Die Autorin

Simona Ahrnstedt – Foto © Kate Gabor

SIMONA AHRNSTEDT kam 1967 in Prag zur Welt und zog als Kind mit ihren Eltern nach Schweden.
Sie ist Psychologin und Verhaltenstherapeutin. Ihre Romane stehen in Schweden regelmäßig an der Spitze der Bestsellerliste. Sie wird die skandinavische Queen of Romance genannt. Sie ist die erste schwedische Liebesromanautorin, deren Romane ins Englische übersetzt und in den USA erscheinen werden. Simona Ahrnstedt lebt mit zwei Teenies in der Nähe von Stockholm.

Das Buch

Die Endzwanzigerin Stella Wallin ist ein Großstadtmädchen durch und durch, immer perfekt gestylt, immer in High Heels und mit einem Lächeln im Gesicht. Ihr großer Traum ist es, Designerin zu werden, sie arbeitet in einer Boutique für Designerkleidung. Doch von einem Tag auf den anderen verliert sie alles.
Ihr Verlobter betrügt sie mit einer Kollegin, sie wird über Nacht arbeitslos, obdachlos und freundlos. Hals über Kopf flüchtet sie ins südschwedische Laholm, wo das ehemalige Haus ihrer Großeltern steht. Dieses will sie schnellstmöglich verkaufen, um mit dem Geld nach New York an eine renommierte Designschule zu gehen. Stella hofft außerdem, im Haus Hinweise darauf zu finden, wer ihr Vater ist. Doch das Haus ist eine abrissreife Bruchbude und ihr einziger Kontakt ein gutaussehender Bauer mit ziemlich schlechter Laune …

Simona Ahrnstedt

Nur noch ein bisschen Glück

Es ist der falsche Mann, die falsche Zeit, der falsche Ort. Warum nur fühlt es sich dann so richtig an?

Aus dem Schwedischen
von Maike Barth

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Deutsche Erstausgabe im Ullstein Paperback
1. Auflage Juli 2020
© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020
© Simona Ahrnstedt 2019
Titel der schwedischen Originalausgabe: Bara lite till (Forum, Stockholm)
Published by agreement with Salomonsson Agency
Umschlaggestaltung: zero-media, München nach einer Vorlage von Emma Graves
Umschlagmotive: © istockphoto/aldomurillo; © stocksy/Treasures & Travels; © shutterstock/Distance0
Foto der Autorin: © Kate Gabor
E-Book-Konvertierung powered by pepyrus.com
ISBN 978-3-95818-576-0

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~ 1 ~

Nie hätte Stella Wallin es für möglich gehalten, dass ihr so etwas passiert. Sie hatte ja schon so einiges erlebt. Aber das? Wahrscheinlich glaubte jede Frau, dass ausgerechnet ihr so etwas nicht passieren könne, dass ausgerechnet sie nicht so dumm, einfältig und unfassbar gutgläubig sei.

Doch offenbar war sie genau das.

Stella war schockiert. Nein, sie war wütend. Nein, sie war schockiert und wütend.

Sie drückte ihre Chanel-Handtasche an sich, für die sie jahrelang gespart hatte und die sie fast mehr liebte als ihr Leben.

Zuerst hatte sie es natürlich nicht wahrhaben wollen, hatte es ganz einfach nicht glauben können. Aber es war so. Sie war eine betrogene Frau. Ihr Freund hatte sie betrogen. Während Stella mit eigenen Problemen kämpfte, während sie sich endlich einmal auf sich selbst konzentrierte, war er mit einer anderen Frau ins Bett gegangen. Viele Male. Mit … mit … dieser …

Und Stella hatte nichts geahnt.

Sie war betrogen. Und obdachlos, denn die Wohnung gehörte ihm. Und arbeitslos. Weil, ja … weil.

Betrogen, obdachlos, arbeitslos. Sie war noch unschlüssig, was davon das Schlimmste war.

Sie blickte sich um und fand sich überhaupt nicht zurecht. Die Luft war unnatürlich frisch. Keine Abgase, kein Lärm. Das machte sie ganz nervös.

Sie rückte ihre Sonnenbrille zurecht. Es war ihr gut gegangen vorher. Sie hatte einen ziemlich guten Job gehabt, bei dem sie sich mit Dingen beschäftigen konnte, die ihr am Herzen lagen.

Und eine Wohnung, was für eine Achtundzwanzigjährige in Stockholm wahrlich keine Selbstverständlichkeit war.

Sie hatte ein Ziel und einen Traum gehabt.

Ihr Traum, ja. Den hatte sie schon, solange sie denken konnte. Ein Traum, der zum ersten Mal seit zwei Jahren in Reichweite gekommen war. Der Traum von einer Zukunft, in der ihre Kreativität und ihre Leidenschaft sich endlich entfalten könnten.

Und sie hatte einen Freund gehabt.

Dieser Dreckskerl.

Wie hatte sie nur so gutgläubig sein können? Sie, die niemals naiv gewesen war, die immer für sich selbst gesorgt hatte. Die wusste, dass einem das Leben jederzeit eine Ohrfeige verpassen konnte.

Stella blinzelte durch ihre Sonnenbrille. Sie konnte mit dem platten Land nichts anfangen. Die Luft war so klar und aromatisch, dass ihr schwindelig wurde. Die Stille war geradezu abartig. Sie war in Stockholm aufgewachsen, im dreckigen Stadtteil Södermalm. War schon mit zehn Jahren allein U-Bahn gefahren. Sie liebte das Tempo der Stadt, die vielen Menschen. Dass man nicht auffiel, egal welche Kleidung oder Hautfarbe man hatte. Parks mit Blumen in schnurgeraden Reihen und mit mickrigen Bäumen, umgeben von Beton und Steinen.

Sie schwankte auf ihren viel zu hohen Schuhen von Louboutin, die so gar nicht zum Reisen gemacht waren – nichts, was sie anhatte, war dafür gemacht. Sie trug Sachen für einen Drink in der City und die Taxifahrt bis zur eigenen Haustür, total unpraktisch, aber sie wollte sich hübsch und stark fühlen, deshalb hatte sie ihr bestes Seidentop angezogen, an dessen Entwurf und Zuschnitt sie wochenlang gearbeitet hatte. Eines der besten Stücke, die sie je genäht hatte. Sie wollte sich wie eine Powerfrau fühlen.

Jetzt stand sie also hier auf dem Land, mit geglätteten Haaren, in High Heels, in Seide und Kaschmir, und unterdrückte ihre Angst, so gut es ging. Aber sie hatte einen Plan. Einen soliden Plan. Kein bisschen verrückt.

Sie wollte ihr Haus an einen Gutsbesitzer namens Erik verkaufen. Das Haus sei klein und wertlos und das Grundstück steinig, hatte Erik gesagt, aber wenn sie sich schnell entscheide, würde er ihr einen guten Preis machen, und sie wollte nehmen, was sie kriegen konnte, denn was sie jetzt vor allem brauchte, war Geld. Außerdem wollte sie nach Hinweisen auf ihre geheimnisvolle Mutter suchen und auf ihren noch geheimnisvolleren Vater, und danach wollte sie schleunigst nach Stockholm zurückkehren, um ihren Umzug nach New York zu organisieren, koste es, was es wolle. Alles ganz weit hinter sich lassen.

Easy peasy.

Natürlich nur, falls das Haus genügend einbrachte. Und falls sie an der Schule angenommen wurde.

Sie verscheuchte ein Insekt.

Ziemlich viele »falls«.

Zuallererst musste sie aber Laholm finden.

Stella rückte ihre Chanel-Handtasche zurecht, griff nach ihrer Halskette, die sie wie einen Talisman immer, wirklich immer trug, und ließ ihren Blick über die öde Gegend schweifen: ein menschenleerer Bahnhof, eine Autobahn und jede Menge Acker.

Wo auch immer dieses Laholm liegen mochte.

~ 2 ~

Der Hahn krähte aus vollem Hals. Ein Lärm, der bis in Thor Nordströms Träume vordrang. Während der Hahn krakeelte, stand Thor auf, steckte den Kopf aus dem offenen Fenster und rief: »Es reicht jetzt!«

Der Lärm brach ab, aber man konnte förmlich hören, wie der Hahn Anlauf nahm, um zur Antwort noch lauter zu krähen. Thor zog seine Sachen an: ausgewaschene Arbeitshosen, weißes T-Shirt und ein altes kariertes Hemd, und ging in die Küche hinunter, um den ersten Kaffee des Tages aufzusetzen und wach zu werden.

Die Sonne schien durch das Küchenfenster. Das eiskalte Wasser des Lagan glitzerte durch die Bäume, und die Hügel leuchteten in sattem Grün. Auf dem Hof war die Frühjahrsbestellung in vollem Gange, und ihm stand ein langer Arbeitstag bevor.

Er öffnete die Tür, und seine beiden Hunde stürmten hinaus.

»Alles in Ordnung?«, fragte er Nessie, als sie von ihrer Kontrollrunde zurückkam.

Der schwarz-weiße Border Collie wedelte mit dem Schwanz. Nessie war ein Hütehund und klüger als die meisten Menschen, die Thor kannte. Er kraulte sie hinter den Ohren, als Pumba, der dicke gelbe Labradorwelpe, in die Küche tapste, immer in Nessies Kielwasser und immer auf der Suche nach etwas Essbarem. Futter war das Beste, was Pumba kannte, und sein Bäuchlein war schon jetzt bemerkenswert prall.

Nachdem Thor beide Hunde gefüttert, eine Tasse Kaffee getrunken und den Rest in eine Thermoskanne umgefüllt hatte, war er so weit.

»Kommt, wir drehen eine Runde«, sagte er.

Nessie preschte aus der Tür, und Pumba wackelte hinterher, so schnell ihn seine kurzen Beine trugen.

Zu dieser Jahreszeit arbeitete Thor vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Sein großer Hof umfasste Weiden, Felder, Äcker und Wäldchen, bei deren Bewirtschaftung er zwar Hilfe hatte, aber selbst die Hauptverantwortung trug. Er baute Getreide, Gemüse und Obst an und hielt Tiere.

Als Erstes ließ er die Hühner aus dem Stall. Der stimmgewaltige Hahn warf sich in die Brust, überzeugt, dass er auf dem Hof das Sagen hatte. Thors Hühner lebten in einer strengen Hierarchie, weshalb die Hähne einander bekämpften, wann immer sich die Gelegenheit bot. Die Hühner begannen zu picken, während die Hähne Wache hielten.

Die sechs weißen Fjällrinder warteten bereits vor dem Stall. Thor holte sie herein, säuberte ihre Euter und melkte sie. Er produzierte genug Milch für den Eigenbedarf und machte darüber hinaus Käse, den er verkaufte. Sein »Feuerkäse« war beliebt – eine schwedische Variante des Halloumi, die sich perfekt zum Grillen eignete. Danach ließ er die Kühe wieder auf die Weide und ging eine Runde über seine Ländereien, um sich zu vergewissern, dass während der Nacht nichts passiert war. Auf einem Hof dieser Größe gab es immer viel zu tun, und kein Tag glich dem anderen. Immer musste irgendwo etwas repariert, transportiert oder gegraben werden, aber das gefiel ihm, weil er sich gern körperlich anstrengte. Vielleicht bewahrte ihn das vor dem Nachdenken, überlegte er, während er einen Zaun kontrollierte, der ausgebessert werden musste.

Aus alter Gewohnheit ging er einen Schlenker zu der Magnolie, die vor vielen Jahren gepflanzt worden war. Sie war zwar nicht tot, aber in all den Jahren, die der Baum hier schon stand, hatte er nie geblüht, nicht einmal eine Knospe gebildet, nur hellgrüne Blätter und dürre Äste.

Ich sollte sie fällen, dachte er, wie schon tausendmal zuvor. Aber er brachte es einfach nicht fertig.

»Kommt«, rief er stattdessen die Hunde, die angerannt kamen.

Zusammen liefen sie durch den Garten, wo die Obstbäume sich in unterschiedlichen Stadien der Blüte befanden. Äpfel, Birnen, Kirschen und exotischere Arten: Aprikosen und Mandeln an einem sonnigen, geschützten Platz. Ein Habicht segelte am Himmel und verscheuchte kurzzeitig kleine Singvögel und andere Beutetiere. Bachstelzen und Lerchen suchten nach Insekten, und auf dem Teich hatte sich ein geräuschvolles Schwanenpaar niedergelassen, zum Ärger der Enten.

»Ach, Pumba«, seufzte Thor, beugte sich hinunter und hob den Welpen vorsichtig aus einem Kaninchenbau heraus, wo er feststeckte, das Hinterteil in der Luft. Der Hund sprang bellend einer Hummel hinterher.

Thors Blick fiel auf die Kate an dem Flüsschen, das an seiner Grundstücksgrenze verlief. Die Bruchbude war ein einziges Ärgernis. Sie war in den letzten Jahren zusehends verfallen. Sie gehörte jemandem aus Stockholm, der sich nicht darum kümmerte. Thor hatte über die Jahre immer mal wieder danach gesehen, aber das Beste wäre vermutlich, das Gebäude einfach einstürzen zu lassen. Das Dach hatte ein Loch, die Fenster mussten abgedichtet werden, die Isolierung fehlte und Gott allein wusste, welche Tiere sich drinnen angesiedelt hatten. Der Garten bestand aus Dickicht und Unkraut sowie einer riesigen Eiche, die man fällen sollte, bevor ein Unglück geschah. Er hatte einiges am Grundstück getan, Gräben ausgehoben, entwässert, es von Gebüsch befreit, viel mehr, als er hätte sollen, aber er konnte den Verfall einfach nicht mit ansehen. Außerdem stellte das Grundstück eine wichtige Pufferzone gegen seinen unangenehmsten Nachbarn dar. Er konnte ein Teil des Gewässers am Haus erkennen, einen kleinen Tümpel voller Frösche und Salamander, die sich im Schatten der Bäume wohlfühlten. Auch Schmetterlinge, Blumen und Insekten vermehrten sich dort prächtig – es war wie eine kleine ökologische Oase. Vielleicht sollte er den Besitzer des Grundstücks ausfindig machen und ihm ein Kaufangebot unterbreiten, aber das stand auf seiner To-do-Liste ganz weit unten. Meistens war er schon froh, wenn es ihm gelang, den Tag ohne größere Katastrophen zu überstehen.


»Hallo!«, erklang Stunden später eine Stimme.

Thor warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war fast Mittag, und My kam den Hügel herauf.

»Was machst du da?«, fragte sie, gab ihm einen Kuss und begrüßte die Hunde.

Irgendetwas an ihr war anders, das spürte er sofort, ohne dass er hätte sagen können, was es war. Er hielt den Hammer hoch, wie um ihr zu zeigen, was er als Nächstes vorhatte.

»Eine der jungen Ziegen ist ausgebrochen. Ich muss einen besseren Zaun bauen.«

Gemeinsam gingen sie zu den Ziegen. Die Hunde folgten ihnen. My runzelte die Stirn, und Thor spürte, wie sich in seiner Brust etwas zusammenzog. Ständig war er auf der Hut, dass etwas Schreckliches geschehen könnte. War etwas passiert?

Bei der Weide angekommen, betrachtete My den Ausreißer: eine weiße Ziege mit schwarzen Punkten, die mit Unschuldsmiene zu ihnen aufsah. Thor warf der Missetäterin einen strengen Blick zu. Er hatte sie gestern bis zur Straße verfolgen müssen. Sie erwiderte den Blick und wackelte mit den Ohren. Ihre Mundwinkel wiesen nach oben, sodass es aussah, als ob sie lachte.

»Ist sie neu?«, fragte My.

Thor nickte.

»Wie heißt sie?«

»Ich nenne sie Trouble.«

»Hallo, Trouble, du Süße, hör nicht auf ihn«, sagte My und streckte die Hand aus. Die Ziege begann sofort an ihrem Ärmel zu knabbern, und My zog die Hand schnell wieder zurück.

»Thor, wir müssen reden«, sagte sie und biss sich auf die Lippe.

»Oh nein.« War der Ankündigung »wir müssen reden« schon jemals etwas Gutes gefolgt?

»Du weißt, dass ich dich mag«, begann sie.

»Ich mag dich auch«, sagte Thor ehrlich. Sie kannten einander schon lange, schon seit der Schule. Im letzten halben Jahr hatten sie sich öfter getroffen und waren auch ein paarmal zusammen im Bett gelandet. Er betrachtete sie zwar als seine Freundin, aber sie hatten noch nie über die Zukunft gesprochen. Oder über ihre Beziehung, die sich allmählich veränderte, wie er schon bemerkt hatte.

»Hm«, sagte My mit verschränkten Armen und abgewandtem Blick. Er mochte ihre direkte Art, aber jetzt sah sie traurig und zornig aus.

»Was ist?«, fragte er.

»Das verbirgst du allerdings gut, finde ich.« My hob das Kinn.

Wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass ihre Beziehung eher bequem war als leidenschaftlich. Aber er hatte gedacht, sie sei damit zufrieden. Er wusste nicht, was er sagen sollte, was sie von ihm erwartete.

»Findest du, dass zwischen uns alles in Ordnung ist?«, fragte sie.

My war lustig, klug und sexy. Hübsch, mit ihren hellen Haaren und blauen Augen. Für diesen Typ hatte er schon immer eine Schwäche gehabt. Seine Frau war auch blond und blauäugig gewesen. Und auch sie war eine Expertin darin gewesen, suggestive Fragen zu stellen.

»Was findest du denn?«, fragte er vorsichtig.

»Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was ich denken soll. Du bist wunderbar.«

»Aber?«

»Kein Aber. Du bist ein guter Mann. Aber ich frage mich, ob wir eine Pause machen sollten.«

Pause? Er verstand sie nicht. »Willst du Schluss machen?«

»Das ist ein großer Schritt. Vieles ist ja auch gut«, sagte sie, klang aber nicht ganz überzeugt.

Thor steckte den Hammer in den Gürtel. Er ließ den Blick über das Feld schweifen, in dessen Mitte der Traktor stand. Der hatte schon eine Weile Zicken gemacht, und jetzt schien er ganz zu streiken.

»Ich glaube, ich muss nachdenken«, sagte My.

Er kratzte sich an der Wange.

»Vielleicht auch andere kennenlernen?«, sagte sie.

Thor hörte auf, sich zu kratzen. »Welche anderen?«

»Thor, ich will dich nicht verletzen, aber du spürst doch sicher auch, dass das zwischen uns nirgendwohin führt.«

Sie hatte recht. Und es war seine Schuld, das war ihm klar. My hatte jemanden verdient, der sie aus ganzem Herzen liebte, davon war er überzeugt. Jemanden, der sich für sie entschied. Der ihr das geben konnte, was sie sich wünschte. Der nicht kaputt, abgefuckt und sonst was war.

»Wenn es das ist, was du willst«, sagte er. Sie wäre nicht der erste Mensch, der ihn verließ. Im Gegenteil. Ständig verschwanden Menschen aus seinem Leben. Das musste man aushalten. Oder daran zerbrechen.

»Ich weiß nicht, was ich will, aber ich glaube, es ist das Beste, ehrlich zu sein.«

»Da hast du recht.« Er schaute wieder zum Traktor hinüber. Der Fahrer, ein junger Mann, der hin und wieder aushalf, war abgesprungen und kratzte sich am Kopf.

»Ich habe nur eine kurze Mittagspause, ich muss zurück zur Arbeit«, sagte My. »Ist das okay?«

»Natürlich, ich muss auch weitermachen«, sagte er mit einer Geste in Richtung Traktor und Feld.

Sie umarmte ihn zögerlich, verabschiedete sich und ging. Er blickte ihr nach, sah ihr helles Haar um ihre Schultern spielen, sah ihre Körperhaltung, die Erleichterung ausdrückte.

Dieser Tag gehörte definitiv nicht zu seinen besten.


Später am selben Tag saß Thor im Auto, während der Zug nach Malmö langsam in der Ferne verschwand. Er hatte seine Eltern zum Bahnhof gefahren. Sie wollten sich mit Freunden treffen, in die Oper gehen und im Hotel übernachten. Das machten sie nur sehr selten, und er freute sich für sie.

Sein Körper schmerzte nach dem langen Arbeitstag.

Der langen Woche.

Dem langen Leben.

Er war sechsunddreißig, aber in diesem Moment fühlte er sich doppelt so alt. Er atmete aus. Ließ seine Gedanken los.

Es war schön, einfach hier im Auto zu sitzen und so zu tun, als ob das Leben keine Anforderungen an ihn stellte. Als ob er keine anderen Probleme auf dieser Welt hätte, als nach Hause zu fahren, eine Flasche Bier zu öffnen und sich zu überlegen, ob er fernsehen oder lieber ein Buch lesen sollte. Beinahe hätte er laut aufgelacht, denn das war so weit entfernt von seinem wirklichen Leben, wie es nur ging.

Er gönnte sich noch einen Moment, aber dann war es Zeit, sich zusammenzureißen. Sich um den Hof zu kümmern und Verantwortung zu übernehmen.

Als er den Zündschlüssel umdrehte, sah er eine Frau über den Platz kommen. Sie hatte langes dunkles Haar, und ihr Gesicht war fast ganz hinter einer riesigen Sonnenbrille verborgen, obwohl die Maisonne bereits unterging. Um diese Zeit war der Bahnhof verwaist, der Bus war abgefahren, und Thor sah auch keine anderen Autos.

Er zögerte, die Finger am Zündschlüssel. Nicht, dass er alle in der Stadt gekannt hätte, so klein war Laholm dann doch nicht. Obwohl er schon sein ganzes Leben lang hier wohnte, gab es noch immer viele Laholmer, denen er noch nie begegnet war. Aber er hatte einen ganz guten Überblick über die Menschen in seinem Alter, und diese Frau hatte er noch nie gesehen. Außerdem unterschied sie sich so deutlich von den Einwohnern von Laholm, dass sie mit ziemlicher Sicherheit eine Zugereiste war. Aus Stockholm, vermutete er. Er wusste nicht genau, woran es lag, vielleicht an den Schuhen mit den außergewöhnlich hohen Absätzen oder an ihrem eleganten Look, aber sie sah jedenfalls nicht aus wie eine Kleinstadtbewohnerin.

Sie schien auch nicht zu wissen, wohin sie wollte, und sah sich um, als suche sie etwas. Lange starrte sie die alte Taxisäule an, las das Schild, das verkündete, dass man derzeit in Laholm und Umgebung kein Taxi bestellen könne. Die Taxifrage war hier in der Gegend ein einziges Elend.

Thor zögerte, hin- und hergerissen zwischen seinem Wunsch, nach Hause zu kommen, und seiner Neugier darauf, was die Stockholmerin tun würde. Würde jemand sie abholen? Anders konnte man hier kaum wegkommen. Ein Bahnhof mitten im Nirgendwo, ein missglücktes Projekt, wodurch der Bahnhof von Laholm weit draußen auf dem Land errichtet worden war.

Thor umklammerte das Lenkrad.

Diese Frau war nicht seine Aufgabe. Er hatte genug eigene Proble-me. Genau genommen quoll sein Problemkonto bereits über. Was er brauchte, war einmal ein Tag, eine halbe Stunde, ohne Krisen.

Sie war erwachsen und konnte selbst für sich sorgen.

Obwohl …

Widerwillig machte er den Motor wieder aus. Er wusste nicht einmal, warum. Er wartete und hoffte weiter, dass irgendjemand auftauchen würde, doch als die Gegend um den Bahnhof auch weiterhin verwaist blieb, öffnete er widerstrebend die Autotür und stieg aus.

Die Frau drehte sich abrupt zu ihm um.

Ein Windstoß trug ihm den Duft von Jasmin und Sandelholz zu.

Vielleicht war das auch Einbildung, genau wie der kleine Schauer, der sein Rückgrat hinunterlief.

»Hallo, alles in Ordnung?«, rief er.

Die Sonnenbrille starrte ihn an, als ob er sie erschreckt hätte. Thor versuchte, ungefährlich und nett auszusehen, also nicht groß, ungepflegt und gereizt, was er eigentlich war.

»Alles okay?«, fragte er. Wieder traf ihn der Hauch von Sandelholz und Blumen.

»Wie kommt man von hier in die Stadt?«, fragte sie mit tiefer Stimme und einem eindeutigen Stockholmer Akzent. Natürlich kam sie aus der Hauptstadt. Das sah man an allem, von der lässigen Haltung bis zu den unpraktischen Schuhen. Sein Blick fiel auf ihre glänzenden schwarzen Schuhe mit den spitzen Absätzen. Sie waren ziemlich schick, das musste er zugeben. Ihre Beine wirkten endlos darin.

Er zeigte in Richtung Laholm.

»Da lang«, sagte er.

Ohne ein Wort lief sie los.

Er sah ihr nach. War das ihr Ernst?

»Du kannst nicht zu Fuß gehen«, rief er ihr nach. Sie war definitiv nicht für einen längeren Spaziergang gekleidet. Eher für einen entspannten Abend in einer Bar. Auf einem luxuriösen Ledersofa würde sie gut aussehen. Vielleicht in einem Abendkleid und mit Strumpfhosen, die bei jeder Bewegung knisterten. Dunkle Haare auf nackten Schultern. »Das ist zu weit, fast zehn Minuten mit dem Auto«, fügte er hinzu.

Die Frau blieb stehen. Sie nahm ihre große, glänzende Handtasche auf die andere Schulter. Sogar Thor konnte erkennen, dass es ein exklusives Stück war. Wieder erreichte ihn der Duft von Parfüm. Warm. Sinnlich. Völlig deplatziert.

»Wo fährt denn der Bus ab?«, fragte sie und fügte leise hinzu: »In diesem Kaff.«

»Den Bus hast du verpasst.« Das passierte andauernd.

Sie schnitt eine Grimasse. »Unglaublich. Und wo bekomme ich ein Taxi her?«

»Taxis gibt es auch nicht«, antwortete er. Die Taxifirmen kamen und gingen.

»Gar keine? Machst du Witze?«

Ja, klar. Schließlich war er ja für seinen Humor bekannt.

»Du bist hier auf dem Land«, erklärte er, zunehmend verärgert. Er war müde, und sie hatte keinen Grund, so genervt zu sein, und hübsche Beine und eine heisere Stimme konnten nicht alles wettmachen. »So ist das auf dem Land. Kommt dich niemand abholen?«

Sie warf ihm einen Blick zu, als sei das die dümmste Frage, die sie je gehört hatte. Vielleicht war sie das ja auch. Sie strahlte etwas Einsames aus.

»Nein.«

Thor wartete auf weitere Informationen.

»Ich komme allein zurecht«, fügte sie hinzu.

»Na dann.«

Thor war hin- und hergerissen zwischen zwei widerstreitenden Impulsen. Er sollte jetzt wirklich nach Hause fahren. Sie ihrem Schicksal überlassen. Sich um die ungefähr tausend anderen Dinge kümmern, die auf ihn warteten. Allerdings …

Die Frau stand trotzig da. Mit der einen Hand umklammerte sie ihre Handtasche. Ihre Fingerknöchel waren weiß.

»Soll ich dich vielleicht mitnehmen?«, fragte er, offensichtlich nicht in der Lage, sie so einfach stehen zu lassen.

»Ich habe doch gesagt, dass ich zurechtkomme«, erwiderte sie brüsk und wandte sich ab.

Thor starrte auf ihren Rücken.

Tja, dann.

Er setzte sich ins Auto. Ließ den Motor an. Legte den Rückwärtsgang ein. Sah in den Rückspiegel.

Sie stand immer noch da. Nur fünf Minuten Ruhe hatte er sich gegönnt, und statt jetzt auf dem Nachhauseweg zu sein, war er in diese Situation geraten. Trotzdem, er konnte sie nicht einfach hier stehen lassen. Auf dem Land half man sich gegenseitig. So war er erzogen. So verhielt man sich einfach.

Verärgert öffnete er die Autotür wieder.

»Willst du ins Hotel?«, rief er. Das wäre kein allzu großer Umweg, er könnte sie dort herauslassen.

Sie schwieg lange und antwortete dann: »Nein.« Immer noch in derselben stolzen Haltung. Aber irgendetwas, ein Zittern in ihrer Stimme, die weißen Knöchel, verriet, dass sie nicht so cool war, wie sie sich gab.

»Willst du hier jemanden besuchen?«

»Nein.«

»Bist du vielleicht am falschen Bahnhof ausgestiegen?«, fragte er.

»Ich bin doch nicht blöd.«

»Wenn du es sagst«, antwortete er, nicht ganz überzeugt.

Wie gesagt. Er sollte sie einfach stehen lassen. Aber es wurde bereits kühl. Die Maiabende waren noch nicht besonders warm. In der letzten Woche hatten sie noch Minusgrade gehabt, und es standen ihnen sicher noch ein paar Frostnächte bevor, ehe die Gefahr ganz vorüber war.

»Gibt es wirklich keine Busse oder Taxis?«, rief sie.

Thor schüttelte den Kopf.

»Wie lange dauert es zu Fuß?«

Er betrachtete ihre unpraktischen Schuhe. »Das kommt darauf an, wie schnell du gehst. Es sind fast fünf Kilometer. Willst du ins Zentrum?«

»Das weiß ich nicht. Nein, ich glaube nicht. Ich will in den Magnoliavägen.«

»Welche Hausnummer?«

»Drei.« Sie biss sich auf die Lippe und machte einen Schritt auf ihn zu. »Weißt du, wo das ist?«

Plötzlich wurde ihm alles klar. Sie war das also. Sie musste es sein. Die Frau aus Stockholm. »Das liegt hinter dem Fluss«, sagte er, jetzt mit weniger Mitgefühl, und fügte hinzu: »Das ist noch weiter.«

»Natürlich«, sagte sie.

Ihre Kraft schien sie verlassen zu haben. Sie strich sich übers Haar und nahm die Sonnenbrille ab. Er stand zu weit weg, um ihre Augen erkennen zu können, aber es sah aus, als ob sie dunkle Ringe unter den Augen hätte. Er hatte nicht vor, sie zu bemitleiden, sagte er sich. Obwohl sie müde aussah. Und ein bisschen niedergeschlagen.

»Was willst du da?«, fragte er.

»Wo?«

»Im Magnoliavägen.«

»Ich will da wohnen.«

Er konnte seine Überraschung kaum verbergen. »Wirklich?«

»Es ist mein Haus«, sagte sie mit trotzig vorgeschobenem Kinn. »Es gehört mir.«

»Soll ich dich hinfahren?«, hörte er sich schließlich sagen. Sie konnte ja schlecht zu Fuß gehen.

Sie sah ihn an, betrachtete ihn eingehend von Kopf bis Fuß, als ob sie einschätzen wollte, ob er ein durchgeknallter Mörder war. Wieder lief ihm ein Schauer über den Rücken. Offenbar bestand er die Prüfung.

»Wenn es nicht zu viele Umstände macht«, sagte sie und kam in den absurd hohen Absätzen auf ihn zu. Auf dem unebenen Boden geriet sie ins Stolpern.

Beinahe hätte er die Augen verdreht.

»Steig ein«, sagte er.

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~ 3 ~

Stella fragte sich, ob es nicht unklug gewesen war, zu einem fremden Mann ins Auto zu steigen. Ihre Urteilskraft, was Männer anging, war erwiesenermaßen unterirdisch. Peder, ihr Ex-Freund, Kulturmensch, Typ aus der Oberschicht und untreuer Mistkerl, hatte sie schließlich eine Ewigkeit lang betrogen, ohne dass sie auch nur das Mindeste geahnt hatte.

Mit Ann. Ann!

»Ich kann gar nicht glauben, dass die Busse so selten fahren«, sagte sie und legte die Hand auf den Türgriff. Sicherheitshalber. Der dunkelhaarige Fahrer könnte ja schließlich ein Serienmörder sein, der seinen nichts ahnenden Opfern am Bahnhof auflauerte.

Er bog auf die Straße ein. Seine Bewegungen waren ruhig, und er strahlte etwas Solides aus, als ob er dafür gemacht wäre, Wetter und Wind zu trotzen.

»Du bist hier auf dem Land. Man kann froh sein, dass überhaupt welche fahren.«

Er klang nicht gefährlich. Eher gereizt. Und mit seinen erdigen Nägeln und dem ausgewaschenen Flanellhemd war er jedenfalls kein Kulturmensch, was in diesem Fall für ihn sprach.

Dass sie auch nie klüger wurde.

Stella schloss die Augen. Sie konnte sich nicht helfen, aber sie fühlte sich von Männern angezogen, die französische Klassiker zitieren konnten, sich in der Theaterszene auskannten und ganz allgemein sprachgewandt waren. Peder mit seiner prominenten Herkunft, seiner Familie aus der Oberschicht, seiner Arbeit als Regisseur und seinem modebewussten Stil war sie sofort verfallen. Und er ihr. Zumindest bis er mit Ann ins Bett ging. Mit der Stylistin Ann Bokgren, die eine ungesunde Vorliebe für die Farbe Beige hatte. Und offenbar auch für die Freunde anderer Frauen.

Stella öffnete ihre Augen wieder und warf einen verstohlenen Seitenblick auf die Hosenbeine des Mannes. Sie waren sauber. Seine Oberschenkel zeichneten sich unter dem abgetragenen Jeansstoff ab.

»Wie weit ist es bis zum Magnoliavägen?«, fragte sie, während draußen vor dem Fenster die Landschaft vorbeihuschte. Alles war geradezu unglaublich grün.

»Es dauert noch etwas«, antwortete er, ohne sie anzusehen.

Stella holte ihr Smartphone heraus. Der Akku war fast leer, und sie hatte das Ladekabel vergessen. Anscheinend konnte sie nicht mehr klar denken. Sie hatte Stockholm spontan und ohne nachzudenken verlassen, hatte quasi nur Unterwäsche, Schminke und Kreditkarte in eine Tasche gestopft. Schließlich war sie eine Frau, die allein zurechtkam. Allerdings wusste niemand, dass sie in dieses Auto eingestiegen war. Das war ein unnötiges Risiko. Schnell tippte sie eine Nachricht an ihre beste Freundin, Maud Katladottír.


STELLA: Ich sitze in einem Auto. Werde zum Haus gefahren. Der Akku ist gleich leer.


Sie sah wieder aus dem Fenster. Zwar war sie als Kind hier gewesen, erkannte die Landschaft aber überhaupt nicht wieder. Halland. Nicht einmal bei den schwedischen Provinzen kannte sie sich richtig aus.


MAUD: Im Auto? Alles okay bei dir?

STELLA: Ja.


Jedenfalls hoffte sie das.


MAUD: Hast du den Gutsbesitzer schon getroffen? Sieht er gut aus?

STELLA: Kein Gutsbesitzer. Nur ein mies gelaunter Bauer.


Stella legte das Smartphone in ihren Schoß.

»Bist du von hier?«, fragte sie, während sie daran herumspielte. Wie lange reichten siebzehn Prozent?

»Yes, hier geboren und aufgewachsen«, sagte er und blinkte, um abzubiegen.

»Ich kann dir Geld für Benzin mit dem Handy schicken«, sagte sie und bemühte sich dabei, freundlich zu klingen.

Er reagierte nicht.

»Hast du Swish?«, fragte sie.

Er schüttelte langsam den Kopf, als ob das eine idiotische Frage wäre. Vielleicht wusste er nicht, dass man mit Swish Geld schicken konnte? Oder?

»Ich kann dir auch Bargeld geben«, sagte sie. Sie hatte noch einige Scheine in ihrer Brieftasche. Sie brauchte einen Geldautomaten. Es gab doch hier Geldautomaten?

»Kein Problem«, sagte er.

Er bewegte sich kontrolliert, lenkte, bog ab und schaltete bedachtsam. Er war groß, und die Jeans spannten über seinen Oberschenkeln, wenn er die Pedale durchtrat. Und er nahm viel Raum ein. Er warf ihr einen schnellen Blick zu. Nur ganz kurz, aber er ertappte sie dabei, wie sie ihn beobachtete, und aus irgendeinem Grund wurde sie rot. Sie wurde rot! Stella konnte sich nicht erinnern, wann ihr das zum letzten Mal passiert war. Und wenn schon. Er war ja nicht direkt hässlich. Wenn man den ländlich-robusten Typ mochte.

»Wie heißt du?«, fragte er.

»Warum willst du das wissen?«, erwiderte sie scharf.

Er bog noch einmal ab.

»Jetzt hör mal zu. Entspann dich. Ich will mich nur unterhalten. Ich heiße Thor.«

»Stella«, sagte sie nach kurzem Zögern.

Und entspannen würde sie sich erst, wenn sie aus diesem Auto raus war. Männer kapierten wirklich gar nichts. Schließlich stand es einem Mann nicht ins Gesicht geschrieben, ob er in Ordnung war oder ein Grabscher oder noch Schlimmeres.

Wieder machte sich Schweigen breit.

Die Zugfahrt von Stockholm war ein Albtraum gewesen, mit schreienden Kleinkindern und einer Gruppe hysterisch lachender Frauen mittleren Alters. Beim Umsteigen in Göteborg hatte Stella sich im Bahnsteig geirrt und fast ihren Anschluss verpasst. Auf der Höhe von Halmstad war sie in Panik geraten, als ihr aufging, dass sie sich tatsächlich mitten auf dem Land befand. Sie kannte niemanden hier und wusste kaum, wo dieses Hier war.

Sie kamen an Häusern, Bauernhöfen und Wald vorbei. Einige der Häuser waren frisch gestrichen und gepflegt, andere leer und verlassen. Nach einer Weile bogen sie auf eine kleinere Straße ab, und sie vermutete, dass sie gleich da sein würden, und entspannte sich ein wenig. Auf der einen Straßenseite stand ein ziemlich verfallenes Haus. Stella fand, dass man das Ganze abreißen und etwas Neues hinbauen sollte. Jetzt freute sie sich darauf, ihr eigenes Haus zu sehen. Sie vergewisserte sich noch einmal, dass sie den Schlüssel hatte: Er hing wie immer an ihrem Schlüsselbund. Sie berührte ihn mit dem Zeigefinger und fragte sich, was ihre Mutter wohl jetzt gesagt hätte. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung. Ihre Mutter hatte alles verabscheut, was mit Laholm zu tun hatte, und alle Verbindungen zu ihrer Herkunft gekappt. In ihrer Handtasche hatte Stella einen Schokoriegel und einen zerdrückten Teebeutel, beides hatte sie aus dem Erste-Klasse-Wagen mitgenommen. Sie würde sich eine Tasse heißen Tee machen und den Riegel essen. Sie hatte keine Ahnung, was im Haus vorhanden war. Geschirr und Möbel, hatte der Anwalt gesagt, als sie das Nachlassverzeichnis erstellten. Sie war damals völlig verstört gewesen, und es war schon einige Jahre her, seit sie zum letzten Mal mit ihm gesprochen hatte, daher wusste sie es nicht. Morgen wollte sie sich um alles kümmern.

Thor bremste.

»Gibt es ein Problem?« Mist, er wollte doch wohl jetzt keine Schwierigkeiten machen?

Das Auto hielt.

Thor nahm den Gang raus, und Stella war drauf und dran zu protestieren.

»Willst du hier etwas abholen?«, fragte sie stattdessen. Sie wollte nicht unhöflich sein, aber sie sehnte sich danach anzukommen.

»Wir sind da«, sagte er mit einer Kopfbewegung in Richtung Haus.

»Hinter dieser Bruchbude?«, fragte sie skeptisch.

Oder wollte er sie mitten im Nirgendwo absetzen?

»Du, es tut mir leid, wenn ich vorhin unfreundlich war«, sagte sie so freundlich sie konnte. »Aber ich habe einige harte Tage hinter mir.«

Thor lachte auf, kurz, trocken und völlig humorbefreit.

Stella zwang sich zu einem Lächeln. »Es wäre wirklich sehr nett, wenn du mich ganz bis zu meinem Haus fahren könntest. Das Benzin bezahle ich dir gern. Wenn du kein Swish hast, regeln wir das irgendwie anders.«

Stella benutzte die Stimme, die sie für besonders schwierige Kunden in der Boutique reserviert hatte. Für hungrige Hausfrauen von Östermalm, die sich nicht gut genug bedient fühlten, oder für honigblonde Millionärserbinnen, die Stella anfuhren, sie solle sich mal ein bisschen sputen.

Mit einer plötzlichen Bewegung lehnte sich Thor über sie hinüber. Beinahe hätte sie aufgeschrien. Es kam so unerwartet, und sie war ja bereits auf der Hut. Sie presste den Rücken gegen die Lehne. Sein Hemd streifte sie, und sie nahm den Duft von Natur und die Wärme wahr, die von ihm ausgingen. Aber er berührte sie nicht, sondern murmelte nur etwas, streckte die Hand aus, zog am Türgriff und öffnete die Autotür für sie.

»Du bist nicht die Einzige, die harte Zeiten hinter sich hat.« Er nickte in Richtung Hütte. »Das ist dein Haus.«

Stella zögerte, ehe sie langsam ausstieg. Sie drehte sich um. Das musste ein schlechter Witz sein.

»Bist du sicher …«, begann sie, aber er schlug die Beifahrertür zu und gab Gas, sodass der Staub aufwirbelte.

Ohne sich der bizarren Situation richtig bewusst zu sein, wandte sie sich dem Haus zu und starrte es an. Wenn sie genau hinsah, konnte sie tatsächlich den Ort ihrer Kindheit wiedererkennen. Als sie klein war, hatte zu Hause ein Bild davon in einem vergoldeten Rahmen gestanden. Aber auf dem Bild war eine gepflegte und behagliche Kate zu sehen gewesen, eine schwedische Idylle mit weiß gestrichenen Hausecken und blühenden Rosen und Rittersporn, keine schäbige, kleine Bude, die fast von Sträuchern und Büschen überwuchert wurde. Sie machte einen Schritt darauf zu. Der Kies knirschte unter ihren Schuhen, und auf einmal konnte sie sich genau an dieses Geräusch erinnern. Das Haus hatte ihren Großeltern gehört, und es war lange her, dass sie hier gewesen war, sie war damals vielleicht neun oder zehn Jahre alt gewesen. Sie erinnerte sich an frisch geharkten Kies unter ihren Füßen, an glatte Holzfußböden, bunte Flickenteppiche und knallrote Pelargonien auf den Fensterbänken. Natürlich war seitdem die Zeit vergangen, aber das hier … war ja kaum bewohnbar …

Ein plötzlicher Laut ließ sie zusammenfahren. Während der kurzen Autofahrt war es dunkel geworden, und sie wühlte hektisch in ihrer Handtasche. Sie fand den Schlüssel und umklammerte ihn fest. Was hatte sie eigentlich erwartet? In ihrer Fantasie hatte sie von dem Häuschen geträumt, das sie geerbt hatte. Wie man es aus Büchern und Filmen kennt. Ihre Hand zitterte, als sie den Schlüssel ins Schloss steckte und ihn herumdrehte. Doch wenn dies ein Film wäre, wäre Thor ein charmanter Schönling gewesen, der geradewegs in ihr Inneres sah und sie lehrte, sich selbst zu verstehen. Kein mürrischer Bauer, der sich aus dem Staub machte, sobald er sie aus seinem Auto geworfen hatte.

Natürlich klemmte der Schlüssel. Stella versuchte krampfhaft, ihn zu drehen, jetzt fast schon hysterisch, aber er rührte sich nicht. Was, wenn sie nicht ins Haus kam? Es wurde mit jeder Minute dunkler und kälter. Sie fror, sie war hungrig und musste aufs Klo, und sie hörte seltsame Geräusche.

Warum war sie überhaupt hergekommen? Warum, warum, warum?

Sie rüttelte wütend am Schlüssel, und zu ihrer großen Erleichterung drehte er sich endlich.

Langsam öffnete sie die Tür. Ein muffiger, abgestandener Geruch schlug ihr entgegen. Es war stockfinster. Sie tastete mit der Hand nach einem Lichtschalter und drückte darauf, aber nichts geschah. Es gab kein Licht. Der Strom war abgestellt, daran hatte sie gar nicht gedacht. Das bedeutete natürlich, dass sie vermutlich weder Licht noch Heizung hatte. Ganz toll. Sie kämpfte gegen die aufkommende Panik an, während sie einige vorsichtige Schritte ins Haus hinein machte. Es bestand aus einem dunklen Flur, einer Küche auf der einen Seite und einer winzigen Wohnstube auf der anderen. Alles war viel kleiner als in ihrer Erinnerung. Sie tastete sich bis zur Toilette vor. Sie war trocken, es lag ein wenig Gras darin, und als sie den Hahn über dem Handwaschbecken aufdrehte, in dem ihre Hände kaum Platz fanden, kam kein Wasser. Sie hatte also weder Heizung noch Strom oder Wasser.

Sie pinkelte trotzdem in die trockene Toilettenschüssel und wischte sich mit ihrem letzten Papiertaschentuch ab. Dann ordnete sie ihre Kleidung und ging in die winzige Küche. Dort gab es immerhin ein Fenster, durch das das letzte Abendlicht hereinfiel, obwohl die Scheibe vor Schmutz ganz grau war. Bald würde es draußen dunkel sein.

Die Küchenschubladen waren größtenteils leer. Sie fand darin nur vertrocknete Gummibänder, staubige Büroklammern und einzeln darin herumfliegende, schmutzige und rostige Besteckteile. Doch – halleluja – in einer der Laden lagen ein paar Kerzen und eine alte Schachtel Streichhölzer. Sie stellte die Kerzen auf einen Untersetzer, der einen Sprung hatte, zündete sie an und streifte die Schuhe ab. Der Fußboden war eiskalt, aber ihre Füße schmerzten von den hohen Absätzen. Es war ein Fehler gewesen, darin zu reisen. Aber sie hatte ein Bedürfnis danach gehabt, sich mit coolen Schuhen und edler Kleidung für ihre Reise auszurüsten. Nicht, dass es viel genützt hätte.

Sie öffnete die Hängeschränke. Darin standen nur einige Tassen, ein fleckiges Glas und zwei angestoßene Teller. Als Letztes öffnete sie die Tür zum Vorratsschrank. Die Regale waren leer, bis auf ein paar verbeulte Konserven, deren Etiketten nicht mehr zu entziffern waren. Gerade wollte sie die Tür wieder schließen, als ihr Blick auf etwas ganz hinten im Schrank fiel. Sie streckte die Hand aus und holte eine staubige Schnapsflasche mit abblätterndem Etikett hervor. Als sie den Verschluss aufschraubte, verbreitete sich ein scharfer Geruch, aber als sie einen Schluck nahm, floss billiger, aber durchaus trinkbarer Whisky warm durch ihre Kehle in ihren Magen. Sie nahm den Teller mit den Kerzen, die Flasche und die Streichhölzer mit in den Raum, an den sie sich als das Wohnzimmer erinnerte. Sie nahm noch einen Schluck und betrachtete das Elend. Eine Küchenbank mit abgestoßener Farbe, dünner, fleckiger Matratze und kaputter Rückenlehne sowie eine große Truhe waren die einzigen übrig gebliebenen Möbel. Keine Teppiche, Gardinen oder Kissen. Weder Bilder noch Regale. Nur der nackte Fußboden, zwei kaputte Möbelstücke und der muffige Geruch. Sie erinnerte sich, dass das Haus einen Dachboden hatte, aber sie wagte es nicht, im Dunkeln da hinaufzugehen. So, wie sie gerade vom Pech verfolgt wurde, würde sie wahrscheinlich fallen und sich etwas brechen.

Stella nahm noch einen Schluck Whisky. Sie wurde schon ein wenig beschwipst. Sie setzte sich auf das dünne Polster auf der Küchenbank, aß von dem Schokoriegel und fragte sich, ob sie noch tiefer sinken konnte. Vermutlich würde sie heute Nacht aufgefressen werden. Von Spinnen und Mäusen. Und niemanden auf der Welt würde das interessieren.

Sie umklammerte die Flasche und hielt ihre Handtasche im Arm. All dies gehörte jetzt ihr. Eine Bruchbude. Eine alte Whiskyflasche, die Kette ihrer Mutter, die Designertasche und ihre Schuhe. Es war idiotisch gewesen, einfach so hierherzukommen. Wieder hörte sie den Tierlaut draußen und dann ein Kratzen. Sie nahm noch einen großen Schluck. Das Landleben war definitiv nicht ihr Ding.

Ihr Smartphone piepte. Eine Nachricht von Peder.


PEDER: Ich vermisse uns.


Sie tippte wütend:


STELLA: Dann hättest du vielleicht nicht mit Ann schlafen sollen.


Sie konnte es immer noch nicht fassen, dass Peder sie mit Ann betrogen hatte. Von allen Menschen, von denen sie sich hätte vorstellen können, dass Peder sie anziehend fände, wäre Ann wirklich die Letzte gewesen: Ann mit ihrer Babystimme und ihrer Vorliebe für Kleider, Haargummis und Lippenstifte in allen beigen Nuancen. Stella hatte mehrere Jahre lang in einem schicken Designerladen gearbeitet. Hatte an der Kasse gestanden, Rechnungen und Bestellungen bearbeitet und die Kunden hofiert. Ann kam als freiberufliche Stylistin regelmäßig, um Kleider für Promis und Fernsehstars zu besorgen. Peder war ihr mehrmals begegnet und hatte lachend gesagt, wie dämlich sie zu sein scheine. Well. Das hatte ihn offensichtlich nicht daran gehindert, mit ihr im Bett zu landen.


PEDER: Vermisst du mich?


Leider konnte Stella nichts Spöttisches mehr antworten, weil ihr Akku sich verabschiedete.

Sie zog die Beine hoch, nahm noch einen Schluck und legte sich auf die knarzende Küchenbank. Peder hatte sie so furchtbar verletzt, dass sie nicht einmal mehr wusste, welche Gefühle sie für ihn hatte.

Sie bewegte sich. Es war seltsam, aber ihr Körper erinnerte sich an diese Küchenbank. Hier hatte sie als Kind oft gesessen oder gelegen. Damals war das Holz angestrichen und glatt gewesen, und die Kissen hatten geduftet wie frisch gewaschen. Einmal beim Abendessen war sie auf dem Schoß ihrer Mutter eingeschlafen. Hatte gedöst und zugehört, wie ihre Mama, Oma und Opa sich unterhielten. Fröstelnd kauerte sie sich zusammen, so gut es ging, und versuchte die Erinnerung festzuhalten. Sie schloss die Augen und bemühte sich, all die ungewohnten Geräusche, das Knacken und Rascheln zu ignorieren und stattdessen das Bild jenes Abends heraufzubeschwören. Es war eine angenehme Erinnerung, eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen ihre Mutter nicht mit ihren Großeltern gestritten hatte. Ein Abendessen bei Rotwein und in friedlicher Stimmung. Ihre Mutter Ingrid war ein bisschen beschwipst gewesen, aber sie wurde nie übellaunig, wenn sie getrunken hatte, nur ausgelassen und albern, und Stella hatte es geliebt, ihre energische, kühle Mutter so froh und mit rosigen Wangen zu sehen. Weicher als sonst.

Allmählich glitt Stella auf der alten Küchenbank in einen unruhigen Schlaf. Sie träumte von untreuen Männern, von Geld, das ihr durch die Finger rann, und von lebenswichtigen Dingen, nach denen sie suchte, die sie aber nicht finden konnte.