Stephen Fry

Feigen, die fusseln

Entfessle den Dichter
in dir

 

 

Aus dem Englischen

von Birke Bossmann, Anne Bussmann,

Susanne Grübl, Christel Klink, Andreas Mahler,

Christina Matthies, Sandra Meder,

Jens Müller, Gabriele Schrettle,

Birgit Schwan, Karin Sleuser,

Christine Voland, Maike Walter,

Christine Wiesmeier

 

Die Originalausgabe mit dem Titel

The Ode Less Travelled

erschien 2005 bei Hutchinson, London.

 

 

 

 

 

ISBN 978-3-8412-1883-4

 

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, 2019

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2019

Die deutsche Erstausgabe erschien 2008 bei Aufbau. Aufbau ist eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

Copyright © Stephen Fry 2005

 

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

 

 

 

Covergestaltung Christin Wilhelm, www.grafic4u.de

unter Verwendung mehrerer Motive von © spxChrome, skodonnell/gettyimages

 

 

E-Book Konvertierung: ZeroSoft, www.zerosoft.ro

 

 

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Inhaltsverzeichnis

 

 

 

 

Vorwort

Leseanleitung für dieses Buch. Die Goldenen Regeln

KAPITEL EINS: DAS METRUM

I Wie wir sprechen. Maßarbeit: das Metrum. Der Fabel-hafte Jambus. Der fünfhebige Jambus. Praktische Lyrikübungen 1 & 2

II Endzäsur, Enjambement und Zäsur. Praktische Lyrikübung 3. Schwache Kadenzen, trochäische und pyrrhische Umstellungen. Versfußumstellungen. Praktische Lyrikübung 4

III Vielerlei Versfüße: Vier Takte auf der ganzen Linie. Gemischtes Doppel. Praktische Lyrikübung 5

IV Dreisilbige Versfüße: Der Anapäst. Der Daktylus. Der Molossus und der Tribrachys. Der Amphibrachus. Der Amphimakros. Viersilbige Versfüße. Praktische Lyrikübung 6

V Angelsächsische Ansichten. Praktische Lyrikübung 7. Sprungrhythmus.

VI Silbische Dichtung. Praktische Lyrikübungen 8 & 9: Coleridges ›Lesson for a Boy‹.

Übersicht über die metrischen Einheiten

KAPITEL ZWEI: DER REIM

I Einige allgemeine Betrachtungen. Die grundlegenden Reimkategorien. Endreime. Binnenreime. Halbreim. Weiblicher Reim und Triplets. Reicher Reim.

II Reimschemata.

III Gutes Reimen, schlechtes Reimen? Ein Gedanken-Experiment. Reimpraxis. Praktische Lyrikübung 10. Reimkategorien

KAPITEL DREI: FORM

I Die Strophe. Was ist Form und warum sich darum kümmern?

II Strophische Variationen. Offene Formen: Terza Rima, Das Quartett, Der Rubai, Rhyme Royal, Ottava Rima. Spenser-Strophe. Adoptieren und Adaptieren. Praktische Lyrikübung 11

III Die Ballade. Praktische Lyrikübung 12

IV Heroic Verse. Praktische Lyrikübung 13

V Die Ode: Sapphische, Pindarische, Horatische, Lyrische, Anakreontische Ode.

VI Geschlossene Formen: Die Villanelle. Praktische Lyrikübung 14. Die Sestine. Praktische Lyrikübung 15. Das Pantum. Die Ballade

VII Noch mehr geschlossene Formen: Rondeau, Rondeau redoublé, Rondel, Roundel, Rondelet, Roundelay, Triolett, Kyrielle. Praktische Lyrikübung 16

VIII Heitere Dichtung: Das Cento. Der Clerihew. Der Limerick. Überlegungen zu heiterem und anzüglichem Vers. Leichte Dichtung. Parodie. Praktische Lyrikübung 17

IX Exotische Formen: Haiku, Senryu, Tanka. Ghasel. Luc Bat. Tanaga. Praktische Lyrikübung 18

X Das Sonett: Italienische und Shakespeare-Sonette. Sonettvariationen und romantische Duelle. Praktische Lyrikübung 19

XI Bildgedichte. Figurengedichte. Albern alberne Formen. Akrostichon. Praktische Lyrikübung 20

KAPITEL VIER: LYRISCHE SPRACHE UND POETIK HEUTE

I Der Wal. Die Katze und der Gesetzesakt. Madeline. Diktion. (Auf) Sprache achten.

II Dichterische Untugenden. Zehn Gepflogenheiten erfolgreicher Dichter. Wie man Beachtung findet. Dichtung heute. Zu guter Letzt.

ANHANG

Unvollständiges Glossar poetischer Fachbegriffe

Appendix – Arnauts Algorithmus

Danksagung

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Der mittelmäßige Lehrer erzählt. Der gute Lehrer erklärt. Der bessere Lehrer beweist. Der große Lehrer begeistert.

WILLIAM ARTHUR WARD

 

Für Rory Stuart –

einen guten, besseren und großen Lehrer.

Vorwort

 

 

 

 

In meinem Herzen schlummert ein düsteres Geheimnis. Ich schreibe Gedichte.

So ein Eingeständnis ist für einen Erwachsenen schon peinlich. Winston Churchill und Noël Coward haben in ihren Mußestunden gemalt. Albert Einstein spielte zur Entspannung Geige. Hemingway ging auf die Jagd, Agatha Christie gärtnerte, James Joyce schmetterte Arien, und Nabokov fing Schmetterlinge. Aber Gedichte?

Ich habe einen Freund, der auf dem Speicher trommelt, und einen anderen, der seit Jahren an einem Boot baut. Ich kenne einen Schauspieler, der gibt mehr auf die von ihm in einer kleinen Werkstatt angefertigten originalgetreuen Duellpistolen aus dem 18. Jahrhundert als auf seinen Adelstitel. In England frönt jeder einem Hobby – in allen Bereichen menschlichen Strebens gibt es exzentrische Amateure, begabte Dilettanten, aufgeblasene Möchtegernbastler und hingebungsvolle Autodidakten. Aber Gedichte?

Keiner stört sich dran, wenn Backfische Gedichte schreiben, solange diese nur sicher zwischen den Seiten ihres ledergebundenen rosa Tagebuches verwahrt sind. Biedere Pendler dürfen sich ohne weiteres an lustigen Pastichewettbewerben im Spectator oder New Statesman beteiligen. Im Notfall ist es einem jungen Mann sogar erlaubt, einen oder zwei leicht anzügliche Knittelverse auf einen Notizzettel zu kritzeln und ihn an den Kühlschrank zu kleben – statt einer Karte zum Valentinstag. Aber mehr auch nicht. Jedes tiefere Vordringen in die Welt der Poesie rührt unweigerlich an die innerste Urangst eines jeden – die Angst vor peinlicher Bloßstellung.

Und doch …

Ich glaube, in uns allen steckt eine angeborenen Sehnsucht zu dichten. Ich glaube, dass wir alle das Zeug dazu haben, ja dass wir sogar im tiefsten Inneren den zarten, aber oft verdrängten Wunsch hegen, es auch auszuprobieren. Ich glaube, unsere Sehnsucht, eigene Gedichte zu schreiben, wird oft durch die irrige Annahme im Keim erstickt, Dichten sei einerseits etwas sehr Akademisches und Technisches, andererseits aber irgendwie formlos und beliebig. Vielen scheint es, als gebe es klar ausgewiesene Wege, wie man Musizieren, Gärtnern oder Aquarellmalen lernen kann, das Dichten aber wähnen sie in einem unzugänglichen Sumpf: weit und breit keine Wege, keine Schilder, allein die Gerippe längst verstorbener Dichter ragen aus dem Morast, und die, die noch leben, zappeln in offensichtlicher Orientierungslosigkeit und gegenseitiger Feindseligkeit darin herum und bieten einen wenig erbaulichen Anblick. Über allem aber schwebt die bange Erinnerung an Schulstunden, in denen eisiges Schweigen jeden Winkel des Klassenzimmers erfüllt, während der Lehrer dazu auffordert, man möge sich doch bitte ganz auf das Gedicht einlassen.

Mir selbst bietet die recht individuelle Angelegenheit des Gedichtschreibens vieles gleichzeitig, und dies noch dazu zu günstigen Bedingungen: Ich komponiere, bekenne meine Sünden, schreibe Tagebuch, spinne so vor mich hin, löse Probleme, erzähle Geschichten; es ist Therapie, Frustbewältigung, Fingerübung, Anspannung wie Entspannung und geistiges Abenteuer.

Nehmen wir einmal an, ich möchte malen, habe dafür aber kein erkennbares Talent. Egal: Es gibt ja Geschäfte für den Künstlerbedarf, wo man Farben, Papier, Pastellstifte, Zeichenkohle und Kreiden kaufen kann. Und überall gibt es die passenden »Ratgeber«. Einfache Lektionen zu Regeln der Proportion und Anleitungen zur Komposition und Farbmischung können meinen Mangel an natürlicher Begabung ausgleichen und mir kurz und schmerzlos technische Grundlagen vermitteln. Raster und Umrisszeichnungen, Pantographen und Durchpauspapier leisten Hilfestellung. Präzise Instruktionen zeigen mir, wie man eine Leinwand vorbereitet, mit Farbe grundiert und daraus in kürzester Zeit mit etwas Wasser einen Aquarellhimmel macht. Es gibt Mitmachvideos, und ich kann mir sogar über Kabel oder Satellit Fernsehprogramme ins Wohnzimmer holen, in denen sanfte Hippies Seen zeichnen, Tannen mit Palettenmessern modellieren und diese dann mit Impasto-Schnee betupfen. Malstöcke, Zobelhaar, Schweineborsten, Terpentin und Leinöl. Viridianes Grün, Umbra, Ocker und Karmesin. Perspektive, Chiaroscuro, sfumato, Grisaille, Tondo und morbidezza. Besondere Methoden und Materialien. Das nötige Handwerkszeug. Eine eigene Fachsprache. Der Eintritt in eine völlig neue Welt von Technik, Form und Stil.

Nehmen wir einmal an, ich möchte musizieren, habe dafür aber kein erkennbares Talent. Egal: es gibt ja Musikgeschäfte, die Instrumente, Stimmgabeln, Metronome und Anleitungen zuhauf verkaufen. Und stapelweise Noten. Lernvideos im Überfluss. Ich kann ein digitales Keyboard erstehen, das ich an meinen Computer anschließe, damit es mich mittels Software durch die Grundlagen dirigiert und meinen Fortschritt und meine Genauigkeit überwacht. Ich beginne mit Tonleitern und arbeite mich dann zu Akkorden und Arpeggios vor. Es gibt Rosshaarbögen, Kolophonium und Darmsaiten, Rohrblätter, Plektren und Mundstücke. Es gibt verminderte Septimen, übermäßige Quinten, parallele Molltonarten, Triller und Vorzeichen. Es gibt Riffs und Figuren, Licks und Ostinati. Sonate, Adagio, Crescendo, Scherzo und zwölftaktigen Blues. Besondere Methoden und Materialien. Das nötige Handwerkszeug. Eine eigene Fachsprache. Der Eintritt in eine völlig neue Welt von Technik, Form und Stil.

Um uns noch weiter zu helfen, gibt es Abendkurse, Vereine und Gruppen. Packen Sie Ihre Staffelei und Palette ein und fahren Sie mit einer Gruppe gleichgesinnter Enthusiasten aufs Land. Setzen Sie sich mit einem Freund hin, und lernen Sie einen neuen Akkord auf der Gitarre. Treten Sie einer Band bei. Machen Sie aus Ihrem Aquarell vom Lake Windermere einen Untersetzer oder ein T-Shirt. Brennen Sie Ihre Version von Stairway to Heaven auf CD, und erschrecken Sie Ihre Freunde.

Keiner dieser Vorstöße ins Reich von Methode und Geschicklichkeit wird Sie zwangsläufig in ein Genie oder auch nur einen handwerklichen Könner verwandeln. Ihre ganz persönliche Version von Windsor im Schnee, ob diese nun im Dachboden verstaubt oder den Hintergrund für Ihre diesjährige Weihnachtskarte bildet, macht Sie noch nicht zu einem zweiten Turner, Constable oder Monet. Ihre Interpretation von Für Elise auf einem elektro-mechanischen Klavier wird Alfred Brendel kaum ins Schwitzen bringen. Ihre Trompetenversion des Basin Street Blues kann soweit von der Satchmos entfernt sein, dass es weh tut, und Ihre Fassung von Lela eine ewige Beleidigung für jeden, der Ohren hat zu hören. Vielleicht verkaufen Sie nicht ein Bild, werden kein einziges Mal als Vertretung für die an Gürtelrose erkrankte Kirchenorganistin eingeladen oder haben kein Glück beim Vorspielen für die örtliche Bay City Rollers Tribute Band. Sie sind weder der »Große Künstler« noch Studiomusiker, weder Illustrator noch angesehener Amateur.

Aber was macht das schon? Sie sind einfach jemand, der ein wenig malt, zum Spaß auf dem Keyboard herumklimpert, ein unbändiges Vergnügen hat, eine Melodie zu lernen oder ein geliebtes Gesicht auf neue Weise mit Zeichenkohle festzuhalten. Sie haben noch ein anderes Leben, Sie haben eine Familie, Arbeit und Freunde, dies aber ist ein Hobby, ein Zeitvertreib, SPASS. Geben Sie vielleicht das Herumkicken am Sonntag auf, nur weil sie nie ein zweiter Thierry Henry sein werden? Natürlich nicht. Das wäre krankhaft eitel. Wir hören nicht auf, darüber zu reden, wie man die Welt verbessern könnte, nur weil wir es nie zum Premierminister bringen werden. Wir sind alle Politiker. Wir sind alle Künstler. In einer offenen Gesellschaft ist alles, was unser Geist und unsere Hände zustande bringen können, unser Geburtsrecht. Es ist an uns, es einzufordern.

Und man kann ja nie wissen, Sie könnten wirklich das Zeug zum nächsten Star haben oder das Potential, anderen so viel Freude zu bereiten, wie Sie selbst bei der Sache haben. Aber wie wollen Sie das jemals herausfinden, wenn Sie es nicht ausprobieren?

Dies gilt nicht nur für Malerei und Musik, es gilt auch für Kochen und Photographie, für Gartengestaltung und Innenarchitektur, für Schach und Poker, für Skifahren und Segeln, fürs Schreinern und Bridge, für Wein und Strickarbeit, für das Basteln von Buddelschiffen, Squaredance wie für hundert andere Beschäftigungen: sie alle bereichern und beleben die tägliche Mühsal aus Geld und Konsum, Hypotheken und Einkaufsbummel, Schule und Büro. Es gibt Regeln, Konventionen, Techniken, spezielle Utensilien, Ausrüstung und Zubehör, althergebrachte Verfahren, Formen, Fachjargons und Traditionen. Die meisten Menschen erwarten nicht, mit ihrem Hobby einen Preis zu gewinnen, ein Vermögen zu verdienen, berühmt zu werden oder die endgültige Meisterschaft in ihrer Kunst, ihrem Handwerk, ihrem Sport – oder wie wir jetzt sagen würden, in der Freizeitbeschäftigung ihrer Wahl – zu erlangen. Es reicht völlig aus, dass es Spaß macht.

Entscheidend bleibt dabei, dass es eben gerade keine Plackerei ist, den Unterschied zwischen saurem und alkalischem Boden verstehen zu wollen oder zu lernen, wie Blendenstufen und Belichtungszeiten Ihre Fotos beeinflussen. Es ist keine stumpfsinnige Plackerei, und es muss Ihnen auch nicht peinlich sein, wenn Sie lernen, wie man rechts und links Maschine strickt und abkettet, mit Skiern Schneepflug fährt, eine Pfanne ablöscht, eine Schwalbenschwanzverbindung schneidet oder den Wert einer Bridge-Hand berechnet. Nur verunsicherte Heranwachsende und minderbemittelte Angsthasen halten Fachbegriffe und Fachsprachen für angeberisch, Strukturen und Details für langweilig. Vernünftige Leute haben es nicht nötig, dämlich zu grinsen, wenn bei Musik von Färbung, bei Wein von Struktur oder bei Architektur von Rhythmus gesprochen wird. Segeln lernen etwa hat durchaus seine Haken und Ösen, und man muss lernen, dass die Seile Schoten und Fangleinen heißen, ein Knoten Steek, vorn achtern ist und rechts Steuerbord. Das hat nichts mit Angeberei und Exklusivität zu tun, sondern ist einfach Genauigkeit, es gehört zur Einführung des Neulings in die Gilde. Mit dem Erlernen des Fachjargons beginnt unser Initiationsritus.

In der Musik ist Tempo nicht das Gleiche wie Rhythmus, und dieser wiederum unterscheidet sich vom Taktschlag. Es gibt metronomische Zeichen und Taktvorzeichnungen. Irgendwo zwischen dem Klimpern einer Melodie mit einem Finger und dem richtigen Spielen müssen wir diese Unterschiede kennenlernen. Manchen fällt das leicht, es scheint ihnen angeboren zu sein; bei den meisten ist die Musikalität jedoch tief im Innern verborgen und benötigt ein bisschen gutes Zureden und Unterweisung, um zutage zu treten. Jemand zeigt uns also, wie es geht, oder wir lernen per Video, Abendschule oder Buch. Talent ist angeboren, Technik ist erlernt.

Talent ohne Technik ist wie ein Auto ohne Lenkrad, Getriebe oder Bremsen. Es spielt keine Rolle, wie hoch entwickelt und kraftvoll der V 12 unter der Haube ist, wenn man den Wagen nicht lenken und kontrollieren kann. Talentierte Menschen, die nichts aus ihren Gaben machen, verlieren oft die Kontrolle über ihre Begabung und lassen sie verkümmern. Es ist eine so offensichtliche Tatsache, dass es fast schon wieder ein Geheimnis ist: den meisten Menschen sind ihre Talente peinlich, wenn sie sich nicht sogar dafür schämen. Beschämt ob ihrer Begabungen, aber schier platzend vor Stolz über das, was sie durch Leistung erreicht haben. Geben Athleten etwa mit ihrer guten Koordination, ihrer Anmut oder ihrem Gleichgewichtssinn an? Nein, sie erzählen, wie hart sie trainieren, von den Opfern, die sie bringen und der Mühe, die sie sich geben.

 

Aber gewiss sollte des Menschen Griff den bloßen Radius übersteigen. Wozu wär sonst der Himmel da?

 

Dieser Ausruf Robert Brownings bringt uns wieder zu den Gedichten zurück. Möglicherweise hatten Sie in der Schule weder Musik- noch Kunstunterricht, sicher aber hatten Sie mit Gedichten zu tun. Allerdings nicht damit, wie diese entstehen, und wohl kaum damit, wie man eigene verfasst, sondern – Gott steh uns bei – wie man sie versteht.

Wir alle, und ich meine wirklich alle, saßen wohl schon stumm und mit gefurchter Stirn da und kamen uns absolut beschränkt vor, wenn der Lehrer uns aufforderte, zu einer Metapher oder einer Gedichtzeile Stellung zu nehmen.

 

Worauf nimmt Ihrer Meinung nach Wordsworth hier Bezug?

Was will Wilfred Owen mit dieser Metapher ausdrücken?

Wie reagiert Keats auf die Nachtigall?

Warum wohl hat Shakespeare das Wort »gentle« als Verb verwendet?

Wie ist Larkins Einstellung zu dem Hotelzimmer?

 

Jetzt kommt alles wieder hoch, was? All die heißwangig-herzklopfende Beschämung und Peinlichkeit, wenn man aufgerufen wurde, um einen Kommentar abzugeben.

Die Art, wie Lyrik an der Schule gelehrt wurde, erinnerte W. H. Auden an eine Karikatur in der Zeitschrift Punch, die einer Legende nach aus der Feder von A. E. Housman stammt. Zwei Englischlehrer gehen zur Frühlingszeit im Wald spazieren. Durch das Vogelgezwitscher fühlt sich der eine bemüßigt, William Wordsworth zu zitieren:

 

LEHRER 1: Ach Kuckuck, zähl ich dich zur Vogelschar
    Oder bist du eine Geisterstimme?

LEHRER 2: Die rechte Wahl lege mir dar,
    Und Gründe mir dafür bestimme.

 

Wahrscheinlich haben Sie einmal eine Phase durchgemacht, in der Sie Shakespeare, Keats, Owen, Eliot, Larkin und alle davor und danach als Langweiler verabscheut haben, selbst wenn Ihnen deren Verse nach- und nahegingen. Inzwischen mögen Sie sie vielleicht, oder aber Sie hassen sie immer noch, oder die ganze Bagage ist Ihnen vollkommen gleichgültig. Aber wie gut oder schlecht uns auch immer Literatur beigebracht wurde – wie vielen von uns wurde gezeigt, wie man eigene Gedichte schreibt?

 

Mach dir keine Sorgen. Kümmere dich nicht um Metrum, Reim und Verse. Verleih nur deinen Gefühlen Ausdruck. Laß ihnen freien Lauf.

 

Stellen Sie sich vor, Sie hätten noch nie in Ihrem Leben Klavier gespielt.

 

Mach dir keine Sorgen. Öffne nur den Deckel und verleih deinen Gefühlen Ausdruck. Laß ihnen freien Lauf.

 

Jeder von uns hat schon mal einem Kind zugehört, das genau das tat, und erinnert sich nur zu genau, wie schnell man gewalttätig werden wollte. Und doch ist dies die einzige Anweisung, die wir je in der Kunst des Gedichtschreibens erhalten werden.

 

Alles ist erlaubt.

 

Aber genau so funktioniert doch auch moderne Lyrik, oder nicht? Freier Vers – so nennt man das doch? Vers libre?

Jaaa schon … Und in der modernen Musik schrieb John Cage sein notorisches Stück Stille mit der Bezeichnung 4 Minuten 33 Sekunden und schuf Werke, bei denen er Kugellager und Ketten auf eigens präparierte Klaviere werfen ließ. Sollen Musiklehrer ihren Schülern so was beibringen? Sollen wir sie ermuntern, Harmonie und Rhythmus zu ignorieren und einfach drauflos zu lärmen? Man darf nicht übersehen, dass die ersten Stücke von Cage sich sehr an der westlichen Kompositionstradition orientierten, er schrieb Sätze mit konventionellen italienischen Namen wie Lento, Vivace und Fugato. Picassos frühe Werke sind makellose Modelle von bildlicher Genauigkeit. Manche Musik mag durchaus starke Gefühle in uns wecken, starke Gefühle allein aber reichen zum Musikmachen nicht aus.

Im Gegensatz zu Notenschrift, Farbe oder Lehm ist Sprache jedem von uns gegeben. Und das auch noch gratis! Wir alle können uns ihrer bedienen. Wir haben schon die Farbpalette, die Farben und die Werkzeuge. Wir müssen nicht erst noch los, um irgendwelche bereitgelegten Materialien abzuholen. Gedichte sind aus genau dem Zeug gemacht, das Sie gerade lesen, aus dem Zeug, das Sie dem Pizzaservice durchgeben, aus dem Zeug, das Sie Ihren Eltern oder Kindern entgegenschreien, Ihrem Liebsten ins Ohr flüstern und in eine E-Mail, einen Text oder eine Geburtstagskarte packen. Es ist uns allen vertraut. Sträuben wir uns vielleicht genau deshalb alle gegen die Behauptung, dass es durch Technik zu seiner höchsten Perfektion gebracht werden kann: zur Dichtung? Ich kann nicht Ski fahren, bräuchte daher jemanden, der es mir zeigt. Ich kann nicht malen, also wären ein paar Zeichenstunden nicht schlecht. Ich kann aber sprechen und schreiben, also haltet mich nicht von der Arbeit ab, indem ihr mir weismachen wollt, ich solle doch Unterricht im Dichten nehmen, was doch eigentlich nichts anderes als gefühlsbetontes Schreiben ist, ob nun mit oder ohne Reim. Ist es nicht so?

In seiner Rezension zu Missing Measures von Timothy Steele sagt Jan Schreiber über moderne Dichtung dies:

 

Das Schreiben von Gedichten ist lächerlich einfach geworden. Es gibt keinerlei technische Einschränkungen. Weder muss man mit der Tradition vertraut sein noch ein Verlangen nach Kommunikation verspüren; viele Anhänger dieser Kunst messen dem persönlichen Ausdruck mittlerweile eine viel größere Bedeutung bei. Selbst die Experimentierfreudigkeit in Sachen Syntax ist in Vergessenheit geraten. Dichtung, so scheint es, muss nicht einmal mehr wenigstens die Ansprüche erfüllen, die an Prosa gestellt werden.

 

Ich für meinen Teil halte es nicht für »lächerlich einfach«, sondern im Gegenteil für unglaublich schwierig, ohne festgelegte Form, Metrum oder Reim zu schreiben. Wenn Sie das hinkriegen: Weiterhin viel Glück dabei und Lebewohl, dann ist dieses Buch nichts für Sie. Gleichwohl noch schnell etwas zum Nachdenken von W. H. Auden mit auf den Weg:

 

»Der Dichter, der ›freie‹ Verse schreibt, ist wie Robinson Crusoe auf seiner einsamen Insel: Er muss ganz alleine kochen, waschen und Löcher stopfen. In einigen seltenen Fällen erzeugt diese männliche Unabhängigkeit etwas Ursprüngliches und Beeindruckendes, sehr viel häufiger ist das Ergebnis allerdings eher traurig – schmutzige Bettlaken im ungemachten Bett und leere Flaschen auf dem ungeputzten Boden.«

 

Ich kann Ihnen nicht beibringen, wie man ein guter Dichter wird, geschweige denn ein großartiger. Verflixt, ich kann es ja nicht mal mir selbst beibringen. Aber ich kann Ihnen zeigen, wie Sie Ihren Spaß an lyrischen Rede- und Gedichtformen finden können, wie sie sich über die Jahre hinweg entwickelt haben. Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, werden Sie in der Lage sein, ein italienisches Sonett, eine Sapphische Ode, eine Ballade, eine Villanella, eine Spenserstrophe und viele andere bizarre und entzückende Gedichtformen zu verfassen; Sie werden mit Begriffen wie Metrum und Reim vertraut sein. Dabei ist es unwichtig, ob Sie sich entschließen, über die Unsinnigkeit von Werbung zu schreiben, über das wohlgeformte Hinterteil ihrer großen Liebe, die Sinnlosigkeit des Krieges oder Ihre Unfähigkeit, ein Gurkenglas zu öffnen. Ich gebe Ihnen das Werkzeug, Sie erledigen den Rest. Und haben Sie den Dreh bei der Form erst einmal heraus, können Sie Ihre eigenen Formen gestalten. Das Schmidtsche Sonett. Die Meiersche Ode. Die Müllerstrophe.

Dies ist kein Lehrbuch. Es wird wohl kaum je Teil irgendeines Kerncurriculums werden. Vielleicht hilft es ja bei Englischprüfungen, weil es einen durchaus in die Lage versetzt, bei der Interpretation (falls so was heute überhaupt noch verlangt wird) einen auf Schlaumeier zu machen und zu zeigen, dass man einen Trochäus von einem Daktylus, eine Terzine von einer Oktave und eine Assonanz von einem Enjambement unterscheiden kann; in diesem Fall stehe ich gerne zu Diensten. Meine Zeit als Lehrer liegt schon länger als ein Vierteljahrhundert zurück, und ich weiß nicht, ob ein solches Wissen heutzutage sinnvoll oder überflüssig ist; ich weiß nur eines: Es kann gegen Sie verwendet werden.

Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich in den vergangenen fünfunddreißig Jahren großen Gewinn aus dem Schreiben von Gedichten gezogen habe, und wie jeder, der eine Leidenschaft hat, möchte ich diese mit anderen teilen. Keine Angst – ich werde Sie nicht mit selbstverfassten Gedichten belästigen (außer vielleicht einigen Versen zur Verdeutlichung von Form und Metrum): Gedichte schreibe ich nämlich nicht, um sie zu veröffentlichen, sondern aus dem gleichen Grund, aus dem man laut Wilde ein Tagebuch führen sollte: damit man im Zug etwas Aufregendes zu lesen hat. Und als eine Art Selbstgespräch. Hauptsächlich aber zum Vergnügen.

Dies ist nicht das erste Buch, das je zum Thema Prosodie (der Kunst der Verslehre) verfasst wurde, aber es ist das Buch, von dem ich mir gewünscht hätte, dass ich es schon vor Jahren hätte lesen können. Es ist natürlich technisch, aber nur insofern es sich mit Techniken beschäftigt – ich hoffe, dass es dadurch nicht langweilig, unverständlich oder schwierig wird – immerhin ist »Technik« nur das griechische Wort für Kunst. Ich habe versucht, alles einigermaßen verständlich darzustellen, ohne dabei plump vertraulich zu werden oder grob zu vereinfachen.

Ich werde ganz sicher nicht versuchen, dort weiterzumachen, wo man in der Schule aufhört, und Sie dazu nötigen, die Poesie als hohe Kunst anzusehen. Ich vermute jedoch, sobald Sie Ihr erstes richtiges Gedicht verfasst haben, wird sich ganz automatisch eine große Bewunderung für andere Dichter einstellen. Wenn Sie noch nie Golf gespielt haben, können Sie nicht beurteilen, wie kunstfertig Ernie Els mit dem Golfschläger umgeht (oder Roger Federer mit dem Tennisschläger, Jamie Oliver mit der Bratpfanne, Lang Lang mit dem Klavier und so weiter und so fort).

Vielleicht sagen Sie sich ja auch: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr! Oder sie glauben, dass der Zug abgefahren ist. Alles Quatsch. Thomas Hardy (meiner Meinung nach als Dichter besser denn als Romancier) hat erst mit 67 seine ersten Gedichte veröffentlicht.

 

Jedes Kind ist musikalisch. Bedauerlicherweise wird diese natürliche Gabe im Keim erstickt, ehe sie Zeit hat, sich zu entwickeln. Über all die Jahre am deutlichsten im Gedächtnis blieb mir das Gelächter derjenigen, denen meine Stimme und mein Gesang nicht gefiel. Meine ehemalige Lehrerin Miss Stone ließ mich nie mit dem Rest der Klasse singen – sie glaubte, ich sänge schief und brächte die anderen aus dem Takt. Ich nahm es widerspruchslos hin, was dazu führte, dass mir Musik nicht mehr gefiel und mir dadurch auch der Weg zur Poesie versperrt war. Glücklicherweise machte ich ihm Alter von 57 Jahren eine tiefgehende emotionale Erfahrung, die mir den Zugang zur Dichtkunst eröffnete, und es gibt inzwischen viele, die meine Gedichte durchaus ansprechend finden.

 

Dies schreibt ein gewisser Sidney Madwed. Mr. Madwed ist vielleicht nicht gerade Thomas Campion oder Cole Porter, aber er glaubt, dass ihn die Einsicht in die Prosodie befreit habe, und hat jetzt offensichtlich einen Heidenspaß beim Verfassen seiner Werke. Ich hoffe, dass die Lektüre dieses Buches für Sie zu einer »tiefgehenden emotionalen Erfahrung« wird und in Ihnen den Poeten erweckt, der schon immer in Ihnen geschlummert hat.

Es ist niemals zu spät. Wir alle sind Opsimathen.

 

Opsimath, Nomen: Jemand, der im hohen Alter noch dazu lernt.

 

Lassen Sie uns gemeinsam ans Werk gehen, sowohl opsimathisch als auch optimistisch. Nichts kann uns aufhalten. Die Ode ruft.

Leseanleitung für dieses Buch

 

 

 

 

Es gibt kein Entkommen: Wenn Sie mit gleichbleibender Geschwindigkeit weiterlesen, werden Sie in circa fünf Minuten feststellen, dass Sie mit Fachwörtern bombardiert werden – zuerst langsam und dann immer schneller und heftiger. Viele der Wörter sind griechischen Ursprungs, und viele von ihnen werden Ihnen vielleicht unbekannt sein. Ich kann nicht vorhersagen, wie Sie darauf reagieren werden. Vielleicht werden Sie sich vor Freude die Hände reiben, vielleicht werden Sie sie über dem Kopf zusammenschlagen, um dem (wie auch immer gearteten) Gegenteil von Freude Ausdruck zu verleihen, vielleicht werden Sie die Hände zornig zur Faust ballen oder sie dazu benutzen, dieses Buch so weit wie möglich von sich fort zu schleudern.

Es ist wichtig, sich bereits hier im Anfangsstadium zu vergegenwärtigen, dass – wie schon erwähnt – die meisten wirklich lohnenswerten Tätigkeiten über einen eigenen Fachjargon, eine eigene Sprache und eigenes Fachvokabular verfügen. In der Musik sind das Quinten und erweiterte Dur-Klänge. Beim Segelsport sind das Baum-Besan, über Stag gehen und Spinnaker. Ich könnte nun versuchen, Wörter wie Jambus und Zäsur in eine allgemein verständliche Alltagssprache zu »übersetzen«, aber ehrlich gesagt wäre das albern und außerdem bevormundend. Darüber hinaus wäre es sehr verwirrend, da es gut sein kann, dass Sie für weitere Erkenntnisse zu anderen Büchern über Dichtung greifen.

Deshalb meine Bitte: HABEN SIE KEINE ANGST. Ich habe mir alle Mühe gegeben, Ihnen den Einstieg in die Welt der Prosodie so geradlinig, logisch und angenehm wie möglich zu gestalten. Keine erstrebenswerte Kunst kommt ohne komplexe und knifflige Zusammenhänge aus. Wenn Sie aber merken, dass Sie verwirrt sind, wenn Worte und Konzepte anfangen, sinnlos vor Ihren Augen zu verschwimmen, geraten Sie nicht in Panik. Solange Sie sich an die drei goldenen Regeln halten, kann gar nichts schiefgehen. Sie werden rasant an dichterischem Vermögen und Selbstvertrauen zulegen und großartige Fortschritte machen. Niemand erwartet von Ihnen, dass Sie sich an jedes metrische Stilmittel oder Reimschema erinnern: ich habe am Ende des Buches ein Glossar angefügt. Nahezu jedes von mir benutzte Fachwort und jeder ungewöhnliche Begriff findet sich dort. Wenn Sie sich also nicht sicher sind, schlagen Sie einfach hinten nach. Sie werden dort eine Erklärung anhand einer Definition und/oder eines Beispiels finden.

Wenn Sie schon eine Menge über Prosodie wissen, oder zumindest glauben, es zu tun, dann werden Sie vielleicht den Drang verspüren, die ersten Abschnitte dieses Buches nur flüchtig zu lesen. Das steht Ihnen natürlich frei, aber ich rate dringend davon ab. Der Kurs steht allen offen, und man folgt ihm am besten in der vorgegebenen Reihenfolge. Nun, fürchte ich aber, dürfen Sie nicht weiterlesen, ohne sich mit den nachfolgenden drei goldenen Regeln vertraut zu machen.

Die Goldenen Regeln

REGEL EINS

Gerade in der heutigen Zeit gehört es zu den faszinierenden Eigenschaften der Lyrik, dass sie uns unbeirrt die Kunst und das Vergnügen der Langsamkeit, des Sich-Zeit-Lassens lehrt. Nie kann man ein Gedicht zu langsam, garantiert aber kann man es zu schnell lesen.

Bitte, und das ist mein Herzenswunsch, bitte lesen Sie all die Gedichtpassagen und Auszüge in diesem Buch (normalerweise in eingerückten Absätzen) so langsam wie nur irgend möglich. Lesen Sie sie wieder und immer wieder und erfassen Sie so Rhythmus, Ausgewogenheit und Gestalt. Das gilt für einzelne Zeilen ebenso wie für längere Textbeispiele.

Gedichte muss man ganz anders lesen als Romane. Es kann richtig Spaß machen, sich als Betthupferl ein vierzehnzeiliges Sonett zu gönnen und es eine Woche lang immer wieder vor dem Einschlafen zu lesen. Kosten, schmecken, genießen Sie. Lyrik schlürft man nicht einfach so in sich hinein wie ein Kind seinen Milchshake, sondern man genießt sie Schluck für Schluck wie einen kostbaren alten Malt-Whisky. Verse gehören zu den letzten Dingen, die wir der Schnelllebigkeit und dem Infantilismus noch entgegenzusetzen haben. Sie sind ein Genuss, selbst wenn sie schlicht und kindlich daherkommen.

Versuchen Sie auf alle Fälle, Verse laut zu lesen. Sollten Sie gerade irgendwo sein, wo diese Übung Sie in peinliche Verlegenheit bringen könnte, so lesen Sie innerlich laut (und bewegen Sie dabei, wenn möglich, die Lippen). Zu den Freuden der Dichtung gehört das pure physische, sinnlich spürbare, buchstäblich greifbare Vergnügen, sich die Worte auf den Lippen, der Zunge, zwischen den Zähnen und den Stimmbändern zergehen zu lassen.

An einer einzigen Gedichtzeile kann man wochenlang schmieden und herumfeilen. Zugegeben, manchmal mag ein einziger Geistesblitz wundervolle Effekte hervorzaubern, aber im Allgemeinen brauchen Gedichte ihre Zeit. Wie ein gutes Gemälde sind sie nicht dazu gemacht, sie mit einem einzigen gierigen Blick zu erfassen, sondern um mit ihnen zu leben und sich unermüdlich mit ihnen zu beschäftigen: Wieder und immer wieder kann man den Blick zurückschweifen lassen, neue Winkel erkunden, neue Wendungen und scheinbar neu sich bildende Formen. Vielleicht sind wir zu sehr an eine eindimensionale Art von Texten gewöhnt, mit nur einer einzigen Botschaft. Kaum haben wir diese Botschaft aufgenommen, gehen wir zum nächsten Satz über. Dichtung verwendet Worte auf vollkommen andere Art und Weise, und ich kann nur immer wieder betonen, wieviel mehr Vergnügen es bereitet, sich ganz langsam und genüsslich auf diese Sprache und ihre Rhythmen einzulassen.

REGEL ZWEI

Kümmern Sie sich niemals um die »Bedeutung«, wenn Sie Gedichte lesen, weder bei denen, die ich hier im Buch zitiere, noch bei denen, die Sie sich selbst aussuchen. Gedichte sind keine Kreuzworträtsel: Wie ungreifbar oder »schwer« auch die Handlung oder das Argument eines Gedichts erscheint und sich einer einfachen Interpretation entzieht, es geht hier nicht um einen Intelligenz- oder Lerntest (oder falls doch, lohnt es nicht, dies weiter zu verfolgen). Natürlich sind einige Gedichte komplex und kunstvoll, während andere Sie vor ein Rätsel stellen. In der Vergangenheit hat Lyrik oft die Kenntnis klassischer Literatur, christlicher Liturgie oder griechischer Mythologie vorausgesetzt. Moderne Lyrik kann völlig vernagelt daherkommen mit ihren dichten und unzugänglichen Anspielungen auf andere Dichter, wissenschaftliche Erkenntnisse oder auf Philosophie. Unter Umständen enthält sie Hieroglyphen oder fremdsprachige Wendungen. Für solche Werke gibt es literaturwissenschaftliche Fachbücher, falls Sie sich damit befassen wollen; wir werden uns hier recht wenig um die Avantgarde, experimentelle oder dunkle Lyrik kümmern. Das Vergnügen, das sie ungelogen bereiten, wäre Stoff für ein eigenes Buch.

Man fühlt sich von einem Gedicht schnell eingeschüchtert. Gedichte können einem vorkommen wie große Kinder, vor denen wir uns auf Kindergeburtstagen fürchten und uns an die Mutter klammern. Vergessen Sie aber nicht, dass Dichter auch nur Menschen sind, und zwar solche, die den mutigen Schritt gewagt haben, uns ihre Liebe, Ängste und Hoffnungen – und ihre Geschichten – in einer ausgesuchten und ausgefeilten Form mitzuteilen. Dazu haben sie eine Ausdrucksweise gewählt, die gedrängt und oft überschwänglich ist; sie bieten uns eine Musik, an deren Erschaffung sie lange gearbeitet haben – lange Stunden der Komposition, ein ganzes Leben in der Vorbereitung. Dichter wollen uns nicht verängstigen oder abschrecken, sie wünschen sich, dass wir ihre Werke lesen und uns daran erfreuen.

Ärgern Sie sich nicht über Gedichte, wenn diese Bedeutung und Kommunikation auf andere Art und Weise vermitteln, als wir das sonst von einer Zusammenstellung von Wörtern gewohnt sind. Fassen Sie Zuversicht bei dem Gedanken, dass Sie bei einem Gedicht weder eine Antwort formulieren noch eine Meinung hervorbringen oder ein Urteil fällen müssen. Wenn schon das Lesen eines Gedichts viel Zeit in Anspruch nimmt, dann braucht es eben auch seine Zeit, sich mit dem Wesen der Lyrik insgesamt anzufreunden. Solange Regel Eins eingehalten wird, stellt sich Bedeutung mit der Zeit von alleine ein.

REGEL DREI

Kaufen Sie sich ein Notizbuch, ein Heft oder eine Übungskladde und viele Bleistifte (jedes andere Schreibgerät tut es auch, aber ich finde Bleistifte angenehmer anzufassen). Das ist die einzige Ausstattung, die Sie brauchen: keine Kameras, Zeichenpinsel, Stimmgabeln oder Schneidebretter. Dichter genießen ihre Handschrift (»wie das Riechen der eigenen Fürze«, behauptete W. H. Auden), und obwohl Computer durchaus ihre Berechtigung haben mögen, schreiben Sie erst einmal, tippen Sie nicht.

Sie können ruhig in ein gutes Notizbuch in Westentaschengröße investieren: Die Moleskin-Varianten kommen wieder sehr in Mode, und Buchläden und Schreibwarenhändler stellen sie bereits auch nach ihren eigenen Vorstellungen her. Nehmen Sie Ihres überallhin mit. Kritzeln Sie einfach Worte aufs Papier, wenn Sie auf jemanden warten, wenn Sie auf einem Flughafen festsitzen, mit dem Zug fahren. Fabrizieren Sie, wenn Sie neue Techniken und Methoden lernen, ohne Unterlass Zeile um Zeile.

Stellen Sie sich vor, dass das Obige die Nutzungsvereinbarungen einer Computer-Software sind. Sie kommen nicht weiter, wenn Sie bei der Frage des Installationsprogramms, ob Sie mit den Geschäftsbedingungen einverstanden sind, nicht auf »O. K.« klicken. Also, die drei Regeln sind meine Geschäftsbedingungen, lassen Sie sie mich kurz neu formulieren:

 

1. Lassen Sie sich Zeit.

2. Haben Sie keine Angst.

3. Tragen Sie immer ein Notizbuch bei sich.

 

Ich bin einverstanden, die Geschäftsbedingungen dieses Buches zu befolgen.

 

 Einverstanden     Nicht einverstanden

 

Jetzt können Sie anfangen.

KAPITEL EINS

Das Metrum

 

 

Lyrik ist metrisch.
Wenn nicht, habe ich keine Ahnung, was sie ist.
J. V. CUNNINGHAM

I

Einige ziemlich offensichtliche, aber dennoch interessante Bemerkungen zum Sprechen von Sprache – Maßarbeit: das Metrum – der Fabelhafte Jambus – der fünfhebige Jambus – Praktische Lyrikübungen 1 & 2

 

Sie erfüllen bereits die wichtigste Voraussetzung, die ein Dichter mitbringen sollte: Sie beherrschen die Sprache in Wort und Schrift so gut, dass Sie diesen Satz verstehen. Ginge es in diesem Buch um Malerei oder Musik, so wäre der Weg dorthin viel dorniger.

Auch wenn Sprache etwas Automatisches und Angeborenes zu sein scheint, so gibt es doch einiges, was wir über sie wissen sollten, Dinge, die uns so selbstverständlich sind, dass kaum jemand einen Gedanken daran verschwendet. Da Sprache für uns angehende Poeten die Farbe, unser Medium, ist, sollten wir uns ruhig etwas Zeit dafür nehmen, bestimmte Aspekte der gesprochenen Sprache einmal genauer zu betrachten – einer Sprache, deren mündliches Ausdrucksspektrum sich ganz erheblich von dem ihrer älteren Vorfahren, etwa dem Lateinischen und Griechischen, aber auch von dem ihrer näheren Verwandten unterscheidet.

Manches in den nächsten Zeilen mag dermaßen dicht vor unserer Nase liegen, dass es einen geradezu beißen könnte. Bitte haben Sie trotzdem Geduld mit mir. Wir wollen mit dem Grundlegenden anfangen.

Wie wir sprechen

Jedes Wort erhält innerhalb des Satzes beim Sprechen eine eigene Gewichtung oder Anstoß. Das heißt:

 

Jedes Wort erhält innerhalb des Satzes beim Sprechen eine eigene Gewichtung oder einen Anstoß.

 

Nur ein äußerst primitives Computersprachprogramm würde alle Wörter in diesem Beispiel mit der gleichen Betonung versehen. In diesem Kapitel verwende ich Fettschrift, um die Gewichtung bzw. den Anstoß, die »Akzentuierung«, zu markieren, Kursivschrift, um eine besondere Betonung zu kennzeichnen, und KAPITÄLCHEN zur Einführung neuer Termini oder Begriffe und um das Augenmerk auf eine Übung oder Anleitung zu lenken.

Jeder Muttersprachler würde den eingerückten Absatz oben ganz ähnlich, aber nicht exakt genauso sprechen, wie ich (angesichts der begrenzten Auswahl zwischen schwer/ leicht) bereits zu zeigen versuchte. Über manche Wörter oder Silben gleitet man hinweg, ohne sie mit viel Atem oder einer Pause zu versehen (leicht), andere werden stärker gewichtet (schwer).

Aber so wird doch wohl überall auf der Welt gesprochen?

Nun, in chinesischen Dialekten und im Thailändischen zum Beispiel sind alle Wörter einsilbig (monosyllabisch), und das Gesprochene gewinnt Farbe und Bedeutung über Veränderungen der Tonhöhe, indem der Sprecher die Stimmlage hebt oder senkt. Wir dagegen verleihen unserer Sprache weniger durch die veränderte Tonhöhe Farbe als durch unterschiedliche Betonung: der terminus technicus hierfür lautet AKZENTUIERUNG.[1] Unsere Sprache, und damit werden wir uns später noch beschäftigen, gehört zu den sogenannten BETONUNGSSTRUKTURIERTEN Sprachen.

Natürlich finden sich auch hier jede Menge monosyllabischer Wörter (im Englischen etwa sogar viel mehr als in den meisten anderen europäischen Sprachen): einige zählen zu denen, die Grammatiker als PARTIKELN bezeichnen: harmlose kleine Wörter wie Präpositionen (von, aus, zu, mit), Pronomen (sein, mein, dein, ihr), Artikel (der, die, das, ein) und Konjunktionen (ob, und, wenn). Sie werden im Satz normalerweise nicht betont.

 

Von Zeit zu Zeit und so lange, wie es dauert.

 

Ich muss noch einmal ausdrücklich wiederholen, dass es sich dabei nicht um besondere Emphase, sondern um die natürliche Akzentuierung handelt. Wir gleiten über die Partikel (»von«, »zu«, »und«, »so«, »wie«, »es«) hinweg und geben den wichtigen Wörtern (»Zeit«, »lange«, »dauert«) einen kleinen Schubs.

Auch bei verlängerten einsilbigen Wörtern neigen wir dazu, den operativen, also bedeutungstragenden Teil zu betonen, und leicht über die Endsilben hinwegzutänzeln, so beim -ing und -ly, oder -lich und -ig von Wörtern wie hoping und quickly, hoffentlich und hurtig. Dieses leichte Tänzeln, dieses Hinweggleiten, bezeichnet man manchmal auch als Verschleifen.

Wir sagen immer britisch, und niemals britisch oder bri-tisch, immer Maschine, niemals Maschine oder Ma-schine. Das Gewicht, das wir auf die erste Silbe von britisch oder die zweite Silbe von Maschine legen, bezeichnen Linguisten als WORTAKZENT. Akzent darf man hier nicht mit den geschriebenen Umlaut- oder Akzentzeichen (DIAKRITISCHEN ZEICHEN) verwechseln, wie etwa in Café oder Führer, oder mit Regionalakzenten im Sinne von Dialekten. Akzentuierung bezeichnet in unserem Zusammenhang den natürlichen Anstoß oder Nachdruck, den wir einem Wort oder Wortteil beim Sprechen geben. Diesen Akzent, Anstoß, oder Nachdruck nennt man auch ictus, aber wir werden so weit wie möglich bei den geläufigeren Begriffen bleiben.

In mehrsilbigen oder POLYSYLLABISCHEN Wörtern gibt es immer mindestens einen Akzent.

 

Kredit. Loswerden. Fortfahren. Verzweiflung.

 

In manchen Fällen kann sich mit der Betonung auch die Wortbedeutung oder die Wortart ändern. LESEN SIE DIE FOLGENDEN WORTPAARE EINMAL LAUT:

 

He inclines to project bad vibes.

A project to study the inclines.

 

He proceeds to rebel.

The rebel steals the proceeds.

 

Gebet ihm Gelegenheit für ein letztes Gebet.

Der Tenor der Rede des Operntenors.

Es ist modern, wenn Wälder modern.

 

Manche Wörter können zwei Betonungen tragen, wobei eine (hier mit einem ’ gekennzeichnet) immer etwas stärker ist:

 

ábdicate  considerátion  (Thrónverzicht, Übergung)

 

Manchmal ist es auch eine Frage nationaler Eigenheiten (oder persönlicher Vorlieben): LESEN SIE DIE FOLGENDEN WÖRTER EINMAL LAUT:

 

Chicken-soup. Arm-chair. Sponge-cake. Cigarette. Magazine.

 

So sind die gängigen Betonungen im Britischen Englisch. UND NUN VERSUCHEN SIE ES BEI DENSELBEN WÖRTERN MIT ANDERER BETONUNG

Chicken-soup. Arm-chair. Sponge-cake. Cigarette. Magazine.

 

So spricht man sie in Amerika (und wie man heute beobachten kann auch zunehmend in England und in Australien). Oder versuchen Sie es mit diesen hier:

 

Lámentable. Mándatory. Prímarily. Yésterday. Incómparable.

Laméntable. Mandátory. Primárily. Yesterdáy. Incompárable.

 

Kaffee. Bisquit. Marzipan. Tunnel.

Kaffee. Bisquit. Marzipan. Tunnel.

 

Ob nun die Hauptbetonung wie jeweils in der ersten oder in der zweiten Zeile sitzen sollte, ist eine verzwickte Frage und Gegenstand zahlloser – cóntroversy oder contróversy – Kontroversen. Die Aussprache variiert und ist, je nach circumstances, circumstánces oder circum-stahnces viel zu britisch, viel zu schichtenspezifisch oder regional, in jedem Fall aber zu heikel, als dass man es hier noch weiter vertiefen sollte.

Jetzt mögen Sie vielleicht denken: »Nun aber mal sachte, spricht denn nicht jeder (mal abgesehen von den Chinesen und Thais) so, dass ein Teil des Wortes betont wird, der andere nicht?«

Leider nein.

Die Franzosen, zum Beispiel, tendieren dazu, Wortteile gleich zu betonen. Sie sprechen Kanada als Kan-a-da, im Gegensatz zu unserem Kanada. Wir sagen Bernhard, die Franzosen dafür Ber-nard. Vielleicht ist Ihnen auch schon aufgefallen, dass etwa Amerikaner gerne des Guten zu viel tun, wenn sie Französisch sprechen, indem sie die ganze Wucht der Betonung auf die Endsilbe legen, in der irrigen Annahme, das hörte sich authentischer an, Ber-nard und dergleichen. Sie sind so an das Englische mit seinem typischen sinkenden Tonfall gewohnt, dass es für amerikanische Ohren so klingt, als hätte das Französische am Satzende scheinbar eine Aufwärtstendenz. So kommt es, dass Amerikaner (wie auch mancher Deutsche) Klischée sagen, Engländer cliché und die echten Franzosen cli-ché. Oder nehmen Sie doch bloß mal die beiden Wörter »Journal« und »Maschine«, die wir dem Französischen verdanken. Wir sagen Journal und Maschine. Die Franzosen versehen sie mit der für sie typischen gleichmäßigen Betonung: jour-nal und ma-chine. Selbst vielsilbige Wörter werden im Französischen gleichmäßig betont: wir sagen Repetition, sie dagegen répétition (ree-pee-ti-si-on).

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