Schnabeltassen, steriles Einheitsmobiliar, schales Essen aus der Großküche und resigniertes In-die-Luft-Starren in Altenheimen. Geht das nicht anders? Doch, findet Kaspar Pfister. Mit Mut, Kreativität und Menschlichkeit beweist er seit vielen Jahren, wie alte Menschen zu mehr Lebenssinn und Lebensjahren finden: mit einem wohnlichen und behaglichen Umfeld statt steriler Krankenhaus-Atmosphäre sowie Teilhabe an täglichen Aufgaben. In seinen Einrichtungen leben die Pflegebedürftigen in Wohngemeinschaften, in denen mit Unterstützung der Mitarbeiter gemeinsam gekocht, gegessen, vorm Kamin gesessen, gestritten, gefeiert und Alltag aktiv gelebt wird. Das führt zu einer hohen Zufriedenheit bei Bewohnern wie bei Mitarbeitern – und immer wieder zu Auseinandersetzungen mit den Behörden, da Pfister konsequent den bestmöglichen und nicht den vorgeschriebenen Weg geht. In diesem Buch beschreibt er, warum ein Wandel beim Thema Pflege dringend nötig ist. Und was dazu auf gesellschaftlicher, politischer und individueller Ebene alles passieren muss.
Was in der Pflege schief
läuft und der Beweis, dass es auch anders geht
Unter Mitarbeit von Christine Koller
Ullstein
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Viele von uns tabuisieren Alter. Sie haben Angst, mit den zunehmenden Jahren die Herrschaft über den eigenen Körper zu verlieren und im Alltag auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Oder gar im Heim zu landen, wo die Luft zum Schneiden ist und nach Desinfektionsmittel, Großküche und Hagebuttentee riecht. Die allerwenigsten verbinden mit dem Begriff »Pflege« ein Leben, das Freude macht und Sinn stiftet in einem angenehmen, motivierenden Umfeld. Doch sollte das unser aller Anliegen sein. Egal um welche Form der Pflege es geht – ob im Heim, betreut oder zu Hause. Schließlich sollten wir uns auch im Alter trotz der einen oder anderen Einschränkung glücklich und wohlfühlen. Das zu ermöglichen bedarf eines vielgestaltigen Wandels in der Altenpflege. Auch vor dem Hintergrund, dass die Alterspyramide kopfsteht und die Zahl der pflegebedürftigen Menschen rasant zunehmen wird. Unsere Gesellschaft vergreist, und das macht die Auseinandersetzung damit umso dringlicher für uns – als Gesellschaft, aber auch für uns persönlich.
Konfrontiert mit dem Thema Pflege ist heute schon jeder Zweite. Direkt oder indirekt. Durch die Betreuung alter oder erkrankter Ehe- und Lebenspartner, der Eltern, der Großeltern oder anderer Angehöriger. Denn 3,4 Millionen Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig. Sie brauchen wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigung Grund- und/oder Behandlungspflege. Jemanden, der ihnen beim Aufstehen, Waschen, Toilettengang oder bei der medizinischen Versorgung hilft. Ihnen Spritzen gibt, Verbände wechselt und oftmals auch im Haushalt zur Hand geht, den sie nicht mehr oder nur eingeschränkt führen können. Zwei Drittel der Betroffenen werden zu Hause versorgt, das restliche Drittel in 14.480 Pflegeheimen.
Und selbst wenn uns das Thema persönlich noch nicht berührt, stellt sich für jeden irgendwann die Frage: Wo und wie wollen wir uns und unsere Angehörigen im Alter versorgt wissen? Natürlich wünschen wir uns und unseren Lieben, fit bis ins hohe Alter zu bleiben und mit 90 oder 100 Jahren friedvoll über Nacht im eigenen Bett zu entschlafen. Doch das ist nicht immer der Fall, eher sogar die Ausnahme. Daher geht ein Wandel, den wir bei diesem multikomplexen Thema »Pflege« brauchen, vor allem auch mit einem Gesinnungswandel einher.
Wir sollten Alter nicht als Tabu ausklammern, sondern es mit anderen Augen betrachten. Sollten seinen Reichtum sehen und uns damit auseinandersetzen, wie wir die vierte Lebensphase erfüllt und lebenswert gestalten wollen. Ich sage hier bewusst »gestalten«. Denn auch wenn wir im Alter vielleicht schlechter sehen, eventuell langsamer denken, wahrscheinlich nicht mehr so beweglich sind und möglicherweise mit Bluthochdruck, Arthritis, Diabetes oder Herzproblemen zu kämpfen haben, ist es dennoch möglich, im Alter freudvoll zu leben und glücklich zu sein. Und das beginnt zuallererst im Kopf: Deshalb müssen wir damit aufhören, Alter als lediglich defizitbelastet zu betrachten.
Zu dieser Entwicklung, Alter als Defizit zu sehen, kam es aus verschiedenen Gründen: Zum einen ließen die fortschreitende Industrialisierung, die Einführung der Rente und der zunehmende Wohlstand Familienstrukturen auseinanderfallen: Großeltern mussten nicht mehr für die Enkel und die Familie da sein. Sie waren im Generationengefüge nicht mehr ein wichtiger stabilisierender Faktor als Haushaltshilfe, Köchin, Geschichtenerzähler oder Kinderaufpasser. Nein. Sie konnten es sich gut gehen lassen und in ihrem »wohlverdienten Ruhestand« die Hände in den Schoß legen, hatte man es sich doch nach den vielen Jahren harter Arbeit verdient, sich auszuruhen.
Im Laufe der Zeit wurde es geradezu üblich, dass wer es sich leisten konnte, gar mit 50 Jahren seinen Beruf an den Nagel hängte. Er demonstrierte damit, zu welch finanziellem Wohlstand er es gebracht hatte, indem er schon so früh »seine Schäfchen im Trockenen hatte« und sich aus dem Erwerbsleben zurückziehen konnte. Gerade in den 1980er-Jahren schien das ein Privileg, und man wurde dafür beneidet. Gleichzeitig wurde – je mehr sich die Leistungsgesellschaft etablierte – Alter zum Stigma. Denn zählen nur noch Ergebnis und Output, wird Alter zum limitierenden Faktor. Vor allem, wenn sich in einem globalen, immer digitaler werdenden Wettbewerb das Hamsterrad schneller und noch schneller dreht. Gleichzeitig dürfen wir nicht vergessen, dass ältere Menschen so viele Kenntnisse und Weisheit angesammelt haben. Dass in dieser Hinsicht grundsätzlich umgedacht wird und Alter wieder einen anderen Stellenwert zu erhalten beginnt, zeigen Strömungen aus den USA. Dort soll der Begriff »Ageist« klarmachen, Alter – ähnlich wie Rasse und »Racist« – nicht als Diskriminierungsfaktor geltend zu machen. Denn jeder ältere Mensch hat das Recht, wertschätzend behandelt zu werden. Selbst wenn er im höheren Alter auf Pflege angewiesen sein sollte. Es braucht aber nicht nur einen Kultur-, sondern auch einen Systemwandel.
Alter nicht als Defizit zu sehen fällt nicht nur unserer Gesellschaft und uns selbst schwer, sondern vor allem auch dem institutionalisierten Pflege- und Gesundheitssystem. Um den Schutz und die Sicherheit pflegebedürftiger Senioren zu gewährleisten, haben der Gesetzgeber und das Gesundheitssystem jede Menge Gesetze, Verordnungen, Vorschriften und Auflagen erlassen und Kontrollmechanismen installiert. Sie definieren und überwachen Personalausstattung, Fachkraftquoten, Pflegequalitätskriterien, Hygienestandards, Betreuungszeiten, Baustandards, Menschenwürde, Strafrecht, Datenschutz, Sicherheitsanforderungen, Arbeitsschutz, Abläufe und Modalitäten des Zusammenlebens. Und weil es immer wieder kleinere und größere Skandale in der Pflege gibt und gab – etwa dass Heimbewohner bettlägerig gehalten, mangelernährt oder durch Pillen ruhiggestellt wurden –, wurden die Kontrollmechanismen und Regularien im Laufe der letzten Jahrzehnte immer stärker ausgebaut. Forderten die Missstände den Gesetzgeber doch heraus, zu handeln. Allerdings dienten die Kontrollen und Vorgaben nicht immer dem Schutz pflegebedürftiger Menschen, sondern sind zu oft reiner Aktionismus, um sich abzusichern. Immer mehr Schlüssel, Quoten, Regularien, Überprüfungen lähmen und ersticken jegliche Innovation, die gerade in der Pflege so dringend notwendig wäre.
So manche Bürokraten und angeblichen Experten würden Heime am liebsten zum Reinraum machen, superhygienisch, superkontrolliert und supertransparent, da – wie ein Behördenvertreter mir gegenüber einmal sagte – alle alten Menschen und Heimbewohner »kontaminiert« seien. Die Bedürfnisse der Bewohner und allen voran die Menschlichkeit bleiben da auf der Strecke. Denn wie behaglich ist es, wenn aus Hygienegründen nur noch glatte, abwaschbare und desinfizierte Materialien verwendet werden? Wenn Sie von Plastikgeschirr essen müssen, nur noch Schnabeltassen herumstehen, Sie keine Kerzen anzünden und nicht mal schnell mit Pantoffeln in den Garten gehen dürfen? Ganz zu schweigen davon, wenn Sie keine Aufgabe und Herausforderungen mehr haben dürfen, weil Sie sich, bitte schön, doch ausruhen sollen?!
Statt betagte Menschen in einen wattierten Kokon zu packen und sie zur Passivität zu zwingen, brauchen wir neue Wege im Gesundheitssystem und in der Pflege. Wege, die die natürlichen Möglichkeiten des Menschen berücksichtigen und ihn nicht dazu animieren oder gar verdammen, seine Eigenverantwortung abzugeben und inaktiv zu werden. Mit diesem Buch möchte ich solche Wege aufzeigen, und zwar aus der täglichen und jahrelangen Praxis heraus. Dabei geht es mir nicht darum, Werbung für meine eigenen Einrichtungen zu machen – wir können uns schon jetzt vor Anfragen kaum retten und haben lange Wartelisten. Wir brauchen in Deutschland einen neuen Ansatz, eine zugewandte menschliche Pflege ohne Defizitdenken. Dass dies möglich ist und wie man solche Modelle umsetzen kann, davon will ich auf den folgenden Seiten berichten. Als Pflegeheimbetreiber habe ich gelernt, dass ältere Menschen viel Emotionalität brauchen. Sie geben aber auch viel Herz und Wahrhaftigkeit zurück. Im Alter geht es um Menschlichkeit. Es ist Endzeit, und die einem verbleibende Zeit wird sehr konkret. Da fallen alle Masken, tritt der Mensch in den Vordergrund, sein Erfahrungsschatz, seine Weisheit. Diese Erkenntnis hat mich sehr berührt. Und es ist unglaublich, was passiert, wenn man Ältere ernst nimmt, ihnen Perspektiven gibt und Möglichkeiten schafft, damit sie aktiv sein können. Sie glauben gar nicht, welche Agilität und Kreativität selbst in der Hochaltrigkeit dadurch zum Vorschein kommen.
Aus diesem Grund war es mir so wichtig, Wohngemeinschaften in der Pflege zu etablieren, damit pflegebedürftige Ältere sich eingebunden fühlen und aktiv sein können. Und nicht in ihrer letzten Lebensphase apathisch im Bett liegen oder auf plastikverkleideten Stühlen und an Tischen mit hygienischer, aber hässlicher Folie sitzen müssen. Wo einen das Gefühl beschleicht, dass sie nur noch auf ihren Tod warten. Nein, so auf keinen Fall! Es geht anders, und gemeinsam schaffen wir am allerbesten einen Wandel!
In unseren BeneVit-Pflegeeinrichtungen an 30 deutschen Standorten steht der Mensch im Vordergrund, und wir versuchen, ihn und seine Bedürfnisse über das Regelwerk und die gesetzlichen Auflagen des Pflegesystems zu stellen. Damit er – egal wie alt, gebrechlich oder demenziell erkrankt er ist – sich als Teil dieser Gesellschaft und von ihr gebraucht fühlt. Sie glauben gar nicht, wie viel Lebensfreude das den Menschen schenkt und zugleich ihre Vitalität erhöht. In unseren Pflegeeinrichtungen haben wir aus diesem Grund so gut wie keine Dauerbettlägerigen. Höchstens wenn jemand Grippe hat oder im Sterben liegt. Außerdem verbessert sich der Allgemeinzustand, manch ein Bewohner kann im Pflegegrad zurückgestuft werden.
Aktivität, Selbstwirksamkeit und Wohlgefühl sollten in jeder Pflegeeinrichtung an erster Stelle stehen. Das sind wir den alten Menschen schuldig, und das ist auch möglich. Wie, das beschreibe ich in diesem Buch. Dazu gehört, welche Herausforderungen dieser alternative Ansatz mit sich bringt und wie wir diese durch tägliches Abwägen von Risiken und viel Kreativität meistern. Schließlich wünscht sich jeder, würdevoll und wertschätzend behandelt zu werden. Auch und vor allem im Alter, wenn wir gebrechlicher und eingeschränkter in unserer Sinneswahrnehmung werden und der Bewegungsradius sinkt. Selbst in Zeiten einer Pandemie.
Es zeichnet sich ein Pflegenotstand ab, der durch den demografischen Wandel weiter befeuert wird. Denn die Zahl der Senioren wächst nicht nur stark, wir leben auch immer länger. Daher werden Hochrechnungen zufolge bis 2030 rund eine halbe Million Pflegekräfte fehlen. Das spüren wir bereits jetzt in unseren Einrichtungen. Früher war es schwierig, neue Projekte finanziert zu bekommen, Personal einzustellen dagegen war lösbar. Das hat sich total gewandelt: Banken bewerben sich, um unsere Projekte finanzieren zu dürfen, aber eine unserer größten Schwierigkeiten ist mittlerweile, geeignete Mitarbeiter zu finden. Sie müssen nicht nur fachlich kompetent sein, also Spritzen setzen, Verbände wechseln oder – als Präsenzkräfte – gut kochen können, sondern vor allem zwischenmenschlich feinfühlig sein. Sozialkompetenz ist gefragt. Es geht um das Gespür, wann sie selbst helfen und wann sie die Bewohner aktivieren müssen. Gleichzeitig ist es nicht leicht, Demenzkranke sensibel und diplomatisch in den besonderen Welten, in denen sie sich befinden, abzuholen.
Auch die Gesetzgebung ist sehr aktiv, leider aber nicht in der richtigen Angemessenheit, und erschwert die heikle Personalsituation. Wir hatten in den letzten Jahren unzählige gesetzliche Änderungen, bei denen uns geradezu schwindelig wurde. Es mag schwierig sein, Gesetze und Vorschriften zu definieren, aber die Flut von Änderungen und der Änderung von der Änderung im Alltag in die Praxis umzusetzen, bringt uns an und über die Grenzen. Zusätzlich ist eine angemessene Bezahlung, die Mitarbeitern einen guten Lebensstandard ermöglicht, elementar. Dafür suchen wir Wege, das zu ermöglichen. Bei der Diskussion kommt aber die Refinanzierung, also die Anpassung der Pflegesätze, das, was Bewohner und Angehörige als Eigenanteil zu übernehmen haben, viel zu kurz. Mehr Personal und höhere Löhne in der Pflege – ja, das ist absolut notwendig und überfällig, aber es gibt bisher keine Antwort, woher das Geld fließen soll, das zu bezahlen. Jedenfalls waren unsere bisherigen Bemühungen, dies in den Pflegesatzverhandlungen von den Kostenträgern – Pflegekassen und Sozialhilfe – anerkannt zu bekommen, erfolglos. Vor allem die Sozialhilfeträger bremsen uns ständig aus. Dass die Politik öffentlich mehr Personal und bessere Bezahlung fordert und man dann als Träger von der Sozialhilfe bei Anhebung der Pflegesätze die kalte Schulter gezeigt und tausend Ablehnungsgründe serviert bekommt, ist der Charme dieses Systems.
Ein weiterer Grund dafür, dass ich in den letzten Jahren keine neuen Hausgemeinschaften mehr gebaut habe, ist die neue Gesetzgebung zur Vergütung der Pflege. Inzwischen sind die Leistungen der Pflege- und Krankenkasse für ambulante und teilstationäre Pflege mehr als doppelt so hoch wie für stationäre Pflege. Derselbe Mensch, der heute ambulant versorgt wird, muss beim Umzug in ein Pflegeheim einen wesentlich höheren Eigenanteil leisten. Das sind im Monat zwischen 1.400 und 3.000 Euro je nach Bundesland und Standort. Für die teilstationäre oder ambulante Pflege zahlen die Pflege- und Krankenkassen ein Mehrfaches des Satzes für stationär versorgte Menschen. Glücklicherweise hat der Gesetzgeber inzwischen erkannt, dass das ein Irrweg ist. Allerdings braucht es nun eine neue Lösung, damit diese Ungerechtigkeit und massive Benachteiligung der in Heimen lebenden Menschen wirklich vom Tisch ist. Ein neues Pflegemodell würde Entlastung bringen. Ich spreche darüber gerade mit führenden Politikern und Gremien, ob es als neue Pflegemöglichkeit im Gesetz verankert werden könnte. Bei diesem sogenannten stambulanten Modell verknüpfen wir stationäre Sicherheit mit ambulanter Vielfalt. In der Sicherheit eines Heimes leben, aber die Freiheit des ambulanten Abrechnungssystems erhalten. Gleichzeitig brauchen wir für die unterschiedlichen Bedürfnisse, Ansprüche und Lebensmodelle der Menschen – älterer Menschen wie Angehöriger, die sie betreuen möchten –, individuelle Lösungen und Nischen. Damit sie beides – ihren Job und die Betreuung pflegebedürftiger Eltern, Großeltern oder Lebenspartner – unter einen Hut bringen können und die Kosten für Pflege nicht explodieren. Um den heutigen Stand des Pflegeniveaus halten zu können, müssten künftig über 50 Prozent des Bruttoeinkommens für Sozialversicherungsbeiträge aufgewendet werden. Auch das fordert neue Lösungen.
Wir brauchen dringend einen Wandel in der Pflege – und das jetzt und heute! Und die optimal mögliche Versorgung der zu Pflegenden ist mein Antrieb. Immer auch aus dem persönlichen Blickwinkel betrachtet: Was würde ich mir – für mich, für meine Eltern und für Freunde – im Alter wünschen? Aus diesem Grund setzen wir uns nicht nur mit neuen Pflegeformen auseinander, sondern arbeiten auch mit Telemedizin, Sensortechnik und künstlicher Intelligenz. Vor allem aber mit gesundem Menschenverstand, um abzuwägen: Was braucht es wirklich und was nicht?
Ich habe mir im Laufe meiner Altenhilfe-Laufbahn immer wieder die Frage gestellt: Was und wie machen es denn andere? Und was ist die beste Lösung? Die Antwort darauf habe ich bis heute nicht, und ich glaube, es gibt sie auch nicht. Zumindest nicht so einfach, wie viele das gerne hätten. Denn eine einfache Antwort missachtet die Vielfalt. War man vor 30 Jahren glücklich, überhaupt ein Bett in einem Pflegeheim zu ergattern, ist das heute wesentlich differenzierter zu sehen. Die Menschen haben sehr unterschiedliche und sehr individuelle Bedürfnisse. Die steigende Komplexität ist ein Bestandteil unseres Lebens, das gilt es anzuerkennen und entsprechend zu agieren.
Ich hatte seit Ende der 80er-Jahre Gelegenheit, Altenhilfe-Strukturen in halb Europa kennenzulernen – in Deutschland, Österreich, Italien, Bulgarien, Rumänien, Kroatien, Slowenien, der Slowakei und in Tschechien. War als Geschäftsführer direkt für Dienstleistungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz zuständig, habe in Spanien einen ambulanten Dienst betrieben und nach einem Jahr wieder eingestellt, war kurz davor, an der Costa del Sol eine Seniorenresidenz zu schaffen, und reiste auf Einladung der Weltbank in die USA. Dort diskutierte ich mit Organisationen, inwieweit sich das deutsche und österreichische System auf Nordamerika übertragen ließe. Debattierte mit Gesundheitsexperten der Weltbank darüber, was beim Aufbau eines Gesundheits- und Pflegesystems in Osteuropa, aber auch in anderen Teilen dieser Welt richtig oder falsch gemacht werden kann, habe die Stadt Wien intensiv in Sachen Pflegesysteme beraten, Konzepte erstellt und so manches mehr. Aus diesem Erfahrungsschatz schöpfe ich bis heute – mit negativen, aber auch sehr vielen positiven Erkenntnissen. Meine Quintessenz aus all dem: Altern ist in erster Linie eine Frage der individuellen Haltung, der Einstellung jedes Einzelnen, aber natürlich auch des gesellschaftlichen Wertesystems, wie man am hohen Stellenwert von alten Menschen in anderen Kulturen sehen kann. Ist Alter wertvoll und wird geschätzt oder dominieren Fürsorge und Mitleid?
Um einen grundlegenden Wandel in der Pflege hinzubekommen, sind auch Sie, ist jeder Einzelne gefordert: Wir sollten uns beim Thema vierte Lebensphase nicht auf die Pflegedienstleister verlassen und uns bloß über die durchaus entstehenden Innovationen und alternativen Konzepte freuen, wie beispielsweise Demenz-Bauernhöfe oder ganze Demenz-Dörfer. Nein. Jeder sollte selbst aktiv werden: Es ist erwiesen, dass wir mit körperlicher und geistiger Aktivität sowie mit sozialen Kontakten dem Abbau im Alter und auch Demenz vorbauen können. Gerade auch aufgrund der steigenden Lebenserwartung sollte uns das Thema am Herzen liegen!
Um Alterserscheinungen und altersbedingten Erkrankungen vorzubeugen, muss sich jeder Einzelne frühzeitig damit auseinandersetzen und handeln. Auch indem wir uns fragen: Wo und wie wollen wir im Alter leben? Zu dieser Auseinandersetzung gehören Mut und Weitblick: Ich möchte Sie dazu einladen und animieren, sich frühzeitig Gedanken über Ihr eigenes Leben im Alter zu machen, aber auch Impulse geben, was Ihre Angehörigen, unsere Gesellschaft und unser Pflegesystem anbelangt. Verdrängen Sie dieses vielleicht oberflächlich betrachtet unangenehme Thema nicht, schieben Sie es nicht vor sich her, stellen Sie sich!
Mein Pflegeansatz und die Themen, mit denen wir uns als praktisch tätige Experten tagtäglich beschäftigen, sollen Sie bei dieser Auseinandersetzung unterstützen. Damit Sie ein umfangreiches Bild davon bekommen, was in Sachen Pflege wichtig ist, um Ihr aller Leben so lange wie möglich fit und aktiv und mit viel Freude zu genießen. Das wünsche ich Ihnen, und selbst wenn Sie pflegebedürftig sind, dass Sie Sinn und Lebensfreude erfahren.
Eigentlich wollte ich Förster werden. Bauingenieur. Oder Pilot. Doch dann studierte ich Verwaltungswirtschaft und war, als die Pflegeversicherung 1995 in Kraft trat, fast zwei Jahrzehnte Kommunalbeamter im hohenzollerischen Burladingen und als Kämmerer für das Finanz- und Bau-Ressort zuständig. Davor Hauptamtsleiter und Standesbeamter in unserem damals rund 13.000 Einwohner zählenden Städtchen. Ich hatte Ehen geschlossen, Heime für Asylsuchende verantwortet, mich um Personalfragen, die Wahlen und die Finanzierung kommunaler Bauvorhaben gekümmert.
Da immer mehr hilfsbedürftige, alte Menschen ihren Heimatort verlassen mussten, weil sie zu Hause nicht mehr gepflegt werden konnten, fiel die Schaffung eines Altenheims in mein Ressort. Es entstand dafür eine Art Bürgerinitiative, ein Förderverein sammelte Spenden und brachte seine Ideen ein. Im letzten Moment allerdings sprang der kirchliche Träger für unser Altenheim-Projekt ab und ich erhielt durch einen Bekannten Kontakt zur Stiftung Liebenau. Sie betrieb Pflegeeinrichtungen für Behinderte und Ältere und experimentierte bereits zu dieser Zeit mit Mehrgenerationenhäusern. Diese Begegnung sollte meine Leben komplett verändern: Ich war so fasziniert von deren Tun, dass ich Beamtenstatus, Lebensstellung und Pensionsberechtigung aufgab und 1996 kaufmännischer Geschäftsführer der St. Anna-Hilfe der Stiftung Liebenau wurde. Ende 1999 konnte ich in meiner neuen Funktion das neu gebaute Pflegeheim St. Georg und die Wohnanlage »Jung und Alt« in meinem Heimatort eröffnen. Zur gleichen Zeit entspann sich mit einem Experten des in Köln ansässigen Kuratoriums für Deutsche Altenpflege, Hans-Peter Winter, ein reger Erfahrungsaustausch. Seine Mutter war in einem unserer stiftungseigenen Pflegeheime am Bodensee untergebracht. Besuchte er sie dort, trafen wir uns und unterhielten uns über Fachliches und Visionäres, unter anderem über Hausgemeinschaften. In Frankreich gab es dazu erste Versuche, fünf bis sechs pflegebedürftige Menschen in Wohnungen zu versorgen.
Ich fand diesen Betreuungsansatz sehr stimmig und als erste Pilotprojekte in Deutschland umgesetzt und evaluiert wurden, begann ich, mich ernsthaft damit zu beschäftigen. Doch bald musste ich resigniert feststellen: Unter den gegebenen Voraussetzungen würde das mit sechs bis acht Pflegebedürftigen pro Hausgemeinschaft nicht funktionieren! Jedenfalls nicht dauerhaft. Daran konnte auch die Pflegeversicherung nichts ändern. Entweder blieben diese WGs nur wenigen Wohlhabenden vorbehalten, die es sich leisten konnten, das Doppelte und Dreifache dessen zu bezahlen, was sich normale Bürger leisten konnten oder sie waren auf permanente öffentliche Zuschüsse angewiesen. Solche Mittel, das wusste ich aus meiner früheren Tätigkeit, würden nicht ewig fließen. Und nur für ein paar wenige Betuchte Projekte zu bauen, kam für mich nicht in Frage. Gute Pflege muss für alle Menschen, egal welcher Schicht und Bildung, zugänglich und bezahlbar sein.
Nach einer kurzen Stippvisite in Berlin als Geschäftsführer beim Pflegeheimbetreiber Kursana, einer Tochter der Dussmann-Gruppe, konnte ich in Österreich mit dem Gemeindeverband Vorarlberg meine erste Einrichtung mit stationären Hausgemeinschaften realisieren: 2004 in Alberschwende, einem idyllischen Dorf im Bregenzer Wald; zusätzlich brachte ich weitere Projekte in Vorarlberg auf den Weg. Dieser Durchbruch stimmte mich zuversichtlich, auch in Deutschland ein solches Pflegemodell umzusetzen.
Schon in Österreich hatte ich meine eigene Firma gegründet. Doch erst nach Jahren intensiven Ringens mit deutscher Bürokratie und Banken gelang es mir, im Oktober 2006 meine erste Hausgemeinschaft im schwäbischen Mössingen zu eröffnen: die „Blumenküche“ mit sechs Wohngemeinschaften für jeweils zwölf pflegebedürftige Menschen. Was nicht heißt, dass das Eis ab diesem Zeitpunkt gebrochen war: Trotz viel Zuspruchs von Experten, in der Fachpresse und Öffentlichkeit brauchten manche Projekte bis zu sieben Jahre bis zur Realisierung. Auch der Betrieb eines solch alternativen Pflegeansatzes ist kein leichtes Unterfangen, wie Sie noch sehen werden. Doch insgesamt sind über die Jahre 25 Einrichtungen entstanden, teilweise mit Partnern von Versicherungsgesellschaft bis Baukonzern. So sind wir zu heute über 1.650 Plätze in 123 stationären Hausgemeinschaften gekommen und konnten verschiedene andere Pflegemodelle- und ansätze realisieren - dazu später mehr.
Oft werde ich gefragt, warum ich nicht den einfacheren, leichteren Weg der absolut regelkonformen „normalen“ Pflegeheime gewählt habe oder aktuell keine Hybridlösung wie ambulant plus Tagespflege forciere oder warum ich überhaupt in der Altenpflege gelandet bin. Manchmal frage ich mich das auch und es fällt mir mitunter schwer, eine vernünftige Antwort zu finden. Gewinnmaximierung und nichts anderes treibt doch private Unternehmer an, oder? Diese Motivation ist in der Pflege fehl am Platz und hat für mich noch nie gegolten. Wenn ich sehe, wie sehr pflegebedürftige Menschen, die in Hausgemeinschaften zusammenleben, aufblühen, wie sehr das ihre Lebensqualität steigern kann, weiß ich, was mich antreibt. Was unsere Hausgemeinschaften so besonders macht, das möchte ich Ihnen jetzt zeigen: