hari?«
Auf Neumayer nennen sie das Observatorium, mit dem das amerikanische Militär kontrolliert, ob ein Land unterirdische Atombombentests vornimmt, Mata Hari, nach der berühmten Spionin. Dass der Mann nichts von Mata Hari weiß, ist kein gutes Zeichen.
»Das Observatorium.«
»Wusste nicht, dass ihr es nach einer Nutte benannt habt.«
»Sie war eine Spionin.«
»Kommt auf den Blickwinkel an, oder?«
»Nein. Aber es hat mich schon immer interessiert, unterhalb welcher Hörbarkeitsschwelle gemessen wird?«
»Unterschiedlich.«
Unterschiedlich? Der Mann hat keine Ahnung. Mata Hari misst akustisch unterhalb der Hörbarkeitsschwelle im Infraschall-Bereich von 15 bis 20 Hertz.
»Deine Eier sind fertig«, ruft Aniela.
Der Amerikaner grinst anzüglich. Jakob erhebt sich und schlendert zur Kombüse.
»Der hat keine Ahnung. Und er ist weder Wissenschaftler noch Ingenieur, noch vom amerikanischen Militär«, sagt er zu Aniela.
»Warum soll er denn sonst hier sein?«
Gute Frage. Es kann sein, dass er wegen ihm hier ist. Wegen der Dateien, die Jakob im Washingtoner Büro von ExxonMobil kopiert hat. Er hat von Mackenzie einen Tipp bekommen, dass dort Dokumente liegen, die die Rolle der Black Seven bei der Leugnung des Klimawandels beweisen. Was er dann auf dem Exxon-Server gefunden hat, war noch weitaus dramatischer, als er je erwartet hat. Beinahe hätten sie ihn erwischt. Im letzten Moment konnte er über einen Balkon abhauen. Er ist mit einem Leihwagen über die Grenze nach Mexiko gefahren, von dort mit einem Schiff bis nach Peru und dann via Bolivien nach Argentinien. Von Ushuaia hat er dann per Flugzeug in die Antarktis übergesetzt.
Als Jakob sich umdreht und zum Tisch zurückgehen will, ist der Mann verschwunden. Umso besser. Aber dann fällt ihm ein, dass er sein Zimmer nicht abgeschlossen hat. Jakob stellt den Teller ab und stürzt los.
»Was ist passiert?«, ruft Aniela ihm hinterher.
Aber er hat keine Zeit für eine Antwort. Die Treppe hinauf in den dritten Stock, nach links zu seinem Zimmer. Die Tür steht offen. Er sieht es schon von Weitem. Das Notebook ist weg. Natürlich ist es weg! Wie kann man nur so blöd sein und die Tür nicht abschließen? Wo ist der Scheißkerl? Wahrscheinlich schnappt er sich gerade einen der Pistenbullys und macht sich auf den Weg zu Sanae IV. Die Station liegt 225 Kilometer entfernt im Südosten. Von da könnte er mit einem Oryx-Helikopter auf den Eisbrecher S. A. Agulhas II übersetzen.
Jakob greift nach der dicken Jacke, schlüpft in die Stiefel und rennt los. Immer drei Stufen auf einmal, den Gang entlang zur Außentür. Als er die Tür öffnet, schlägt ihm die Kälte ins Gesicht. Er hört, wie der Motor eines Bullys eiert. Und jetzt sieht er den Mann. Er hat einen Rucksack geschultert, ist unter der Pelzkapuze kaum zu erkennen.
»Hey!«, brüllt Jakob und rennt zu dem Bully hin, stolpert über die Schnürsenkel und landet im festgefrorenen Schnee. Die Eiskristalle stechen in Gesicht und Hände. Hastig rafft er sich wieder auf. Der Motor des Bullys eiert immer noch. Und als er den Mann endlich erreicht, blickt Jakob in den Lauf einer Pistole.
»Ich schlage vor, du gehst zurück zur Station, und wir vergessen, dass ich hier war und dass du irgendwo eingebrochen bist und etwas kopiert hast, das dir nicht gehört. Und du wirst deiner Leela sagen, dass sie die Dateien wieder löschen soll. Was hältst du davon? Dann erspare ich mir, dir eine Kugel ins Gesicht zu schießen, deine Leela zu besuchen und mit ihr über den jämmerlichen Liebesbrief zu reden, den du ihr geschrieben hast. Mal im Ernst, das ist alles, was du draufhast? Der Brief ist eine Katastrophe. Wenn ich sie wäre, würde ich dir einen Tritt geben.«
Jakob spürt, wie eine so elementare Angst in ihm hochkriecht, dass der Boden unter ihm zu schwanken scheint. Wie damals, als er zehn Jahre alt war und die Lawine ihn verschüttet hatte. Doch als nun die Sirenen losbrüllen, weiß er, dass es nicht seine Angst ist, die den Boden erschüttert.
Der Mann sieht ihn verblüfft an. »Was ist das?«, fragt er beunruhigt.
»Das Schelfeis bricht ab«, sagt Jakob. Er dreht sich zu dem Riss hin.
»Und was heißt das?«
»Die Station wird ins Meer stürzen und versinken.«
Jakob sagt es so ruhig, als handle es sich um ein Ereignis, das bereits in der Vergangenheit liegt.