Kate Gordon: Girl running, Boy falling

Therese liebt die kleine Stadt auf der Insel am Ende der Welt. Sie liebt Tante Kath, von der sie Tiger genannt wird, ihre Freunde, die sie Resey rufen, und vor allem ihren besten Freund Wally, für den sie nur Champ ist, und der sie endlich, endlich geküsst hat.

Doch dann geschieht das Undenkbare. Der strahlende Wally, die nächste große Football-Hoffnung der Schule, der Junge, der ihr Herz höherschlagen lässt, nimmt sich das Leben und Thereses Welt fällt in sich zusammen. Warum hat Wally das getan? Hätte sie etwas ahnen müssen? Nur langsam gelingt es ihr, mit Hilfe ihrer Freunde dem Leben und der Liebe wieder zu vertrauen.

Wohin soll es gehen?

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Prolog

Der Himmel ist Butter, Gold, ein Traum.

Wir sitzen bei Grandma T auf der Hintertreppe und essen mit klebrigen, glänzenden Fingern warmen Ingwerkuchen. Die Sonne legt sich auf Grandma Ts Hühnerstall zur Ruhe und wir haben Dreck an den nackten Füßen. Unter den Fingernägeln auch, und Matsch ziert Wallys Wangen wie eine Kriegsbemalung.

Ich sage es ihm nicht. Es gefällt mir.

»Ich bin total alle, Champ«, sagt er und streckt die gebräunten Arme über den Kopf.

»Du bist ein Schwächling«, sage ich und er stößt mir mit dem Ellbogen in die Seite.

»Ich bin zu müde für eine schlagfertige Antwort.«

»Ein einfallsloser Schwächling.«

Er knurrt mich an, dann lacht er und Unendlichkeit breitet sich in mir aus. Denn das hier sind wir. Ich und Wally und dreckige Fingernägel und gackernde Hühner und Grandma T, die in der Küche rumpusselt.

Es ist der Himmel und Sommer und Freiheit. Es ist alles.

»Also gut. Schlagfertige Antwort.« Er lässt den Blick über den Himmel schweifen. Dann schaut er wieder zu mir, grinst, räuspert sich. »Wie wär’s hiermit?« Und dann legt er los und zitiert T.S. Eliot – ein Gedicht über die Zeit und Erinnerungen und Erschöpfung und Wandel. »T.S. Eliot, Champ«, sagt er. »Ist das was oder ist das was?«

Und deshalb. Genau deshalb. Wegen seiner braunen Augen und weil er ein Football-Crack ist. Aber auch – und noch mehr – weil er mal eben so T.S. Eliot aus dem Ärmel schütteln kann.

»Na ja«, sage ich, denn unbeeindruckt tun kann ich gut. »Das reißt mich nicht vom Hocker. Er hat seine geisteskranke Frau in eine Irrenanstalt sperren lassen und sie nie besucht.«

»Heftig«, flüstert Wally und seufzt. Einen vollkommenen Augenblick lang sitzen wir schweigend da.

Wally beugt sich vor und pflückt ein Blatt von dem Kaffir-Limetten-Baum, den wir gerade mit Grandma gepflanzt haben. Er hält das Blatt an die Nase und zieht die Luft ein. »Wow«, sagt er. »Hier, riech mal.« Er reicht es mir. »Lass uns ein Curry daraus kochen.«

»Curry kochen kann ich aber nicht so gut«, gebe ich zu. »Ich kann besser backen. Vielleicht könnte ich einen Kaffir-Limetten-Sirup-Kuchen backen oder ein Kaffir-Limetten-Kokos-Dessert?«

Ich nehme das Blatt und halte es mir an die Nase. Es riecht wie dieser Tag, es riecht wie der endlose Himmel.

»Ahhh, Champ«, sagt Wally, als könnte er meine Gedanken lesen. »Hast du schon mal in den Himmel geschaut und gedacht, da gehören wir eigentlich hin? Als wäre die Welt verkehrt herum und wir müssten eigentlich da oben schweben?«

Für so eine abgedrehte Bemerkung würden Peter oder Melody Wally auslachen, wenn sie hier wären. Wenn Peter oder Melody hier wären, hätte Wally das gar nicht gesagt. So redet er nur mit mir. Und ich gebe ihm immer eine ernsthafte Antwort.

Vor anderen Leuten – vor allen anderen – ist Wally der taffe Nick Wallace: der witzige Typ, der Footballspieler, der coolste Junge der Schule.

Bei mir ist er so weich wie dieses Blatt und spricht in Versen. Also bin ich wohl doch ein bisschen besonders, oder?

»Ich bin gern auf der Erde«, gestehe ich. »Ich hab gern festen Boden unter den Füßen. Oben im Himmel hast du nichts, was dich hält. Du hättest kein Zuhause.«

Darauf sagt Wally nichts. Er schaut weg und blinzelt in die Sonne. Ich frage mich, ob ich etwas Dummes gesagt habe. Mal wieder.

»Das kommt daher, dass ich langweilig bin, ich weiß«, sage ich. »Du bist ein Mensch, der fliegen kann, und ich bin einfach nur ich und stecke hier fest, die Füße auf der Erde.«

»Nein«, sagt er und schüttelt den Kopf. »Es ist besser, so wie du zu sein. Du bist wie ein Fels in der Brandung. Du würdest nie davonschweben.«

»Tiger!«, ruft Grandma T. Wally unterdrückt ein Grinsen, wie immer, wenn Grandma T oder Auntie Kath mich so nennen.

Obwohl das mein wahrer Name ist. Der Name, den ich am längsten trage, schon Jahre bevor die Lehrer mich Therese nannten, bevor Wally mich Champ oder irgendwer mich je Resey nannte. Ich habe viele Namen, weil ich vieles bin.

Ich bestehe aus vielen verschiedenen Einzelteilen. So vielen, wie es Blätter im Garten gibt.

Ich bin das Mädchen, das zur Schule geht; das Mädchen, das bei Woolworth arbeitet. Ich bin das Mädchen mit der Hauptrolle im Musical. Ich bin das Mädchen, das die erste Klarinette im Schulorchester spielt. Ich bin das Mädchen, das gern Gedichte liest. Ich bin das Mädchen, das gut backen kann und in der Mensa aushilft. Ich bin der Footballfan; die Freundin, die Nichte.

Ich bin das Mädchen, das Briefe an eine Frau schreibt, die nie antwortet. Ich schicke ihr alle meine Gedanken und Erinnerungen – alle meine Einzelteile.

Und sie schreibt nie zurück.

Irgendwo weit weg nimmt sie die Einzelteile und legt sie zu einem Bild von mir zusammen, das ihrer Vorstellung entspricht. Ich frage mich, ob es mir irgendwie ähnelt.

Ich frage mich, ob sie meine Einzelteile wohl alle total bescheuert findet. Bestimmt schreibt sie deshalb nie zurück.

»Ich komme, Grandma T!«, rufe ich.

Wally steht auf und reicht mir die Hand, ich nehme sie und wir gehen zur Küche, die Finger immer noch ineinander verflochten.

Und ich würde mit ihm in den Himmel steigen. Wirklich.

Doch als wir in die Küche gehen, lässt er meine Hand los und fängt mit Grandma T eine Unterhaltung über Australian Football an. Wenn man es nicht besser wüsste – wenn man nur von außen zuschauen würde –, dann könnte man denken, alles wäre ganz normal.

Nur ein Mädchen und ihr bester Freund und ihre Großmutter und Sandwiches an einem Sommertag.

Man müsste schon sehr genau hinsehen um die Risse zu entdecken.

Hi Dad,

Siehst du, wie ich renne?

Siehst du, wie hoch ich springen kann, um den Ball zu kriegen?

Sieh mal, wie ich nach den Sternen greife.

Wie ich über den Mond springe.

Wenn ich hoch genug springe, lande ich ja vielleicht bei dir.

Erstes Kapitel

»Willst du das etwa essen?«

Peter lümmelt sich auf dem verdorrten Rasen. Seine Ohren sind rot von der späten Wintersonne. »Du holst dir noch einen Sonnenbrand«, sage ich.

»Daran sind bloß meine Haare schuld«, jammert er und klopft sich auf die feuerroten Locken. »Der Fluch der Füchse. Die Haare reflektieren oder so und man sieht immer ein bisschen rötlich aus. Egal. Ich sterbe jedenfalls vor Hunger.«

Er späht auf die zweite Hälfte meines Vegemite-Sandwiches. Ich drücke es zusammen und schiebe es mir ganz in den Mund.

»Du bist ein Vielfraß.«

»Du hattest schon zwei Bratwürste in Blätterteig!«, sage ich mit dem Sandwich im Mund. »Hiervon kriegst du nichts ab!«

»Du bist widerlich, Resey«, stöhnt Peter. »Und gemein.« Er dreht das Gesicht wieder zur Sonne.

In dem Moment lässt sich Melody neben mich plumpsen. »Du hast einen Sonnenbrand«, sagt sie zu Peter.

»Was habt ihr Mädchen bloß alle? Ich werde schon noch braun und dann seh ich aus wie die Typen in Home and Away und alle Football-Groupies liegen mir zu Füßen.«

Melody sieht ihn missbilligend an. »Wir setzen uns demnächst mal zusammen, Peter, und unterhalten uns über deine Fixierung auf die Football-Groupies aus der Neunten. Bestimmt hätte Freud einiges dazu zu sagen. Schlag einen Termin vor, okay?« Peter schüttelt den Kopf und macht die Augen wieder zu. Melody kramt in ihrem Rucksack, holt ein in Alufolie gewickeltes Päckchen heraus und reicht es mir. »Von meiner Mutter.«

Dankbar nehme ich es. Mrs Kwong ist die beste Köchin der Stadt.

»Sie hat Sorge, dass du bald nur noch ein Strich in der Landschaft bist.«

»Haha«, sage ich. »Das träumt sie aber nur – es sei denn, chinesische Striche sind sehr viel runder als australische.«

Melody seufzt. »Meine Mutter zeigt ihre Liebe mit Essen. Das ist pathologisch.«

»Und du siehst trotzdem aus wie ein Supermodel.« Das ist nicht übertrieben. Meine beste Freundin ist schlank wie ein Windhund und ihre Beine sind endlos lang. Melody Kwong ist der Traum aller Jungs. Pech nur, dass sie nicht auf Jungs steht. Und die Mädchen, die auf Mädchen stehen, trauen sich nicht, es bei ihr zu versuchen, weil sie so überirdisch schön ist und sie Angst haben, dass Melody ihnen ihr zartes Herz bricht.

Melody kümmert das sowieso nicht. Sie will sich nicht verlieben. Sie hält Leute, die sich verlieben, für psychisch gestört. Sie glaubt auch nicht an Seelenverwandtschaft oder Monogamie, und trotzdem ist sie meine Seelenschwester, seit wir uns das erste Mal begegnet sind.

Melody und ich sind schon seit der ersten Klasse beste Freundinnen. An unserem ersten Schultag ließ sie sich auf einen Baumstamm plumpsen, auf dem ich allein und verängstigt saß. »Melody Kwong«, sagte sie und reichte mir die Hand. »Du siehst deprimiert aus. Aber keine Sorge. Wenn ich groß bin, werde ich Psychologin. Ich krieg dich schon wieder hin.«

Und nach der Schule nahm sie mich mit zu sich nach Hause und stellte mich ihrer Mutter vor, die wie ein Rockstar angezogen war und in der Küche zu Hip-Hop tanzte, während sie Cupcakes backte. Melody stellte mich vor als »meine neue beste Freundin Resey Geeves. Sie hat Probleme. Aber keine Sorge. Ich bin dran.«

Ihre Mutter sagte: »Du kannst mich Lexi nennen« und dann: »Du bist zu dünn, Resey Geeves.« Und sie gab mir den ersten Baozi meines Lebens. Ich erzählte ihr, dass meine Tante gern Ofenpommes und Cornflakes macht und dass es bei uns manchmal Tee und Käse-Mais-Chips statt Abendessen gibt. Als Auntie Kath mich abholte, nahm Lexi sie beiseite, schaute ihr tief in die Augen und sagte: »Meine Liebe, du musst unbedingt kochen lernen.«

Zehn Jahre später übt Auntie Kath immer noch.

Ich beiße in den Baozi mit Schweinefleischfüllung. Tausend göttliche Geschmackspartikel explodieren in meinem Mund. Keiner weiß genau, womit Lexi ihre Baozi füllt. Sie verrät es niemandem, nicht mal ihrer Tochter.

Melody hebt eine welke Löwenzahnblume auf und reibt sie Peter über die Nase. »Wo ist Wally?«, fragt sie.

»Football«, sagt Peter, hebt eine Schulter und lässt sie träge wieder sinken. Er schnappt sich die Blume und dreht sie langsam zwischen den Fingern. »Wo ich auch sein sollte. Die Mannschaft weiß nicht, was sie verpasst.« Dabei wissen wir alle, dass Peter miserabel Football spielt. Aber er versucht jedes Jahr wieder in die Mannschaft aufgenommen zu werden. Er ist wild entschlossen, es eines Tages zu schaffen.

»Du solltest dir das mit dem Football aus dem Kopf schlagen, Peetles«, sagt Melody gedehnt. »Such dir ein neues Hobby. Hey! Du könntest doch stattdessen zum Ballett gehen. In einem kleinen Tutu würdest du so süß aussehen.« Sie kitzelt Peter an den Rippen.

Anstatt sie auf den Bizeps zu boxen, was ich erwartet hätte, sieht er sie ernst an. »Gegen Jungs, die Kleider tragen, ist nichts einzuwenden.«

»Ich bin die Letzte, die das behaupten würde.« Melody verschränkt die Arme.

»Gut. Das höre ich gern.« Peters Miene wird nachdenklich. »Hey … Viele Mädchen machen Ballett, oder? Jungs kaum. Vielleicht sollte ich mir eine Strumpfhose besorgen …«

Na, das ist doch der Peter, den wir kennen und lieben (mal abgesehen von dem Pseudo-Machogehabe, das wir ihm natürlich nie durchgehen lassen).

»Im Ernst, Peter.« Melody sieht ihn mit ihrem Therapeutinnenblick an, die Fingerspitzen aneinandergelegt. »Wir müssen reden.«

»Klar.« Peter seufzt. »Ich freu mich schon darauf.«

»Was tätest du nur ohne mich?«, fragt Melody, schüttelt den Kopf und streckt die langen Beine in die Sonne, die offenbar nur für sie scheint. »Ihr seid beide völlig verkorkst. Peter mit seinem sexistischen Getue – das, wie wir alle wissen, eine völlig fehlgeleitete Selbstschutzmaßnahme ist. Und du mit …« Sie grinst mich hinterlistig an. Meine Wangen brennen. Ich feuere einen Wehe-du-erwähnst-seinen-Namen-Blick auf sie ab. Peter weiß nichts von meinen Gefühlen für Wally. Weil er ein ahnungsloser Junge ist. Was normalerweise nervt, aber in diesem Fall sehr praktisch ist. Ich will nicht, dass er es weiß. Es wäre ihm total unangenehm und das Ganze ist so schon unangenehm genug.

»Also«, sagt Melody zuckersüß. »Wie geht es unseren geliebten Hawks, Peter?«

Die Erlösung naht und schwebt durch die Luft wie ein rosa Schweinchen mit Flügeln.

»Die Hawks sind wieder auf der richtigen Spur«, sagt Peter. »Das North-Hobart-Spiel am letzten Wochenende war bloß ein Aussetzer. Es war auswärts und das Wetter war mies.«

»Ich erinnere mich«, grummelt Melody. »Ich war nass bis auf die Unterwäsche.« Sie wendet sich zu mir. »Warum begleite ich dich eigentlich schon wieder? Ich mag Football nicht mal.«

»Wär’s dir lieber, wir würden stattdessen zu den Spielen der Damen gehen?«, frage ich und funkele sie an.

Melody verdreht die Augen. »Das wär schon besser. Da gäbe es wenigstens was zu gucken.«

»Au ja«, sagt Peter und grinst. »Lauter Mädels in scharfen Footballtrikots.«

Melody kreuzt ihre sagenhaften Beine zum Schneidersitz und umfasst die Knie mit ihren schlanken Händen. Sie beugt sich vor. »Weißt du, Peter, dass du im Subtext immer wieder auf mein Aussehen zu sprechen kommst, ist eindeutig ein Zeichen dafür, dass du krankhaft auf mich fixiert bist. Und da du mich nie haben kannst, liegt die einzige Erklärung in einer tief verwurzelten Bindungsangst. Sag mal, haben deine Eltern dich als Baby schreien lassen?«

»Hä?« Peter guckt mich verwirrt an. Ich zucke die Achseln. Ich habe auch keine Ahnung, wovon sie redet.

»Bist du gestillt worden?«, fragt Melody weiter.

»Igitt!« Peter schüttelt den Kopf und stöpselt sich Kopfhörer in die Ohren. »Mädchen sind echt bescheuert«, murmelt er, bevor er sich seiner Lieblingsmusiksendung im Radio zuwendet.

Melody dreht sich wieder zu mir um und lächelt zufrieden. Sie weiß, dass sie gewonnen hat, und Melody gewinnt gern. Vor allem gegen Peter. »Wovon sprachen wir gerade? Ach ja, von Footballmädchen. Nein danke. Jedes Mädchen, das diesen Neandertaler-Sport ernsthaft gut findet – sorry, Resey, aber du weißt, das ist echt nicht mein Ding. Tanzen dagegen … Ich schau mir öfter mal Tanz-Dokus auf YouTube an und … oh, Resey, du könntest mich jeden Tag in der Woche zu einer Jazztanz-Aufführung mitschleppen und ich wäre selig. Klingt das, als ob ich pervers wäre? So wie Peter?« Sie streckt die Hände aus und wackelt damit. »Ich hab nur festgestellt, dass ich total auf Jazz-Hände stehe.«

Ich versuche zu lachen, aber es klingt verkehrt.

Melody lässt die Hände sinken und seufzt. »Resey, was ist mit dir? Es geht um Wallace, oder? Immer geht es nur um den verdammten Wallace.«

Natürlich geht es um Wallace. Das wird immer so sein.

»Ich hab gesehen, wie er nach dem Spiel zu dir gekommen ist«, sagt Melody.

Bei der Erinnerung werde ich rot. Wally kommt nach dem Spiel immer direkt zu mir. Mit mir will er immer als Erstes reden.

»Er steht auf deinen Kuchen«, zischt Melody. »Ich sag es echt ungern, Resey, aber er ist nur hinter deinen süßen Brötchen her. Und das ist keine Metapher.«

Sie legt sich in die Sonne. Noch lauter verkündet sie: »Außerdem kommen die Scouts jetzt bald zu den Spielen, dann picken sie Wally heraus und nehmen ihn mit aufs australische Festland und er ist für immer weg.«

Peter hat seine Kopfhörer aus den Ohren genommen.

»Todsicher«, sagt er und starrt in die Wolken. »Manche Leute sind einfach Glückspilze, stimmt’s, Resey?«

Zweites Kapitel

Melody und Peter zanken sich, wie üblich. Peter soll laut Melody endlich aufhören so ein Riesenarsch zu sein, weil manche Leute ihm tatsächlich glauben und man es seit der #MeToo-Bewegung nicht mal mehr im Spaß bringen kann sich aufzuführen wie ein geiler Bock. Und Melody soll laut Peter endlich aufhören alle Leute ummodeln zu wollen, weil nicht jeder in einer feministischen Echokammer leben will. Also alles wie immer an unserem Mittagstisch. Ich versuche die beiden auszublenden. Ich hab das neue Buch von Rainbow Rowell – ein Geschenk von Auntie Kath – und möchte schnell noch ein paar Absätze lesen, bevor es zur nächsten Stunde klingelt.

Doch wie üblich lässt Melody mich nicht. Sie will mit mir reden.

»Bestimmt wäre Resey auch Feministin«, sagt sie. »Wenn sie Zeit hätte.« Sie sieht mich vielsagend an.

»Ich weiß«, murmele ich, ehe sie es aussprechen kann. »Ich mache zu viel.«

»Das ist nicht gesund«, sagt Melody, nimmt eine Strähne ihrer langen dunklen Haare und flicht sie locker. »Du bist jung, Resey. Da musst du eine Gefahr für die Gesellschaft sein. Du musst Spaß haben und ein Riesenchaos veranstalten, bevor du dir ein Kostüm anziehst und eine PowerPoint-Präsentation machst. Hör auf so erwachsen zu tun, Resey. Hör auf jede Sekunde deines Lebens zu verplanen. Das ist schädlich für deine Entwicklung. Versetz die Leute in Angst und Schrecken! So macht man das als Teenager.« Melody zieht ein Gummiband vom Handgelenk und bindet sich die Haare zusammen. Sie schaut mich mit hochgezogener Augenbraue an. »Wie sollen wir sonst die Welt retten?

»Bist du mit deinem Monolog fertig?«, frage ich und gucke demonstrativ wieder in mein Buch.

»Absolut nicht«, sagt Melody. »Ich könnte noch ewig über die psychologischen Auswirkungen deines durchgetakteten Lebens reden. Wo soll ich anfangen?«

Ich seufze. Ich will mir nicht schon wieder anhören, dass meine außerschulischen Aktivitäten nur eine »Vermeidungsstrategie« sind. Das ist noch so eine von Melodys Theorien. Sie denkt, dass ich mir den Alltag vollpacke, damit ich nicht an die »schlimmen Sachen« denken muss. Womit sie meine Eltern meint.

»Ich meine, wann bist du das letzte Mal nach der Schule mit uns ins Shoppingcenter gekommen?«

»Ich hab …«

»Viel zu tun«, vollendet Melody meinen Satz und ich kann ihr nicht widersprechen, denn genau das wollte ich sagen. Und fühle mich mies dabei. Ich bin eine schlechte Freundin.

Ich bin zu vieles, zu viele verschiedene Einzelteile, und das Freundinnen-Teil ist kaputtgegangen.

»Heute komme ich mit«, sage ich kleinlaut. »Nach der Schule ist Orchesterprobe, aber die kann ich ausfallen lassen. Sie proben die Stücke aus dem Musical erst mal ohne den Chor, also muss ich da nicht hin. Ich wollte nur den Siebt- und Achtklässlern helfen.«

»Scheiße, du bist echt Mary Poppins.« Melody stöhnt.

»Halt die Klappe. Ich hab doch gesagt, ich komme mit.«

»Sehr cool.« Sie grinst. »Ich sag Roz Bescheid. Und dann machen wir die Geschäfte unsicher.«

Wie auf ein Zeichen taucht in der Ferne der kastanienbraune Schopf von Roz auf, unserer anderen besten Freundin.

Und an ihrer Seite ist Wally.

Mein Magen schlägt Purzelbäume, mit Baozi, Vegemite-Sandwich und allem.

Seine Locken sind nass vom Duschen und das Hemd seiner Schuluniform ist oben auch nass. Er sieht erledigt aus. Hätte ich doch die Hälfte von meinem Baozi für ihn aufbewahrt.

Hätte ich doch irgendwas für ihn. Ich hätte die süßen Brötchen mitbringen können, die ich gestern Abend gebacken habe. Melody hat natürlich recht. Wally liebt meine süßen Brötchen.

Roz ist als Erste bei uns. Sie hüpft und springt und lässt sich dann vor Melody auf den Boden fallen. »Du bist spät dran«, sagt Melody.

»Ich hatte eine Doppelstunde Chemie.« Roz kann man tatsächlich mit Extraunterricht in Naturwissenschaften glücklich machen. »Ich bin so nah dran am Durchbruch. Das bringt mich um. Ich krieg die Temperatur einfach nicht richtig hin. Aber ich schaff das, und wenn es mich umbringt.«

»Ich dachte, es bringt dich jetzt schon um«, sagt Melody.

»Was?« Roz kräuselt die sommersprossige Nase.

»Du bist immer noch in Chemie-kalien, was?« Melody seufzt.

»Ich bin immer noch in Chemie-kalien«, gibt Roz zu und grinst. »Ooh!«, ruft sie dann. »Oobleck!« Sie fasst in ihre Schultasche und holt ein Heft mit Albert Einstein auf dem Umschlag heraus.

»Hä?«, sagt Melody. Als Roz nicht antwortet, gibt sie auf. »Wallace, Alter!«, ruft sie. »Hast du Kaugummi unter den Sohlen? Gib mal Gas!«

Wally setzt sich neben mich. »Reg dich ab, Kwong«, sagt er und wirft ihr einen zerknüllten Zettel an den Kopf. »Ich denke sehr tiefsinnige Gedanken.«

»Du bist unterzuckert«, sagt Melody. »Ganz eindeutig.«

»Ich hab heute leider nichts für dich dabei, Wally«, sage ich.

Wally lacht und schlingt mir einen Arm um die Schulter. »Du weißt doch, dass es immer eine Freude ist, dich zu sehen, Resey. Aber deine Kochkunst ist schon, hm, der Sinn des Lebens.«

Melody macht schmale Augen. Ich beachte sie nicht. »Du bist bescheuert, Wally«, sage ich.

»Ist das dein Ernst?«, sagt er. »Dass du nichts dabeihast? Nicht mal einen Keks?«

Ich zucke entschuldigend die Achseln.

»FML«, stöhnt er.

»Du weißt schon, dass das kein Mensch laut sagt, oder?«, sage ich.

»Was täte ich bloß, wenn du mich nicht immer wieder davor bewahren würdest, mich wie ein Vollidiot zu benehmen?«

»Du … würdest dich wie ein Vollidiot benehmen?«

»Stimmt!«, sagt er. »Stimmt leider absolut.«

Später, als wir wieder in den Unterricht gehen, beugt Melody sich zu mir und fragt: »Willst du darüber reden?«

Ich schüttele den Kopf. »Nein danke, Mel.«

Ich will nicht darüber reden. Was hätte ich davon? Kein Gespräch der Welt könnte etwas daran ändern, dass die Situation unbestreitbar scheiße ist.

Denn ich will nichts lieber als ihn küssen und er hat keine Ahnung. Er wird es nie erfahren. Denn wenn Nick Wallace wüsste, dass ich ihn liebe, würde ich meinen besten Freund verlieren.

Lieber Dad,

Ich versuche immer wieder …

Ich will nur sagen …

Du musst wissen …

Verdammt, warum kann ich nicht mit dir reden?

Ich muss einfach mit dir reden.

Ich brauche einfach jemanden, der mir zuhört.

Mich hört.

Hör mich.

Drittes Kapitel

Meine Mutter ist hier geboren – in dieser Stadt, in diesem Haus, auf dieser kleinen Insel unter der großen.

Meine Großeltern hatten das nicht so geplant. Grandma T ist kein Hippie, obwohl sie einige Zeit in einem Aschram in Marrakesch gelebt hat. Sie ist Biologin, Atheistin, Pragmatikerin. Nach Marrakesch ist sie zur Recherche für ihre Abschlussarbeit gereist.

Die Mantras waren für sie Geseier und bei der Meditation ist sie eingeschlafen.

Grandma T hatte sich beim Krankenhaus auf dem Hügel angemeldet. Die Ärzte dachten, sie müssten vielleicht einen Kaiserschnitt machen, weil meine Mutter verkehrt herum lag.

»Immer in die falsche Richtung unterwegs«, sagt Grandma T über meine Mutter. »Aber sie hat sich nie was sagen lassen. Niemand konnte das Mädchen überreden, dahin zu gehen, wohin sie sollte. Lief immer weiter, weiter, weiter auf dem Weg, den sie sich in den Kopf gesetzt hatte.«

Sie hatten gehofft, dass meine Mutter sich noch umdrehen würde. Bei allem Vertrauen in die Medizin wusste Grandma T, dass mit einem Kaiserschnitt nicht zu spaßen war. Bei einer spontanen Geburt tut es vielleicht eine ganze Weile höllisch weh, aber dann wird die Erinnerung an den Schmerz von herrlichen Hormonen fortgespült. Die Hormone helfen dabei, dass die Milch einschießt, und das Baby kommt raus und will sie trinken.

Bei einem Kaiserschnitt hat man zuerst nicht so schlimme Schmerzen, weil man betäubt ist. Aber dafür tut es hinterher weh, und zwar länger. Die Hormone bleiben aus, also kommt die Milch auch nicht so leicht. Und man ist schwach, so schwach und wund, dass man das Baby nicht halten kann, manchmal einen Monat oder noch länger.

Grandma T wollte unbedingt, dass ihr Baby sich umdreht.

Als meine Mutter beschloss, dass sie auf die Welt kommen wollte, bereitete Grandma T gerade ein Relish zu.

Grandma T kann wahnsinnig leckeres Relish machen – das ist der einzige Vorteil daran, dass sie »alt und im Krieg geboren« ist. Sie macht auch wahnsinnig leckeren Biskuit- und Ingwerkuchen, aber sie macht ihn heimlich und isst das meiste selbst. Nur mir gibt sie manchmal ein Stück ab, weil sie weiß, dass ich ihre Kuchenliebe geerbt habe. Als ich fünf war, musste ich ihr hoch und heilig schwören, keiner Menschenseele zu verraten, dass sie eine verkappte Nigella Lawson ist.

Wally darf bei ihr so viel Kuchen essen, wie er will, denn für sie ist er ein Prinz. Weil er ihr mit den Pferden hilft und Doctor Who mit ihr guckt und über ihre Witze lacht und ihr sagt, sie sei »cool«.

Sie ist ja auch cool. Jedenfalls ist sie keine gewöhnliche Großmutter.

Und sie macht das allerbeste Relish.

Das machte sie auch an dem Tag, als ihr Baby beschloss sich umzudrehen und auf die Welt zu kommen.

»Da ist das Mädchen einmal in die richtige Richtung unterwegs«, sagt Grandma T, »und genau zum falschen Zeitpunkt.«

Auntie Kath weiß noch, wie die Glasschüssel auf die Fliesen knallte, Tomaten die Küche rot färbten und der Holzlöffel hinterherklapperte. Sie erinnert sich an das Gebrüll, »wie eine von den Kühen auf Bobs Weide gegenüber«.

Sie weiß noch, wie Grandma T schrie: »Hol deinen Vater, Kathlynn. Jetzt sofort, verdammte Scheiße.«

Sie erinnert sich an das Wasser überall auf den Fliesen und dass sie dachte, es käme aus dem Topf auf dem Herd, bis sie sah, dass auch Grandmas Hinterteil nass war.

»Kommt sie?«, fragte sie.

Grandma T nickte. »Sie ist unterwegs. Jetzt hol schon deinen Vater.«

Granda Craig war unten am Damm. Er trug seinen Hut mit der breiten Krempe und Gummistiefel und suchte nach »irgendwas, was verstopft oder überflutet war« – das weiß Auntie Kath nicht mehr und Granda Craig auch nicht.

Sie erinnern sich nur noch an den Moment, als Auntie Kath sagte: »Mum ist überall nass und sie brüllt wie eine Kuh.«

Granda Craig hob Kathlynn, die barfuß gekommen war, hoch und rannte mit ihr durch den Matsch und an den tänzelnden Pferden vorbei zurück ins Haus, in dem es nach Tomaten roch.

Und da hörten sie es. Ein neues Brüllen. Das klang nicht mehr wie eine Kuh – eher wie ein extrem schlecht gelaunter Austernfischer.

Mum war schon da.

»Ist geschlüpft wie ein Vogeljunges«, sagte Grandma T, und dann fiel sie in Ohnmacht.

Der Krankenwagen kam und brachte Grandma T und ihr Baby ins Krankenhaus. Mum kam in ein spezielles Bettchen mit spezieller Luft und sie führten ihr einen Schlauch in den Bauch ein, weil sie noch nicht richtig trinken konnte.

Als Grandma T zu ihrem Baby gebracht wurde, sagte sie zu Granda Craig, dass Mum den Namen einer Pflanze bekommen solle, »weil du unten auf der Wiese warst, als sie kam«.

Sie hieß Laurel, Lorbeer. Aber alle nannten sie Birdie.

Auntie Kath sagt, sie habe da schon gewusst, dass meine Mutter die Wilde sein würde – das Luftwesen –, während ihr die Rolle derjenigen zufiel, die auf dem Boden blieb.

Als ich klein war, sagte ich immer zu ihr: »Ich will nie so ein Luftwesen sein wie sie. Ich will bei dir auf dem Boden bleiben.«