L.E. Flynn

Wer zuletzt lügt

Aus dem Englischen von Stefanie Frida Lemke

Fiona ist unsterblich in Beau verliebt, doch dieser hat sich vollkommen zurückgezogen, seit sein Bruder Toby ein Jahr zuvor verschwunden ist und für tot erklärt wurde. Als Fiona die Außenseiterin Trixie kennenlernt, verfällt sie sofort ihrer Faszination. Die beiden werden beste Freundinnen, auch wenn Fiona das Gefühl hat, ihr nie ganz trauen zu können. Dann verschwindet Trixie. Fiona kann nicht glauben, dass sie tot ist. Vielleicht ist ja auch Toby noch am Leben und die beiden sind irgendwo zusammen? Fiona fängt an nachzuforschen und Lüge und Wahrheit verschwimmen immer mehr …

Wohin soll es gehen?

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Viten

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Leseprobe

Für meine Mom, die tollste Frau, die ich kenne.

Wenn ich erwachsen bin, will ich sein wie du.

(Wie mache ich mich bisher so?)

1

Als ich dir das erste Mal begegnete, an diesem krass heißen Tag letzten September, als du in mein Auto gesprungen bist und sagtest, ich solle losfahren, hattest du einen Pixie-Cut. Einen wasserstoffblonden Pixie-Cut mit dunklem Ansatz, die Art von Haaren, die eigentlich keine Frisur, sondern ein Statement sind. Du trugst zu viel Eyeliner und einen Ring in der Lippe, und ich habe es dir zwar nie gesagt, aber ich fand dich schön. Nicht im klassischen Sinne, sondern auf deine eigene Weise. Und das war viel besser.

Du sahst immer gleich aus, jeden Tag. Alle zwei Wochen hast du dir zu Hause in deinem winzigen Badezimmer die Haare blondiert. Und ich durfte dir die Spitzen schneiden, weil du selbst es nicht gerade hinbekamst.

»Meine Haare müssen kurz sein«, sagtest du. »Sie sind zu kaputt, um sie wachsen zu lassen. Ich hätte echt gern lange Haare wie du, aber manche Dinge sollen eben nicht sein.«

»Du kannst meine haben«, sagte ich. »Meine Haare sind viel zu dick. Ich hasse sie.« Ich hätte dir alles gegeben, was du wolltest, echt.

Dann, kurz nach deinem Abschluss, nur Tage nachdem ich dich mit deinem Zeugnis über die Bühne gehen und dich von mir entfernen sah, bist du mit diesem Pferdeschwanz bei mir zu Hause aufgetaucht. Einem stoppeligen, kurzen, mausbraunen Pferdeschwanz. Dein Haaransatz war fleckig, du hattest dir die Haare offensichtlich selbst gefärbt.

Du warst kaum wiederzuerkennen.

»Ich hab dich mir nie als brünett vorgestellt«, sagte ich.

»Ich wollte es mal ausprobieren«, sagtest du. »Warst du noch nie so genervt von dir, dass du irgendwas daran machen musstest?«

In der nächsten Woche hattest du kupferfarbene Haare mit einem offensichtlich selbst geschnittenen Fransenpony. Wieder hattest du mich nicht gefragt, ob ich dir helfe, und ich war ein bisschen gekränkt. »War eine spontane Aktion«, erklärtest du. »Ich hab die Farbe gesehen und einfach losgelegt.«

Zwei Wochen später trugst du im Internet gekaufte schwarze Extensions. »Ich probier halt was Neues aus«, sagtest du, als ich dich schließlich nach dem Warum fragte. »Es ist Zeit, was zu ändern.«

Danach dachte ich mir nicht mehr viel bei deinen ständigen neuen Looks. Lila Haare und gesträhnte Haare und Ponys und Bobs und Locken und Clip-in-Haarteile. Dann fingst du an, auch mit Make-up zu experimentieren. Du tauschtest deinen geliebten rauchigen Eyeliner gegen falsche Wimpern und Farblinsen und das Lippen-Piercing gegen leuchtend roten Lippenstift, der an deinen Zähnen haftete. Ich verlor den Überblick, welche Version von dir gerade aktuell war, obwohl ich dich den Sommer jeden Tag sah.

Aber ich dachte mir nichts dabei, schließlich machen viele Mädchen so was.

Ich dachte mir gar nichts dabei.

Doch ich hätte mehr darauf achten sollen.

Denn als du nach der Party verschwunden warst, fragte mich die Polizei nach einer Beschreibung von dir. Weil die Polizei kein aktuelles Foto von dir hatte. Weil es kein aktuelles Foto von dir gab. Du hast dich aus Bildern rausgehalten. Du fandest dich nicht fotogen.

»Ich sehe auf Fotos immer komisch aus«, sagtest du. »Außerdem lebe ich lieber im Moment. Warum müssen die Leute ständig alles dokumentieren?«

Ich dachte, dich zu kennen.

Doch als die Polizei mich fragte, wie du ausgesehen hast, und ich die Augen zusammenkniff und versuchte, den Raum, der sich um mich herum drehte, lange genug anzuhalten, um mich zu erinnern, wurde mir klar: Ich wusste es nicht.

2

Woran ich mich an jenem Abend erinnere: alles, was zählt.

Was ich der Polizei über jenen Abend erzähle: alles andere.

Ich weiß, dass Lügen falsch ist, aber ist ein Versprechen zu brechen nicht schlimmer? Versprechen haben etwas an sich, das wichtiger ist. Ein Versprechen ist eine dauerhafte Bindung. Eine in die Luft geschriebene Unterschrift, zusammengepresste blutende Daumen. Etwas zu versprechen heißt die Verzweiflung von jemand anders schlucken. Jemandes größten Fehler vertuschen. Die drei wichtigsten Worte überhaupt aussprechen:

Ich verrate nichts.

Und so schlecht ich mich auch fühle, weil ich die Polizei über den Abend von Trixies Verschwinden angelogen habe, kommt es mir doch richtiger vor, als die Wahrheit zu erzählen. Mit Entscheidungen verhält es sich nämlich so: Wenn man die Optionen gegeneinander abwägt, wiegen sie nie das Gleiche.

Eine Seite ist immer schwerer.

3

Du wolltest unbedingt mit mir zu Alisons Party gehen, was ungewöhnlich war, denn du mochtest Alison noch nicht mal. Du mochtest überhaupt niemanden der Leute, mit denen wir zur Schule gingen.

Trixie hatte im Juni ihren Abschluss gemacht und konnte es gar nicht abwarten, endlich von allen und allem wegzukommen. Ich hatte noch ein Jahr vor mir, und schon Wochen bevor die Sommerferien zu Ende waren, musste ich den Gedanken, dass Trixie nicht mehr dabei sein würde, immer wieder beiseiteschieben.

»Die Party wird super«, behauptete sie, warf ihren Rucksack auf meine Steppdecke und riss sich ihr Shirt über den Kopf. »Und außerdem gibts eine offene Bar. Wir betrinken uns einfach hemmungslos und feiern.«

Was feiern wir denn?, wollte ich fragen. Aber ich fragte nicht.

Sie nahm ein braunes Top aus dem Rucksack und zog es an. Trixie hätte in allem gut ausgesehen, trotzdem wunderte es mich, dass sie ausgerechnet das zur Party anzog – ein viel zu weites Top in Kackbraun mit dem Aufdruck JERSEY GIRL in weißen Blockbuchstaben. Ihre dünnen Arme guckten aus den zu großen Armlöchern, darunter konnte ich ihren BH sehen. Es war noch nicht mal ein schöner BH, nur so ein sandfarbener, den man unter weißen Shirts trägt.

»Was ziehst du an?«, fragte sie und setzte sich rittlings auf den Schreibtischstuhl.

»Keine Ahnung. Ich hab nichts. Die Sachen in meinem Schrank sind alle hässlich.«

»Wovon redest du? Deine Klamotten sind die besten.«

In Wahrheit traute ich mich nicht, die meisten meiner Sachen anzuprobieren. Zwar hatte es schon immer irgendetwas gegeben, was ich an meinem Körper nicht mochte – meine Oberschenkel, meine Hüften, meine breiten Schultern –, aber mehr, weil alle Mädchen mit ihrem Körper auf Kriegsfuß standen, als aus irgendeinem ernsthaften Grund. Doch mir war klar, dass ich über den Sommer zugenommen hatte, ich wollte nur nicht auf die Waage und herausfinden, wie viel. Solange ich es nicht genau wusste, konnte es immer noch sein, dass ich es mir nur einbildete.

»Ich such dir was aus«, sagte Trixie, stand auf und stützte die Hände in die Hüften. »Vertraust du mir?«

»Na klar«, murmelte ich. »Aber was Langweiliges, okay? Ich will mich nicht aufbrezeln.«

Trixie öffnete den Schrank und fing an, meine Sachen zu durchsuchen. Als ich alles so auf den Bügeln hängen sah, nach Farben sortiert und gebügelt, fühlte ich einen Stich. Leuchtend gelbe Sommerkleider. Spaghettiträger-Tops. Jeans, die mal an genau den richtigen Stellen eng gesessen hatten. Jeans-Miniröcke. Meine Cheerleader-Uniform, die ich nie zurückgegeben hatte. Ich starrte auf die Klamotten wie auf alte Freundinnen, die ich nicht mehr kannte. Früher hatte ich mich gerne schick gemacht, selbst wenn ich nirgendwo hingegangen war. Ich hatte mir sogar Stoffe gekauft und mir meine eigene Kleidung genäht, von der ich mir vorstellte, dass die Leute auf der Straße mich darauf ansprechen würden. Aber außer Trixie hatte das nie jemand getan.

»Du hast so tolle Sachen«, sagte sie, drehte sich um und sah mich an. »Warum ziehst du sie nie an?«

»Ich weiß nicht. Ich hab einfach das Gefühl, dass mir nichts davon steht.« Oder passt.

»Du könntest dir doch was nähen. Dir eine neue Nähmaschine kaufen. Oder? Du hast so ein unglaubliches Talent.«

»Vielleicht«, sagte ich und blickte auf meine Beine, die den ganzen Sommer über kaum die Sonne gesehen hatten.

Ich nähte mir keine Klamotten mehr, weil ich nicht wusste, wie ich das blasse Mädchen mit dem unordentlichen kastanienbraunen Knoten auf dem Kopf, das mich aus dem Spiegel ansah, kleiden sollte. Ich fühlte mich aufgedunsen, meine Haut spannte. Meine Sommeruniform bestand aus umschmeichelnden langen Röcken und weiten T-Shirts. Mode war mir nicht mehr so wichtig.

»Das hier«, sagte Trixie und holte das Kleidungsstück hervor, das ich am meisten mied. Das rote Kleid, das ich eigentlich den Sommer zuvor zu Alisons Party hatte tragen wollen, vor fast einem Jahr. »Das musst du anziehen.«

»Ist das nicht zu schick? Du hast doch auch nichts Besonderes an.«

»Vielleicht ziehe ich mich nachher noch um. Du musst es tragen. Du könntest heute Abend die Liebe deines Lebens treffen. Wer weiß?«

Die habe ich schon getroffen, aber ich bin ihm egal, hätte ich am liebsten gesagt, doch stattdessen nahm ich das Kleid und ging mit knallrotem Gesicht ins Badezimmer. Ich versuchte, von oben ins Kleid zu schlüpfen, aber es passte nicht über meinen Hintern. Ich versuchte, es über den Kopf zu ziehen, und mein Herz machte einen kleinen Sprung, als ich es über die Schultern bekam. Vielleicht habe ich mir umsonst Sorgen gemacht. Ich zog es über den Bauch und ignorierte den Schweißfilm auf meiner Haut.

Dann fühlte ich, wie die Rückseite riss. Ich biss mir auf die Unterlippe und zählte von zehn runter. Ich wollte nicht weinen. Nicht mit Trixie in meinem Zimmer. Nicht, wenn sie nie weinte, wegen nichts, nie.

»Es passt nicht!«, rief ich und unterdrückte das Zittern in meiner Stimme. »Ich suche mir was anderes raus.«

»Warte, lass mich mal gucken«, sagte sie und platzte herein.

Sie klopfte nie an. Was irgendwie lustig war, denn das eine Mal, als sie an ihrem Laptop saß und ich mich von hinten an sie heranschlich, ist sie völlig ausgeflippt. Es war das einzige Mal, dass ich sie je wütend erlebt habe. »Du musst anderer Leute Privatsphäre respektieren«, hatte sie geschimpft. Aber sie drang in meine ein.

Trixie gab mir ein Bier, und ich trank es, während sie den Riss am Rücken von innen mit einer Sicherheitsnadel schloss und meine Haare so darüberdrapierte, dass er nicht zu sehen war. Ich staunte über die Macht, die sie besaß. Die Macht, alles umzukehren, mir das Gefühl zu geben, das schönste Mädchen der Welt zu sein. Seit ich Trixie kennengelernt hatte, war ich nicht nur in die Breite gegangen. Ich war aus allem herausgewachsen, was mir wichtig gewesen war, aus allem, wovon ich früher gedacht hatte, dass es zählte. Mein altes Leben passte mir nicht mehr. Ich war hineingewachsen in die Rolle von Trixies bester Freundin.

»Siehst du, es passt. Du siehst total hot aus. Ich wünschte, ich hätte auch rote Haare und könnte rote Sachen tragen. Du wirst dich heute Abend vor Typen gar nicht retten können.« Sie schlüpfte in ihre ausgelatschten Flip-Flops.

»Du kannst dir die Haare ja rot färben«, sagte ich. »Du hast doch schon so ziemlich jede Haarfarbe gehabt. Ich kann dir beim Färben helfen.«

»Nein«, sagte sie. »Rot ist mehr dein Ding. Komm, wir gehen.«

Auf dem Weg zu Alisons Haus trank ich noch ein Bier. Trixies Rucksack schlug ihr mit jedem Schritt gegen das Kreuz. Er sah ziemlich schwer aus. Ich fragte mich, warum sie ihn überhaupt zur Party mitnahm.

»Ich kann den Rucksack auch ein Stück tragen«, bot ich an. »Was hast du da eigentlich drin?«

»Schon okay«, sagte sie. »Nur ein paar Bier für den Fall, dass es auf der Party nicht genug gibt und wir etwas Unterhaltung brauchen.«

Aber was auch immer sie darin hatte, klirrte nicht, wie es Bierflaschen getan hätten. Warum sollte sie deswegen lügen?, dachte ich. Trotzdem bohrte ich nicht weiter nach.

Später fragte mich die Polizei nach dem Rucksack.

Er war schwarz. Mit weißen Ziernähten. Es war derselbe, den sie immer zur Schule mithatte. Sie sagte, er wäre voller Bier.

Doch am besten erinnerte ich mich an die roten Abdrücke, die er auf ihren Schultern hinterlassen hatte.

Natürlich erzählte ich der Polizei nichts von den roten Abdrücken. Ich erzählte, dass Trixie und ich die Party gleichzeitig verlassen hätten und dann getrennter Wege gegangen seien, weil sie mir gesagt hätte, dass sie am nächsten Morgen was mit ihrem Dad vorhabe und deswegen nicht bei mir schlafen könne.

Ich erzählte nicht, dass ich nur noch verschwommen gesehen hatte, als Trixie mir auf einmal einen Eiswürfel hinten ins Kleid steckte. Ich war dermaßen zusammengezuckt, dass mir der Becher mit meinem Drink aus der Hand flog und die rote Flüssigkeit – etwas Süßes und Starkes – auf Trixies Shirt und dem cremefarbenen Teppich landete, auf dem sich die Flüssigkeit ausbreitete wie ein dunkelroter Tintenfleck.

Es war definitiv nicht lustig. Es würde nicht lustig werden, wenn Alison den Fleck entdeckte, oder wenn ihre Eltern nach Hause kamen und erkannten, dass ihre Tochter eine Party geschmissen hatte, groß genug, so eine Sauerei nicht gleich zu bemerken.

Es war nicht lustig, aber Trixie lachte. Sie schüttelte den Kopf und legte mir die Hände auf die Schultern.

»Ach, Fiona«, seufzte sie. »Was soll ich nur mit dir machen?«

Das war das Letzte, was Trixie zu mir sagte, und es klang nicht nach einem Abschied. Ich hatte mich Hunderte Male von Trixie verabschiedet, an den verschiedensten Orten. Ihr Abschied war immer gleich. Ein Peace-Zeichen mit über dem Kopf ausgestreckter Hand. Ein Versprechen, später anzurufen.

Sie hatte mir wirklich gesagt, dass sie am nächsten Morgen Pläne mit ihrem Dad hätte.

Aber die Party haben wir nicht zusammen verlassen.

Zwei Tage nach der Party, als die Polizei mit dem Typen am Strand redete und Trixies Sachen fand, wurde mir klar, was sie in Wirklichkeit gemeint hatte. Ich hörte, was ich an jenem Abend schon hätte hören sollen.

Sie fragte: »Was soll ich nur mit dir machen?«

Aber sie meinte: »Was soll ich nur ohne dich machen?«

4

Am ersten Schultag besteht Mom darauf, dass ich frühstücke, obwohl mir schlecht ist. Sie stellt eine Schüssel mit etwas, das aussieht wie Vogelfutter, vor mich hin und sagt, ich solle es aufessen.

»Ich weiß, die letzten drei Wochen waren hart«, sagt sie. »Aber sieh es als Neuanfang. Es ist dein letztes Schuljahr. Ich möchte, dass du deine Möglichkeiten voll ausschöpfst. Du hast nur ein letztes Schuljahr.«

Das ist der Moment, wo ihr Blick ganz verschleiert wird, der Moment, wo ich der Elefant im Raum bin, denn ich bin schuld, dass Mom kein richtiges letztes Schuljahr hatte. Ich bin schuld, dass sie die Schule von zu Hause aus beenden musste. Weil sie als Sechzehnjährige mit mir schwanger wurde, woraufhin meine Oma sie aus der Schule nahm. Als ich mit Cheerleading anfing, war Mom superaufgeregt. Sie kam zu allen Basketball-Spielen in der muffigen Turnhalle und saß während der gesamten Football-Saison auf der harten Tribüne, nur um mir zuzusehen, wie ich die albernen Sprechgesänge der Robson-Highschool rief und Mädchen in die Luft warf. Mom konnte Trixie nicht leiden, weil sie glaubt, Trixie hätte mich vom Cheerleading abgebracht. Auch wenn sie es so nicht gesagt hat. Aber sie erwähnte einmal ihre »Sorge«, dass ich »zu leicht formbar« sei. Als ob ich ein Klumpen Ton wäre.

Ich würge einen Löffel der körnigen Substanz herunter. Sie kratzt im Hals wie Schmirgelpapier.

»Denk dran, nach der Schule zu Dr. Rosenthal zu fahren.« Mom steht auf. »Ich habe eigentlich noch eine Besprechung um vier, aber ich werde es kurz halten. Wir treffen uns dann da.«

Ich will nicht zu Dr. Rosenthal. Dr. Rosenthal ist Psychotherapeut, der auf Probleme Jugendlicher spezialisiert ist, was mich vermuten lässt, dass er seine eigenen nie verarbeitet hat. Ich weiß nicht, ob Mom will, dass ich mit ihm rede, weil ich zugenommen habe oder weil ich eine tote beste Freundin habe oder beides.

»Du hast ein ganz schönes Trauma hinter dir«, sagte sie, bevor sie den Termin für mich ausmachte. »Mit jemandem darüber zu reden, wird dir helfen, wieder auf den richtigen Weg zu kommen.«

Was ich hörte, war: Du bist abstoßend. Du bist nicht mehr gut genug. Du lässt dich gehen.

Sie öffnet den Mund, um noch etwas zu sagen, doch da klingelt ihr Handy und sie nimmt das Gespräch sofort an. Als ich klein war, wohnten wir in einem winzigen Ein-Zimmer-Apartment und Mom arbeitete Teilzeit im Supermarkt. Sobald ich ein bisschen älter war, ging sie auf die Uni, machte ihren Abschluss in Betriebswirtschaft und fing bei einer Marketingfirma an. Jetzt ist sie ständig beruflich auf Reisen. Früher war es nur mal ein Tag hier und da, doch inzwischen ist sie manchmal eine ganze Woche weg. Und im Sommer war sie sogar zwei Monate lang in Tokio. Sie wollte, dass Tante Leslie kommt und hier wohnt, aber ich habe protestiert und gesagt, mit siebzehn Jahren sei ich alt genug, um allein zu Hause zu bleiben, und in einem Jahr würde ich ohnehin auf mich selbst gestellt in einer anderen Stadt oder sogar in einem anderen Bundesstaat leben.

Trixie hatte mir geholfen, sie zu überzeugen. »Sag ihr, du rufst sie regelmäßig an. Sag ihr, du willst dich in Unabhängigkeit üben. Sag genau das. Eltern stehen auf so einen Scheiß.«

Trixie war eine gute Lügnerin. Jetzt bin ich es auch. Ich frage mich, ob Lügen so funktioniert – ob es ansteckend ist, wie eine Krankheit. Früher habe ich Mom nie wegen irgendwas angelogen, aber nachdem ich Trixie kennengelernt hatte, bin ich aus Freundschaft zu ihr zur Lügnerin geworden. Ich redete mir ein, dass es nur Schwindeln war und Mom nicht alles über mich wissen musste. Aber es war mehr als das.

»Ich kann auch allein hin«, sage ich und lasse den Löffel scheppernd in die Schüssel fallen. »Geh du ruhig zu deiner Besprechung.«

Mom runzelt die Stirn. »Bist du sicher, mein Schatz?«

Ich nicke. »Ja, bin ich.«

Ich fürchte mich davor, zu Dr. Rosenthal zu gehen. Ich weiß jetzt schon, dass er lauter falsche Fragen stellen wird. Er wird in meinen Gedanken rumschnüffeln und versuchen, einen wissenschaftlichen Grund dafür zu finden, warum ich durchdrehe, und es sollte mich erleichtern, wenn er einen findet. Er wird denken, das Problem liegt darin, was ich in meinen Körper aufnehme, wen ich in mein Leben lasse.

Aber vielleicht ist das Problem gar nicht, wen ich reinlasse, sondern wer bereits da war.

5

Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis wir beste Freundinnen waren. Zwei Wochen vielleicht. Zwei Stunden. Oder vielleicht passierte es in den ersten zwei Minuten, nachdem du zu mir ins Auto gesprungen warst, als ich diesen wahnsinnigen Ansturm von Möglichkeiten verspürte.

Das Lustige ist, eigentlich hätte ich Trixie Heller nie begegnen sollen.

Ich hätte beim Cheerleader-Training sein sollen, in der unteren Reihe der Pyramide. Coach Hogan nannte mich gern ihr Kraftpaket. »Seht euch diese starken Beine an«, sagte sie immer. Sie meinte es als Kompliment. Aber ich wollte nichts weiter, als so zu sein wie meine beste Freundin Jenny. Das Mädchen, das sich jeder Junge einfach unter den Arm klemmen konnte. Das Mädchen, das jeden Jungen hätte haben können.

Das Mädchen, das den einen Jungen wollte, von dem ich ihr erzählt hatte, dass ich ihn liebte.

Zehn Minuten bevor ich Trixie begegnete, waren Jenny und ich zusammen auf dem Weg zur Sporthalle gewesen. Ich ging. Jenny machte ihre nervigen Hopsschritte, als ob das Leben so toll wäre, dass sie es nicht aushielt, normal zu gehen. Als Trixie später sagte, Jenny sähe mit ihrem Gang aus wie eine verrückte Ente, hätte ich sie knutschen können.

Ich war sowieso schon sauer auf Jenny gewesen. Nicht wegen ihrer lauten Stimme oder ihrer kleinen Stupsnase oder ihres Arschwackelns oder der Tatsache, dass sie mich kaum zu Wort kommen ließ. Ich war sauer, weil wir uns überhaupt nicht mehr unterhalten konnten, ohne dass der Name Toby Hunter fiel. Aber an diesem Tag erwähnte sie einen anderen Namen, und er ließ mir den Atem stocken – Beau Hunter.

»Er hat mich nach einem Date gefragt«, sagte sie, und ihre Worte klangen gehetzt. »Da konnte ich schließlich nicht Nein sagen. Ich meine, wo sein Bruder – na ja, du weißt ja. Sich umgebracht hat.«

Natürlich wusste ich es. Alle in Morrison Beach wussten, was Toby Hunter getan hatte, und die Hälfte der Leute hatte so ihre Theorien darüber. Aber Jenny wusste auch über mich Bescheid. Ich dachte an jenen Abend, als Jenny und ich draußen auf Alisons Terrasse saßen, Weinschorle mit Limo tranken und ich ihr anvertraut hatte, Beau Hunter zu lieben. Sie hatte mich umarmt und gesagt, ich solle ihn nach einem Date fragen, weil er zu schüchtern sei, mich zu fragen.

Acht Minuten bevor ich Trixie zum ersten Mal begegnete, wollte ich Jenny am liebsten erwürgen.

Ich wartete darauf, dass sie noch etwas dazu sagte, irgendetwas, um mir mitzuteilen, dass sie sich an jenen Abend erinnerte, daran, dass wir einander so nah waren, dass ich sogar ihren Lippenstift mit Kaugummi-Geschmack riechen konnte, als ich ihr mein größtes Geheimnis verriet.

Aber sie sagte nichts dazu. Ich hätte mir beinahe einreden können, dass sie den Abend vergessen hatte, doch dann sah ich, wie sie ganz leicht lächelte. Sie wusste es noch. Doch sie redete einfach weiter, von dem Football-Spiel am Freitag und irgendeiner Party danach. Ich ging immer langsamer und bohrte mir die Fingernägel in die Handflächen, bis es richtig wehtat. Dann blieb ich stehen.

»Ich hab meine Uniform im Auto vergessen«, sagte ich mit ausdrucksloser Stimme. »Ich komm nach.«

Sie war meine beste Freundin, sie hätte wissen müssen, dass es gelogen war. Ich vergaß nie etwas. Aber sie winkte nur blöd und hopste weiter.

Mit vor Tränen verschwommenem Blick drehte ich mich um und ging wieder zurück. Auf dem Parkplatz angekommen lief ich zu meinem Auto, öffnete die Tür und ließ mich auf den Sitz fallen. Das Leder war heiß von der Sonne und brannte an meinen Oberschenkeln. Ich umklammerte das Steuer, obwohl es mir die Handflächen versengte. Ich ballte die Hände zu Fäusten und schlug aufs Lenkrad. Ich wollte gerade losbrüllen.

Da ging die Beifahrertür auf, und Trixie sprang in mein Auto.

»Kannst du mir einen Gefallen tun?«, sagte sie, während sie den Sitz runterrutschte, wobei ihre Haut Schmatzgeräusche auf dem Leder machte. »Kannst du mich mitnehmen? Fahr einfach. Ich muss für eine Weile verschwinden.«

Es war keine Frage. Sie sagte, ich solle losfahren, und rutschte so weit runter, bis ihre Beine im Fußraum ganz angewinkelt waren. Mir fielen die Kratzer auf ihren Knien auf, wie bei einem kleinen Kind, das ständig hinfiel. Sie hielt die Hände mit den runtergekauten Nägeln im Schoß und sah mich aus den Augenwinkeln an, als wollte sie fragen: Worauf wartest du?

Und ich hörte auf sie. Ich fragte sie nicht, wer sie war, oder sagte, dass sie sich eine andere Mitfahrgelegenheit suchen oder sich verziehen solle.

Ich fuhr los.

Ich fuhr weg vom Cheerleader-Training, weg von Jenny. Ich fuhr weg von der Robson-Highschool. Ich wartete darauf, ein schlechtes Gewissen zu bekommen, aber es kam nicht.

Als wir vom Parkplatz fuhren, beugte Trixie sich vor und legte den Kopf auf die Beine. Ich wollte sie fragen, vor wem sie sich versteckte, vor wem sie weglief. Wo ich hinfahren sollte. Aber es schien nicht wichtig zu sein. Sie summte und tippte mit den Fingern einen Rhythmus auf ihren nackten Oberschenkel, und ich blickte auf ihren Hinterkopf, den dunklen Ansatz und die Haarspitzen im Nacken, und ich wollte dorthin, wohin ein Mädchen wie sie unterwegs war.

Ich fuhr am Strand und an der Innenstadt vorbei. Ich fuhr so lange, bis sie sich aufsetzte und sich mit dem Handrücken über die Stirn wischte.

»Hey, willst du was essen?«, fragte sie.

Kein Danke. Keine Erklärung. Sie war diejenige, die mich etwas fragte.

»Klar«, sagte ich, obwohl ich keinen Hunger hatte.

»Bieg an der Kreuzung links ab. Da gibts die besten Cheeseburger. Tut mir leid, aber ich bin am Verhungern. Ich hab heute das Mittagessen ausfallen lassen.« Sie streckte die Arme überm Kopf aus wie eine Katze. Ich tat so, als würde ich die rosafarbenen Narben unter den vielen Armbändern an ihrem linken Handgelenk nicht bemerken. »Ich bin dir echt was schuldig. Ich kauf dir ein Mittagessen.«

Ich sagte nicht, dass ich schon Mittag gegessen hatte oder dass ich gar kein Fleisch aß. Dass ich keinen Cheeseburger mehr gegessen hatte, seit ich zwölf geworden war und Mom einen Dokumentarfilm darüber gesehen hatte, wie schlecht Fleischkonsum ist. Ich dachte an meine Cheerleader-Uniform, die in meinem Spind auf mich wartete, und wie viel schwieriger ein Cheeseburger es machen würde, mich hineinzuquetschen.

»Klar«, sagte ich. Trixie hatte mich auf einsilbige Antworten reduziert.

»Wirklich«, sagte sie. »Egal was du willst, ich kaufs dir. Was ist dein Lieblingsessen?«

Das hatte mich schon seit Jahren niemand mehr gefragt. »Salat«, sagte ich instinktiv, weil es das war, was Jenny und Alison sagen würden.

Ihre Mundwinkel zuckten. »Ach, komm schon. Salat ist langweilig. Was ist dein echtes Lieblingsessen?«

Ich starrte auf meine Patchwork-Jeans, die, die ich auseinandergenommen und selbst wieder zusammengenäht hatte. Jenny fand sie hässlich, aber auf einmal war es mir egal, was sie dachte.

»Schokolade«, sagte ich, und schon allein das Wort fühlte sich an, als würde ich mir den Bauch vollschlagen. »Alles mit Schokolade.«

Sie grinste breit. »In dem Laden gibt es die besten Schoko-Milchshakes. Siehst du, ist doch perfekt.« Sie machte eine Pause. »Ich bin übrigens Trixie.«

»Ich bin …«

»Fiona, stimmts? Ich hab dich schon mal gesehen.«

Ich unterdrückte ein Lächeln. Sie hatte mich bemerkt, und das gab mir das Gefühl, irgendwie wichtig zu sein. Vielleicht weil es sonst niemand tat.

»Ja. Ich bin Fiona.«

An dem Tag war ich Trixies Retterin in der Not, und ich habe es ihr nie gesagt, aber sie war auch meine.

6

Bei der Schule angekommen muss ich mich zwingen, aus dem Auto zu steigen und über den Parkplatz und durch die roten Türen der Robson High zu gehen. Ich halte den Blick gesenkt, denn das ist das Sicherste. Mit gesenktem Blick kann ich so tun, als wäre er nicht hier, mit schlagendem Herzen. Und ich kann so tun, als wäre sie hier und als würde auch ihr Herz noch schlagen.

Ich renne in ein paar mir entgegenkommende Leute hinein. Sie brummeln: Pass doch auf und Geh mir aus dem Weg und dann Oh, das ist die, deren Freundin gestorben ist. Denn so werde ich an der Robson High in Erinnerung bleiben. Als die mit der toten besten Freundin.

Beau ist hinter jeder Ecke, hinter jeder offenen Spindtür, vor jedem Kursraum. Er ist überall und nirgends. Und dann steht er auf einmal ohne Vorwarnung direkt vor mir.

Ich erwarte gar nicht, dass er irgendetwas sagt. Er guckt mich an wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Ich gucke genauso, und meine Gedanken sind auf einmal voller Dinge, die nie passiert sind: verwelkender weißer Rosen und Glasscherben und kalter Fliesen und herausrutschender Geständnisse, die sofort wieder eingesogen werden.

»Hey«, sagt er. »Tut mir leid.«

Ich bin ganz benommen, viel zu benommen, um irgendetwas zu sagen. Was soll das heißen: Tut mir leid? Was soll das heißen, wenn es von Beau Hunter kommt? Wie oft hat er diese Worte in seinem Leben schon gesagt, und zu wie vielen Leuten?

Die Wut kocht so schnell in mir hoch, dass es mich überrascht, ich würde ihm am liebsten ins Gesicht schlagen, ihn bluten sehen. Aber das tue ich nicht, weil seine Stimme so brüchig klingt und er immer noch derselbe Beau ist, der aus der Bibliothek Gedichtbände auslieh und in großen Gruppen schüchtern wurde, derselbe Beau, der mir in Südkalifornien Schnee gebracht hat, der mich auf dem Fahrrad mitnahm, als noch niemand von uns Auto fahren konnte, derselbe Beau, der mir beim Mittagessen seinen Kakao gab. Ich will diesen Beau nicht verletzen, denn er würde auch mich nicht verletzen.

»Ich weiß, wie das ist, wenn jemand einfach verschwindet.« Dann räuspert er sich, steckt die Hände in die Hosentaschen, dreht sich um und geht, ganz gekrümmt, als versuche er, sich zusammenzufalten. Ich warte, ob er sich noch einmal umsieht, und die Tatsache, dass er es tut – wenn auch nur eine Sekunde lang, und dabei bedecken seine Haare fast sein ganzes Gesicht –, ist Beweis genug, dass ich ihn immer noch kenne, zumindest ein bisschen.

Ich spüre den Druck hinter meinen Augen und zähle von zehn runter, sage mir, dass ich nicht weinen werde, nicht hier, mitten auf dem Gang, wie eine bemitleidenswerte Verliererin.

Als ich ihn das nächste Mal sehe, hält er Jenny gerade die Tür auf, ganz der Gentleman. Ich frage mich, ob er sie nach der Schule nach Hause begleitet und sie später zusammen ausgehen oder, schlimmer noch, zu zweit zu Hause bleiben. Ich hatte gedacht, ich könnte damit klarkommen, aber gerade fühlt es sich an, als würde ich jeden Moment zusammenbrechen.

Bevor er Jenny in den Kursraum folgt, blickt er sich noch mal um, sieht mich aber nicht. Oder er tut einfach nur sehr überzeugend so als ob.

Darin ist er inzwischen ziemlich gut.

7

Am Abend von Alisons Party war ich ganz schön sauer auf dich. Ich war sauer, weil sich zwischen uns so vieles verändert hatte. Du hattest mich angelogen, und ich wollte dir tausend Fragen stellen warum.

Warum sie ihren Job im Restaurant wirklich hingeschmissen hatte und warum sie glaubte, es mir nicht erzählen zu können. Warum sie Jasper ständig Nachrichten schrieb, obwohl sie behauptete, sie hätten bloß eine »Freundschaft plus«.

Ich war sauer auf sie, hing aber immer noch an ihr wie ein erbärmliches Stück Frischhaltefolie. Ich benutzte sie als Schutzschild, lief ihr hinterher wie ein Schatten, in der Hoffnung, sie würde mir die Macht geben, unsichtbar zu bleiben.

»Was willst du trinken?«, fragte sie. »Ich hole dir was.«

»Hauptsache, was mit Alkohol«, sagte ich. Es war mir egal. Ich wollte einfach nur meinem Körper entfliehen. Sobald Trixie in der Menge verschwunden war, fingen die Blicke und das Flüstern an. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, doch so fühlte es sich nicht an. Ich versuchte, ihre Lippen zu lesen, stellte mir vor, was sie sagten.

Oh Gott, sie ist so fett.

Wie kann sie sich so gehen lassen?

Wie kann man so wenig auf sich achten?

Unruhig sah ich mich um. Ich wurde noch wütender auf Trixie, weil sie mich überredet hatte, das rote Kleid anzuziehen. Ich musste aussehen wie eine Wurst. Trixie hatte mein Outfit ausgesucht und mich hierhergeschleppt und mir diesen Albtraum beschert. Es war, als wüsste sie, dass ich mit ihr reden wollte, und würde mir und meinen unbequemen Fragen deswegen permanent ausweichen und mit mir an Orte gehen, an denen wir nicht allein waren. Sie stieß mich weg und zog mich wieder zurück, wie in einer Welle gefangenes Seegras.

Das Badezimmer war die Treppe rauf, die erste Tür auf der linken Seite. Ich lief hoch. Keuchend kam ich oben an und ging rein.

Ich hätte anklopfen sollen.

Jenny saß auf der Waschtischplatte und hatte die Beine um Beaus Taille geschlungen. Sie riss die Augen auf, und ihr Gesichtsausdruck wechselte von schockiert zu verärgert und zurück zu schockiert. Dann machte ich den Fehler, über den Spiegel Beau in die Augen zu blicken.

Und darin sah ich das Eine, was mich zerstören konnte: Sanftheit. Er steckte immer noch da drin, der alte Beau, der, in den ich mich verliebt hatte, der auf einer Party nach dem ruhigsten Zimmer suchte, weil er den Lärm nicht ertrug.

Ich drehte mich um und rannte wieder runter. Ich hasste Trixie. Es war leicht, ihr für alles die Schuld zu geben. Denn wäre sie an jenem Tag nicht in mein Auto gesprungen, hätte ich schreiend aufs Lenkrad eingeprügelt und wäre zurück zum Cheerleader-Training gegangen und hätte mein altes Leben weitergelebt. Vielleicht wäre das eben im Badezimmer ich gewesen, mit meinen Beinen in einer Skinny Jeans um Beau Hunter geschlungen. Ich wäre zu Alisons Party eingeladen gewesen, statt einfach so aufzutauchen. Vielleicht war auf Trixie zu hören, als sie sagte, ich solle losfahren, der größte Fehler meines Lebens gewesen.

Doch als ich unten ankam, wartete sie mit zwei Plastikbechern auf mich. Sie hielt mir einen hin und sagte, ich solle trinken, dann prostete sie mir mit ihrem zu. »Cheers«, sagte sie.

Mein Drink war so stark, dass ich husten musste.

»Hey, stimmt was nicht? Du wirkst irgendwie aufgebracht.«

»Alles okay.« Ich nahm noch einen Schluck. »Wirklich.«

»Okay«, sagte sie und zog das Wort in die Länge. »Du weißt, dass du mich nicht anlügen musst, oder?«

»Ich weiß. Es ist alles okay.«

Als ich beim dritten Drink angelangt war, schmeckte ich den Alkohol kaum noch. In meinem Kopf drehte sich alles, aber auf sehr angenehme Weise. Ich fühlte mich leicht, lässig, unkompliziert.

Trixie war die ganze Zeit neben mir und trank genauso viel wie ich.

Wenn ich allerdings so darüber nachdenke, machte sie überhaupt keinen betrunkenen Eindruck.

8

Das Schlimmste daran, das letzte Schuljahr ohne beste Freundin zu beginnen, ist gar nicht, sich allein zu fühlen. Ich war darauf vorbereitet gewesen, Trixie in diesem Jahr nicht mehr auf den Gängen zu begegnen, aber das war in einer Welt, wo ich sie nach der Schule hätte sehen und ihr erzählen können, wie schrecklich es ohne sie war. Doch die tatsächliche, neue Welt besteht nur aus Phantomschmerzen. Ich habe die ganze Zeit das krankhafte Gefühl, dass sie immer noch da ist, dass sie jeden Moment hinter einer offenen Spindtür hervorspringen und mich fragen könnte, was ich von ihrem lilafarbenen Lippenstift halte, und dann würde ich sagen, dass er toll aussieht an ihr, weil es so ist, denn sie kann alles tragen, was ich mich nie trauen würde.

Ich sehe den Leuten zu, die einfach weitermachen wie zuvor, Leute, die sie nicht kannten und bloß in den Nachrichten von ihr gelesen haben, erst von einem vermissten Mädchen – denn das war sie, achtundvierzig Stunden lang – und dann von ihrem Selbstmord, und daraufhin von ihren Eltern einen Vortrag zu hören bekamen, dass sie immer offen und ehrlich mit ihnen sein könnten. Ich teile die Gänge mit Leuten, die niemals infrage stellen werden, dass Trixie Heller ins Meer gegangen und ertrunken ist, weil Trixie Heller Luft für sie war, ein Mädchen, das kaum lächelte und sich stets abseitshielt. Trixie Heller war ein abschreckendes Beispiel, eine Tragödie. Bis die Leute studieren, werden sie Trixie komplett vergessen haben, weil andere Tragödien wie ein misslungener Haarschnitt oder eine Trennung sich darübergelegt haben. Ich würde sie gern an den Schultern packen, ihnen auf den Rücken springen und ihnen erzählen, wer Trixie war. Dass ihr oft der Schalk im Nacken saß. Und manchmal auch der Teufel. Dass sie einen tollen Klamottengeschmack hatte. Dass das hässliche JERSEY GIRL-Shirt, das sie ordentlich gefaltet auf ihren Flip-Flops am Strand zurückgelassen hat, überhaupt nicht sie gewesen ist. Dass die Tatsache, dass sie es an dem Abend trotzdem getragen hat, sich anfühlt wie eine Botschaft.

Der Spind, den wir uns letztes Jahr geteilt haben, ist jetzt meiner. Weil die Schule das von allen verlangt, haben wir ihn vor den Sommerferien noch zusammen ausgeräumt. Zum Spaß haben wir ein Foto von uns in einem Magnetrahmen dringelassen. Doch als ich jetzt den Spind öffne, ist nur noch der Rahmen da. Das Foto, eine der wenigen Aufnahmen von uns beiden – Trixies Dad hatte es an ihrem letzten Geburtstag gemacht – ist weg. Irgendwer muss es genommen haben, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, wer und warum.

Ich drehe mich um, denn ich habe das Gefühl, beobachtet zu werden, und tatsächlich. Neben der Tür zum Kunstraum lauert Jasper – okay, eigentlich steht er einfach nur da, aber alles an Jaspers Haltung ist unheimlich. Er hat einen Buckel, als hätten seine Schultern aufgegeben, den Rest seines Körpers zu tragen, und wären einfach zusammengefallen. Außerdem guckt er permanent mürrisch, als hätte er nie mal einen schönen Gedanken. Vielleicht ist es wirklich so. Vielleicht ist sein ganzes bisheriges Leben eine lange Reihe von Enttäuschungen gewesen.

Vielleicht haben wir das gemeinsam.

Ich habe das Gefühl, ich sollte etwas zu ihm sagen, wir sollten versuchen, einen Draht zueinander zu finden. Denn außer mir ist er der Einzige an der Schule, der Trixie tatsächlich kannte – der wusste, dass ihr Lachen seinen Klang verlor, wenn sie etwas wirklich lustig fand, der wusste, dass sie null Geduld hatte für Leute, die langsam gingen oder langsam redeten oder langsam Auto fuhren, obwohl sie immer die Beifahrerin war, weil sie nie ihren Führerschein gemacht hat.

Er ist der einzige andere an dieser Schule, der vielleicht nicht glaubt, dass sie absichtlich ins Meer gegangen ist und sich von der Strömung hat davontragen lassen, weil sie auch dafür keine Geduld gehabt hätte.

Doch als ich den Mund öffne und hoffe, dass die richtigen Worte herauskommen, ist es schon egal. Er ist weg.

9

Du wusstest, dass meine Mom dich nicht mochte, aber es störte dich nicht. Du warst an die Beurteilung durch andere gewöhnt und nahmst sie mit derselben Lässigkeit hin, mit der du deine Kleidung trugst.

Trixie war ganz anders als Jenny, die immer versuchte, sich bei meiner Mom einzuschleimen. Ihr ständig Komplimente machte, wie jung sie doch aussähe, sie nach ihrem Rezept für vegetarische Bolognese fragte und sie einlud, mit uns Filme zu gucken. Hi, Ms Fontaine. Sie sehen mal wieder schön aus heute, Ms Fontaine. So war Trixie überhaupt nicht.

An jenem ersten Tag kam Trixie, nachdem wir Cheeseburger gegessen hatten, mit zu mir nach Hause. Ich lud sie nicht ein – sie stieg einfach wieder zu mir ins Auto, als hätten wir es so vereinbart.

»Können wir da beim Supermarkt kurz halten? Ich will nur ein paar Snacks kaufen. Ich weiß, wir haben gerade erst gegessen, aber ich hab ständig Hunger.« Sie tätschelte ihren flachen Bauch, und bevor sie in den Laden ging, setzte sie ein blaues Basecap auf, eine ziemlich ungeschickte Tarnung. Es war viel zu groß für ihren Kopf, als gehörte es eigentlich einem Jungen.

Als Trixie Mom zum ersten Mal unter die Augen trat, wusste ich sofort, dass sie Mom nicht in den Kram passte. Mom sah auf die große Tüte Kartoffelchips in Trixies Hand und das Lippen-Piercing, und dann blickte sie mich an und fragte, warum ich nicht beim Training war.

»Ist ausgefallen«, sagte ich. Ich war erstaunt, wie leicht mir die Lüge über die Lippen kam. Sie hatte die ganze Zeit darauf gewartet herauszuschlüpfen.

Trixie hat mich nie gefragt, was für ein Training ich eigentlich gehabt hätte. Sie hat mich nie gefragt, warum ich nicht da gewesen war. Und ich fand, sie musste es auch nicht wissen.

»Du siehst aus wie deine Mom«, stellte sie fest, als wir oben in meinem Zimmer im Schneidersitz auf dem Fußboden saßen.

»Kann sein«, sagte ich. »Ich hab keine Ahnung, wie mein Vater aussieht. Er ist abgehauen, bevor ich geboren wurde.«

Ich weiß nicht, warum ich ihr das erzählte. Ich hatte es noch nie irgendwem erzählt. Jenny und Alison haben beide Eltern, die noch zusammen sind, die immer wollen, dass sie zum Abendessen im Kreis der Familie zu Hause sind. Es war mir peinlich, anders zu sein, und ich rechnete damit, dass Trixie mich verurteilte.

»Die Leute können manchmal echt ätzend sein«, sagte sie und blickte an die Zimmerdecke.

»Was ist mit dir? Siehst du deiner Mom oder deinem Dad ähnlich?«

»Keine Ahnung.« Sie schaufelte sich eine Handvoll Chips in den Mund und wischte sich die Hand an den Shorts ab. »Ich bin adoptiert. Meine leibliche Mutter wollte mich nicht.«

Ich kam mir vor wie eine Idiotin, aber vielleicht waren wir gar nicht so verschieden. Wir waren beide von jemandem im Stich gelassen worden.

»Ist das deine Leidenschaft?«, fragte sie, berührte meine Jeans und deutete auf die Nähmaschine in der Ecke. »Du nähst Klamotten?«

Noch nie hatte es jemand so ausgedrückt. Ist das deine Leidenschaft? Aber ich nickte bloß, in der Hoffnung, nicht für langweilig gehalten zu werden. Jenny kapierte es nicht. Sie ging viel lieber in der Mall shoppen, wo alle Sachen gleich aussahen.

»Cool«, sagte Trixie und fuhr mit den Fingern über einen der Flicken. »Vielleicht kannst du mir ja auch mal ne Hose nähen.«

Meine Wangen brannten. Es fühlte sich verdammt nach Stolz an. Ich wollte allein sein mit dem Gefühl und es genießen, bevor es wieder verschwand.

»Hast du einen Freund?«, fragte Trixie.

»Nein«, sagte ich viel zu schnell. Ich dachte an Beau, an den Tag, als wir uns zum ersten Mal begegnet waren, an den Funken, der mich erwischte, als hätte ich einen Finger in die Steckdose gehalten. Unsere Nachrichten und Fahrradfahrten und den Beinah-Kuss am Ende der Zehnten. Ich dachte an Jenny auf dem Gang, wie sie mich nicht richtig angucken wollte. Er hat mich nach einem Date gefragt. Da konnte ich schließlich nicht Nein sagen.

»Gut«, sagte sie. »Freunde werden eh überbewertet. Wenn sich ein Typ erst mal in dich verliebt, ist alles ruiniert.«

Ich hatte keine Ahnung, wovon sie redete, aber sie sah mich auch gar nicht mehr an. Sie blickte mit seltsamem Lächeln auf meine Fotocollage an der Wand. Ich hatte die Collage im Sommer zuvor gemacht, aus Fotos von Jenny und Alison und mir und aus Zeitschriften ausgeschnittenen Buchstaben, aus denen ich Wörter wie Beste Freundinnen und Liebe und Lachen gebildet hatte. Auf einmal war mir alles peinlich. Die Collage, die violetten Wände, mein Himmelbett. Der Stoffhase auf dem Kopfkissen und die Sammel-Barbies in ihren ungeöffneten Schachteln im Bücherregal. Das ganze Zimmer war total babymäßig und kam mir mit Trixie darin viel zu klein vor.

»Dann hast du auch keinen Freund?« Ich musste etwas sagen, damit sie aufhörte, sich umzugucken, aber irgendwie fühlte es sich nach der falschen Frage an.

Sie verdrehte die Augen und seufzte, ein lautes, bebendes Geräusch. »Ich hatte was mit meinem Laborpartner. Aber das ist vorbei.«

Ich griff in die Chipstüte und warf mir ein paar Chips in den Mund. Das Salz brannte auf der Zunge und das Knirschen übertönte den Lärm in meinem Kopf. Dann aß ich noch ein paar. Ich wusste, ich sollte die Chips nicht essen, aber das machte sie nur noch leckerer.

»Dieser Typ, mit dem ich im Bett war, schreibt mir ständig Nachrichten«, sagte sie schließlich, stand auf und lehnte sich ans Fensterbrett. »Deswegen musste ich weg. Ich brauche Abstand. Verstehst du?«

Ich nickte, auch wenn ich nichts verstand. Ich war noch nie mit irgendwem im Bett gewesen.

»Dein Laborpartner?«, fragte ich.

Sie zündete sich eine Zigarette an und pustete den Rauch aus dem Fenster. Mom würde es bestimmt riechen und ich später Ärger bekommen, aber das war mir egal.

»Wir sollten öfter zusammen Mittag essen«, sagte sie. »Ich weiß schon, wo wir nächstes Mal hingehen. Es wird dir gefallen.«

Sie kannte mich kaum, und doch schien sie mich besser zu kennen als alle anderen. Gut genug, um zu wissen, was mir gefallen würde, bevor ich es selbst wusste.

10

In der ersten Stunde gibt es zwei Durchsagen. In der einen geht es um die Cheerleading-Tryouts. In der anderen um Patricia Hellers Gedenkfeier am Freitag. Trixie hasste ihren richtigen Namen: Patricia. Niemand nannte sie so, noch nicht mal ihr Dad.

Meine beiden alten Leben, direkt hintereinander über den knisternden Lautsprecher. Als hätte sich das Universum gegen mich verschworen, um mir den Tag zu ruinieren. Ich bitte Mr Hanson um einen Flurpass und gehe zur Toilette, wo ich mich zusammengekrümmt in einer Kabine auf den Boden hocke.

Wenn es umgekehrt wäre, wenn ich verschwunden wäre, hätte Trixie den Beweis dafür gefunden. Sie wäre meiner Spur gefolgt, hätte die Brotkrumen entdeckt, selbst wenn ich sie weggefegt hätte, denn sie kannte mich besser als alle anderen. Vielleicht hat sie mir eine Spur hinterlassen, und ich kannte sie nur nicht gut genug, ihr zu folgen.

Was sie wohl denken würde, wenn sie wüsste, dass ich an jenem Abend, als sie verschwand, jemandes Spuren verwischt habe? Was sie wohl denken würde, wenn sie wüsste, dass es nicht ihre waren?

Tränen brennen mir in den Augen, und mein Haaransatz ist schweißnass. Ich lehne mich gegen die Wand, stütze den Kopf gegen den Toilettenpapierspender. Ich denke daran, was Mom heute Morgen gesagt hat, als sie mich zum Abschied umarmte: Es ist nie zu spät für einen Neuanfang, Süße.

Ich erinnere mich daran, wie Moms Stimme klang, als sie aus Tokio zurück war und vom Schlafzimmer aus mit Tante Leslie telefonierte, während ich an ihrer Tür lauschte. Vielleicht hatte sie gewollt, dass ich sie höre.

»Sie hängt immer mit dieser Trixie rum«, sagte sie. »Die hat einen schlechten Einfluss auf sie. Die beiden fahren die ganze Zeit nur mit dem Auto in der Gegend rum und essen Junkfood. Und ich glaube, getrunken hat sie auch.«

Ich hielt die Luft an und stellte mir vor, was Tante Leslie am anderen Ende sagte. Hoffentlich etwas zu meiner Verteidigung, aber mir war klar, das Thema Trinken würde sie wegen ihrer eigenen Vergangenheit damit aufhorchen lassen. Dann seufzte Mom schwer. Ich konnte ihr Gesicht vor mir sehen, die Falten, als sie die Stirn runzelte. »Ich mache mir Gedanken. Sie muss andere Freundinnen finden. Sie kann nicht die ganze Zeit nur mit diesem einen Mädchen verbringen.«

Mit klopfendem Herzen war ich davongeschlichen. Mir war richtig schlecht vor Sorge, mir war schlecht und ich war wütend. Sie durfte mich nicht von meiner besten Freundin trennen. Sie durfte mir nicht die eine Person wegnehmen, die mich verstand.

Die Tür zum Vorraum geht auf. Ich schlinge die Arme um die Knie und bleibe still so sitzen.

»Das nennt man Emotional Eating«, höre ich eine Stimme. »Ist meiner Tante passiert, als sie und mein Onkel sich getrennt haben. Früher war sie richtig dünn. Jetzt kommt sie kaum noch ihre Einfahrt runter.«

Ich lege mir eine Hand über den Mund. Die Stimme würde ich überall erkennen. Hoch und dünn, wie ein Windspiel. Alison James, Kapitänin des Cheerleader-Teams, meine ehemalige Freundin. Wenn jemand eine emotionale Esserin ist, dann sie. Als Jenny und ich ihr zum fünfzehnten Geburtstag einen perfekten Schokoladenkuchen gebacken hatten, musste sie weinen.

Sie ist außerdem das Mädchen, das die letzte Party geschmissen hat, auf der Trixie war.

»Nein, das ging schon los, bevor sie dick wurde«, sagt die andere Stimme. Jenny. »Sie hat sich schon letztes Jahr so komisch verhalten. Als wäre sie einer Gehirnwäsche unterzogen worden.«

»Vielleicht waren sie ja verliebt«, flüstert Alison. »Die haben doch praktisch jede Minute zusammen verbracht.«

Ich bohre mir die Fingernägel so fest in die Handflächen, dass sie kleine rote Mondsicheln in der Haut hinterlassen.

»Glaub ich nicht«, sagt Jenny. »Trixie hat doch mit diesem schrägen Typen aus meinem Geografiekurs gevögelt. Jasper. Weißt du noch? Der, von dem ich dir erzählt hab? Die beiden haben zusammen in der letzten Reihe gesessen und er hatte im Unterricht die Hand unter ihrem Rock. Ich schwöre es.«

Das ist gelogen!, will ich schreien. Trixie hat nie Röcke getragen.