Arendt, Hannah Über die Revolution

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Herausgegeben von Thomas Meyer

 

Mit einem Nachwort von Jürgen Förster

 

Erweiterte Neuausgabe
© 1963 Hannah Arendt, published by special arrangement with Harcourt Brace Jovanovich, Inc. New York
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»On Revolution«, The Viking Press, New York 1963
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München 1965
Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

 

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Anlässlich der Studienausgabe von Hannah Arendts Schriften

Was Hannah Arendt dazu bewegte, der politischen Wirklichkeit so genau ins Gesicht zu sehen, waren die Kraft der Vernunft und die Verachtung der Illusion. Anderen schlüssig und verständlich zu machen, was sie sah, war ein großer geistiger Triumph – für sie persönlich, aber auch für die Tradition des offenen politischen Diskurses.

Judith Shklar (1975)

Die Studienausgabe in Einzelbänden von Hannah Arendts Schriften möchte dazu einladen, eine der bedeutenden Denkerinnen des 20. Jahrhunderts kennenzulernen oder erneut zu lesen. Ausgewiesene Experten untersuchen in ihren exklusiv für die Edition verfassten Nachworten die jeweiligen Werke. Die Autoren werden darin je eigene Schwerpunkte setzen, die Interessierten Hannah Arendts Gedankenwelt erschließen helfen, während sich die Spezialisten mit markanten Positionen auseinandersetzen können. Bewusst wurde darauf verzichtet, eine wie auch immer geartete Einheitlichkeit vorzugeben. Die Offenheit und die Vielfalt von Arendts Überlegungen werden sich folglich in den verschiedenen Positionen der Beiträger spiegeln, die innerhalb der Studienausgabe zu Wort kommen.

Die Ausgabe kann und will keine Konkurrenz zur kritischen, im Göttinger Wallstein Verlag erscheinenden Edition von Arendts Schriften sein. Die in Arendts Münchner Stammverlag Piper vorgelegten Bände bieten Texte, die auf der jeweils letzten, von ihr selbst noch überprüften Fassung beruhen. Druckfehler und andere offensichtliche Versehen sind korrigiert, die Zitate wurden überprüft, die bibliografischen Angaben und Register durchgesehen. Für all das trägt der Herausgeber die Verantwortung. Ziel war es, zitierfähige Ausgaben zu schaffen, die sowohl eine breite Leserschaft ansprechen als auch für Wissenschaftler eine verlässliche Textgrundlage bieten.

Die erste Lieferung der Edition wird jene Werke umfassen, die Arendts Ruf in Deutschland zu ihren Lebzeiten begründeten. In chronologischer Reihenfolge sind dies folgende Schriften: Die 1929 veröffentlichte Dissertation Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation, die erstmals 1955 vorgelegte Studie Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus und der zwei Jahre später veröffentlichte Band Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart. Vier Essays. Ebenso enthalten sind die 1959 publizierte Biografie Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik und die im Jahr darauf erschienene Monografie Vita activa oder Vom tätigen Leben. Es folgen die Reportage Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen von 1964 und schließlich die ein Jahr später zugänglich gemachte Abhandlung Über die Revolution. Damit liegen im Piper Verlag erstmals die Augustin-Studie und die in dieser Form und unter dem Titel nie wieder aufgelegte, dem engen Freund Walter Benjamin gewidmete Aufsatzsammlung Fragwürdige Traditionsbestände vor.

Zu einem späteren Zeitpunkt werden unter anderem die zu Lebzeiten in deutscher Sprache veröffentlichten Zeitungsartikel, Aufsätze und Essays Arendts in chronologischer Reihenfolge neu herausgegeben werden. Das unvollendete Nachlass-Werk Life of the Mind, in der deutschen Übersetzung unter dem Titel Vom Leben des Geistes erstmals 1979 in zwei Bänden erschienen, wird die Ausgabe ergänzen, sobald eine verlässliche Textgrundlage verfügbar ist.

 

Hannah Arendts Werke sprechen für sich und die beigefügten Nachworte benötigen keinerlei Rechtfertigungen. Bleibt also der aufrichtige Dank an die Kolleginnen und Kollegen, die sich der Aufgabe unterzogen haben, mit ihren Beiträgen die Schriften Hannah Arendts für hoffentlich viele Leserinnen und Leser zu öffnen. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vom Piper Verlag gilt der Dank für die Zusammenarbeit und die Courage, das Werk Hannah Arendts in der vorliegenden Form der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

 

Berlin, im Oktober 2020

 

Thomas Meyer

FÜR GERTRUD UND KARL JASPERS

in Verehrung – in Freundschaft – in Liebe

Einleitung KRIEG UND REVOLUTION

Kriege und Revolutionen, so meinte Lenin vor etwa fünfzig Jahren, würden das Gesicht des zwanzigsten Jahrhunderts bestimmen. Seither ist es, als hätten die Ereignisse nichts Eiligeres zu tun gehabt, als diese Voraussage zu bestätigen. Und im Unterschied zu den Ideologien des neunzehnten Jahrhunderts – Nationalismus und Internationalismus, Kapitalismus und Imperialismus oder Sozialismus und Kommunismus, die nur noch im rechtfertigenden Gerede eine Rolle spielen, aber ihre einstige substantielle Bezogenheit zu politischer Wirklichkeit verloren haben – stehen Krieg und Revolution immer noch im Zentrum politischen Geschehens. Sie haben alle ideologischen Rechtfertigungen überlebt. Politisch stehen wir in einer Konstellation, in der wir auf der einen Seite von einer totalen Vernichtung durch einen etwa ausbrechenden Krieg bedroht sind und in der wir doch andererseits beinahe täglich erfahren, wie sich die Hoffnung auf eine Emanzipation der gesamten Menschheit durch Revolution erfüllt. Was die Amerikanische Revolution in der Unabhängigkeitserklärung vor bald zweihundert Jahren proklamierte, daß ein Volk nach dem anderen »unter den Mächten der Erde den unabhängigen und gleichen Rang erlangen würde, auf den ein jedes gemäß den Gesetzen der Natur und ihres Gottes Anspruch habe«, ist mit einer manchmal fast beängstigenden Geschwindigkeit wahr geworden. Und in einer solchen sich über die ganze Erde erstreckenden Situation gibt es nichts mehr, wofür es sich zu kämpfen lohnte, als das, was das Älteste ist und von allem Anfang an, jedenfalls im Abendland, das eigentliche Wesen von Politik bestimmt hat – nämlich die Sache der Freiheit gegen das Unheil der Zwangsherrschaft jeglicher Art.

Dieser Tatbestand ist bemerkenswert und versteht sich keineswegs von selbst. Unter dem Kreuzfeuer jener Zweige der Psychologie und der Gesellschaftswissenschaften, deren Sinn und Ziel die Entlarvung ist, konnte es wohl scheinen, als sei dem Begriff der Freiheit nun wirklich der Garaus gemacht worden. Selbst die Revolutionäre, von denen man doch eigentlich hätte annehmen dürfen, daß sie unausrottbar in einer Tradition verwurzelt sind, von der man noch nicht einmal sprechen kann, ohne das Wort Freiheit in den Mund zu nehmen, sind bekanntlich nur zu bereit, Freiheit zu den »kleinbürgerlichen Vorurteilen« zu rechnen; gerade sie haben vergessen, daß das Ziel der Revolution heute wie seit eh und je nichts anderes sein kann als eben Freiheit. Aber nicht weniger verblüffend als dies Verschwinden der Freiheit aus dem revolutionären Vokabular dürfte wirken, daß Wort und Begriff plötzlich wieder aufgetaucht sind, um die ernsteste aller gegenwärtigen politischen Diskussionen zu ordnen und zu artikulieren, nämlich die Debatte über die Kriegsfrage, d. h. über die Berechtigung der Gewalt in der Politik. Geschichtlich gesehen, gehört der Krieg zu den ältesten Phänomenen der aufgezeichneten Vergangenheit, während es Revolutionen im eigentlichen Sinne vor der Neuzeit nicht gibt, die Revolution als politisches Phänomen also zu den modernsten Gegebenheiten gehört.

Für die Modernität der Revolution ist vermutlich nichts so charakteristisch, als daß sie von vornherein beanspruchte, die Sache der Menschheit zu vertreten, und zwar gerade weil die Menschheit im achtzehnten Jahrhundert nicht mehr als eine »Idee« war. Es handelte sich nicht nur um Freiheit, sondern um Freiheit für alle, und dies mag der Grund sein, warum die Revolution selbst, im Unterschied zu den revolutionären Ideologien, um so moderner und zeitgemäßer geworden ist, je mehr die »Idee« der Menschheit sich durch die moderne Technik zu einer handgreiflichen Realität entwickelt hat. Will man dies auf eine Formel bringen, so kann man auch heute noch auf Thomas Paine zurückgreifen, der auf Grund seiner Erfahrungen in der Amerikanischen und Französischen Revolution meinte: »The Revolutions which formerly took place in the world had nothing in them that interested the bulk of mankind. They extended only to a change of persons and measures, but not of principles, and rose or fell among the common transactions of the moment.«[1] Was aber nun den Freiheitsbegriff anlangt, so ist er zwar mit dem Wesen der Revolution von Anfang an verbunden, hat aber ursprünglich mit Krieg und Kriegszielen kaum etwas zu tun. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß Befreiungskriege in der historischen Erinnerung der Völker oft mit einem besonderen Nimbus umgeben worden sind oder daß in der Kriegspropaganda, die von den »heiligsten Gütern der Nation« spricht, die Freiheit als Schlagwort immer wieder auftaucht. Denn all dies besagt keineswegs, daß darum die Befreiungskriege in Theorie und Praxis als die einzigen »gerechten Kriege« galten.

Rechtfertigungen des Krieges auch auf dem Niveau politischer Theorie sind sehr alt, wiewohl natürlich nicht so alt wie die organisierte Kriegsführung. Sie setzen offenbar voraus, daß politische Beziehungen normalerweise nicht im Zeichen der Gewalt stehen, und diese Überzeugung von der wesentlichen Gewaltlosigkeit der Politik finden wir zum erstenmal im griechischen Altertum. Die griechische Polis verstand sich ausdrücklich als eine Staats- und Gesellschaftsverfassung, die nicht auf der Gewalt, sondern auf dem gegenseitigen Sich-Überzeugen, dem πείειν, beruht. Daß es sich bei diesem Selbstverständnis keineswegs um leeres Gerede oder Selbsttäuschung handelte, die man heute »entlarven« könnte, zeigt sich vielleicht am sinnfälligsten in dem athenischen Brauch, die zum Tode Verurteilten nicht hinzurichten, sondern sie zu »überreden«, den Schierlingsbecher selbst an die Lippen zu setzen; physische Gewaltanwendung war unter allen Umständen mit der Würde eines athenischen Bürgers unvereinbar. Da aber für die Griechen das Politische, nämlich die Polis, schon dem Wortsinn nach sich unter keinen Umständen über die Grenzen der Stadtmauer erstrecken konnte, bedurfte die Gewalt in dem Bereich, den wir heute Außenpolitik oder internationale Beziehungen nennen, auch gar keiner Rechtfertigung; obwohl griechische Außenpolitik (abgesehen von den Perserkriegen, in denen ganz Hellas vereint war) sich nur zwischen griechischen Stadtstaaten abspielte, galt sie nicht als eigentlich politisch. Außerhalb der Stadtmauern, nämlich außerhalb des Bereichs des Politischen im griechischen Sinne, galt das Wort des Thukydides: »Die Mächtigen tun, was sie können, und die Schwachen leiden, was sie müssen.«

Die ersten Rechtfertigungen des Krieges und damit den ersten Unterschied zwischen gerechten und ungerechten Kriegen kennen wir aus dem römischen Altertum. Aber diese römischen Unterscheidungen und Rechtfertigungen handeln nicht von Freiheit, und wir finden in ihnen nirgends den Unterschied zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg. »Denn gerecht ist ein Krieg für diejenigen, für die er notwendig ist, und heilig sind die Waffen, wo nur in den Waffen noch Hoffnung ist«, meint Livius. (Iustum enim est bellum quibus necessarium, et pia arma ubi nulla nisi in armis spes est.[2]) Seit den Tagen Livius’ und durch die Jahrhunderte hat man die Notwendigkeit für vieles angerufen, das uns heute sehr viel mehr für einen ungerechten als für einen gerechten Krieg zu sprechen scheint. Der Drang nach Eroberung und Expansion, die Verteidigung bestimmter Interessensphären, die Erhaltung der Macht gegen neuen, bedrohlichen Machtzuwachs eines Nachbarn oder die Aufrechterhaltung eines bestimmten Mächtegleichgewichts – all diese nur zu bekannten Inventarstücke der Machtpolitik sind ja nicht nur die Ursachen der meisten uns bekannten Kriege in der Geschichte, sie wurden vor allem auch immer als »Notwendigkeiten« empfunden, welche den Ausbruch eines Krieges voll rechtfertigten. Die Vorstellung, daß der Angriffskrieg ein Verbrechen ist und daß Kriege nur als Verteidigungs- oder Präventivkriege gerechtfertigt werden können, hat eine praktische und selbst theoretische Bedeutung überhaupt erst nach dem Ersten Weltkrieg gewonnen, als das furchtbare Vernichtungspotential moderner Waffen zum erstenmal voll in Erscheinung getreten war.

Vielleicht hängt damit, daß nicht Freiheit, sondern Notwendigkeit der Rechtfertigung des Krieges in unserer Überlieferung diente, zusammen, daß uns unabweisbar ein Gefühl des Unbehagens überkommt, wenn das Argument der Freiheit heute in die Debatte der Kriegsfrage geworfen wird. Sich angesichts des unvergleichlichen und unvorstellbaren Vernichtungspotentials eines Atomkrieges frisch-fröhlich, als sei nichts geschehen, auf das uralte »lieber tot als Sklave« zu berufen, ist nicht nur gefährlich, es ist auch grotesk. Daß es einen erheblichen Unterschied bedeutet, ob man sein eigenes Leben für Leben und Freiheit des Vaterlandes und der Nachkommen aufs Spiel setzt oder ob man die Existenz des Menschengeschlechts im ganzen für die gleichen Zwecke riskiert, ist so offenbar, daß es schwer hält, den Verfechtern des Lieber-tot-als-rot auch nur den guten Glauben zuzubilligen. Was natürlich nicht besagt, daß die Umkehrung, das Lieber-rot-als-tot, weniger lächerlich wäre. Wenn eine alte Lebensweisheit den faktischen Verhältnissen nicht mehr entspricht, wird sie nicht dadurch wahrer, daß man sie kurzerhand auf den Kopf stellt. In Wirklichkeit ist es doch so, daß man unschwer beiden Seiten in dieser Diskussion einen geheimen Vorbehalt nachweisen kann. Diejenigen, die sagen: lieber tot als rot, meinen in Wahrheit: es wird schon nicht so schlimm sein, und die Verluste, die man heute theoretisch errechnet, sind vermutlich übertrieben; während diejenigen, die sagen: lieber rot als tot, in Wahrheit der Meinung sind, daß man die Unterdrückung des Menschen in den modernen Gewaltherrschaften sehr übertrieben hat, daß der Mensch seine Natur nicht ändern werde und daß Freiheit nicht für immer aus der Menschenwelt verschwinden könne. Dies aber besagt, daß beide Seiten sich schließlich vor den Konsequenzen der Alternative drücken, die sie doch selbst vorgeschlagen haben.[3]

Nun darf man nicht vergessen, daß der Freiheitsbegriff sich in der Debatte der Kriegsfrage überhaupt erst gemeldet hat, nachdem ganz offenbar ein Stadium in der technischen Entwicklung erreicht war, in welchem ein zweckmäßiger Einsatz der Gewalt- und Vernichtungsmittel nicht mehr möglich ist. Dadurch ist es, als habe man das Freiheitsargument wie einen deus ex machina in die Kriegsdebatte geworfen, um zu rechtfertigen, was rational nicht mehr zu rechtfertigen ist. Vielleicht ist es nicht zu gewagt, in der derzeitigen hoffnungslosen Verwirrung der Fragen und Argumente ein erstes Anzeichen dafür zu erblicken, daß sich eine außerordentlich tiefgreifende, prinzipielle Veränderung aller Außenpolitik vorbereitet, nämlich das allmähliche Verschwinden des Krieges überhaupt von der Bühne der Politik, und zwar ohne eine zwangsläufige radikale Wandlung im internationalen Verhalten der Mächte zueinander oder eine innere Wandlung des Menschen überhaupt. Könnte es nicht sein, daß unsere gegenwärtige Unfähigkeit, mit der Kriegsfrage fertig zu werden, nur besagt, daß wir auf Grund unserer Überlieferung noch schlechterdings außerstande sind, außenpolitisch auch nur zu denken, ohne das Hilfsmittel einer »Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln« als die ultima ratio allen Handelns in Betracht zu ziehen?

Ganz abgesehen von der Gefahr totaler Vernichtung, die sich prinzipiell auch wieder ändern könnte durch neue technische Erfindungen wie die »saubere« Bombe oder eine Verteidigung gegen Raketenbeschuß, lassen sich dafür immerhin einige Anzeichen geltend machen. Da ist erstens die Tatsache, daß die totale Kriegsführung praktisch mit dem Ersten Weltkrieg begann, insofern damals bereits die Unterscheidung von Militär und Zivilbevölkerung nicht mehr respektiert wurde, und zwar nur aus technischen, nicht aus ideologischen Gründen. Nun ist dieser Unterschied selbst relativ modern, und seine Aufhebung besagt nicht mehr, aber auch nicht weniger, als daß wir nun glücklich wieder da angelangt sind, wo Rom Karthago dem Erdboden gleichmachte. Aber unter modernen Verhältnissen kommt dieser Wiederkehr des totalen Krieges, wie wir ihn aus dem Altertum kennen, doch eine erhebliche politische Bedeutung zu; sie steht nämlich in offenbarem Widerspruch zu der Grundannahme, auf der in allen modernen Staaten das Verhältnis von Armee und zivilem Staatsapparat beruht: daß es nämlich die Aufgabe der Armee sei, die Zivilbevölkerung zu schützen und zu verteidigen. Innenpolitisch gesehen, könnte man durchaus die Geschichte des Krieges in unserm Jahrhundert als die immer deutlicher in Erscheinung tretende Unfähigkeit der Armee darstellen, diese ihr ursprünglich zukommende Funktion zu erfüllen. Jedermann weiß, daß in einem künftigen Kriege die Wehrmacht vermutlich weniger Verluste erleiden wird als die Bevölkerung, und die Strategie der Abschreckung setzt ganz offen voraus, daß das Militär nicht so sehr die Aufgabe hat, das Land gegen den Feind zu schützen, als sich an ihm für die bereits stattgehabte Vernichtung zu rächen.

Eng verwandt mit dieser Perversion im Verhältnis von Zivil und Militär ist zweitens die kaum beachtete, aber sehr bemerkenswerte Tatsache, daß wir es eigentlich bereits seit Ende des Ersten Weltkrieges für selbstverständlich halten, daß keine Regierung und keine Staatsform stark genug sind, eine Niederlage im Kriege zu überleben. Man könnte diese Entwicklung bis ins neunzehnte Jahrhundert zurückverfolgen, bis zu dem Augenblick jedenfalls, als der Deutsch-Französische Krieg in Frankreich die Transformation des Zweiten Kaiserreiches in die Dritte Republik erzwang; und die Russische Revolution von 1905, die unmittelbar auf die Niederlage im Russisch-Japanischen Krieg folgte, war sicher nicht geeignet, die Staaten in der Zuversicht in die eigene Lebensfähigkeit im Falle einer Niederlage zu stärken. Jedenfalls dürfte heute feststehen, daß revolutionäre Umwälzungen, sei es von innen wie nach dem Ersten Weltkrieg, sei es von außen wie nach dem Zweiten Weltkrieg, nebst Forderungen nach bedingungsloser Kapitulation und der Errichtung von Kriegsgerichten durch den Sieger die sicherste Konsequenz jeder militärischen Niederlage sind, die nicht mit völliger Zerstörung geendet hat. Dabei dürfen wir hier die Frage außer Betracht lassen, ob dieser unheimliche Tatbestand einer so entscheidenden Schwächung des Staates dem allgemeinen Autoritätsverlust der Neuzeit zuzuschreiben ist oder ob es eben keinen Staat und keine Regierung geben kann, und seien sie noch so fest verankert in dem Vertrauen der Bürger, die dem furchtbaren Gewaltstrom einer modernen Kriegsführung standzuhalten vermögen. Auf jeden Fall lohnt sich festzuhalten, daß es in Kriegen politisch bereits um die nackte Existenz ging, als noch niemand etwas von den neuen entsetzlichen Entwicklungen des Atomkrieges ahnte, die auch das biologische Leben in Frage stellen. Dies aber heißt, daß der Krieg überhaupt die Existenz aller Staaten und aller Regierungen in Frage stellt.

Ein dritter Punkt betrifft die radikale Veränderung im Wesen des Krieges selbst, die sich daraus ergibt, daß das Prinzip der Abschreckung maßgebend für das Wettrüsten geworden ist. Denn es ist in der Tat richtig, daß die Abschreckungsstrategie »aims in effect at avoiding rather than winning the war it pretends to be preparing. It tends to achieve its goals by a menace which is never put into execution rather than by the act itself.«[4] Und dies ist keineswegs eine Konsequenz, die sich nur dem Theoretiker aufdrängt, sondern eine Einsicht, der sich die militärischen Instanzen voll bewußt sind. So meinte etwa ein höherer Offizier der amerikanischen Luftwaffe angesichts der großen Anzahl von Soldaten im aktiven Dienst, daß »ein jeder von ihnen seine eigentliche Aufgabe nur erfüllen kann, wenn er niemals wirklich tut, wozu man ihn ausgebildet hat«.[5] Zwar ist die Einsicht, daß der Friede das dem Kriege inhärente Ziel ist und daß daher jeder Krieg der Vorbereitung des Friedens dient, zum mindesten so alt wie Aristoteles, und die Vorgabe, daß im Wettrüsten die beste Garantie des Friedens liege, ist vermutlich sogar älter, nämlich so alt wie die Propagandalüge. Aber hier liegt die Sache doch anders. Heute nämlich ist die Vermeidung des Krieges nicht nur das ehrliche oder lügenhaft behauptete Ziel einer gesamtpolitischen Konzeption, sondern das maßgebliche Prinzip der militärischen Veranstaltungen und Vorbereitungen selbst. Das Militär bereitet sich nicht mehr auf einen Krieg vor, von dem eine staatsmännisch geleitete Regierung hofft, daß er nie ausbrechen wird: Ihr eigenes Ziel ist vielmehr die Entwicklung von Waffen, die den Krieg unmöglich machen sollen. Sie selber arbeiten unter dem Motto: »Peace is our profession.«[6]

Es steht fernerhin ganz im Einklang mit diesen gleichsam paradoxen Kriegsvorbereitungen, daß sich am Horizont internationaler Politik eine ernsthafte Möglichkeit abzeichnet, »heiße« Kriege durch »kalte« zu ersetzen. Natürlich handelt es sich bei dem Wettrüsten der großen Mächte im wesentlichen vor allem um die Erfindung neuer technischer »Verbesserungen« des Waffenarsenals, während nur die Herstellung von Atombomben in Ländern, die nicht oder noch nicht zu den Großmächten zählen, primär politisch motiviert ist. Dennoch scheint es mir nahezu unleugbar, daß sich in dem Rüstungswettrennen der Großmächte neuerdings eine ausgesprochen politische Tendenz geltend gemacht hat; es ist, als handele es sich hier um eine ganz neue Art von Friedensmanövern, deren Abhaltung nicht das vorgebliche Feindespaar normaler Manöver in Friedenszeiten involviert, sondern diejenigen, zwischen denen der Krieg möglicherweise wirklich ausbrechen kann. Hierfür spricht auch, daß die alte Politik der Geheimhaltung aller militärischen Entwicklungen sich in den letzten Jahren wesentlich geändert hat. »Indem wir unsere militärische Stärke konkret darlegen, können wir nach Ansicht unserer Politiker dazu beitragen, einen möglichen Gegner von einem unüberlegten Angriff zurückzuhalten. ›Es handelt sich hier um einen neuen Sicherheitsbegriff […] Sicherheit und Geheimhaltung pflegten synonyme Begriffe zu sein, während heute umgekehrt die Sicherheit in Formen offener Kommunikation gesucht wird‹.«[7] Es ist, als ob das atomare Wettrüsten in eine Art hypothetischer Kriegsführung führt, in der die Gegner einander das Zerstörungspotential ihrer Waffen vorführen; und wiewohl es natürlich immer möglich ist, daß dies tödlich gefährliche Spiel im Hypothetischen plötzlich in die Wirklichkeit einbricht, so ist es doch auch durchaus denkbar, daß ein »kalter« Krieg, nämlich ein Krieg, der de facto niemals ausgebrochen ist, eines Tages durch den Sieg des einen und die Niederlage des andern beendet wird. Sind dies Phantasien? Dagegen spricht, daß wir mit dieser Möglichkeit hypothetischer Kriegsführung eigentlich bereits konfrontiert waren, als die erste atomare Bombe auf dem Kriegsschauplatz erschien. Damals meinten viele, was heute erwiesen ist, daß es, um die japanische Regierung zur bedingungslosen Kapitulation zu veranlassen, völlig genügt hätte, die neue Waffe vor einer ausgewählten Gruppe japanischer Wissenschaftler zu demonstrieren; denn für diejenigen, die Bescheid wußten, hätte die bloße Demonstration eine absolute Überlegenheit jenseits des Kriegsglücks zwingend erwiesen.[8] Zwanzig Jahre nach Hiroschima hat die technische Entwicklung gerade auf dem Gebiet der Zerstörung eine Meisterschaft erreicht, bei der alle nicht-technischen Faktoren in der Kriegsführung, wie Truppenmoral, Strategie, Tüchtigkeit und selbst das Schlachtenglück, so sehr in den Hintergrund treten, daß die Endresultate im vorhinein mit nahezu perfekter Präzision errechnet werden können. Ist der Punkt perfekter Kalkulation erst einmal erreicht, so dürften die Resultate von Versuchen und Demonstrationen für die Sachkundigen Sieg und Niederlage mit gleicher endgültiger Evidenz beweisen, wie ehedem das Schlachtfeld, die Eroberung und Besetzung von Gebieten, der Zusammenbruch des Nachrichten- und Versorgungsapparats und was sonst für die militärischen Experten ausschlaggebend war.

Es bleibt schließlich noch die Tatsache, die in unserem Zusammenhang besonders bemerkenswert ist, daß die innere Beziehung von Krieg und Revolution, ihre gegenseitige Abhängigkeit und die Wechselwirkung zwischen ihnen, ständig gewachsen ist und daß der Schwerpunkt in diesem Verhältnis sich mehr und mehr vom Kriege auf die Revolution verlagert hat. Zwar ist diese Wechselwirkung an sich kein neues Phänomen, sie ist sogar genauso alt wie die Revolutionen selbst, denen entweder ein Befreiungskrieg voranging und sie dann begleitete wie in der Amerikanischen Revolution oder die in Verteidigungs- und Angriffskriegen endeten wie die Französische Revolution. Aber zu diesen Beispielen hat sich in unserem Jahrhundert ein ganz und gar anders gearteter Ereignistypus gesellt, bei dem es ist, als sei selbst die Kriegswut nur ein Vorspiel, ein vorbereitendes Stadium für den Terror und den Schrecken, den die Revolution auslöst (so jedenfalls hat Pasternak den Zusammenhang von Krieg und Revolution im Doktor Schiwago interpretiert), wobei diese Beziehung sich auch umdrehen kann und dann ein Weltkrieg wie die Folge einer Revolution erscheint, als sei er ein Bürgerkrieg, der die ganze Welt in Mitleidenschaft zieht; so ist bekanntlich der Zweite Weltkrieg von einem nicht unbeträchtlichen Teil der öffentlichen Meinung in aller Welt verstanden worden, und keineswegs zu Unrecht. Heute, zwanzig Jahre später, ist es uns schon beinahe selbstverständlich, daß ein Krieg unweigerlich in einer Revolution endet und daß die einzige überhaupt nur denkbare Rechtfertigung eines solchen Krieges die Sache der Freiheit ist. So scheint es mehr als wahrscheinlich, daß, was immer die Zukunft bringen mag, Revolutionen im Gegensatz zu Kriegen nicht so bald von der Bildfläche des politischen Geschehens verschwinden werden, es sei denn, der Atomkrieg bringe den Untergang der gesamten Menschenwelt oder doch zumindest der gesamten uns bekannten Zivilisation. Auch wenn es uns gelänge, das Gesicht dieses Jahrhunderts so entscheidend zu verändern, daß man es nicht mehr ein Jahrhundert der furchtbaren Kriege und Weltkriege nennen könnte, so wird es wohl doch bis zu seinem Ende ein Jahrhundert der Revolutionen bleiben.

Sollte sich diese Voraussage bewahrheiten, sollte im Sinne Kants, »was guter Wille hätte tun sollen, aber nicht tat, endlich die Ohnmacht bewirken«,[9] so würde daraus folgen, daß in dem gegenwärtigen Konflikt, der die Welt in zwei feindliche Parteien aufzuspalten droht, diejenigen schließlich die Oberhand behalten werden, die verstehen, was eine Revolution ist, was sie vermag und was sie nicht vermag, während alle die, welche auf die Karte der reinen Machtpolitik setzen und daher auf der Fortexistenz des Krieges als der ultima ratio aller Außenpolitik bestehen, in einer nicht zu entfernten Zukunft entdecken dürften, daß ihr Handwerk veraltet ist und daß mit ihrer Meisterschaft niemand mehr etwas Rechtes anzufangen weiß. Und ein solches artikuliertes Verständnis um das, worum es in einer Revolution eigentlich geht, kann weder ersetzt noch widerlegt werden durch vermeintliche Sachverständige der Konterrevolution; denn die Konterrevolution – ein Wort, das Condorcet im Verlauf der Französischen Revolution prägte – ist von der Revolution so abhängig und vorbestimmt wie die Reaktion von der Aktion. De Maistres berühmtes Wort: »La contre-révolution ne sera point une révolution contraire, mais le contraire de la révolution«, ist heute wie zur Zeit seiner Formulierung im Jahre 1796 nicht mehr als ein geistreicher Einfall.[10]

Die hier namhaft gemachten Unterschiede zwischen Krieg und Revolution – daß der Krieg sich auf die Notwendigkeit und die Revolution sich auf die Freiheit beruft, daß der Akzent des Weltgeschehens sich mehr und mehr von dem Ereignis des Krieges auf das der Revolution zu verlagern scheint – dürfen doch nicht verschleiern, daß wir es mit Phänomenen zu tun haben, die historisch in einem sehr engen Zusammenhang stehen. Das sie verbindende Glied ist die Gewalt, und diese Rolle der Gewalt darf um so weniger gering geachtet werden, als sie Krieg und Revolution gleichermaßen gerade als politische Phänomene zu disqualifizieren scheint. »Ce qui produit le bien général est toujours terrible«, meinte Saint-Just. Wer wollte leugnen, daß Kriege auch darum so leicht in Revolutionen umschlagen und daß Revolutionen auch darum eine so verhängnisvolle Neigung zeigen, Kriege zu entfesseln, weil die Gewalt ihr gemeinsamer Nenner ist? So könnte man wohl meinen, der Erste Weltkrieg habe eine so ungeheure Gewalt entfesselt, daß Revolutionen in seinem Gefolge auch dann ausgebrochen wären, wenn es vordem noch nie eine Revolution gegeben hätte und keine mit ihr verbundene revolutionäre Tradition.

Dies soll natürlich nicht heißen, daß Kriege, von Revolutionen ganz zu schweigen, je ausschließlich von Gewalt bestimmt wären. Wo die Gewalt absolut herrscht, wie z. B. in den Konzentrationslagern der totalen Herrschaft, da schweigen nicht nur die Gesetze – »les lois se taisent«, hieß es in der Französischen Revolution –, sondern alles und alle. Um dieses Schweigens willen ist die Gewalt im politischen Bereich ein Grenzphänomen, denn der Mensch, sofern er ein politisches Wesen ist, existiert in dem Miteinandersprechen. Die beiden berühmten aristotelischen Definitionen des Menschen, daß er ein politisches und ein mit Sprache begabtes Wesen sei, ergänzen sich gegenseitig und beruhen beide gleichermaßen auf den Erfahrungen des griechischen Lebens in der Polis. Hier handelt es sich nicht einfach darum, daß die Sprache hilflos ist, wenn ihr die Gewalt gegenübertritt (es ist in der Tat wahr, daß man der »geschwätzigen Demokratie« nur den Revolver auf die Brust zu setzen braucht, um sie verstummen zu machen, nur hat man damit eben auch allem politischen Leben den Garaus gemacht), sondern vielmehr darum, daß die Gewalt selbst stumm ist, unfähig nämlich, sich im Wort wirklich adäquat zu äußern. Weil die Gewalt ihrem Wesen nach stumm ist, kann auch die politische Theorie wenig über sie aussagen, und eine Diskussion der Gewaltmittel überläßt sie besser den technischen Experten. Denn das politische Denken ist darauf angewiesen, daß die Phänomene seines Bereichs sich selbst kund tun; es bleibt dem, was von sich her in dem Bereich menschlicher Angelegenheiten erscheint und sich ausspricht, verbunden. Und diese politischen Phänomene, im Unterschied zu den reinen Naturerscheinungen, bedürfen der Sprache und der sprachlichen Artikulation, um überhaupt in Erscheinung zu treten; sie sind als politische überhaupt erst existent, wenn sie den Bereich des nur sinnfällig Sichtbaren und Hörbaren überschritten haben. Kriegs- oder Revolutionstheorien können es daher nur mit den Rechtfertigungen von Gewalt, aber nicht mit dieser selbst zu tun haben; erst in der Rechtfertigung wird die Gewalt ein eigentlich politisches Phänomen. Sollte aber eine solche Theorie, statt in der Gewalt eine ultima ratio der Politik zu sehen, eine Rechtfertigung von Gewalt überhaupt oder ihre Glorifizierung anbieten, so ist sie nicht mehr eine politische, sondern eine im Wesen antipolitische Theorie.

Die Gewalt kann nie mehr, als die Grenzen des politischen Bereichs schützen. Wo die Gewalt in die Politik selbst eindringt, ist es um die Politik geschehen. Unter dem Aspekt des reinen Gewaltprozesses stehen Kriege wie Revolutionen außerhalb des politischen Raumes, und dies trotz der ja ungeheuer großen Rolle, welche solche Prozesse in der Geschichte gespielt haben. Diese Tatsache hatte das siebzehnte Jahrhundert, das sich ja gerade in Kriegen und Revolutionen besonders gut auskannte, im Auge, wenn es den sogenannten Naturzustand (»state of nature«) als einen präpolitischen Zeitraum hypothetisch ansetzte, der natürlich niemals als ein historisch nachweisbarer Tatbestand gemeint war. Diese Hypothese hat auch heute noch ihre Relevanz, insofern sie die Einsicht ausdrückt, daß es keineswegs immer und überall, wo Menschen zusammenleben, einen politischen Bereich gibt und daß wir von vielen Ereignissen wissen, die prinzipiell nicht-politischer Natur sind, ja nicht einmal in irgendeinem Zusammenhang mit dem Politischen im eigentlichen Sinne stehen, obwohl sie in einem geschichtlichen und historisch bekannten Verlauf auftreten. Der Begriff des Naturzustandes weist zumindest auf Realitäten hin, welche der Entwicklungsbegriff des neunzehnten Jahrhunderts auf keine Weise begreifen kann, ob er nun den historischen Prozeß in der Kategorie der Kausalität oder der Aktualisierung von Möglichkeiten oder als eine dialektische Bewegung oder auch nur als einen in sich stimmigen Folgezusammenhang denkt. Denn die Hypothese eines Naturzustandes impliziert, daß es so etwas gibt wie einen Anfang, der als solcher von allem, was nach ihm kommt, wie durch einen Abgrund getrennt ist.

Daß das Problem des Anfangs oder Ursprungs für das Phänomen der Revolution von ausschlaggebender Bedeutung ist, ist offenbar. Daß ein enger Zusammenhang zwischen einem solchen Anfang und der Gewalt besteht, scheint durch die Ursprungslegenden der biblischen wie der klassischen Tradition bezeugt: Kain erschlug Abel, Romulus erschlug Remus; Gewalt stand am Anfang, woraus zu folgen scheint, daß kein Anfang ohne Gewaltsamkeit möglich ist, daß jeder Neubeginn etwas vergewaltigt. Diese ersten Taten unserer Geschichte, die mit Legenden anhebt, haben unzählige Jahrhunderte im Gedächtnis der Menschen überlebt mit jener Kraft, die dem menschlichen Denken in den seltenen Augenblicken eignet, wenn es ihm gelingt, in zwingend überzeugenden Metaphern zu sprechen oder in weithin anwendbaren Geschichten. Die Legende sprach es klar aus: Am Anfang aller Brüderlichkeit steht der Brudermord, am Anfang aller politischen Ordnung steht das Verbrechen. Für diese uralte, durch die Jahrhunderte getragene Überzeugung von dem Beginn aller menschlichen Angelegenheiten ist die Annahme eines Naturzustandes nur eine letzte, theoretisch gereinigte Paraphrase, und sie klingt noch deutlich nach in Marx’ berühmtem Ausspruch von der Gewalt als der mächtigen Geburtshelferin der Geschichte.

Erstes Kapitel Der geschichtliche Hintergrund

I

In unserm Zusammenhang muß die Kriegsfrage außer Betracht bleiben. Die von mir als Metaphern erwähnten Ursprungslegenden und die Theorie von einem prähistorischen Naturzustand, in der diese Legenden ihre begriffliche Formulierung fanden, sind zwar oft zur Rechtfertigung von Krieg und Gewalt als einem der menschlichen Natur inhärenten Erbübel benutzt worden, als könne der Geschichtsprozeß des Menschengeschlechts, da er durch ein Verbrechen in Gang gekommen ist, auch nur durch Verbrechen weiter in Gang gehalten werden. Da aber Revolutionen, und nicht Kriege, die einzigen politischen Ereignisse sind, die uns inmitten der Geschichte direkt und unausweichlich mit einem Neubeginn konfrontieren, ist ihre Bedeutung für die Frage nach dem Sinn von Revolution im Bereich der menschlichen Angelegenheiten noch entscheidender. Denn wie immer man das Ereignis der Revolution definieren und beschreiben mag, es handelt sich bei ihm niemals um einen noch so radikalen Regierungswechsel oder einen Umschwung innerhalb eines historischen Kontinuums. Moderne Revolutionen haben kaum etwas gemein mit der mutatio rerum römischer Geschichte oder dem Bürgerzwist, den wir als στάσις aus den griechischen Stadtstaaten kennen. Sie lassen sich nicht mit den platonischen Umschwüngen, den in den jeweiligen Staatsformen selbst angelegten μεταβολαί, gleichsetzen noch mit Polybius’ Kreislauf der Staatsformen, der πολιτειῶν ἀνακύκλωσις, in die alle menschlichen Angelegenheiten gebannt bleiben kraft der ihnen innewohnenden Tendenz, im Extrem ihren eigenen Umbruch zu provozieren.[11] Mit politischen Umschwüngen dieser Art und mit der Gewalt, die in ihnen zum Ausbruch kam, war das klassische Altertum nur zu vertraut; was ihm aber ganz fremd war, ist, was uns nahezu selbstverständlich ist, nämlich daß sich in solchen Umschwüngen jeweils etwas ganz Neues zeigt oder daß eine neue Geschichte mit ihnen anhebt. Der Umschwung unterbrach nicht den Lauf der Welt, er brachte nur ihren Kreislauf in ein anderes Stadium. Der Kreislauf war die Art und Weise, in der dieser ganze Bereich des Lebens sich bewegte und fortbewegte und wieder in sich zurückschlug. Wie veränderlich auch immer menschliche Angelegenheiten sein mochten, der Lauf der Welt im ganzen war unveränderlich. Etwas eigentlich Neues konnte sich hier so wenig ereignen wie in der umgreifenden Sphäre des Kosmos oder des Seins im ganzen.

Nun kann man aber die modernen Revolutionen unter einem anderen, geläufigeren Aspekt sehen, der scheinbar für Vergleiche mit früheren, vormodernen Zeiten ergiebiger ist. Was sich als erstes aufdrängt, wenn wir an Revolution denken, ist die soziale Frage, und diese ist anscheinend bereits von Aristoteles in ihrer revolutionären Bedeutung entdeckt worden, da Aristoteles bekanntlich Platos Umschwünge ökonomisch erklärte und die Oligarchie als die Herrschaft der Besitzenden, die Demokratie dagegen als die Herrschaft der Besitzlosen interpretierte. Daß ein Tyrann zumeist die Herrschaft durch das einfache Volk gewinnt und daß nichts diese vorgebliche Volksherrschaft besser befestigt als das Verlangen der Armen nach Gleichheit der Lebensumstände, war im Altertum keineswegs unbekannt oder unbemerkt geblieben. Daß Besitzverhältnisse und Staatsformen etwas miteinander zu tun haben, daß Reichtum von großem politischen Gewicht sein kann, sowie der aus diesen Zusammenhängen sich ergebende Verdacht, daß politische Macht nur die Folge ökonomischer Machtstellung sein könne, aus der sich schließlich die generalisierende Folgerung ergab, daß die Bewegkraft aller politischen Kämpfe das Interesse, und zwar damals bereits durchaus ein »Klasseninteresse«, sei – all dies ist natürlich nicht eine Erfindung von Karl Marx und auch nicht der Neuzeit, wiewohl wir so zugespitzte Formulierungen wie Harringtons »Herrschaft ist Besitz« (dominion is property, real or personal) oder Rohans »Die Fürsten kommandieren den Völkern, und das Interesse kommandiert den Fürsten« schwerlich vor dem sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert finden. Will man schon für die sogenannte materialistische Geschichtsauffassung einen einzigen Autor verantwortlich machen, so dürfte es sich empfehlen, bis auf Aristoteles zurückzugehen, weil er der erste war, der meinte, das Interesse, nämlich τò σύμφερον bzw. das einer Person oder einer Gruppe Nützliche, sei im politischen Bereich von ausschlaggebender Bedeutung.

Wie gewalttätig sich aber nun auch diese durch das Interesse veranlaßten Umstürze vollziehen mochten, bis eine neue Ordnung etabliert war, der Unterschied zwischen Arm und Reich als solcher hat bis zum Anbruch der Neuzeit und bis zum Ausbruch der Revolutionen des achtzehnten Jahrhunderts als ebenso natürlich für das Leben des politischen Organismus gegolten wie der Unterschied zwischen Krank und Gesund für das Leben des menschlichen Organismus. Erst als man im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert daran zu zweifeln begann, daß Armut zu den Bedingungen gehört, unter denen den Menschen das Leben auf der Erde gegeben ist, daß es nur wenigen gelingen kann, sich von den Fesseln des Elends durch ungewöhnliche persönliche Kraft oder außerordentliche Umstände oder auch einfach durch Betrug zu befreien, konnte die soziale Frage wirklich revolutionäre Bedeutung erhalten. Der Zweifel selbst bzw. die damals noch verwegene Hoffnung auf ein irdisches Leben im Zeichen der Fülle statt unter dem Fluch der Notdurft war vermutlich amerikanischen Ursprungs. Symbolisch gesprochen, möchte man meinen, daß gerade für die soziale Revolution alles bereit stand, als John Adams mehr als zehn Jahre vor dem Ausbruch der Amerikanischen Revolution sagen konnte: »I always consider the settlement of America as the opening of a grand scheme and design in Providence for the illumination of the ignorant and the emancipation of the slavish part of mankind all over the earth.«[12] Theoretisch aber war über die kommende revolutionäre Rolle der sozialen Frage bereits sehr viel früher entschieden, nämlich als erst Locke (vermutlich unter dem Eindruck des allgemeinen Wohlstandes in den Kolonien der Neuen Welt) und dann Adam Smith entdeckten, daß Mühe und Arbeit kein bloßes Zubehör der Armut sind, gleichsam die Tätigkeit, die dem Armsein entspricht, sondern im Gegenteil die eigentliche Quelle allen Reichtums. Nur unter diesen Voraussetzungen war es denkbar, daß eine Rebellion der Armut, »des versklavten Teils der Menschheit«, mehr erreichen konnte, als daß die einen auf Kosten der anderen befreit wurden.

Lange bevor die Neuzeit die technischen Mittel auch nur zu finden begonnen hatte, um des doppelten Elends von Mühe und Notdurft Herr zu werden, war Amerika bereits zum Symbol einer Gesellschaftsordnung geworden, in der es wirkliche Verelendung nicht gab. Und erst als die Kunde von dieser verblüffenden Neuigkeit nach Europa gelangt war und sich auch unter den Völkern gehörig verbreitet hatte, wurden die soziale Frage und der Aufruhr der Armen zu einem revolutionären Faktor allerersten Ranges. Im Grunde hat nichts, weder theoretische Erwägungen noch unmittelbar geschichtliche Entwicklungen, so viel dazu beigetragen, die klassische Vorstellung von einem ewigen Kreislauf aller menschlichen Angelegenheiten zu brechen, wie die faktische Entstehung der amerikanischen Gesellschaft vor der Amerikanischen Revolution. Erst als die Prosperität Amerikas den Kreis einer ewigen Wiederkehr gebrochen hatte, stellte sich heraus, in welchem Ausmaß seine angebliche Notwendigkeit auf der scheinbar »natürlichen« Unterscheidung zwischen Arm und Reich beruht hatte.[13] Es gibt eine große gelehrte Literatur über den Einfluß der Amerikanischen auf die Französische Revolution, wie natürlich auch über den großen Einfluß europäischer Denker auf den Gang der Amerikanischen Revolution. Aber keiner der nachweisbaren literarischen und dokumentarischen Einflüsse der Neuen Welt auf den Gang der Dinge in der Alten kann es an wirklicher Relevanz mit der einfachen Tatsache des »verblüffenden Wohlstandes« aufnehmen, von dem uns die Amerikareisenden des achtzehnten Jahrhunderts einstimmig berichten[14] – weder die Tatsache, daß die Französische Revolution dem Vorbild der Amerikanischen folgte, als sie mit einer konstituierenden Versammlung begann, noch daß die Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen dem Beispiel der Bill of Rights in Virginia folgte, noch daß »der Gedanke einer Trennung der gesetzgebenden und der verfassungsgebenden Gewalt […]« aus der amerikanischen Verfassung übernommen wurde.

Die eigentümliche Folgenlosigkeit der Amerikanischen Revolution für den Gang der modernen Revolutionen kann vorerst nur angedeutet werden. Daß weder der Geist dieser Revolution noch die immer wirklich gedachten und oft erstaunlich gelehrten Theorien der »gründenden Väter« einen wesentlichen Widerhall in Europa fanden, ist eine unbezweifelbare Tatsache, aus der man leider geschlossen hat, daß in Amerika eben niemals eine »richtige« Revolution stattgefunden habe. Daran ist immerhin so viel richtig, daß das, was die Männer der Amerikanischen Revolution für die größte Errungenschaft ihrer neuen republikanischen Staatsform hielten, nämlich die Ausarbeitung und Anwendung der Montesquieuschen Lehre von der Teilung der Gewalten, niemals von irgendwelcher Bedeutung für das revolutionäre Denken Europas und damit der übrigen Welt geworden ist. Die eigentlich »konterrevolutionären« Argumente, mit denen Turgot noch vor Ausbruch der Französischen Revolution sich gegen die amerikanischen Revolutionäre wandte und behauptete, die Majestät der Staatssouveränität verlange eine absolute Zentralisierung der Macht (das Wort »Souveränität« ist ursprünglich die französische Übersetzung des lateinischen majestas und wurde zuerst von Jean Bodin gebraucht), haben sich praktisch und theoretisch in allen anderen Revolutionen durchgesetzt.[15] Nur Mirabeaus berühmte Verteidigung der konstitutionellen Monarchie als der besten aller Staatsformen tritt für eine Teilung der Gewalten ein, der gesetzgebenden und der ausführenden; und die Argumente, die er vorbringt (in der berühmten Rede Über das Vetorecht des Königs aus dem Jahre 1789), gründen sich nicht auf ein Verständnis des Wesens der Macht, sondern auf eine hier ganz unangemessene und unüberzeugende Unterscheidung zwischen Wollen und Handeln; auch Mirabeau hielt den Willen des Volkes für die einzige legitime Quelle der Gesetze und hätte sich daher, wenn er länger gelebt hätte, in die gleichen Aporien verstrickt wie seine weniger gemäßigten Kollegen. (Auf diese Aporien werden wir ausführlich im vierten Kapitel zurückkommen.) Mit anderen Worten, die Argumente des Nationalstaats haben die Argumente der Republik von vornherein überspielt und in den Hintergrund gedrängt. Andererseits hat das für alle anderen Revolutionen vordringlichste und politisch unlösbarste Problem der furchtbaren Massenarmut, an dem faktisch die französische Republik dann scheiterte und vielleicht scheitern mußte, in der Amerikanischen Revolution so gut wie keine Rolle gespielt. Es war nicht die Amerikanische Revolution, sondern die Existenz der Neuen Welt ohne Armut und Elend, wie sie sich lange vor der Unabhängigkeitserklärung herausgebildet hatte, welche einen wirklich revolutionären Willen in Europa auslöste.

Der neue Kontinent war zu einer Zufluchtsstätte, zu einem »Asyl« und einem Versammlungsplatz der Armen nicht nur Englands, sondern ansatzweise ganz Europas geworden. In die Mutterländer berichtete man von einem »neuen Geschlecht von Menschen«, die von »den sanften Banden einer milden Regierung geeint« seien, unter Bedingungen »einer wohltuenden Einförmigkeit« lebten und »absolutes Elend, das schlimmer ist als der Tod«, nicht kennten. Jedoch Crèvecœur, den ich soeben zitierte, war charakteristischerweise ein erbitterter Gegner der Amerikanischen Revolution, die seiner Meinung nach eine Art Verschwörung der Aristokraten gegen den gemeinen Mann darstellte.[16] Er wirkt heute wie der erste Wortführer des gemeinen Mannes, den das leidenschaftliche Anliegen der Amerikanischen Revolution, einen neuen politischen Körper zu gründen und eine neue Staatsform einzurichten, nicht kümmerte, sondern den nur interessierte, daß dort ein »neuer Kontinent«, ein angeblich »neuer Mensch«, eine neue Gesellschaft entstanden war, in der einem Wort Jeffersons zufolge »die Armen und die Reichen sich einer höchst angenehmen Gleichheit erfreuten«. Jeffersons lovely equality hat in der Tat revolutionierend gewirkt, erst in Europa und dann auf der ganzen von Menschen bewohnten Erde, mit dem Resultat, daß von der Französischen Revolution bis zu den Revolutionen unseres Jahrhunderts sich alle Revolutionäre darüber einig waren, daß es erheblich wichtiger sei, die Gesellschaftsordnung so zu verändern, wie sie in Amerika bereits vor dem Ausbruch der Revolution verändert war, als zu versuchen, die Gesamtstruktur des politischen Bereiches neu zu gründen. Stände bei den Revolutionen der Neuzeit wirklich nicht mehr und nichts anderes auf dem Spiel als die Veränderung der Gesellschaftsstruktur, dann könnte man in der Tat behaupten, daß die Entdeckung Amerikas und die Kolonisierung des neuen Kontinents ihren wahren Ursprung bildeten; man müßte dann annehmen, daß Jeffersons lovely equality