Hanna Mayer

Pflegeforschung kennenlernen

Elemente und Basiswissen

7., überarbeitete Auflage

Inhalt

Vorwort

Hinweise zum Gebrauch des Buches

1Wissen, Wissenschaft und Forschung

1.1Wissensquellen

1.1.1Unstrukturierte Wissensquellen

1.1.2Strukturierte Wissensquellen

1.2Wissenschaft und Forschung

1.2.1Wissenschaft

1.2.2Wissenschaftliche Forschung

1.3Vertiefung des Lernstoffs

2Pflegewissenschaft und Pflegeforschung

2.1Pflegewissenschaft

2.1.1Definition und Gegenstandsbereich

2.1.2Pflegewissenschaft als Praxiswissenschaft

2.1.3Pflegewissenschaft im bestehenden Wissenschaftssystem

2.1.4Zur Bedeutung der Pflegewissenschaft

2.2Pflegeforschung

2.2.1Definition

2.2.2Geschichte, Gegenwart und Zukunftsperspektiven

2.2.3Ziele der Pflegeforschung

2.2.4Der Gegenstand der Pflegeforschung

2.2.5Die Rolle der Pflegenden in der Forschung

2.2.6Forschung und Pflegepraxis

2.2.7Ethische Aspekte der Pflegeforschung

2.3Vertiefung des Lernstoffs

3Methodische Grundlagen

3.1Forschungsansätze: quantitative und qualitative Forschung

3.1.1Das positivistische oder quantitative Forschungsparadigma

3.1.2Das naturalistische Paradigma oder der qualitative Forschungsansatz

3.1.3Quantitativer und qualitativer Forschungsansatz – eine Gegenüberstellung

3.1.4Gütekriterien quantitativer und qualitativer Forschung

3.1.5Die Bedeutung quantitativer und qualitativer Forschung für die Pflegewissenschaft

3.1.6Vertiefung des Lernstoffs

3.2Forschungsdesigns

3.2.1Experimentelle Designs

3.2.2Nicht experimentelle Designs

3.2.3Die Zeitdimension als Charakteristikum von Forschungsdesigns

3.2.4Aktionsforschung

3.2.5Evaluationsforschung

3.2.6Mixed-Method-Design

3.2.7Vertiefung des Lernstoffs

3.3Methoden der Datenerhebung

3.3.1Die schriftliche Befragung

3.3.2Das Interview (mündliche Befragung)

3.3.3Die Beobachtung

3.3.4Inhalts- und Dokumentenanalyse

3.3.5Vertiefung des Lernstoffs

3.4Methoden der Datenauswertung im Überblick

3.4.1Die Datenanalyse in der quantitativen Forschung

3.4.2Die Datenanalyse in der qualitativen Forschung

3.4.3Vertiefung des Lernstoffs

4Der Forschungsprozess

4.1Theoretische oder konzeptionelle Phase: Erforschbarmachen von Fragestellungen und Bearbeitung der Fachliteratur

4.1.1Forschungsfragen entwickeln

4.1.2Erarbeiten des theoretischen Rahmens

4.1.3Konkretisieren der Forschungsfrage, Aufstellen von Hypothesen

4.2Design-/Planungsphase: das Erstellen eines Untersuchungsplans

4.2.1Festlegung von Untersuchungsdesign, Methode und Vorgangsweise

4.2.2Bestimmung der Stichprobe

4.2.3Berücksichtigung ethischer Belange

4.2.4Formale Belange: Ressourcen und Erlaubnisse

4.3Durchführungsphase: die Datenerhebung

4.4Auswertungsphase: die Datenauswertung

4.4.1Darstellung quantitativer Ergebnisse

4.4.2Darstellung qualitativer Ergebnisse

4.4.3Interpretation und Diskussion der Ergebnisse

4.4.4Schlussfolgerungen

4.5Publikationsphase: die Datenverbreitung

4.5.1Mündliche Präsentationen von Forschungsarbeiten

4.5.2Schriftliche Publikationen

4.6Vertiefung des Lernstoffs

5Forschungsarbeiten finden, lesen und nutzen

5.1Forschungsarbeiten finden (verfasst unter Mitarbeit von Veronika Kleibel)

5.1.1Grundlagen

5.1.2Die Literaturrecherche

5.1.3Vertiefung des Lernstoffes

5.2Forschungsarbeiten lesen

5.3Forschungsergebnisse nutzen

5.3.1Der Prozess der Forschungsanwendung

5.3.2Das PARIHS-Modell

5.3.3Anwendung von Forschungsergebnissen – Grenzen und Möglichkeiten

5.3.4Vertiefung des Lernstoffs

Verzeichnis wichtiger Fachbegriffe

Literaturverzeichnis

Sachregister

Abbildungsverzeichnis

Vorwort

Seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieses Buches im Jahr 1999 ist nicht nur viel Zeit vergangen. War Pflegeforschung damals sowohl in der Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflege als auch in der Pflegepraxis im deutschsprachigen Raum und vor allem in Österreich etwas Neues, etwas Besonderes, so hat sie heute als selbstverständliches Element der professionellen Pflege in beide Bereiche Einzug gehalten.

Gerade in der Ausbildung hat sich viel geändert – die Grundausbildung ist seit 2009 (und spätestens mit der Novellierung des österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegegesetzes) in Österreich, aber auch in Deutschland und in der Schweiz größtenteils an die Fachhochschulen, d. h. in den tertiären Bildungsbereich, überführt worden.

Eine Einführung in den Wissenschaftsbereich und Kenntnisse über die Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens ist selbstverständlicher Bestandteil jeder Bachelorausbildung und das Lesen, Bewerten und Zusammenführen von Forschungserkenntnissen gehört zu den Fähigkeiten, die jede Absolventin gut beherrschen sollte. Parallel dazu gibt es aber immer noch Ausbildungsgänge, die nicht im tertiären Bildungsbereich angesiedelt sind. Auch in der Pflegepraxis arbeiten Pflegepersonen, die über einen Bachelor- oder Masterabschluss verfügen und gute Kenntnisse über Pflegeforschung besitzen, Hand in Hand mit Kolleginnen, die mit dieser Materie nicht vertraut sind.

Angesichts dieser Tatsache ist es durchaus sinnvoll, neben den klassischen Methodenlehrbüchern, die in erster Linie darauf ausgerichtet sind, Forschungskompetenz zu vermitteln, ein Einführungsbuch wie dieses weiterhin anzubieten. Denn es braucht gerade in Zeiten mit gestuften Ausbildungsformen und für Praktikerinnen, die über keinen akademischen Abschluss verfügen, jedoch mit Pflegeforschung in der Praxis konfrontiert sind, einen niederschwelligen Zugang zu dieser Thematik.

Das vorliegende Buch soll diesen niederschwelligen Zugang bieten. Für alle, die noch nichts über Pflegeforschung wissen, sich jedoch nicht über umfangreiche, komplexe Methodenbücher trauen. Für die, die zwar schon einmal etwas in ihrer Ausbildung darüber gehört haben und sich wieder neu damit beschäftigen wollen (oder müssen) und für alle, die einfach nur neugierig sind.

Das Buch ist kein Nachschlagewerk oder Lehrbuch, das zur eigenständigen Durchführung von Forschungsarbeiten befähigt. Es soll jedoch einen einfachen Einstieg in eine komplexe und sehr umfangreiche Thematik bieten und (hoffentlich) Appetit auf mehr machen.

Für die siebente Auflage wurde das Buch aktualisiert und das Layout modernisiert; die bewährte Didaktisierung wurde beibehalten.

So weit es möglich ist, wurde im Text eine beide Geschlechter umfassende Form gewählt. War dies nicht möglich, so wurde – traditionelle Schreibgewohnheiten durchbrechend – die weibliche Form stellvertretend für beide gewählt. Ausnahmen bilden Originalzitate, in denen die konventionelle Schreibweise enthalten ist.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen und Studieren und dass Sie viele neue Erkenntnisse gewinnen mögen!

März 2018 Hanna Mayer

Hinweise zum Gebrauch des Buches

Wichtige Worte und Textpassagen sind fett gedruckt.

Im Text verwendete und den Leserinnen vielleicht unbekannte Begriffe sind blau gesetzt und in der Randspalte erklärt.

Unbekannte Begriffe

werden in der Randspalte erklärt.

In der Randspalte sind weiters Erläuterungen angeführt, die wichtig sind oder das Verstehen des Textes erleichtern, jedoch den fortlaufenden Haupttext zu sehr belasten würden.

Kernaussagen sowie Beispiele sind orange hinterlegt.

Am Ende jedes Abschnitts finden sich in der „Wiederholung“ wichtige Begriffe, die im vorangegangenen Abschnitt erklärt wurden,

sowie Aufgaben „Zum Üben“

und Literaturtipps „Zum Nachlesen“.

1 Wissen, Wissenschaft und Forschung

Woher kommt menschliches Wissen? Was ist der Unterschied zwischen Alltagswissen und wissenschaftlichem Wissen? Sind sich überhaupt alle darüber einig, was Wissenschaft ist? Und welcher Weg führt zu Erkenntnis? All das sind Fragen, die ganz zu Beginn einer Auseinandersetzung mit dem Thema „Wissenschaft und Forschung“ stehen. Aus diesem Grund sind die verschiedenen Wissensquellen und die Begriffe Wissenschaft und Forschung Gegenstand dieses Kapitels.

1.1 Wissensquellen

Der Wunsch, Dinge zu hinterfragen, ist eine zentrale Eigenschaft des Menschen. Neugier und Forschergeist sind seit alters die Motoren von Entwicklung und Fortschritt. Die vielfältigen Fragen und Probleme, mit denen die Menschen im Lauf der Geschichte konfrontiert waren, wurden in verschiedenen Zeitaltern jedoch auf unterschiedliche Weisen zu lösen versucht. Mythische oder religiöse Erklärungsmodelle wurden ebenso herangezogen wie metaphysische oder später auch wissenschaftliche (Parahoo, 2006). Die Orientierung an den Aussagen von Autoritäten (Geistliche, Ärzte oder auch politische Autoritäten) stützen oft das, was als richtiges oder falsches Wissen anerkannt wird.

metaphysisch

(altgriech.) = jenseits der Erfahrung, jede mögliche Erfahrung überschreitend; übernatürlich, übersinnlich, transzendent

Grundsätzlich schöpfen wir unser Wissen auch heute noch aus unterschiedlichen Wissensquellen. Diese können hoch strukturiert und an festgelegte Regeln zur Schaffung von Wissen gebunden sein. Es gibt aber auch weniger strukturierte Wissensquellen und solche, die keinen fixen Regeln folgen.

Zu den unstrukturierten Wissensquellen zählen

Intuition

Erfahrung

Versuch und Irrtum

Tradition und Autorität

Strukturierte Wissensquellen sind

logisches Denken

wissenschaftliches Erforschen

Die Unterteilung in strukturierte und unstrukturierte Wissensquellen stellt grundsätzlich keine Wertung dar, sondern bildet nur unterschiedliche Wege des Wissenserwerbs ab. Wissen aus unstrukturierten Wissensquellen ist nicht notwendigerweise falsch oder gar unwichtig, und Wissen aus strukturierten Quellen ist nicht immer richtig oder bedeutungsvoll. Alle Wissensquellen sind Bestandteile des menschlichen Wissens und für das Handeln wesentlich. Sie bedürfen aber einer gründlichen Reflexion vor allem im Hinblick auf ihre Reichweite und ihre Grenzen, da diese Quellen hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit stark variieren können (Polit, Beck & Hungler, 2004).

Es gibt unstrukturierte und strukturierte Wissensquellen. Unstrukturierte Wissensquellen sind Intuition, Erfahrung, Versuch und Irrtum sowie Tradition und Autorität. Zu den strukturierten Wissensquellen gehören logisches Denken und wissenschaftliche Forschung.

1.1.1 Unstrukturierte Wissensquellen

Intuition

Intuition gründet auf einer Art tief verinnerlichten Wissens, das auf mehr oder weniger unbewusstem Weg zustande gekommen ist. Wer intuitiv handelt, stellt keine theoretischen Überlegungen an und analysiert auch keine Situation, sondern handelt „aus dem Bauch heraus“. Intuition ist ein im beruflichen Alltag weit verbreitetes Mittel zur Lösung von Problemen; sie ist jedoch, soweit sie professionelles Handeln betrifft, abhängig von einer gewissen Vertrautheit mit der Materie. Menschen, die häufig intuitiv handeln, kennen sich auf dem betreffenden Gebiet meist gut aus, sind Expertinnen und verfügen über fundiertes Wissen und einen reichen Erfahrungsschatz. Sogar das Pflegehandeln auf der höchsten Stufe, der Expertenstufe, zeichnet sich oft durch Intuition aus, wie auch die Pflegewissenschaftlerin Patricia Benner in ihrem vielbeachteten Werk „Stufen zur Pflegekompetenz“ angemerkt hat:

Intuition

(lat.) = spontane Erkenntnis, die ohne bewusstes Nachdenken entsteht

„ … Mit ihrem großen Erfahrungsschatz sind Pflegeexpertinnen und -experten in der Lage, jede Situation intuitiv zu erfassen und direkt auf den Kern des Problems vorzustoßen, ohne viel Zeit mit der Betrachtung unfruchtbarer Alternativdiagnosen und -lösungen zu verlieren.“

Benner, 1997, S. 50

Intuition ist jedoch etwas Individuelles; man kann sie weder steuern noch beliebig abrufen. Daher hat sie zwar einen wichtigen Anteil am beruflichen Handeln, ist aber keine Wissensquelle, aus der man nach Wunsch schöpfen und geplante Handlungen ableiten kann. Mit anderen Worten: Intuition ermöglicht berufliches Handeln, trägt jedoch nicht zur systematischen Vermehrung von beruflichem Wissen bei.

Intuition ist eine wichtige und rasch abrufbare Wissensquelle. Sie steht jedoch nicht nach Belieben zur Verfügung, kann nicht gelehrt werden und ermöglicht keine systematische Vermehrung des Pflegewissens.

Erfahrung, Versuch und Irrtum

Erfahrungen sind eine uns wohlbekannte Wissensquelle. Ein großer Teil des Wissens, über das jeder Mensch verfügt, besteht aus Erfahrung. Je vertrauter man mit einer Situation ist, je mehr Erfahrung man auf einem bestimmten Gebiet erworben hat, desto eher versteht man, was dort geschieht und kann seine Erkenntnisse verallgemeinern. Erfahrungsreichtum erlaubt es, Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Situationen zu erkennen, von einem Problem auf ein anderes zu schließen und es auf diese Weise zu lösen. Jedoch ist Erfahrungswissen immer subjektiv, wird unsystematisch gewonnen und oft nicht überprüft. Der eigene Erfahrungsschatz ist daher nicht geeignet, allgemeingültige Schlüsse aus ihm zu ziehen; dazu ist er zu individuell und zu begrenzt. Aus diesem Grund kann Erfahrung nur eingeschränkt als Basis für pflegerisches Wissen und Verständnis gelten.

Dass Pflegehandeln, das allein auf Erfahrung beruht, nicht immer zum Wohle der Patientin beiträgt, zeigt das bekannte Beispiel des „Eisens und Föhnens“ als Dekubitusprophylaxe. Diese Maßnahme, die sich auf Erfahrungswissen stützt, wurde in der Pflegepraxis häufig angewendet. Wissenschaftliche Untersuchungen konnten aber nachweisen, dass diese Technik nicht nur unwirksam, sondern sogar schädlich ist.

Eine weitere, der Erfahrung nahe verwandte Wissensquelle ist die Methode von Versuch und Irrtum. Dabei werden verschiedene Möglichkeiten zur Lösung eines Problems so lange ausprobiert, bis eine davon erfolgreich ist. Dass diese Art von Problemlösung sich für die Praxis als untauglich erweist, ist leicht einzusehen. Sie verlangt einen hohen Zeit- und Energieaufwand und verzichtet auf die Frage, ob die gesuchte Lösung möglicherweise bereits von jemand anderem gefunden wurde. Darüber hinaus kann dieses Vorgehen den Patientinnen Unannehmlichkeiten bereiten oder Schaden zufügen.

Erfahrung ermöglicht es, von einem Problem auf ein anderes zu schließen und es auf diese Weise zu lösen. Erfahrung wird jedoch oft nicht auf ihre Richtigkeit überprüft und ist zu individuell und zu begrenzt, um allgemeingültige Schlüsse daraus ziehen zu können. Versuch und Irrtum ist ebenfalls keine für die Praxis geeignete Methode, da sie zeitaufwendig ist und den Patientinnen Schaden zufügen kann.

Tradition und Autorität

Unter tradiertem Wissen versteht man Erkenntnisse, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Man hält sie für richtig, weil sie schon lange existieren („Das wurde immer schon so gemacht …“). Tradiertes Wissen wird in der Praxis oft in Form von Ritualen in den pflegerischen Alltag eingebaut und auf diese Weise weitergegeben. Ein Beispiel dafür ist das routinemäßige Messen der Temperatur aller Patientinnen am Morgen. Wird dieses Wissen von Personen vertreten, die aufgrund ihrer Verdienste, ihrer Position oder ihrer Erfahrung als Autoritäten (Expertinnen) gelten, bekommt es zusätzlich verbindlichen Charakter.

Ritual

(lat.) = Vorgehen nach einer festgelegten Ordnung

Bewährtes Wissen ist etwas sehr Wertvolles. Autoritäten (Spezialistinnen) zu befragen, kann ebenfalls ein guter Weg zur Problemlösung sein. Auch Rituale sind sinnvoll, denn sie bieten Struktur im beruflichen Alltag. Tradiertes Wissen und Rituale müssen jedoch auf ihren Sinn und Zweck, auf ihre Tauglichkeit und auch auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Nicht immer ist tradiertes Wissen zutreffend, und auch Expertinnen haben nicht immer recht. Daher sollte mit diesen Wissensquellen konstruktiv, aber nicht unkritisch umgegangen werden. Traditionen und/oder Expertenwissen können nur bedingt als verlässliche Wissensquellen gelten – vor allem, wenn ihre Behauptungen nicht kritisch hinterfragt werden.

Lange Zeit galt es als Tabu, Kinder als Besucherinnen auf Intensivstationen zuzulassen. Dies ist tradiert weitergegeben. Neue Forschungen können diese Traditionen bereits als nicht sinnvoll entlarven.

Tradiertes Wissen und Expertenwissen sind wertvolle und im Alltag oft hilfreiche Wissensquellen. Da jedoch auch sie nicht immer verlässlich sind, ist ein kritischer Umgang mit ihnen angebracht.

1.1.2 Strukturierte Wissensquellen

Logisches Schlussfolgern

Die Logik ist ein Teilgebiet der Philosophie und beschäftigt sich damit, wie man zu korrekten Schlussfolgerungen gelangt. Sie umfasst z. B. die Grundsätze des menschlichen Denkens. Diese werden in Form von Regeln ausgedrückt und müssen unbedingt beachtet werden, wenn man zu logisch richtigen Urteilen kommen will. Eine bekannte logische Regel lautet etwa: „Eine Aussage und ihr Gegenteil können nicht gleichzeitig wahr sein.“ (Satz vom Widerspruch)

Logik

(griech.) = nach bestimmten Regeln verfahrendes Denken, Argumentieren und Handeln

Beispiel

Als Beispiel diene hier die Aussage: „Die Schülerin Christine ist ein Mensch.“ Das Gegenteil dieser Aussage lautet: „Die Schülerin Christine ist kein Mensch.“ Der Satz vom Widerspruch besagt, dass nur eine der beiden Aussagen richtig sein kann, aber nicht beide. Entweder ist Christine ein Mensch – oder nicht.

Viele Probleme können durch logisches Schlussfolgern gelöst werden. Es ermöglicht, die verschiedensten Phänomene korrekt zu durchdenken, zu beurteilen und dieses Verständnis zur Grundlage für gezieltes Handeln zu machen.

Logisches Schlussfolgern ist jedoch auch die Grundlage für Wissenschaft und Forschung. Es kann über zwei Wege erfolgen: über Deduktion und Induktion.

Deduktion bedeutet Schlussfolgern vom Allgemeinen auf das Besondere (siehe Abb. 1, nächste Seite). Bei der Deduktion geht man von einer – wie auch immer entwickelten – Theorie aus und leitet davon Einzelerkenntnisse (Prognosen, Hypothesen) ab. Die Hypothesen werden dann in der Realität überprüft. Das Ergebnis dieser Prüfung kann die Theorie unterstützen, verändern oder widerlegen. Anhand eines Beispiels soll gezeigt werden, wie eine Pflegeperson sich deduktives Schlussfolgern zunutze machen kann:

Hypothese

(griech.) = eine Aussage, von der man vermutet (aber nicht weiß), dass sie richtig ist

Beispiel

Es ist bekannt, dass bettlägerige Patientinnen nach einiger Zeit wund liegen können. Die Ursache dafür ist ständiger oder ungleichmäßiger Druck auf Körperstellen, an denen die Knochen direkt unter der Haut liegen (Theorie). Die Pflegende weiß dies und zieht daraus den Schluss, dass man die Entstehung von Druckgeschwüren verhindern kann, wenn man den Druck auf die besagten Stellen vermindert (Einzelerkenntnis). Wenn sie diese Zusammenhänge kennt und ihr Wissen anwendet, indem sie die gefährdeten Körperstellen entlastet, kann sie ihr Tun logisch begründen und nachvollziehbar machen.

Induktives Denken ist umgekehrt die Entstehung von verallgemeinbarem Wissen aus einzelnen Beobachtungen – das Schlussfolgern vom Besonderen auf das Allgemeine (siehe Abb. 1). Auf diesem Weg des logischen Denkens geht man von Einzelbeobachtungen aus und leitet aus ihnen allgemeingültige Theorien ab. Anders als bei der Deduktion erfolgt die Datensammlung hier gleich zu Beginn: Der erste Schritt besteht in der Ermittlung von Tatsachen, und erst am Ende des Prozesses werden bestimmte Aspekte dieser Tatsachen verallgemeinert und zu einer Theorie zusammengefügt. Induktives Arbeiten wird daher vor allem dort eingesetzt, wo erst wenig theoretisches Wissen vorhanden ist. Das folgende Beispiel zeigt, was induktives Denken für eine Pflegeperson heißen kann.

Beispiel

Die Genesung eines älteren Patienten macht kaum Fortschritte (Einzelbeobachtung), obwohl die medizinischen Daten zeigen, dass der Patient körperlich fast völlig wiederhergestellt ist und keine bleibenden Schäden davongetragen hat. Die Pflegende beobachtet an dem Patienten jedoch auch Appetitlosigkeit, Passivität und einen traurigen Blick (weitere Einzelbeobachtungen). Sie schließt daraus, dass der Patient ein seelisches Problem hat und dass die verzögerte Genesung mit seiner depressiven Stimmung zusammenhängt (theoretischer Schluss).

Abbildung 1
Deduktion und Induktion

Deduktion bedeutet Schließen vom Allgemeinen auf das Besondere (Schließen von der Theorie auf die Einzeltatsache).

Induktion bedeutet Schließen vom Besonderen auf das Allgemeine (Schließen von der Einzeltatsache auf die Theorie).

Deduktion und Induktion sind die beiden Wege des logischen Schlussfolgerns.

Regelgeleitetes Forschen

Regelgeleitete Forschung baut auf logischem Denken auf und ermöglicht es, Ahnungen, Vermutungen, Gewohnheiten, Aussagen von Autoritäten und sogar logische Schlussfolgerungen systematisch zu überprüfen, zu beweisen oder zu widerlegen. Regelgeleitete Forschung ist der häufigste Weg des Erkenntnisgewinns in der Wissenschaft.

Forschung

= die planmäßige und zielgerichtete Suche nach neuen Erkenntnissen in einem Wissensgebiet

Diese Methode der Wissensaneignung ist die am besten entwickelte von allen. Sie ist zwar auch nicht unfehlbar, im Allgemeinen aber verlässlicher als alle anderen Strategien. Der wissenschaftliche Prozess enthält nämlich Hürden, die unsystematisches und damit willkürliches Vorgehen verhindern sollen. Wissenschaft ist an Regeln gebunden, die zum einen dazu dienen, unsachliche Einflüsse wie z. B. Vorlieben, Abneigungen, Befangenheit, aber auch Denkfehler nach Möglichkeit auszuschalten. Zum anderen hat die Wissenschaft durch diese Regeln die Möglichkeit, sich selbst zu überprüfen und jeden einzelnen Forschungsakt detailliert nachzuvollziehen. Auf diese Weise kann das Zustandekommen aller wissenschaftlichen Ergebnisse einer genauen und jederzeit wiederholbaren Prüfung unterzogen werden.

Wissenschaftliches Erforschen bietet die Möglichkeit, verschiedenste Annahmen systematisch zu überprüfen. Der wissenschaftliche Prozess ist an Regeln gebunden, die unsachliche Einflüsse ausschalten und die Selbstüberprüfung ermöglichen sollen.

1.2 Wissenschaft und Forschung

1.2.1 Wissenschaft

„Wissenschaft“ ist keine eindeutige Bezeichnung. Sie ist am ehesten eine Art Dachbegriff, unter dem man je nach Betrachtungsweise Verschiedenes verstehen kann. Was Wissenschaft ist, kann man daher nur schwer in einer kurzen Definition zusammenfassen – man muss sich ihrer Bedeutung auf mehreren Wegen nähern. Ein Vergleich zwischen wissenschaftlichem Wissen und Alltagswissen soll zunächst dazu dienen, zum Einstieg einige wichtige Kennzeichen von Wissenschaft herauszuarbeiten (siehe Tab. 1).

Nicht zufällig gefundenes, sondern mit System und Methode gewonnenes Wissen, Zweifel am Bestehenden, die Suche nach Neuem und die Annahme, dass ein Phänomen stets eine Vielzahl von Interpretationen zulässt – all das sind wichtige Kennzeichen von Wissenschaft. Durch sie hebt sich wissenschaftliches Vorgehen von alltäglichen Verfahrensweisen ab. Darüber hinaus wird wissenschaftliches Wissen meist in schriftlicher Form aufbewahrt („verschriftlicht“) und in einer abstrakten Sprache festgehalten, die von persönlichen Erfahrungen weitgehend gelöst ist. Diese beiden letzten Merkmale gehen zwar nicht notwendigerweise mit Wissenschaftlichkeit einher, sind jedoch ihre wohl häufigste „Begleiterscheinung“.

Tabelle 1
Vergleich zwischen Alltagswissen und wissenschaftlichem Wissen
(Hierdeis & Hug, 1997)

Alltag

Wissenschaft

nicht systematisiertes Wissen

systematisiertes Wissen

nicht organisierte Erkenntnis

organisierte Erkenntnis

routiniertes Handeln

reflektiert-methodisches Handeln

Vermeidung von Zweifel

Systematisierung des Zweifels

Sicherung des Erkannten

Zweifel am Erkannten

Vermeidung von Alternativen

Aufdecken von und Suche nach Alternativen

Konzentration auf eine Deutung

selbstverständliche Annahme von Mehrdeutigkeiten

im einzelnen (subjektiven) und/oder kollektiven Bewusstsein aufgehobene und vor allem mündlich weitergegebene Erkenntnis

vor allem in schriftlicher Form weitergegebene Erkenntnis

erfahrungsnahe Sprache

erfahrungsferne, abstrakte Sprache

Einige wesentliche Charakteristika von Wissenschaft sind hiermit gesammelt, aber es stellt sich immer noch die Frage, was Wissenschaft nun eigentlich ist. Ist sie all das Wissen, das man auf wissenschaftlichem Wege gewonnen hat? Oder bezeichnet man mit Wissenschaft lediglich die wissenschaftliche Methode, die man braucht, um dieses Wissen herzustellen? Die Antwort lautet: Beides ist richtig. Wissenschaft bedeutet zweierlei:

Unter Wissenschaft versteht man

1. alle Aktivitäten, die auf wissenschaftliche Erkenntnis abzielen, wie das Forschen und das Entwickeln von Theorien, und

2. die Gesamtheit der Erkenntnisse, die auf diesem Weg gewonnen werden.

Wissenschaft ist also einerseits das, was man weiß, und andererseits das, was man tut, um zu wissen. Das Charakteristische dabei ist, dass man beim Sammeln, Beschreiben und Ordnen des Materials, aus dem die Erkenntnisse gewonnen werden, methodisch und systematisch vorgeht.

Das Ziel aller Wissenschaften ist es, mithilfe wissenschaftlicher Methoden Wissen zu sammeln (einen „body of knowledge“, einen Wissenskorpus, zu produzieren), das es ermöglicht, Phänomene zu verstehen, vorauszusagen, zu verhindern, aufrechtzuerhalten oder zu verändern (Parahoo, 2006). Die Wissenschaft möchte also begründete Aussagen machen.

Das Sammeln, Beschreiben und Ordnen des Materials sind Schritte, die zu einer Forschungsarbeit gehören. Eine Forschungsarbeit folgt einem strukturierten Ablauf, den man „Forschungsprozess“ nennt (siehe Kap. 4).

Doch ob eine Aussage begründet ist, wie sie begründet werden kann und was überhaupt als wissenschaftlich gelten darf und was nicht, das sind Fragen, über die nicht immer Einigkeit besteht. Sie werden auf wissenschaftstheoretischer Ebene diskutiert.

Wissenschaftstheorie

Genauso wie es unterschiedliche Quellen des Wissen gibt, existieren unterschiedliche Wege des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns. Damit beschäftigt sich die Wissenschaftstheorie. Sie ist ein Zweig der Philosophie und beschäftigt sich mit der Frage, wie wissenschaftliche Erkenntnis zustande kommt. Sie untersucht alle Probleme, die mit Wissenschaft allgemein zusammenhängen, z. B. Fragen nach den Methoden, den Voraussetzungen, Zielen, Auswirkungen und der Struktur von Wissenschaft. Die Bedeutung von Wissenschaftstheorie ist deshalb so groß, weil es nicht nur einen Weg gibt, auf dem man zu wissenschaftlicher Erkenntnis gelangen kann. Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften unterscheiden sich z. B. durch wesentliche Eigenheiten voneinander. Während die Naturwissenschaften zu den analytischen Wissenschaften zählen (sie zerlegen ihren Gegenstand in einzelne Bestandteile), gehören die Geisteswissenschaften zu den nicht analytischen Wissenschaften (sie erfassen ihren Gegenstand als ganzen und interpretieren ihn, statt ihn zu messen). Bei den Naturwissenschaften erfolgt der Zugang zur Erkenntnis über das Zählen und Messen. Sie beschäftigen sich mit der materiellen Realität. Die Geisteswissenschaften hingegen gewinnen durch das Verstehen Zugang zur Erkenntnis. Sie beschäftigen sich mit Bedeutungen und Werten.

Die Human- und Sozialwissenschaften (denen die Pflegewissenschaft am nächsten steht) lassen sich nicht eindeutig in dieses Gegensatzpaar einordnen. Hier kennt man innerhalb der Wissenschaft zwei verschiedene Wege des Erkenntnisgewinns, von denen der eine dem Vorgehen der Naturwissenschaften, der andere dem Vorgehen der Geisteswissenschaften ähnelt. Die beiden Wege beruhen auf den Prinzipien der Deduktion und der Induktion (siehe Kap. 1.1.2) und sind für zwei unterschiedliche Forschungsrichtungen typisch: für die quantitative und die qualitative Forschung (siehe Kap. 3.1).

Naturwissenschaften

= Oberbegriff für die einzelnen Wissenschaften, die sich mit der systematischen Erforschung der Natur (bzw. eines ihrer Teile) und dem Erkennen der für sie geltenden Naturgesetze befassen

Geisteswissenschaften

= Oberbegriff für jene Wissenschaften, die jene Ordnungen des Lebens in Staat, Gesellschaft, Recht, Sitte, Erziehung, Wirtschaft und Technik sowie die Deutungen der Welt in Sprache, Mythos, Kunst, Literatur, Philosophie, Religion usw. zum Gegenstand haben

Sozialwissenschaften

(Gesellschaftswissenschaften) = diejenigen Wissenschaften, deren Untersuchungsgegenstand das Verhältnis von Mensch und Gesellschaft ist

Wissenschaftstheorie beschäftigt sich damit, auf welchen Wegen wissenschaftliche Erkenntnis zustande kommt. Die Naturwissenschaften erforschen die materielle Realität und gelangen zu Erkenntnis, indem sie ihren Gegenstand analysieren. Die Geisteswissenschaften beschäftigen sich mit Bedeutungen und gewinnen Erkenntnis, indem sie ihren Gegenstand interpretieren. Die Gesundheitswissenschaften verfolgen so wie die Sozialwissenschaften zwei verschiedene Wege des Erkenntnisgewinns, für die zwei Forschungsrichtungen typisch sind: die quantitative und die qualitative Forschung.

Klassische Beispiele für die Anschauung, die naturwissenschaftlichem Denken zugrunde liegt, sind der Positivismus und der kritische Rationalismus.

Sir Karl Raimund Popper (1902–1994), geboren in Wien, Philosoph und Wissenschaftstheoretiker, Professor für Logik und wissenschaftliche Methodenlehre an der University of London. Er gilt als Begründer des kritischen Rationalismus; sein Hauptwerk heißt „Logik der Forschung“.

Popper zieht zur Veranschaulichung hier immer das Beispiel von den Schwänen heran: Auch wenn viele weiße Schwäne beobachtet werden, so kann man einzig durch diese Beobachtungen nicht zu dem Schluss kommen, dass alle Schwäne weiß sind. Das Auftreten eines einzigen schwarzen Schwanes würde diese Theorie stürzen (vgl. Popper, 1994).

Der Positivismus geht davon aus, dass es eine „positive“ Realität gibt, die man durch Forschung entdecken kann. Das Wort positiv hat hier jedoch nicht die Bedeutung „gut“, so wie im alltäglichen Sprachgebrauch, sondern heißt „gegeben“, „gesetzt“, „wirklich vorhanden“. Es ist also die gegebene, mit den Sinnen wahrnehmbare Realität, der sich der Positivismus zuwendet. Alles, was man hören, sehen, tasten, zählen oder messen kann – und sei es auch mit Hilfsmitteln wie dem Mikroskop –, ist Gegenstand der positiven Realität und soll Gegenstand der Wissenschaft sein. Hier geht es also um eine materielle Realität, die durch Zählen und Messen objektivierbar ist. Dies ist eine der wichtigsten Annahmen des Positivismus: Es existiert eine Realität, die für alle Menschen und unter allen Bedingungen gleich ist, die mit den Sinnen erfasst, erforscht und gemessen werden kann und die durch Beobachten bzw. Experimentieren gefunden und bewiesen wird. Oberstes Anliegen ist es daher, die Wirklichkeit möglichst genau und unverfälscht wiederzugeben. Im Vordergrund steht also das Streben nach Objektivität.

Das Ziel positivistisch orientierter Wissenschaft ist es, zu erforschen, wie diese Wirklichkeit funktioniert, also Gesetzmäßigkeiten zu entdecken: etwa in der Natur, im menschlichen Organismus oder im Verhalten.

In den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts erfuhr der Positivismus eine Weiterentwicklung durch Sir Karl Popper. Er ist der Begründer des sogenannten kritischen Rationalismus. Auch hier besteht das Ziel darin, Gesetzmäßigkeiten zu finden, um damit zu objektiver Wahrheit zu gelangen. Theorien und Hypothesen werden ebenfalls mit der Realität konfrontiert und an ihr überprüft, jedoch beruft Popper sich – anders als die Positivisten – nicht auf die Verifikation, sondern auf das Prinzip der Falsifikation. Dieses beruht auf dem Gedanken, dass es eigentlich keine allgemeingültigen Sätze geben kann. Denn auch wenn eine Aussage sich 100 oder 1000 Mal bewahrheitet hat, so kann man doch nie sicher sein, ob dies auch beim 1001. Mal der Fall sein wird. Eine einzige Ausnahme würde ja hinreichen, um die Theorie zu stürzen. Es kann, so Popper, in der Wissenschaft daher nicht um die Verifikation von Hypothesen gehen, sondern lediglich um ihre Falsifikation, um ihre Widerlegung. Die treibende Kraft im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess ist demnach die Kritik des Bestehenden, also der Versuch, bestehendes Wissen kritisch zu hinterfragen und zu prüfen, ob bzw. unter welchen Bedingungen es zutrifft. Nicht nur die Naturwissenschaften, sondern auch die Sozialwissenschaften, ebenso wie die Gesundheitswissenschaften, sind stark von der Denkschule des kritischen Rationalismus beeinflusst.

verifizieren

(lat.) = für wahr erklären, als wahr bestätigen, beweisen

falsifizieren

(lat.) = für falsch erklären, widerlegen

Klassische Beispiele für wissenschaftstheoretische Positionen, die den Naturwissenschaften zugrunde liegen, sind der Positivismus und der kritische Rationalismus. Für den Positivismus bestehen Wahrheit und Wirklichkeit in der materiellen, sinnlich wahrnehmbaren Realität. Diese kann gemessen und auf diese Weise erforscht und bewiesen werden. Das Streben nach Objektivität steht dabei im Vordergrund. Ziel der Wissenschaft ist das Auffinden von Gesetzmäßigkeiten, die als Hypothesen formuliert und verifiziert werden sollen.

Der kritische Rationalismus beruht auf dem Gedanken, dass es keine allgemeingültigen Aussagen geben kann, denn Hypothesen können niemals verifiziert, sondern immer nur falsifiziert werden (Falsifikationsprinzip).

Die Wurzeln des sogenannten interpretativen Paradigmas hingegen liegen in erster Linie in der Philosophie. Im Mittelpunkt steht der Gedanke, dass der Mensch nicht losgelöst von seiner Umwelt betrachtet werden kann, sondern immer in seinem Lebenszusammenhang gesehen werden muss. Forschung bedeutet also nicht neutrale Sammlung und Auswertung objektiv erfassbarer Daten. Für die interpretativen Ansätze gibt es nämlich weder eine objektive Realität noch eine neutrale Erforschung derselben, weil nur die Bedeutung eines Ereignisses für den Menschen real ist. Über das Phänomen selbst, so meinen diese Denkschulen, wissen wir Menschen nichts; wir haben nur Zugang zu der Bedeutung, die ein Phänomen für uns besitzt. Die Bedeutung, die ein Phänomen hat, wird jedoch von Mensch zu Mensch unterschiedlich wahrgenommen. Darum gibt es auch keine objektive Wahrheit, die für alle Menschen gleich ist. Es geht in der Wissenschaft also, so die Vertreterinnen des Interpretativismus, um die Interpretation von Geschehnissen und um das Erleben der Menschen. Die Forscherin muss fragen, was ein bestimmtes Phänomen für den Menschen bedeutet und welchen Sinn es für ihn hat. Es ist das Verstehen menschlicher Erfahrungen, das hier im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses steht, weniger das Erklären oder Beweisen (denn individuelle Bedeutung kann man nicht beweisen). Wahrheit ist also etwas Subjektives: Wahrheit ist das, was vom Einzelnen wahrgenommen und der Forscherin mitgeteilt wird – und Wahrheit ist nicht immer gleich, sondern vom Zusammenhang (vom Kontext) abhängig, in dem sie entsteht.

Paradigma

(griech.) = Muster; Denkmuster, das das wissenschaftliche Weltbild, die Weltsicht einer Zeit prägt

Im Sinne einer interpretativen Position gibt es keine objektive Realität und keine endgültige Wahrheit, weil nur Bedeutungen für den Menschen real sind. Wahrheit ist etwas Subjektives. Im Mittelpunkt der Forschung stehen daher die Interpretation von Ereignissen und das Verstehen menschlicher Erfahrungen. Der Mensch darf nicht isoliert, sondern muss immer in seinem gesamten Lebenszusammenhang betrachtet werden.

Abbildung 2
Die wissenschaftstheoretischen Positionen in ihrem Verhältnis zur Wahrheit

Positivismus und Interpretativismus als Beispiele unterschiedlicher wissenschaftstheoretischer Positionen zeigen in ihrer Gegensätzlichkeit eindrucksvoll, dass es keine einzig richtige, allgemeingültige Definition von Wissenschaft geben kann.

Diese unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Positionen führen in Wissenschaftskreisen immer wieder zu Diskussionen darüber, was nun wirklich „wissenschaftliches“ Vorgehen sei. Die Pflegewissenschaft ist davon nicht ausgenommen (siehe Kap. 3.1). Diese Auseinandersetzung ist aber nicht unwichtig, denn es handelt sich ja nicht nur um abstrakte Philosophien. Die unterschiedlichen Denkschulen beeinflussen die Art der Phänomene, die untersucht werden sollen, die Methoden, mit denen man sie studiert, und die Techniken, mit deren Hilfe die Wissenschaftlerin ihre Daten sammelt.

Man sollte jedoch beachten – und zwar ganz gleich, von welcher Position man ausgeht –, dass auch wissenschaftliche Erkenntnisse niemals absolut oder endgültig sind. Wissen hat immer nur vorläufigen Charakter. Es ist nicht statisch, sondern einem dynamischen Prozess der ständigen Weiterentwicklung unterworfen.

1.2.2 Wissenschaftliche Forschung

Wissenschaft kann als eine Art Überbegriff angesehen werden, der Unterschiedliches miteinander vereint.

Das Gebäude der Wissenschaft wird von drei Säulen getragen. Diese sind

Forschung

Theoriebildung

Lehre

Diese Säulen sind aber auch untereinander verbunden (so kann es z. B. durch Forschung zur Theoriebildung kommen bzw. wird die Lehre aus Forschungserkenntnissen und Theorien gespeist).

Abbildung 3
Das Gebäude der Wissenschaft

Forschung ist also ein zentraler Bestandteil von Wissenschaft. Sie ist es, die das Wachstum der Wissenschaft gewährleistet, indem sie planmäßig und zielgerichtet nach neuem wissenschaftlichen Wissen sucht.

Die Pflegewissenschaftlerin Lisbeth Hockey definierte Forschung folgendermaßen:

„Forschung ist der Versuch, das Wissen in einem bestimmten Gebiet durch systematische wissenschaftliche Methoden zu vermehren.“

Hockey, 1983, S. 753

Das Ziel von Forschung ist also die Vermehrung von Wissen. Wissensvermehrung bedeutet in diesem Zusammenhang zweierlei:

Das Auffinden neuer, noch unbekannter Fakten und

das Auffinden bisher unbekannter Beziehungen zwischen bereits bekannten Fakten.

Das Charakteristische an Forschung ist, dass diese Wissensvermehrung ausschließlich mithilfe von systematischen, geplanten Methoden erfolgt, d. h. mithilfe des wissenschaftlichen Regelwerkes. Grundlage dieser Methoden ist, wie Sie bereits wissen, die Logik mit ihren beiden Erkenntnisprinzipien der Deduktion und Induktion. Weil Forschung aber auf Logik basiert, wird sie in jedem einzelnen ihrer Schritte (in der Formulierung der Forschungsfragen, in der Sammlung und Auswertung der Daten, ja sogar in der Ergebnisdarstellung) nachvollziehbar, und das von ihr produzierte Wissen ist damit einer Überprüfung zugänglich. Diese besondere Art der Gewinnung von Wissen unterscheidet Wissenschaft und Forschung von jedem anderen Verfahren der Wissensproduktion.

1.3 Vertiefung des Lernstoffs

Wissenschaft

Wissenschaftstheorie

Positivismus

kritischer Rationalismus

interpretatives Paradigma

Forschung

Deduktion

Induktion

1. Gehen Sie (nach Absprache mit Ihrer Lehrerin) in die Pflegepraxis und suchen Sie zuerst nach Pflegehandlungen, die immer wieder gesetzt werden (Routinehandlungen). Versuchen Sie dann herauszufinden, auf welcher Art von Wissen diese Handlungen aufbauen und welche Quellen dieses Wissen hat.

2. Versuchen Sie danach, herauszufinden, welche Pflegehandlungen (-techniken etc.) auf wissenschaftlicher Erkenntnis beruhen, also welche Pflegehandlungen der Wissensquelle „wissenschaftliche Forschung“ entspringen.

3. Sammeln Sie diese Ergebnisse und diskutieren Sie sie mit Ihren Kolleginnen im Unterricht.

Neugierig geworden auf Wissenschaftstheorie? Dann kann ich nur folgendes Buch empfehlen:

Schülein, Johann & Reitze, Simon (2016). Wissenschaftstheorie für Einsteiger.

4. Auflage, Stuttgart: UTB (283 Seiten)
Dies ist eine kompakte, verständliche und sehr angenehm zu lesende Zusammenfassung der wichtigsten wissenschaftstheoretischen Strömungen und eine gute Einführung in das wissenschaftstheoretische Denken.

2 Pflegewissenschaft und Pflegeforschung

Wurden im ersten Kapitel Wissen, Wissenschaft und Forschung aus allgemeiner Sicht beschrieben, so dient das zweite Kapitel dazu, dies nun aus der Sicht der Pflege zu tun. Zu diesem Zweck werden die Pflegewissenschaft und ihr wichtigstes Hilfsmittel, die Pflegeforschung, ausführlicher dargestellt. Ein Einblick in die Struktur und die historische Entwicklung, in den Gegenstandsbereich und in die Ziele von Pflegewissenschaft und Pflegeforschung soll helfen, sich in der „Wissenschaftsabteilung“ der Pflege zu orientieren. Da in der Forschung ebenso wie in der Pflegepraxis die Ethik eine wichtige Rolle spielt, bekommen Sie am Ende des Kapitels auch Einblick in das Thema Forschungsethik.

Dass der Gegenstand einer Wissenschaft bereits vorhanden ist, ist nicht selbstverständlich. Denken Sie nur an die Mathematik oder die Philosophie – beides sind Wissenschaften, die ihren Gegenstand nicht in der Realität auffinden, sondern ihn gewissermaßen erfinden und fortwährend weiterentwickeln.

2.1 Pflegewissenschaft

2.1.1 Definition und Gegenstandsbereich

Das, was jede (Einzel-)Wissenschaft inhaltlich ausmacht und wodurch sie sich von anderen Einzelwissenschaften abgrenzt, das ist ihr Gegenstand oder ihr Interessenbereich. Zum Beispiel ist die menschliche Psyche der Gegenstand der Psychologie, all die Krankheiten und Beeinträchtigungen, die am menschlichen Körper auftreten, sind der Gegenstand der Medizin, und der Gegenstand der Pflegewissenschaft ist die Pflege. Der Gegenstand (oder Gegenstandsbereich, wie er auch oft genannt wird) der Pflegewissenschaft wird also nicht von der Wissenschaft erfunden oder neu entwickelt, sondern er ist – in Gestalt der Pflegepraxis – bereits vorhanden. Pflegewissenschaft ist daher die Wissenschaft, deren definierter Interessenbereich das Handlungsfeld Pflege ist (Rennen-Allhoff & Schaeffer, 2000).

definieren

(lat.) = festlegen, (einen Begriff) erklären oder bestimmen

Die Beschreibung des Gegenstandsbereichs Pflegewissenschaft basiert also auf dem, was professionelle Pflege ausmacht. Der ICN (International Council of Nursing) definiert professionelle Pflege folgendermaßen:

„Pflege umfasst die eigenverantwortliche Versorgung und Betreuung, allein oder in Kooperation mit anderen Berufsangehörigen, von Menschen aller Altersgruppen, von Familien oder Lebensgemeinschaften, sowie von Gruppen und sozialen Gemeinschaften, ob krank oder gesund, in allen Lebenssituationen (Settings). Pflege schließt die Förderung der Gesundheit, Verhütung von Krankheiten und die Versorgung und Betreuung kranker, behinderter und sterbender Menschen ein. Weitere Schlüsselaufgaben der Pflege sind Wahrnehmung der Interessen und Bedürfnisse (Advocacy), Förderung einer sicheren Umgebung, Forschung, Mitwirkung in der Gestaltung der Gesundheitspolitik sowie im Management des Gesundheitswesens und in der Bildung.“

(ICN 2014, Übersetzung: deutscher Berufsverband für Pflegeberufe,
https://www.dbfk.de/de/themen/Bedeutung-professioneller-Pflege.php)

Genauere Beschreibungen und Definitionen dessen, was Pflege ist, bzw. was zu den Aufgabenbereichen professioneller Pflege gehört, variieren, unter anderem je nach den gesetzlichen Vorgaben der Kompetenzbereiche im Gesundheitswesen. Die Unterstützung von Menschen, die sich – kurz- oder längerfristig – nicht selbst pflegen können bzw. ihren Aktivitäten des täglichen Lebens und Grundbedürfnissen nicht nachkommen können, ist immer Kernaufgabe der beruflichen Pflege.

Pflegewissenschaft ist die Wissenschaft, deren Interessenbereich das Handlungsfeld Pflege ist. Professionelle Pflege beinhaltet 1. die Unterstützung von Menschen, die sich nicht selbst pflegen können, 2. die Durchführung von und Mitwirkung an präventiven, diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen und 3. die Ausbildung, Beratung und Begleitung von Menschen, die sich oder andere besser pflegen wollen.

Gegenstand der Pflegewissenschaft sind nun:

einerseits die Auswirkungen von Krankheit, Behinderung und Gebrechen auf die Alltagsgestaltung (also das „Leben mit Krankheit“),

andererseits die Wirkungsweise pflegerischer Interventionen sowie die Einflussfaktoren und Kontextbedingungen „guter“ Pflege.

intervenieren

(lat.) = sich einschalten, eine Handlung setzen

Kontext

(lat.) = Zusammenhang, Umfeld

Von pflegetheoretischer Seite wird der Gegenstandsbereich der Pflege und somit der Pflegewissenschaft anhand sogenannter Schlüsselkonzepte umschrieben (Fawcett, 1998). Diese sind zentrale, inhaltlich grundlegende Begriffe der Pflege. Sie lauten:

1. Person

2. Umwelt

3. Wohlbefinden

4. pflegerisches Handeln

Ad 1: Person

Das zentrale Interesse der Pflege gilt der Person und ihrer Biografie. In der Regel ist diese Person der pflegebedürftige Mensch. Hat man aber die Wechselbeziehung, den Austausch zwischen den Menschen (die Interaktion) im Auge, ist auch die pflegende Person miteingeschlossen.

Interaktion

(lat.) = Wechselbeziehung zwischen Personen. Die Interaktion ist eine Handlung, die auf einen anderen Menschen bezogen ist und das Verhältnis zwischen diesen beiden Menschen mitgestaltet

Abbildung 4
Konzeption der Schlüsselbegriffe der Pflegewissenschaft

Ad 2: Umwelt