Angela ist glücklich: In Vittorio hat sie einen wunderbaren Partner, und die Weberei schreibt schwarze Zahlen. Doch der Erfolg der Seidenvilla gerät ins Wanken, als plötzlich ein unbekannter Konkurrent auftaucht. Als wäre das nicht genug, stößt Angela bei Vittorios Mutter auf große Ablehnung. Offensichtlich hätte sie lieber die attraktive Architektin Tiziana als Schwiegertochter, mit der Vittorio früher eine große Nähe verband. Bald gibt es überraschend viele gemeinsame Aufträge für Tiziana und Vittorio, und er verbringt mehr Zeit an Tizianas Seite als mit Angela. Kann Angela die Seidenvilla retten und zugleich um ihre große Liebe kämpfen?
Ein fesselnder Roman um Liebe und Wahrheit und eine Seidenweberei im Veneto
Die in sich abgeschlossene Fortsetzung zu Die Seidenvilla
Tabea Bach war Operndramaturgin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie wurde in der Hölderlin-Stadt Tübingen geboren und wuchs in Süddeutschland sowie in Frankreich auf. Ihr Studium führte sie nach München und Florenz. Heute lebt sie mit ihrem Mann in einem idyllischen Dorf im Schwarzwald, Ausgangspunkt zahlreicher Reisen in die ganze Welt. Die herrlichen Landschaften, die sie dabei kennenlernt, finden sich als atmosphärische Kulisse in ihren Frauenromanen wieder.
T a b e a B a c h
IM GLANZ DER
SEIDEN
VILLA
Roman
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Melanie Blank-Schröder
Titelillustration: © Slow Images/getty-images;
© Atlantide Phototravel/getty-images; © Trevillion Images/Nikaa
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-8617-2
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Die Abendsonne warf ihre goldenen Strahlen in den rechteckigen, von den vier Flügeln der Seidenvilla umschlossenen Innenhof, verfing sich im Laub des Maulbeerbaums und zauberte ein duftiges Blättermuster aus Licht und Schatten auf das weiße Leintuch der Festtafel darunter. Sie schimmerte im silbergrauen Fell der Katze auf, die gerade mit einem Satz auf den Tisch sprang und mit erhobenem Schwanz auf ihm entlangspazierte.
Angela stand am Fenster der Weberei im ersten Stock und beobachtete amüsiert, wie Emilia aus der Sommerküche im Erdgeschoss des links angrenzenden Flügels stürmte und die Katze wortreich verjagte. Wie ein Pfeil schoss das Tier durch die weit geöffnete Tür des Abstellraums auf der gegenüberliegenden Hofseite und flitzte zwischen Giannis Beinen hindurch. Der junge Mann trat gerade mit einem alten Verkaufstresen beladen über die Schwelle.
»Porca miseria«, fluchte er. Beinahe wäre er gestolpert. Gianni stellte den Tresen ab, sah fragend zu Angela hoch. »Wo soll ich die Bar aufbauen? Hier unter dem Maulbeerbaum?«
»Ja, das ist eine gute Idee«, rief sie ihm zu. »Ich bin gleich bei Ihnen«, fügte sie hinzu und begann eilig, die empfindliche Mechanik der vier archaisch anmutenden mechanischen Webstühle mit Leintüchern abzudecken. Bis vor einer Stunde war hier fieberhaft gearbeitet worden, und erst gerade eben hatte Angela vierundzwanzig prachtvolle Stoffproben einem Expressboten übergeben. Am folgenden Tag würden sie bei einem Empfang in der Villa Castro präsentiert werden − eine einmalige Gelegenheit, um die Seidenmanufaktur noch bekannter zu machen.
Für den fünften der Webstühle im angrenzenden Raum, den die Weber omaccio grande nannten, benötigte sie drei Leintücher, so groß war er. Er stammte wie die anderen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, und doch funktionierten sie alle noch immer einwandfrei. So rustikal die riesigen Holzgestelle auch wirkten, so zart und kostbar waren die Seidenstoffe, die in Handarbeit auf ihnen gefertigt wurden. Die Arbeit war hart, es bedurfte des ganzen Körpereinsatzes, um die Webstühle zu bedienen. Und um Seidenstoffe von hoher Qualität zu weben, war eine Menge Erfahrung notwendig, außerdem eine ganz besondere Begabung. Angela schätzte sich glücklich, vier fähige Weberinnen und einen Weber beschäftigen zu können. Und an diesem Abend würden sie gemeinsam feiern …
Stimmen drangen vom Hof zu ihr empor. Sie sah nach, wer gekommen war, und erkannte den silbergrauen Bob von Tess unter dem Maulbeerbaum. Sie unterhielt sich mit Gianni, der gerade ein weißes Tischtuch über die improvisierte Bar breitete und sie mit Gläsern bestückte. Beschwingt lief Angela die Treppe zum Innenhof hinunter, um ihre Freundin zu begrüßen, die hier in Italien von allen nur Tessa genannt wurde.
»Darf ich den Damen einen Veneto Sprizz einschenken?« Gianni strahlte über das ganze Gesicht.
»Was hast du denn da alles reingemischt?«, fragte Tess vorsichtig. »Nicht dass ich morgen Kopfschmerzen habe!«
»Aber nein, Signora, das werden Sie ganz sicher nicht.«
Gianni erklärte, dass er für sein Geheimrezept drei Teile perlenden Weißweins der Gegend mit zwei Teilen Aperol und einem Teil Sodawasser vermischte, sodann eine der obligatorischen grünen Oliven beigab, die seine Mutter Emilia speziell für dieses Getränk einlegte, sowie Saft und etwas abgeriebene Schale einer bestimmten Blutorangensorte aus dem Garten eines Freundes. Wieder einmal fragte sich Angela, warum dieser nette junge Mann noch keine Frau hatte.
»Köstlich!« Tess seufzte, nachdem sie einen langen Zug durch den Strohhalm genommen hatte. »Aber du solltest weniger Wein hineingeben, Gianni! Sonst sind wir alle noch vor dem Essen betrunken.«
Gianni lachte und sah hinüber zu dem alten Holztor, durch das Fioretta in den Hof kam, gefolgt von Nola. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Frauen ließ keinen Zweifel daran, dass sie Mutter und Tochter waren. Fioretta war mit ihren fünfundzwanzig Jahren die jüngste Mitarbeiterin und Angelas Assistentin. Nola trug zur Feier des Tages ihren dunklen Sonntagsrock und dazu eine festliche weiße Bluse unter der Strickjacke. Immerhin war es erst Mai, und die Abende waren mitunter noch kühl. Die Weberin arbeitete seit über dreißig Jahren in der Seidenvilla. Gemeinsam mit den beiden kam Anna, ihre Tochter im Schlepptau, und Giulias Miene ließ deutlich erkennen, dass sie viel lieber woanders wäre als ausgerechnet hier, im Kreis der Kolleginnen und Kollegen ihrer Mutter.
Während Gianni weitere Gläser füllte, gesellten sich auch Orsolina und Stefano zu ihnen. Stefanos Wangen glänzten, offenbar hatte er sich extra frisch rasiert und eingecremt. Geschickt nahm er das Stielglas zwischen Ringfinger und kleinen Finger seiner rechten Hand, die übrigen hatte er zwei Jahre zuvor bei einem Unfall an seiner früheren Arbeitsstelle verloren und damit beinahe seinen gesamten Lebensmut eingebüßt, bis Angela auf die Idee gekommen war, ihn als Weber anzulernen.
»Ja, wen haben wir denn da?«, begrüßte Orsolina die schmollende Giulia voller Herzlichkeit. »Dich habe ich ja schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Du bist aber …«
»Sag bloß nicht, dass ich groß geworden bin, Tante Lina«, fiel ihr das Mädchen ins Wort und verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen.
»Das würde ich niemals tun!« Orsolina hob schmunzelnd die Hände, denen man trotz sorgfältiger Pflege ansah, dass sie die wertvollen Seidengarne der Weberei färbte. »Ich wollte sagen: Du bist aber hübsch geworden!« Und als sie sah, wie rot die Dreizehnjährige wurde, brach sie in schallendes Gelächter aus. »Giulia, mein Engel, komm her, lass dich umarmen«, rief sie aus und schloss das Mädchen fest in ihre Arme. »Wo treibst du dich die ganze Zeit herum? Früher bist du doch viel öfter in die Seidenvilla gekommen.«
Giulia lächelte verlegen, es war nicht zu übersehen, wie gern sie die Kollegin ihrer Mutter hatte.
»Stellt euch vor, sie wollte mit diesen Stuzzi-Brüdern nach Treviso«, beschwerte sich Anna halblaut bei Angela und Nola. »Auf einem der Motorräder hinten drauf.«
»Die sind doch viel älter als sie«, sagte Nola und warf Giulia einen besorgten Blick zu. »Der Jüngere ist mindestens schon siebzehn. Was will sie denn mit denen?«
Anna hob vielsagend die Augenbrauen, schob sich eine ihrer blondierten Haarsträhnen aus der Stirn und zuckte ratlos mit den Schultern. Mit ihren einunddreißig Jahren war sie die Jüngste unter den Weberinnen. »Da habe ich ein Machtwort gesprochen«, erzählte sie. »Und damit ich sicher sein kann, dass die kleine Signorina auch gehorcht, habe ich sie einfach mitgeschleppt. Ich hoffe, das stört Sie nicht?«
Sie warf Angela einen verlegenen Blick zu. Anna hatte es nicht leicht als alleinerziehende Mutter. Giulias Vater hatte sich noch vor der Geburt seiner Tochter aus dem Staub gemacht und war seitdem nie wieder aufgetaucht.
»Aber nein«, antwortete Angela. »Ganz und gar nicht.«
Giulia hatte Mimi auf der Bank unter dem Maulbeerbaum entdeckt, setzte sich zu ihr und begann, das Kätzchen hingebungsvoll zu streicheln. Sie war hübsch mit ihren dichten blonden Haaren und den blitzenden blauen Augen. Einen Pickel am Kinn hatte sie zwar zu überschminken versucht, was ihr jedoch nicht wirklich gelungen war. Sie besaß noch einen kindlichen Körper mit ihren dreizehn Jahren, ihre Bewegungen wirkten ungelenk, und Angela erinnerte sich daran, wie schwierig für sie dieses Alter gewesen war − nicht mehr Kind und doch noch nicht Frau zu sein, irgendwie dazwischen und sich überall fehl am Platze fühlend. »Ich freu mich, dass sie heute dabei ist, Anna.«
»Wollte Nathalie nicht auch kommen?«, erkundigte sich Tess.
Angela nickte. »Eigentlich schon. Aber du weißt ja, wie das ist bei den jungen Leuten.« Ihre Tochter studierte in Padua Kunstgeschichte, und das war immerhin eine Autostunde von Asenza, wo die Seidenvilla ansässig war, entfernt. »Sie hatte schon angedeutet, dass es eventuell ein bisschen später werden könnte. Jedenfalls warten wir nicht mit dem Essen auf sie.«
Sie warf einen Blick in die Runde. Die Weberinnen Lidia und Maddalena fehlten noch. Von Lorenzo Rivalecca ganz zu schweigen. Die anderen würden sich wahrscheinlich fragen, warum Angela den kauzigen alten Mann ebenfalls eingeladen hatte, doch sie hatte ihre Gründe. Dass er ihr Vater war, davon wussten bislang nur Tess und Nathalie. Und natürlich Vittorio.
Emilia erschien in der Küchentür, es war schon fast halb acht. Angela wusste, dass die resolute Frau es nicht leiden konnte, wenn man nicht pünktlich zu Tisch ging. Sie war die Köchin und Haushälterin von Tess und verwöhnte gemeinsam mit ihrem Sohn Gianni in der Seidenvilla ausnahmsweise zur Feier des Tages ihre Gäste.
Gerade als Angela einen Löffel vom Tisch nahm, um gegen ihr Glas zu schlagen, öffnete sich die Hoftür erneut, und Lidia stürmte herein, kurz darauf folgte ein alter, dürrer Mann, der laut vor sich hin schimpfte und drohend seinen Gehstock in Richtung der Weberin hob, die ihm offenbar die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte.
»Kein Benehmen, diese Weiber«, hörte Angela Lorenzo Rivalecca fauchen. Lidia presste empört die Lippen aufeinander und konnte doch nicht verhindern, dass sie errötete. »Ist es denn zu fassen! Und denen habe ich Brot und Lohn …«
»Niente Brot und Lohn«, fuhr ihn Lidia an. Die hagere Frau mit dem rötlichen Haar war eine begnadete Weberin, wenn auch von sprödem und oftmals harschem Wesen. »Nach dem Tod von Signora Lela haben Sie sich einen Dreck um uns gekümmert. Nur gut, dass Sie die Weberei an die tedesca verkauft haben …«
»Na, na, na«, mischte sich nun Tess verärgert ein. »Wie redest du von deiner Chefin? Sie hat einen Namen, Lidia, so wie wir alle. Und selbst wenn du nicht einer Meinung mit dem alten Dickschädel hier bist, so solltest du doch sein Alter respektieren.«
»Dickschädel?« Rivalecca wandte sich ungehalten an Tess. »Habe ich gerade Dickschädel gehört?«
Wütend stieß er seinen Gehstock auf den gepflasterten Grund, sodass Mimi fauchte und mit einem Satz von Giulias Schoß auf den untersten Ast des Maulbeerbaums sprang.
»Lass es gut sein, Lorenzo«, gab die alte Dame in mildem Ton zurück. »Jeder hier weiß, dass du das bist, und vor allem du selbst weißt es. Hier, nimm dein Glas und beruhige dich. Vergiss nicht, wessen Gast du heute bist.«
Alle Augen wandten sich Angela zu. Sie räusperte sich. Das fing ja gut an.
»Nun«, sagte sie und holte tief Luft, »nachdem das geklärt ist, möchte ich euch heute Abend hier alle herzlich willkommen heißen. Für mich ist es ein besonderer Tag. Genau vor einem Jahr habe ich den Kaufvertrag für die Seidenvilla unterzeichnet. Es war ein ziemlich aufregendes Jahr …« Angela nahm aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Maddalena, die letzte, die im Kreis der Weberinnen noch gefehlt hatte. Leise und mit hochrotem Kopf huschte sie in den Hof. Angela begrüßte sie mit einem Lächeln. »Und mehr als einmal sah es so aus, als ob wir es nicht schaffen würden. Dass es trotzdem geglückt ist und wir heute so gut dastehen, das wäre ohne euren Einsatz nie möglich gewesen. Und dafür möchte ich euch danken. Ohne euch gäbe es keine Seidenvilla. Ohne euch wäre die Weberei nicht die, die sie ist. Ohne euch wäre ich vermutlich überhaupt nicht mehr hier.« Es war ganz still im Hof geworden, sogar Giulia sah sie an, als hätte sie Angela noch nie zuvor gesehen. »Ihr habt zu mir gehalten, als es mir nicht gut ging, und habt den Betrieb weitergeführt. Ihr geht mutig mit mir neue Wege und glaubt daran, dass wir gemeinsam erfolgreich sein werden. Und deshalb wollen wir unser Glas auf die Zukunft der Seidenvilla erheben. Auf eine Zukunft, die wir gemeinsam gestalten werden.« Ihre Hand zitterte unmerklich, als sie das Glas hob, so sehr bewegte sie diese kurze Rückschau.
»Auf die Seidenvilla«, rief Tess, und alle anderen taten es ihr gleich. »Auf die Zukunft der Seidenvilla«, erklangen viele Stimmen.
Angela musste auf einmal schlucken, so stark war das Gefühl der Verbundenheit mit diesen Menschen, das sie durchflutete. Ja, in diesem Jahr waren sie zu einer Art Schicksalsgemeinschaft zusammengewachsen, so unterschiedlich sie auch alle waren.
Sie bat zu Tisch, doch die Weberinnen zögerten, keine wollte den Anfang machen. Nur Lidia ließ sich sofort am unteren Ende der Tafel nieder und hängte entschlossen ihre Handtasche über die Stuhllehne. Tess sah die Verlegenheit der anderen und ergriff die Initiative, leitete souverän die Frauen, die sie schon so lange kannte, an den Tisch. Die alte Dame war einst die Vertraute ihrer Mutter gewesen, und als Angelas Mann starb, hatte sie sie eingeladen, einige Zeit bei ihr im Veneto zu verbringen, um sich zu erholen. Dass Angela bei dieser Gelegenheit hier nicht nur ein neues Zuhause, sondern mit der Seidenmanufaktur eine neue Aufgabe gefunden hatte, war für alle eine große Überraschung gewesen und für Tess Anlass zur Freude. Seither wachte die resolute alte Dame sorgfältig darüber, dass es Angela in Asenza auch gut ging.
Gianni und Emilia trugen das Essen auf, als Vorspeise vitello tonnato und sarde fritte in saor – Kalbfleisch in Thunfischsoße und frittierte, sauer eingelegte Sardinen mit Zwiebeln −, dazu knuspriges Maisbrot frisch aus dem Ofen, und für Lorenzo Rivalecca, der nichts anderes zu sich nahm als Gemüsesuppe, einen großen Teller minestrone. Mit dem Essen löste sich die Befangenheit der Gäste, sogar Giulia vergaß, dass sie eigentlich schlechte Laune hatte, und ließ immer wieder ein klingendes Lachen hören, vor allem, als Orsolina von den neuesten Streichen der silbergrauen Katze erzählte.
Beim Hauptgericht, in Gemüse geschmortem Kaninchen, wurden alle andächtig schweigsam, so vorzüglich schmeckte es ihnen, und erst beim selbst gemachten Erdbeereis, zu dem Emilia ihre persönliche Variante der torta fregolotta reichte, einer Art Streuselkuchen ohne Boden, wie Nathalie diesen köstlichen Nachtisch einmal beschrieben hatte, schwatzten alle wieder fröhlich durcheinander.
Fast alle, denn Maddalena sagte so gut wie nichts, wie Angela bemerkte. Vielleicht sogar noch weniger als sonst, und sie fragte sich, ob die Weberin wohl etwas auf dem Herzen hatte. Mit ihren durch die starken Brillengläser vergrößerten rehbraunen Augen sah sie abwesend und sorgenvoll vor sich hin. Wegen ihrer struppigen Haare und der leisen Stimme wirkte Maddalena auf Außenstehende mitunter unbedarft wie ein Kind, trotz ihrer achtundvierzig Jahre. Doch der Eindruck täuschte. Angela nahm sich vor, bald mit der scheuen Weberin unter vier Augen das Gespräch zu suchen.
Schließlich zauberte Lorenzo Rivalecca zum Erstaunen aller eine Flasche ohne Etikett mit dunkelbraunem, dickflüssigem Inhalt aus seiner Tasche und bat Emilia um passende Gläser.
»Das ist der beste Walnusslikör diesseits und jenseits der Alpen«, verkündete er, als jeder von ihnen ein Glas vor sich stehen hatte. »Trinken wir auf die tedesca, wie ihr sie nennt, wenn sie euch gerade den Rücken dreht. Doch, doch, ihr braucht gar nicht so unschuldig zu schauen. Seht, was sie aus dem alten Kasten hier gemacht hat.« Er beschrieb mit seinem Arm einen Halbkreis in Richtung des gesamten, den Hof umschließenden Gebäudekomplexes und hätte dabei beinahe Tess den Ellbogen ins Gesicht gerammt. »Nur eine Deutsche kriegt so was hin«, behauptete er. »Und stellt euch vor, sie hat unter dem Putz sogar ein wertvolles Fresko gefunden, was natürlich bedeutet, dass ich ihr das alles viel zu billig verkauft habe. Doch sei’s drum«, wehrte er den Protest von Tess zu seiner Rechten ab. »Ich gönn es ihr. Aber wisst ihr eigentlich, was das größte Wunder ist? Nein? Dass sie es mit euch Weibern so gut aushält. Das hätte ich niemals vermutet.«
»Und mit Ihnen auch, Signor Rivalecca«, warf Nola mutig ein. »Das ist tatsächlich das allergrößte Wunder.«
Orsolina und Anna kicherten und schnupperten vorsichtig an dem Inhalt ihres langstieligen Likörgläschens.
Rivalecca zog eine Grimasse, die einem Lächeln recht nahekam. »Auf die Wunder der tedesca«, sagte er ungewohnt milde. »Und dass ihr es wisst: Wenn eine von euch Signora Angela Ärger macht, dann kriegt sie es mit mir zu tun.«
»Was haben Sie bloß mit dem gemacht?«, wollte Nola von Angela wissen, nachdem Rivalecca sich verabschiedet hatte und die Hoftür hinter ihm ins Schloss gefallen war. »Ihm irgendeinen Zauber in seine minestrone gemischt?«
»Sie müssen ihm den Kopf verdreht haben«, mutmaßte Orsolina und sog die letzten Tropfen aus ihrem Glas. »Sehen Sie sich vor! Am Ende macht Ihnen der alte cascamorto noch einen Heiratsantrag.«
Schallendes Gelächter erfüllte den Hof, sogar Tess musste schmunzeln.
»Das steht wohl kaum zu befürchten«, antwortete Angela mit einem Grinsen.
»Der wäre doch viel zu alt für Signora Angela«, warf Maddalena tadelnd ein. »Er könnte glatt ihr Vater sein«, fügte sie ernst hinzu.
Einen Moment lang hatte Angela das Gefühl, die scheue, meist in sich gekehrte Weberin wüsste um ihr Geheimnis.
»Sag mal, jetzt, wo du das sagst … bist nicht du mit ihm verwandt?« Lidia hatte die dünnen, rötlich blonden Augenbrauen hochgezogen und ihre blasse Stirn in Runzeln gelegt.
»Ich?« Maddalena riss die Augen auf. »Wie kommst du denn auf so was?«
»Ich meine, über fünf Ecken«, beharrte Lidia. »Frag mal deine Mutter.«
»Das möchte ich nicht«, erwiderte Maddalena geradezu entsetzt. »Die wird ganz schrecklich wütend, wenn die Rede auf Rivalecca kommt.«
»Tja, da ist sie nicht die Einzige.« Nola seufzte und hielt Gianni, der mit Lorenzos Flasche noch einmal die Runde machte, ihr Glas entgegen. »Der Alte hat es sich mit vielen verscherzt. Erst seit Sie hier sind, Signora Angela, ist er ein wenig umgänglicher. Früher ist er kaum aus seiner Festung dort oben herausgekrochen. Undenkbar, dass er so wie heute mit uns zusammengekommen wäre.«
»Das stimmt«, pflichtete Orsolina ihr bei.
»Ich möchte auch etwas sagen«, meldete sich Stefano und räusperte sich. »Und zwar … Ich möchte mich bedanken. Im Namen aller, nicht wahr?« Er sah sich kurz in der Runde um. Alle nickten, nur Lidia setzte ein undurchdringliches Lächeln auf und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Aber vor allem für mich persönlich. Sie haben mir ein neues Leben geschenkt, Signora Angela. Weil Sie an mich geglaubt haben, trotz des Unfalls.« Er hob seine rechte Hand, an der Daumen, Zeige- und Mittelfinger fehlten. »Obwohl ich ein Krüppel bin. Das werde ich Ihnen nie vergessen.«
»Ja, das stimmt«, pflichtete ihm Orsolina bei. »Wir alle haben Ihnen viel zu verdanken. Wenn Sie nicht gekommen wären, dann wären wir jetzt arbeitslos. Und … na ja, anfangs hatten Sie es tatsächlich nicht immer leicht mit uns …«
»Wir mussten uns eben alle aneinander gewöhnen«, half ihr Angela freundlich aus der Verlegenheit. »Das erste Jahr, sagt man, ist immer das schwierigste. Auch wirtschaftlich. Und doch haben wir uns gut geschlagen. Sogar so gut, dass ich Ihnen heute einen kleinen Bonus auszahlen kann.« Jetzt hatte sie die ganze Aufmerksamkeit, sogar Giulia blickte von ihrem Smartphone wieder auf, mit dem sie seit dem Nachtisch beschäftigt gewesen war. »Jeder von Ihnen erhält eine einmalige Zahlung von eintausend Euro«, erklärte sie. »Die müssten eigentlich bereits auf Ihren Gehaltskonten gutgeschrieben sein.«
Kurz war es still unter dem Maulbeerbaum. Nur eine Zikade begann in der Abenddämmerung zu zirpen.
»Eintausend Euro?«, fragte Maddalena. »Einfach so?«
»Sie haben es sich verdient«, antwortete Angela.
Auf einmal begannen sie alle gleichzeitig zu reden. Giulia meinte, dann könne sie ja zum Geburtstag das Mofa bekommen, das sie sich so wünsche, während Anna von einer Urlaubsreise sprach. Nola, so erfuhr Angela, sparte auf eine neue Küche, während Stefano einfach nur den Arm um Orsolina legte und sie an sich drückte. Fioretta sprang auf und küsste Angela auf beide Wangen, selbst vor der jungen Frau hatte sie die Überraschung geheim gehalten. Auch Maddalena stand auf und drückte ihr unbeholfen die Hand, wollte sie gar nicht mehr loslassen.
Angela hatte auf einmal das Gefühl, beobachtet zu werden, und als sie sich umsah, entdeckte sie ihn. Vittorio stand lächelnd unter dem Maulbeerbaum und zögerte offenbar, sich bemerkbar zu machen. Zärtlichkeit durchflutete sie. Mit ihm hatte sie an diesem Abend überhaupt nicht gerechnet, schließlich lebte er in Venedig und sie hier in Asenza. Sie erwiderte Maddalenas Händedruck und machte sich sanft von ihr los.
Als sie zu ihm trat, schloss er sie zärtlich in seine Arme.
»Störe ich?«, fragte er leise an ihrem Ohr.
»Du störst nie«, antwortete sie überglücklich.
Dass sie eine Wochenendbeziehung führen mussten, darunter litten sie beide. Zwischen Venedig und Asenza lag zwar nur eine Autostunde. Dennoch waren sie beide meist zu beschäftigt, um sich unter der Woche zu sehen.
»Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten«, gestand er und sah hinüber zu der Tafelrunde. »Meinst du, ich darf an eurer Jahresfeier teilnehmen?«
Angela zog ihn lachend zu den anderen.
»Je später der Abend, desto schöner die Gäste«, rief Tess, und Emilia wollte wissen, ob der Herr schon zu Abend gegessen hatte. Als Vittorio verneinte, ließ sie es sich nicht nehmen, rasch von dem Kaninchenragout etwas aufzuwärmen und ihn in der Zwischenzeit mit den eingelegten Sardinen zu versorgen.
»Sind die Seidenproben gut in der Villa Castro angekommen?«, erkundigte sich Angela. »Hat Federico sie in Empfang genommen?«
Der Chefdesigner von Vittorios Firma für Innenarchitektur hatte versprochen, sich persönlich um die Präsentation der kostbaren Stoffe zu kümmern.
»Ja, alles bestens«, versicherte er ihr und machte Emilia ein Kompliment für die sarde in saor. »Fedo ist in seinem Element. Er hat mich weggeschickt, meinte, ich würde nur im Weg herumstehen. Da dachte ich mir, ich schau mal hier vorbei.« Er warf Angela einen zärtlichen Blick zu.
»Das war eine ausgezeichnete Idee«, sagte sie und ihre Augen leuchteten.
»Ich … ich wollte Sie gern etwas fragen, wenn ich darf«, erhob Maddalena schüchtern ihre Stimme.
Vittorio sah sie überrascht an. »Mich?«
Maddalena nickte und wurde schon wieder rot.
»Wegen Ihres Namens«, fuhr sie tapfer fort. »Fontarini. Ich habe diesen Namen in einem Buch gefunden und mich gefragt …«
»In einem Buch?«, unterbrach Lidia sie spöttisch. »Seit wann liest du Bücher?«
»Lass sie in Ruhe«, fuhr Nola sie an. »Du hältst uns wohl alle für blöde, was?«
»Wie?«, konterte Lidia kämpferisch. »Sag bloß, du liest auch Bücher?«
»Nun lasst Maddalena doch mal ausreden«, mischte sich Stefano ein.
»In welchem Buch haben Sie meinen Namen denn gefunden?«, fragte Vittorio freundlich und tat, als hätte er von dem Wortgefecht nichts mitbekommen.
»In einem Buch über die Geschichte Venedigs«, antwortete Maddalena und warf Lidia einen raschen Blick zu. »Da kommt der Name Fontarini ein paarmal vor. Mehrere Dogen hießen so. Sind Sie … Ich meine … ist das vielleicht Ihre Familie? Oder heißen Sie nur zufällig so?«
Jetzt war es ganz still geworden am Tisch. Selbst Angela war verblüfft. Natürlich wusste sie um die adelige Abstammung ihres Lebensgefährten. Sie hätte allerdings nicht erwartet, dass Maddalena sich solche Gedanken machte, und als sie sich dessen bewusst wurde, schämte sie sich. Warum eigentlich nicht?
Vittorio ließ seine Gabel sinken und sah die schüchterne Frau aufmerksam an. »Sie interessieren sich für Geschichte?«, fragte er.
Maddalena nickte eifrig. »Vor allem für die von Venedig«, antwortete sie. »Ich habe schon einige Bücher darüber gelesen. Auch über die venezianischen Künstler, Tintoretto und Tizian und all die anderen. Aber am meisten interessiert mich die Politik … Ich meine, die von … von früher.«
Kurz war eine völlig neue Maddalena zum Vorschein gekommen. Unter den verblüfften Blicken der anderen schien sie sich jedoch rasch wieder in sich selbst zurückzuziehen − wie eine Schnecke, deren Fühler man berührt hatte.
»Venedigs Geschichte ist wirklich spannend«, fand auch Vittorio. »Und weil Sie fragen: Ja, das sind meine Ahnen.«
Maddalenas Augen wurden riesengroß. »Wirklich?«, hauchte sie fast. »Auch Domenico, der im 11. Jahrhundert Doge war?«
»Ja, der auch«, antwortete Vittorio bescheiden.
»Das heißt«, fuhr Maddalena andächtig fort und zog ihre Stirn kraus, wohl um sich besser zu konzentrieren, »dass Sie … Ich meine, wenn das Ihre Familie ist, dann sind Sie ein echter principe? Ein Prinz?«
Es wurde mucksmäuschenstill. Giulia starrte erst Maddalena und dann Vittorio mit offenem Mund an, und sie war nicht die Einzige.
Vittorio räusperte sich kurz und nickte, als wäre das nichts Besonderes. »Nun, wenn Sie es historisch nehmen, ja. Aber seit 1948 haben Adelsbezeichnungen in Italien keine Bedeutung mehr, Maddalena. Diese Zeiten sind vorbei.«
»Wie schade.« Maddalena schien ehrlich betrübt. »Schließlich gibt es Ihre Familie seit … seit fast tausend Jahren.«
»Das ist ziemlich lange, ja«, räumte Vittorio ein. »Aber wissen Sie was? Auch Ihre Familie gibt es schon seit mehr als tausend Jahren. Und die von jedem Einzelnen hier am Tisch. Nur dass man das bei den wenigsten Familien nachverfolgen kann. Weil nichts aufgeschrieben wurde. Wenn Sie in Ihrem Familienregister zurückgehen könnten, würden Sie staunen, wo Sie da landen würden.«
»Bei Adam und Eva«, sagte Orsolina und alle lachten.
»Ganz genau«, meinte Vittorio, der erleichtert in das Lachen mit eingestimmt hatte. Angela wusste, was wenige ahnten, nämlich dass Vittorio diese noble Herkunft manchmal als direkt lästig empfand. »Bei Adam und Eva. Und am Ende sind wir alle miteinander verwandt.«
»Ihre Familie hat eben Bedeutendes geleistet«, meldete sich Maddalena wieder ernsthaft zu Wort. »Deshalb hat man das alles aufgeschrieben.«
Vittorio schien einen Augenblick nachdenklich. Doch dann beschloss er offensichtlich, das Thema nicht weiter zu verfolgen.
»Kommen Sie öfter nach Venedig?«, fragte er.
Maddalena schüttelte den Kopf. »Ich war erst einmal dort«, bekannte sie verlegen. »Damals, als wir den Kommunionsausflug gemacht haben.«
Giulia kicherte. »Das muss ja schon eine ganze Weile her sein«, mutmaßte sie und erntete einen Rippenstoß von ihrer Mutter.
»Und Sie?«, fragte Vittorio in die Runde. »Wann waren Sie das letzte Mal dort?«
Zögernd kamen die Antworten. Orsolina und Stefano mussten sich untereinander beraten, wann das gewesen war, so lange war es schon her. Keine der Weberinnen hatten in den vergangenen zehn Jahren die Lagunenstadt besucht.
»Was meinst du?« Vittorio wandte sich an Angela. »Vielleicht solltet ihr mal einen Betriebsausflug dorthin unternehmen.«
»Das ist eine ausgezeichnete Idee«, antwortete sie. »Falls ihr alle Lust dazu habt, machen wir das.«
Sie saßen noch lange zusammen unter dem Maulbeerbaum. Nola und Orsolina erzählten lustige Geschichten aus der Zeit, als sie noch jung gewesen waren und Lela Sartori, Lorenzo Rivaleccas verstorbene Frau, Besitzerin der Seidenvilla gewesen war.
»Ja, sie war eine echte padrona«, meinte die Färberin mit einem leisen Lachen. »Wir hatten alle ziemlichen Respekt vor ihr, stimmt’s?« Sie blickte von Nola zu Lidia. Auf einmal erschrak sie. Offenbar wurde ihr bewusst, dass Angela das falsch verstehen könnte. »Nicht dass wir vor Ihnen keinen Respekt hätten«, beeilte sie sich zu sagen. »Sie dürfen das nicht falsch verstehen. Aber so freundschaftlich mit ihr zusammenzusitzen wie mit Ihnen heute Abend – das wäre einfach undenkbar gewesen.«
»Beim kleinsten Webfehler konnte sie toben wie ein Berserker«, bestätigte Nola.
»Ich werde nie vergessen, wie ich einmal ein Rosenrot färben sollte«, erzählte Orsolina. »Rosenrot. Ich meine, es gibt schließlich Rosen in allen möglichen Rottönen, vero? Sie verlangte aber ein ganz bestimmtes Rot, und meine Mutter hätte natürlich sofort gewusst, welches. Doch die lag gerade mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus. Da konnte ich sie schlecht fragen.« Orsolina nahm einen Schluck von dem Verbena-Tee, den Emilia inzwischen gekocht hatte. »Un disastro«, fuhr sie fort. »Dabei war es ein schönes Rot. Nur nicht das, was die padrona im Kopf hatte. Und wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann …«
»Aber das ist bei der tedes… ich meine bei Signora Angela nicht anders«, wandte Nola ein. »Erinnerst du dich an das Himmelblau für die Sessel in der Villa Castro?«
»O ja«, knurrte Orsolina und konnte es sich nicht verkneifen, Vittorio einen vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen. Zwar ganz kurz, er hatte es dennoch bemerkt.
»Schließlich haben Sie es hinbekommen«, sagte Angela mit Nachdruck. Dass die Seide am Ende nicht die Polstermöbel in der Villa Castro geschmückt hatte, sondern in die Arabischen Emirate verkauft worden war, darüber wollte sie lieber nicht sprechen. An diesem Abend wollte sie feiern und auf keinen Fall diese schmerzliche Phase des vergangenen Jahres heraufbeschwören. »Ich mag auch nicht so gern Kompromisse eingehen. Da bin ich Signora Sartori wahrscheinlich ähnlich.«
Protest erhob sich. Nein, Angela könne man keinesfalls mit der strengen und hochmütigen Lela Sartori vergleichen. Die habe sich immer für etwas Besseres gehalten und ein wahres Schreckensregiment ausgeübt.
»Dennoch sind damals wunderschöne Stoffe entstanden«, wandte Angela ein. »Signor Rivalecca hat mir ein paar Stücke von Lela überlassen, die außergewöhnlich sind. Gab es denn damals noch mehr Webstühle als heute? Welche, mit denen man Jacquard-Muster weben konnte vielleicht?«
Da wurde es still um den großen Tisch.
»Nicht dass ich wüsste«, sagte Anna. »Seit ich dabei bin jedenfalls nicht.«
»Mir ist so, als hätte es früher tatsächlich einen weiteren Webstuhl gegeben.« Nola zog ihre Stirn in Falten, so angestrengt dachte sie nach. »In dem Saal, wo der omaccio grande steht. Aber ich bin mir nicht sicher. Das ist schon so lange her …«
»Carmela müsste das wissen«, warf Lidia ein. »Die war ja von Anfang an dabei. Ich meine, seit Lela die Weberei übernommen hat …«
»Ja, genau«, rief Nola. »Frag sie doch mal, Maddalena!«
Maddalena bekam ganz große, ängstliche Augen.
»Lieber nicht«, sagte sie rasch. »Ihr wisst ja, wie sehr sie das alles aufregt. Und auf Lela Sartori ist Mamma ganz besonders schlecht zu sprechen.«
»Nein, das lohnt sich nicht«, erklärte Angela schnell. »Sie soll sich auf keinen Fall aufregen. Möchte noch jemand Tee?«
Das wollte keiner mehr, stattdessen brachen sie alle langsam auf. Die Erwähnung ihrer Mutter Carmela, mit der Maddalena in einem Haushalt wohnte, hatte sie daran erinnert, dass sie eigentlich längst wieder zu Hause sein sollte. Die anderen schlossen sich ihr an.
»Das war ein sehr schöner Abend«, sagte Stefano ein wenig unbeholfen, als er sich verabschiedete. »Vielen Dank. Für alles.«
Bester Laune und einander neckend verließen die Gäste den Hof der Seidenvilla.
»Sie mögen dich«, sagte Vittorio, als sie mit Tess allein zurückblieben.
»Ja, du hast sie alle im Sturm erobert«, fügte die alte Dame zufrieden hinzu und erhob sich. »Und jetzt lass ich euch Turteltäubchen allein.«
»Soll ich dich nach Hause begleiten?«, fragte Angela besorgt.
Tess war schon Mitte siebzig und hatte im vergangenen Jahr ein künstliches Kniegelenk bekommen. Die Vorstellung, dass sie in der Dunkelheit allein über das holprige Pflaster von Asenzas Altstadt zur Villa Serena hinübergehen würde, bereitete ihr Unbehagen.
»Gianni wird mich begleiten«, entschied Tess. »Nicht wahr, mein Junge?«
»Naturalmente«, ertönte es von der Küchentür.
Emilia hatte beschlossen, die Küche und alles andere am nächsten Morgen aufzuräumen. Sie und ihr Sohn nahmen Tess in die Mitte, und so untergehakt verließen die drei die Seidenvilla. Angela schloss das Tor ab und zog Vittorio ins Haus, die Treppen hinauf zu ihren Wohnräumen im ersten Stock.
»Ich habe dich so vermisst«, sagte Vittorio, als er sie im Schlafzimmer in seine Arme schloss. »Wir haben uns viel zu lange nicht gesehen!«
»Drei Tage«, flüsterte Angela, als er ihr den Reißverschluss am Rücken öffnete und ihr aus dem Kleid half.
»Drei verdammt lange Tage«, wiederholte er. »Die können eine Ewigkeit sein, wenn du nicht bei mir bist.« Und dann ließen sie ihre Hände sprechen, ihre Lippen und ihre Körper sich begegnen. Wohlig. Zärtlich. Leidenschaftlich.
»Ich liebe dich«, flüsterte Vittorio, als sie schließlich ermattet und glücklich an seine Seite geschmiegt dalag und ihren Kopf in seine Armbeuge bettete.
»Und ich liebe dich«, antwortete sie leise und rückte noch ein wenig näher, was kaum möglich war. Sie atmete tief den Duft seines Körpers ein, nach Sandelholz und feuchtem Moos oder Moschus, war kurz davor einzuschlummern, als plötzlich der Signalton ihres Handys den Eingang einer neuen Nachricht verkündete. Vittorio brummte verschlafen, doch Angela war auf einmal wieder hellwach.
»Du gehst doch da jetzt nicht mehr ran?«, murmelte er, als sie ihren Arm in Richtung Nachttisch ausstreckte.
»Ich muss«, flüsterte sie betreten. »Das ist Nathalies Klingelton.«
Vittorio war sofort hellwach. »Es wird doch nichts passiert sein?«, fragte er besorgt.
Angela griff nach dem Smartphone.
Mami, ich glaube, ich kann morgen nicht zur Villa Castro kommen, las sie. Mir geht’s gar nicht gut.