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Das Buch

»Ich bin nach wie vor der Meinung, das Beste getan zu haben, was ich gerade jetzt für mein Volk tun konnte.« Das sagte Sophie Scholl nach ihrer Verhaftung im Februar 1943, so steht es im Protokoll der Geheimen Staatspolizei. Doch wie gelangte die 21-Jährige zu dieser Überzeugung? Was musste geschehen, damit aus einem begeisterten Hitlermädchen eine entschlossene Widerstandskämpferin wurde?

Robert M. Zoske spürt dieser Frage in seiner empathischen Biografie nach. Auf der Basis neuer Quellen und bisher unveröffentlichter Dokumente zeigt er Sophie Scholl, so wie man sie bislang noch nicht kannte.

Der Autor

Robert M. Zoske, geboren 1952 in Schleswig-Holstein, ist evangelischer Theologe und Historiker der Weißen Rose. Bis 2017 arbeitete er als Pastor der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland. Er hat 2014 über Hans Scholl promoviert, 2018 erschien die vielbeachtete Biografie Flamme sein! Hans Scholl und die Weiße Rose. Zoske lebt mit seiner Frau in Hamburg.

Robert M. Zoske

Sophie Scholl:
Es reut mich nichts

Porträt einer Widerständigen

Verlagsqualität Ullsteinbuchverlage

Propyläen

Das Titelzitat »Es reut mich nichts« entstammt einem Brief Sophie Scholls an Fritz Hartnagel, Ulm, 10. Mai 1938 (Briefwechsel S. 51) und Gestapo-Vernehmung, 20. Februar 1943 (BArch R 3018/1704 und R 3017/34635).



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ISBN 978-3-8437-2417-3


© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020

Titelfoto: Aufnahme von Werner Scholl, 6. Juni 1938

Gestaltung: Morian & Bayer-Eynck, Coesfeld

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

für beatrix
immer

Allein in der Tat ist die Freiheit.
Dietrich Bonhoeffer

Prolog

»Ich bin nach wie vor der Meinung, das Beste getan zu haben, was ich gerade jetzt für mein Volk tun konnte. Ich bereue deshalb meine Handlungsweise nicht und will die Folgen, die mir aus meiner Handlungsweise erwachsen, auf mich nehmen.«1

Diese Sätze sagt Sophie Scholl nach ihrer Verhaftung am 18. Februar 1943, sie stehen im Vernehmungsprotokoll der Geheimen Staatspolizei. Vier Tage später werden Sophie und ihr Bruder Hans sowie Christoph Probst wegen Hochverrats zum Tode verurteilt und hingerichtet. Das Todesurteil gegen die in einem zweiten Prozess angeklagten Willi Graf, Kurt Huber und Alexander Schmorell wird zwei Monate später gefällt. Sie alle zählen zum inneren Kreis der »Weißen Rose«, deren Entschlossenheit wir bewundern, deren mutiges Handeln wir erinnern. Gemeinsam stellten sich die Widerstandskämpfer dem verbrecherischen NS-Regime entgegen.

Gleichwohl hat allein Sophie Scholl durch die Unbeugsamkeit und Unbedingtheit, mit der sie zu ihren Taten stand – sich nicht distanzierte oder strafmildernde Umstände erbat –, eine fast ikonische Bedeutung erlangt. Jeder meint die Szene zu kennen, in der sie noch im Angesicht der Gefahr die Flugblätter in den Lichthof der Universität hinunterstößt. Es scheint, als wäre diese junge Frau zur Heldin geboren. Doch der Mensch Sophie, wie er uns aus den Quellen entgegentritt, hatte viele Facetten, von denen die todesmutige Gefangene, wie sie am Ende vor dem Volksgerichtshof steht, nur eine von vielen ist.

Vor allem war es ein langer, zum Teil schmerzhafter Entwicklungsprozess, den Sophie Scholl durchleben musste. Ihre Briefe und ihr Tagebuch machen deutlich, weshalb für die junge Kindergärtnerin und Studentin, die sich viele Jahre aus tiefster Überzeugung im Bund Deutscher Mädel engagierte, der Freiheitskampf immer unausweichlicher wurde, warum sie schließlich bereit war, ihr Leben einzusetzen. Sie dokumentieren die philosophischen, religiösen und politischen Prämissen, die aus einem begeisterungsfähigen, mitunter naiven Mädchen eine kritische und charakterstarke Frau werden ließen. 1942 schrieb sie: »Habe ich geträumt bisher? Manchmal vielleicht. Aber ich glaube, ich bin aufgewacht.«2

Dieses Buch will dem »Aufwachen« der Widerständigen nachspüren, will jenseits der Klischees eine Persönlichkeit zeichnen, die nicht nur Mut, sondern auch Unsicherheit und Zögerlichkeit kennt, die blind vertraut und erst langsam erkennt, dass ihre Ideale missbraucht worden sind. Es geht darum, den ganzen Menschen zu zeigen, der im öffentlichen Gedenken oft geglättet und überhöht zur Darstellung kommt. Erst wenn wir diese differenzierte Sicht wagen, können wir Sophie Scholls Vermächtnis als das bewahren, was es ist: ein lebendiges Zeugnis für die Sehnsucht nach Freiheit und die immense Kraft, die aus diesem Antrieb erwachsen kann.

Endspiel

Die Gewaltanstrengung, die der NS-Staat unternimmt, um die Widerstandsbewegung auszulöschen, ist ungeheuerlich. Ein akribisch aufeinander abgestimmter Beamtenapparat setzt sich in Gang, unerbittlich ist sein Räderwerk.

Paul Giesler, geschäftsführender Gauleiter von München-Oberbayern, kontaktiert noch am Freitag, 19. Februar 1943, den Chef der Partei-Kanzlei der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), Reichsminister Martin Bormann, in Berlin.1 Er informiert ihn, dass die »Täter« der »Flugzettelverteilung und Strassenverschmierungen […] 4 Studenten und eine Studentin« seien. Da die Männer Soldaten sind, bittet er darum, »eine Weisung des Führers herbeizuführen dahingehend, dass das Reichskriegsgericht das Verfahren gegen die 4 [Soldaten]Studenten sofort an den Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof abzugeben hat«, wo der Prozess gegen die »weibliche Zivilperson« stattfindet. Eine »schnelle Aburteilung« sei »unerlässlich, […] da die Straftaten zu einer starken Beunruhigung der Zivilbevölkerung Süddeutschlands geführt haben«. Auf die »beschleunigte Durchführung des Verfahrens durch den Volksgerichtshof« werde er »selber hinwirken«. Auf dem Schreiben ist vermerkt, dass »Gauleiter Giesler« fernmündlich »um 17 Uhr« mitteilt, Generalfeldmarschall Keitel, der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, habe die Entlassung der Studenten aus der Armee veranlasst. »Der Gauleiter bittet, die Aburteilung in den nächsten Tagen hier und die Vollstreckung alsbald darauf vorzunehmen.« Abgezeichnet ist die Notiz vom Generalstaatsanwalt beim Oberlandesgericht München, Artur Helm, der seit Monatsbeginn im Amt ist.

Am selben Tag erhält der Reichsanwalt beim Volksgerichtshof in Berlin, Albert Weyersberg, einen Anruf des Münchner Generalstaatsanwalts. Helm bittet ihn, im Laufe der »freundlichen Besprechung […] möglichst sofort einen Beauftragten hierher zu entsenden, der die rasche Abwicklung der Angelegenheit sicherstellt«. Bei der »Angelegenheit« handelt es sich um einen Prozess wegen Hochverrats. Angeklagt sind zunächst die bereits festgenommenen zwei Studenten und eine Studentin: Hans Scholl, Christoph Probst und Sophie Scholl. Sie hätten staatsfeindliche Flugblätter verbreitet und wehrkraftzersetzende Parolen an Münchner Hauswände geschrieben; im Wesentlichen seien sie geständig. Im Anschluss an das Telefonat wird Weyersberg von Oberreichsanwalt Ernst Lautz beauftragt, die Anklage vor dem Volksgerichtshof zu vertreten.

Auch im Führerhauptquartier betrachtet man die Münchner Vorgänge mit Sorge. Am späten Samstagnachmittag informiert Heinrich Himmler im »Werwolf« genannten Bunkerbau beim westukrainischen Winniza Adolf Hitler über »Flugblätter in München«. Sehr wahrscheinlich beschließen die beiden mächtigsten Männer des Reiches die sofortige Beseitigung der Studenten.2 Bereits achtundvierzig Stunden nach dieser Unterredung – vier Stunden nach der Urteilsverkündung – erfolgen die Hinrichtungen.

Außer dem Reichsanwalt reisen drei weitere Juristen und eine Justizvollzugskraft aus Berlin nach München: Erster Staatsanwalt Adolf Bischoff, Sachbearbeiter dieser Strafsache, Justizoberwachtmeister Gustav Rosemund und Landgerichtsdirektor Martin Stier, der Beisitzer. Den Vorsitz des Gerichts hat der Präsident des 1. Senats des Volksgerichtshofs, Roland Freisler.

Hauptaufgabe von Reichsanwalt Weyersberg ist es, im Laufe des Sonntags die Verteidiger zu bestellen, die Anklageschrift fertigzustellen, sie vor Gericht vorzutragen und als Vollstreckungsbeamter der Todesurteile zu amtieren. Für die Antragsschrift der Staatsanwaltschaft muss er die Ermittlungen der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) lesen und zusammenfassen.3 Die Akten zum »Hauptverhandlungstermin 22. II 43 – Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof. Strafsache gegen Scholl und 2 Andere« haben einen Umfang von mehreren Hundert Seiten.

Die zehnseitige Anklageschrift ist gründlich, exakt und wohlüberlegt formuliert. Es entsteht der Eindruck, der Verfasser könne sich der Argumentation der Flugschriften nicht entziehen – besonders wenn er die angeprangerten Gräueltaten als »Berichte« bezeichnet, also ihren Tatsachencharakter noch unterstreicht:

Im Sommer 1942 wurden in München durch die Post sogenannte »Flugblätter der Weissen Rose« verbreitet. Die Hetzschriften enthalten Angriffe gegen den Nationalsozialismus, insbesondere gegen seine kulturpolitischen Bestrebungen, sie enthalten ferner Berichte über angebliche Greueltaten des Nationalsozialismus, nämlich die angebliche Ermordung der Juden und die angebliche Verschleppung der Polen.

Als gebürtiger Kölner ist Weyersberg betroffen über die Bombardierung der Domstadt wenige Tage zuvor am 15. Februar. Obwohl ihm nur wenige Stunden Zeit zur Formulierung bleiben, gibt er daher die entsprechende Flugblattpassage wieder:

Ferner enthalten die Flugblätter die Aufforderung, durch passiven Widerstand »das Weiterlaufen der atheistischen Kriegsmaschinerie zu verhindern«, ehe es zu spät sei und ehe die letzten Städte gleich Köln ein Trümmerhaufen seien und die Jugend des Volkes irgendwo für die »Hybris eines Untermenschen« verblutet sei.

Er paraphrasiert ausführlich das fünfte Flugblatt4, als spiegelten sich darin seine eigenen Ängste. In seiner komprimierten Zusammenfassung werden die Forderungen des Flugblattes sehr eindringlich:

Indes strömten aber im Osten die Armeen unaufhörlich zurück, werde im Westen die Invasion erwartet und übertreffe die Rüstung Amerikas alles in der Geschichte seither Dagewesene. Hitler könne den Krieg nicht gewinnen, sondern nur noch verlängern […] Das deutsche Volk, das blindlings seinen Verführern ins Verderben gefolgt sei, müsse sich jetzt von dem nationalsozialistischen Untermenschentum trennen und durch die Tat beweisen, dass es anders denke. Der nationalsozialistischen Propaganda dürfe man nicht glauben, die dem Volk den Bolschewistenschreck in die Glieder gejagt habe, dürfe man nicht glauben [sic], und nicht glauben, dass Deutschland mit dem Sieg des Nationalsozialismus auf Gedeih und Verderben verbunden sei.

Der rheinische Katholik reiht aneinander: »nicht glauben« – »nicht glauben« – »nicht glauben«.

Über Sophie Scholl referiert Weyersberg, sie habe bereits im Sommer 1942 an »politischen Unterhaltungen« teilgenommen, bei denen sie mit ihrem Bruder Hans Scholl zu der Überzeugung kam, dass der Krieg für Deutschland verloren sei. Sie teilte dabei die Ansicht ihres Bruders, dass durch Herstellung von Flugschriften Propaganda gegen den Krieg gemacht werden müsse.

Sie sei »an der Herstellung und Verbreitung der Flugblätter geständlich beteiligt«. Der Jurist übernimmt die (unzutreffende) Aussage Sophie Scholls, sie habe an der Abfassung des fünften Flugblatts mitgewirkt. Dagegen fasst er korrekt ihre weiteren Aktivitäten zusammen, aus denen deutlich wird, wie unentbehrlich sie bei der zweiten Flugblattaktion war:

Ferner beteiligte sie sich am Einkauf von Abzugspapier, Briefumschlägen und Matrizen und stellte zusammen mit ihrem Bruder die Abzüge dieser Schrift her. Auch unterstützte sie ihren Bruder beim Schreiben der Anschriften der Postsendungen. Ferner fuhr sie im Auftrag ihres Bruders mit dem Schnellzuge nach Augsburg und warf dort die bereits vorbereiteten Briefe in verschiedene Briefkästen ein. Ausserdem beteiligte sie sich an der Verbreitung der Schriften in München, indem sie Flugblätter in Telefonzellen und parkenden Autos ablegte. Auch an der Herstellung und Verbreitung der Studentenflugblätter [Flugblatt 6] war die angeschuldigte Sophia Scholl beteiligt. Sie begleitete ihren Bruder auch an die Universität, wurde dort beim Verstreuen der Flugblätter beobachtet und zusammen mit ihm festgenommen.

Zwar sei sie nicht an den nächtlichen »Schmieraktionen« beteiligt gewesen, sie habe sich aber für zukünftige Aktionen »als Frau zur Tarnung« angeboten. Sie habe zudem gewusst, dass ihr Bruder »für die Herstellung der Hetzschriften erhebliche Geldbeträge verwandte«. Da er sich aber für deren Verwaltung nicht interessierte, habe sie darüber Kasse und Buch geführt. Weyersberg stellt die Beteiligung Sophie Scholls so dar, dass sie zunächst zwar auf Anweisung ihres Bruders gehandelt habe, bald darauf aber auch eigeninitiativ tätig geworden sei. Sein Resümee lautet: »Die Angeschuldigte Sophia Scholl hat bei der Verfassung, Herstellung und Verbreitung der Hetzschriften mitgewirkt.« Gemessen am damaligen Wissensstand ist die Anklageschrift eine zutreffende Kurzfassung des Widerstands, den die drei Angeklagten geleistet haben.

Tag und Nacht arbeitet Weyersberg mit Energie und großer Akkuratesse an diesem Dokument. Das ist umso überraschender, weil das Todesurteil von vornherein feststeht. Auf Hochverrat steht in der Rechtsprechung der NS-Justiz die Todesstrafe. Warum also zeigt der Beamte ein derart großes Engagement? Die Antwort findet sich in seiner Personalakte: Sie gibt nicht nur Auskunft über die Karriere eines preußischen Advokaten, sondern erlaubt auch Rückschlüsse auf seinen Charakter.5

Albert Emil Rudolf Weyersberg, geboren am 19. Juli 1887 in Köln-Ehrenfeld, katholisch, ledig, glaubt 1933, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Der Jurist bei der Reichsanwaltschaft in Leipzig setzt alles auf die NSDAP-Karte und tritt am 1. Mai in die Partei Adolf Hitlers ein. Im Laufe des Jahres wird er Mitglied in sechs weiteren Gruppierungen der neuen Bewegung, unter anderem beim nationalsozialistischen Rechtswahrerbund, dem Reichsluftschutzbund und der Volkswohlfahrt. Zudem ist er förderndes Mitglied der Schutzstaffel (SS).

Mit einer Verzögerung von drei Jahren zahlt sich Weyersbergs Loyalität aus. 1934 wird ein politischer »Volksgerichtshof« (VGH) als Sondergericht eingerichtet, ab 1936 gilt er als ordentliches Gericht. An diese Einrichtung, die sich ausschließlich mit der Aburteilung von Hoch- und Landesverrat befasst, wird Weyersberg ab 1. April 1936 als Oberstaatsanwalt versetzt. Zum 1. November 1938 erfolgt seine Ernennung zum Reichsanwalt. Damit ist er mit einundfünfzig Jahren einer von zunächst drei, später fünf Juristen dieser Position im Deutschen Reich.

Von Weyersbergs Persönlichkeit zeugen mehrere zwischen 1926 und 1935 ausgestellte »Befähigungsnachweise«. Sie sind inhaltlich von großer Kontinuität, erhalten aber mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten eine spezifische Komponente.

Der Generalstaatsanwalt der Generalstaatsanwaltschaft Köln, Otto Rust, hebt schon 1926 nicht nur die Urteilskraft, sondern auch den Fleiß, die Sorgfalt und die Umsicht des knapp 39-Jährigen hervor.

Staatsanwalt Weyersberg ist ein gut beanlagter Beamter mit scharfem Blick und gesundem Urteil. Mit guten Rechtskenntnissen ausgestattet, hat er sich Dank seinem ernsten Streben, sich fortzubilden, in den letzten Jahren überraschend gut entwickelt. Aeußerst fleißig, sorgfältig und umsichtig bearbeitet er mit sehr anerkennenswertem Erfolg schwierige Sachen auch größeren und größtem Umfangs.

1932 attestiert Oberreichsanwalt Karl August Werner in Leipzig Weyersberg wiederum »eisernen« Fleiß, Sorgfalt, Interesse, »peinlichste« Gründlichkeit sowie besondere Arbeitsfreude und Hilfsbereitschaft. Wichtig für kommende Aufgaben ist die Feststellung, er habe »gezeigt, daß er auch große Sachen von politischer Tragweite und verwickelter Art sachgemäß und mit Takt zu bearbeiten weiß«.

Seine politische Zuverlässigkeit ist es schließlich, mit der sich der fleißige und pflichtbewusste Beamte ein Jahr später, 1933, für die angestrebte Beförderung empfiehlt:

Landgerichtsdirektor Weyersberg besitzt auch die charakterlichen Eigenschaften für das von ihm erstrebte Amt [eines Oberstaatsanwalts]. […] Er ist von vornehmer Gesinnung und besitzt ein ausgeprägtes nationales Empfinden. Dementsprechend ist er zum neuen Staat durchaus bejahend eingestellt. Er ist persönliches Mitglied des Bundes Nationalsozialistischer Deutscher Juristen und hat seinen Beitritt zur Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei erklärt. Durch seine mehrjährige Verfolgung der hochverräterischen kommunistischen Umtriebe hat er sich besondere Verdienste erworben.

Als die Reichsanwaltschaft in Leipzig eine neue Abteilung zur Bearbeitung »politischer Straftaten« einrichtet, übernimmt Weyersberg die Leitung.

Die Berufung des Juristen zum Reichsanwalt 1938 markiert nicht nur den Höhepunkt seiner Berufskarriere, sondern auch das größtmögliche Maß an Übereinstimmung von Fähigkeit und Gesinnung. Insofern ist es ihm, dem preußischen Beamten, im Februar 1943 eine innere Pflicht, die Anklageschrift gegen die »Weiße Rose« sorgfältig, gewissenhaft, ja penibel abzufassen. Dass daraus nur die Todesstrafe folgen kann, ist ihm und allen Beteiligten klar. Selbst wenn die Verhandlung keine Farce gewesen wäre – kein »Affentheater«6, wie es Hans Scholl im Gerichtssaal vernehmbar sagte –, es also zu ausführlichen Zeugen- und Beschuldigtenvernehmungen und zu wirklichen Plädoyers der Verteidiger gekommen wäre, hätte das Urteil nach damaligem Recht nicht anders lauten können.

Nachdem Weyersberg die Anklageschrift fertiggestellt hat, lässt er sie am Sonntag, dem 21. Februar, über die Verwaltung des Hausgefängnisses der Geheimen Staatspolizei, Staatspolizeileitstelle München, Brienner Str. 50, den drei Angeschuldigten zustellen. Die Uhrzeit zur Hauptverhandlung am nächsten Tag trägt er handschriftlich ein: »10 Uhr vorm.«. Die Beschuldigten können bis »8 Uhr vorm. Einwendungen gegen die Anordnung der Hauptverhandlung erheben und Beweisanträge stellen«.

Am Montag tritt der 1. Senat des Volksgerichtshofs um zehn Uhr zur Verhandlung zusammen. Die Juristen aus Berlin erhalten noch richterliche Unterstützung aus München: Franz Breithaupt ist SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Waffen-SS. Als Chef des Hauptamtes SS-Gericht in München leitet er die oberste Verwaltungsinstanz für die SS- und Polizeigerichtsbarkeit, deren Rechtsprechung nicht der allgemeinen Kriegsgerichtsbarkeit der Wehrmacht unterliegt. Max Köglmaier und Hanns Bunge sind SA-Gruppenführer, Ersterer ist zugleich Staatssekretär im bayerischen Innenministerium. Die fünf Richter und der Reichsanwalt sind hoch dotierte staatliche Entscheidungsträger; ihre Bezüge übersteigen das durchschnittliche Einkommen aller Versicherten um das Fünf- bis Sechsfache.

Als die Angeklagten den Sitzungssaal betreten, sieht Reichsanwalt Weyersberg die drei jungen Leute, die ihn in den vergangenen Tagen so intensiv beschäftigt haben, das erste Mal. Auf »Form[blatt] III 30« wird die »öffentliche Sitzung« protokolliert. Danach tagt der 1. Senat des Volksgerichtshofs. Als erster Zeuge wird »Hausschlosser Jakob Schmied« aufgerufen. Doch Weyersberg verzichtet auf seine Vernehmung, da die Angeklagten geständig sind. Er teilt dem Handwerker aber mit, »dass er an Gerichtsstelle zu verbleiben und des Aufrufs jederzeit gegenwärtig zu sein habe«. Nachdem die Angeklagten sich zu ihrer Person geäußert haben, trägt der Reichsanwalt die Anklage vor; die Flugblätter 1, 3–6 und der Entwurf zu Flugblatt 7 werden verlesen »und zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht«.

Die Angeschuldigten erklären sich zur Sache – ihre Worte werden nicht festgehalten.7 Als die Beweisaufnahme abgeschlossen ist, stellt der Reichsanwalt den Antrag, wegen Vorbereitung zum Hochverrat, Feindbegünstigung und Wehrkraftzersetzung die Todesstrafe und die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf Lebenszeit zu verhängen.8 August Klein, der Verteidiger der Geschwister, beantragt für Hans Scholl »ein gerechtes Urteil« und für Sophie Scholl eine »milde Strafe«; Rechtsanwalt Dr. Ferdinand Seidl ersucht für Christoph Probst ebenfalls eine »milde Strafe«. Im Gerichtssaal sind auch Magdalene und Robert Scholl. Als die Verteidiger ihre nichtssagenden Plädoyers beendet haben, versucht der Vater vergeblich, zu Wort zu kommen, die Eltern werden sofort des Saales verwiesen.9 Nach diesem kleinen Tumult haben die Angeklagten das letzte Wort – es wird nicht protokolliert. Der »Vorsitzer« schließt die Verhandlung, das Gericht zieht sich zur Beratung zurück. Die fünf Richter und der Reichsanwalt formulieren das Urteil. Weyersberg notiert und korrigiert handschriftlich:

Der Präsident verkündete das folgende Urteil:

Im Namen des deutschen Volkes.

Die Angeklagten haben im Kriege in Flugblättern zur Sabotage der Rüstung und zum Sturz der nationalsozialistischen Lebensform unseres Volkes aufgerufen, defätistische Gedanken propagiert [(Einfügung:) und den Führer aufs gemeinste beschimpft] und dadurch den Feind begünstigt und unsere Wehrkraft zersetzt. Sie werden deshalb mit dem Tode bestraft. Ihre Bürgerehre haben sie für immer verwirkt.

Später ergänzt er auf dem Blatt: »Schluss der Sitzung 1245«. Das Gremium ordnet anschließend noch an, dass der sichergestellte Abziehapparat und die Schreibmaschine zugunsten des Reiches eingezogen werden. Der Beschluss trägt die Unterschriften von Freisler, Stier, Köglmaier, Bunge, Breithaupt.

Am Montag hält sich Justizminister Thierack »zufällig« in München auf. Ihm wird das von den Eltern Scholl eilends angefertigte Gnadengesuch vorgelegt – er lehnt es sofort ab. Später, am 2. August 1943, erklärt das Justizministerium dieses ungewöhnliche Vorgehen damit, dass »sich der Herr Minister zufällig in München aufhielt und sich wegen der Eigenart des Falles über die an sich gegebene Zuständigkeit des OKW. [Oberkommando der Wehrmacht] hinwegsetzen zu können glaubte«. Der Weg zur Hinrichtung ist somit frei. Der als Gauleiter fungierende Paul Giesler plant eine öffentliche Hinrichtung. Da man sich aber der propagandistischen Wirkung dieses barbarischen Aktes nicht sicher ist, erfolgen die Morde hinter Gefängnismauern.10

Unverzüglich trifft der Erste Staatsanwalt Bischoff die nötigen Vorbereitungen in der Justizvollzugsanstalt Stadelheim. Als Leiter der Strafvollstreckung eröffnet Reichsanwalt Weyersberg – in Ausübung seiner Beamtenpflicht – gegen 16 Uhr den drei Studenten nacheinander, dass der »Reichsminister der Justiz […] beschlossen habe, von seinem Gnadenrecht keinen Gebrauch zu machen, sondern der Gerechtigkeit freien Lauf zu lassen«, und dass ihre Hinrichtung um 17 Uhr stattfinden werde. – Noch am Abend trifft beim Oberreichsanwalt am Volksgerichtshof ein Telegramm ein: »Heute ohne Zwischenfall verlaufen = = Weyersberg +«.

Es waren Beamte wie Weyersberg, die dafür sorgten, dass Sophie Scholl und die Widerstandskämpfer der »Weißen Rose« ermordet werden konnten. Tausende willfährige Deutsche bedienten beflissen und eifrig das Räderwerk der NS-Justiz.11

1. Tochter

Als Sophie Scholl am 9. Mai 1921 in Forchtenberg im Hohenloher Land geboren wurde, befand sich die Partei Adolf Hitlers in einer schweren Krise. Der Agitator hatte die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) verlassen, weil er Fusionsverhandlungen mit anderen rechtsnationalen Parteien kategorisch ablehnte. Um ihn zurückzugewinnen, trug ihm der leitende Parteiausschuss am 12. Juli 1921 sämtliche Machtbefugnisse an:

Der Ausschuß ist bereit in Anerkennung ihres ungeheuren Wissens, Ihrer, mit seltener Aufopferung und nur ehrenamtlich geleisteten Verdienste für das Gedeihen der Bewegung, Ihrer seltenen Rednergabe, Ihnen diktatorische Machtbefugnisse einzuräumen und begrüßt es auf das freudigste, wenn Sie […] die Stelle des ersten Vorsitzenden übernehmen.

Am 29. Juli 1921 stimmten auf einer außerordentlichen Mitgliederversammlung in München 553 der 554 Anwesenden für Hitler. Der Beschluss wurde von »nicht endenwollendem Beifall« begrüßt.1

Der Weg Sophie Scholls in den Widerstand und der Aufstieg Hitlers zum Diktator sind untrennbar miteinander verbunden. Ab Herbst 1942 war Sophie Scholl entschlossen, den »Führer« mit allen Mitteln zu beseitigen, er ließ die Studentin 1943 hinrichten.2

Sophia Magdalena Scholl wurde am 10. Juli in der Forchtenberger Michaelskirche – benannt nach dem Schutzpatron Deutschlands – evangelisch getauft. Sie war nach Inge (*1917), Hans (*1918) und Elisabeth (*1920) das vierte Kind von Magdalene (»Lina«, *1881) und Robert Scholl (*1891). 1922 folgten Werner und 1925 Thilde, die aber, an Masern und Lungenentzündung erkrankt, nur neun Monate alt wurde. Roberts uneheliches Kind Ernst Gruele (*1914), dessen leibliche Mutter kurz nach der Geburt starb, war als »Pflegesohn« in der Familie mit dabei, ohne wirklich dazuzugehören.3

Der Verwaltungsfachmann Robert Scholl war seit 1920 Bürgermeister (»Stadtschultheiß«) in dem 850-Seelen-Ort. Davor hatte er ab 1917 in Ingersheim, heute Teil von Crailsheim, als Ortsvorsteher gearbeitet. Dort wurden auch die beiden ältesten Kinder geboren.

Lina Scholl war 1904 in das Diakoniewerk Schwäbisch-Hall eingetreten, um Diakonisse zu werden. Nach fünfjähriger Ausbildung zur Krankenschwester wurde sie 1909 eingesegnet. Was sie damals gelobte, wurde zur Leitlinie ihres Lebens: »Was will ich? Dienen will ich. Wem will ich dienen? Dem Herrn Jesu in Seinen Elenden und Armen. Und was ist mein Lohn? Ich diene weder um Lohn noch um Dank, sondern aus Dank und Liebe; mein Lohn ist, daß ich darf!«4 Diese innere Haltung hat sie auch ihren Kindern nahegebracht.

Der Sanitäter Scholl lernte Lina im Frühjahr 1915 im Reservelazarett Ludwigsburg kennen. Dort versah der Waffenverweigerer seinen Militärdienst. In der zehn Jahre älteren Diakonisse fand er nicht zuletzt eine Mutter für seinen kleinen Sohn Ernst.

Mit der Heirat legte Lina ihren Beruf nieder. Fortan waren die Rollen klar verteilt: Die Erziehung der Kinder lag hauptsächlich in den Händen der Mutter, der Vater ging ganz in seinem Beruf auf. Die fröhliche Pietistin gab an ihre Kinder Gottvertrauen und Opferbereitschaft weiter, der skeptische Kulturprotestant lehrte sie politisches Bewusstsein und liberales Denken.

Im Frühjahr 1916 fielen zwei von Roberts Brüdern an der Westfront. Noch im selben Jahr schrieb der überzeugte Pazifist:

Was hat denn der Christengott, das Christentum, mit dem deutschen Sieg zu tun? Sind nicht in allen Ländern wahre Christen? Hätte Christus geantwortet, wenn man ihn gefragt hätte »Was sollen wir tun, wenn uns unsere Regierung – oder unser Vaterland – gegen einen Feind sendet?« Hätte er etwa gesprochen: ›Haltet Euch tapfer und tötet möglichst viele Feinde, damit ihr den Sieg davontraget!‹ Nach meiner Überzeugung hätte er gesagt: »Ihr dürft nicht töten, eher müsst ihr Euch Arme und Beine weghacken lassen, als dass ihr die Waffe gegen jemanden gebraucht.«5

Als politisch denkender Mensch hatte Robert Scholl nicht nur den Hohenloher Boten, sondern auch die Frankfurter Zeitung abonniert.

Die große Politik war in der kleinen Provinz stets präsent. Am Familientisch analysierte der Vater die schwierigen Zeiten: 1921, vier Tage vor Sophies Geburt, belastete eine Konferenz der Siegermächte des Ersten Weltkriegs Deutschland mit der exorbitanten Summe von 132 Milliarden Goldmark. Eine Hyperinflation annullierte die Ersparnisse von Millionen Menschen. Im August wurde rund hundertfünfzig Kilometer südwestlich von Forchtenberg in Bad Griesbach im Schwarzwald der Finanzminister Matthias Erzberger ermordet. Es war der Beginn einer Reihe politisch motivierter Anschläge und Gewaltakte durch Selbstjustiz, sogenannter Fememorde. Im Juni 1922 töteten Nationalsozialisten Außenminister Walther Rathenau. Im Januar 1923 besetzten französische Truppen das Ruhrgebiet. Im November scheiterte ein blutiger Putschversuch Hitlers in München. Seit 1923 zogen die Nationalsozialisten mit dem antisemitischen, gewaltverherrlichenden und rachsüchtigen Kampflied durch die Straßen: »Deutschland, erwache! Sturm, Sturm, Sturm! […] Wehe dem Volk, das heute noch träumt, Deutschland, erwache!«6

Das war die Welt, in die Sophie Scholl hineingeboren wurde. In den neun Jahren, in denen sie in Forchtenberg lebte, schloss sie, soweit bekannt, keine engeren Freundschaften. Ihr Leben war – und blieb es im Wesentlichen auch später – auf die Familie konzentriert.

Inge Scholl beschrieb die ersten Jahre in Forchtenberg rückblickend so:

Sophies Kinderlandschaft war das kleine Kocherstädtchen, das am Hang des Kochertales gelegen war, im Norden Württembergs, wo man nicht mehr reines Schwäbisch, sondern Hohenlohisch-Fränkisch spricht. […] Am Fuss des Städtchens zieht sich der stille, blinkende Fluss träumend hin, der allein schon eine Welt von Herrlichkeiten für ein Kind bietet. Sophie liebte das Wasser so sehr, wie nur ein Kind es lieben kann, und lernte schon mit sechs Jahren schwimmen. […] Hand in Hand mit ihrem ein Jahr jüngeren Bruder Werner unternahm sie die kleinen Streifzüge und Abenteuer in der Welt, ohne viel Aufsehen und Geschrei davon zu machen. Dabei wurde sie in ihrem Spielhöschen mit ihrem glänzend glatthaarigen, dunkelbraunen Pagenkopf, dem ebenmäßigen, stillen Gesichtchen und dem energischen, aufrechten Gang für den Jungen gehalten, während man den vor Übermut und Lebenslust sprühenden, bildhübschen, blonden Lockenkopf ihres Brüderchens für das Mädelchen ansah. […] Sie] war ein sehr stilles, innerliches Kind. Mit einer starken Intensität versenkte sie sich ins Spiel und ging völlig darin auf.7

Eine Freundschaft, die für Sophie zeitlebens prägend werden sollte, rührte allerdings noch aus frühen Kindertagen her, nämlich die zu Lisa Remppis. Die Familie wohnte im selben Haus, in dem Sophies Tante Elise einen Delikatessenladen führte, im rund fünfzig Kilometer entfernten Städtchen Backnang. Dort lernten sich die beiden Mädchen kennen. Mit elf trug Lisa in Sophies Poesiealbum ein: »Der beste Brand ist sinnlos, wenn er in sich selbst verglüht. Lisa. Ulm, den 16. 4. 35.«8 – Was sie wohl dachte, als sie Jahre später von dem Urteil gegen Sophie hörte? War alles sinnlos geworden?

Obwohl sie immer an verschiedenen Orten wohnten, blieben Sophie und Lisa über viele Jahre eng befreundet. Vor allem Sophie litt unter der räumlichen Trennung. Häufig äußerte sie den Wunsch nach mehr Gemeinsamkeit: »Manchmal ist mir, besonders wenn ich versuche, an Dich zu schreiben, als lägen nicht nur so und so viel km zwischen uns. Oder macht dieses Gefühl nur die Entfernung aus? Ich habe es bei andern Menschen nicht, vielleicht weil ich nie so nahe mit ihnen gestanden bin.«9 Mit achtzehn sehnte sie sich so sehr nach der Freundin, dass sie den Wunsch verspürte, mit ihr zusammenzuziehen: »Wenn Du fertig bist in der Schule können wir vielleicht eine Zeitlang zusammen studieren.« Sophie suchte bei Lisa Geborgenheit: »Denn das Wesentliche dran ist ja das zusammenleben. Ich wollte das könnten wir.« Ein so offensiv vorgetragenes Bedürfnis nach Nähe findet sich in ihren Briefen sonst nirgends, auch nicht in denen an ihren späteren Freund Fritz Hartnagel.

Deutlich wird die Bedeutung, die Lisa zukam, auch an Sophies Reaktion auf ihre Verlobung: Als die Freundin ihr nur eine gedruckte Verlobungsanzeige ohne persönlichen Gruß schickte, war sie tief gekränkt.10 Die Sehnsucht aber blieb: Noch 1942, mit einundzwanzig Jahren, wünschte sich Sophie, Lisa im Dunkeln bei sich zu haben: »Wenn Du heute nacht bei mir schlafen würdest, das wäre besser.«11 Sophie liebte Lisa und glühte für sie.

Anfang der Zwanzigerjahre hielt in Forchtenberg unter der Leitung des neuen Bürgermeisters Robert Scholl der technische Fortschritt Einzug: Im Frühjahr 1921 löste das Postauto die Pferdekutsche ab, 1922 erhielt der Ort eine Kanalisation, im Juni 1924 wurde die neue Bahnstrecke eingeweiht, und im Herbst 1927 kam Dr. Ferdinand Dietrich – der spätere NSDAP-Kreisleiter und Freund Robert Scholls – als Stadt- und Distriktsarzt nach Forchtenberg.12

Sophie besuchte mit ihrer Schwester Elisabeth (»Liesl«) die Kleinkinderschule, die von einer Diakonieschwester geleitet wurde. Das Erzählen biblischer Geschichten war selbstverständlich. Lina Scholl ging sonntags aus Überzeugung in den Gottesdienst, der Vater erfüllte damit eine Standespflicht; die Kinder besuchten regelmäßig den Kindergottesdienst, den zuweilen die Mutter leitete.

Der Kontrast zwischen den in der Familie gelebten Werten und der Weltsicht des künftigen Diktators, wie er sie 1926 in seiner Schrift Mein Kampf formulierte, könnte nicht größer ausfallen:

Juden waren und sind es, die den Neger an den Rhein bringen, immer mit dem gleichen Hintergedanken und klaren Ziele, durch die dadurch zwangsläufig eintretende Bastardisierung die ihnen verhaßte weiße Rasse zu zerstören, von ihrer kulturellen und politischen Höhe zu stürzen und selber zu ihren Herren aufzusteigen […] Der völkischen Weltanschauung muß es endlich gelingen, jenes edlere Zeitalter herbeizuführen, in dem die Menschen ihre Sorge nicht mehr in der Höherzüchtung von Hunden, Pferden und Katzen erblicken, sondern im Emporheben des Menschen selbst […]13

Viele belächelten die Suada des Demagogen; seinen eliminatorischen Antisemitismus und neurotischen Rassenwahn nahm man nicht ernst. Doch Hitler meinte es todernst: Zwar nannte er in Mein Kampf keine konkreten Taten, aber der Leser konnte schon zu diesem frühen Zeitpunkt erkennen, dass Juden und »Neger« für ihn kein Existenzrecht hatten. Der Siegeszug der »weißen Rasse« war sein erklärtes Ziel. Er stieß dabei auf offene Ohren, denn die antisemitische und nationalistisch-rassistische Weltsicht war eine wesentliche Verständigungsgrundlage nicht nur der Führungseliten.

Von Sophie Scholl gibt es vier eigene Erinnerungen an die Forchtenberger Zeit. Sie alle sind Teil einer 1937/38 für die Schule angefertigten Jahresarbeit.14 Ihr frühester Rückblick schilderte das Ritual des Samstagbades. Darin beschrieb sie eine Gewohnheit, die noch bis in die Siebzigerjahre häufig anzutreffen war: Einmal wöchentlich, meist samstags, wurde in der Familienwanne gebadet. Inge als die Älteste der Geschwister genoss bei den Scholls das Privileg, schon am Freitag ins Wasser zu dürfen, »damit nicht all unser Dreck zusammenkam«. Einen Tag später stiegen die »vier Kleinen« jeweils zu zweit in den Bottich. Mit feiner Ironie schreibt Sophie: »Unsere Mutter hatte uns die überaus wichtige Aufgabe gestellt, uns selbst zu waschen. Dies erfüllte uns mit ernstem Eifer; wir wußten wohl, welche Verantwortung wir trugen.« Kleine Rivalitäten waren beim gemeinsamen Baden inbegriffen, denn jede(r) versuchte, »in den Besitz des größten Schwammes zu kommen […], das Badewasser schmeckte durch ihn ausgezeichnet«. Vor dem Einschlafen gab es noch eine heiße Zuckermilch, ein Honigbrot und eine Märchenerzählung der Mutter.

Als Sophie in ihrer Jahresarbeit im Frühlingsmonat Mai angekommen war, erzählte sie über »das schönste Fest« überhaupt – eine Hochzeit. Leider könne sie nur mit einer Kinderhochzeit im Kindergarten aufwarten, doch es sei alles dabei gewesen: Bräutigam, Braut, Hochzeitsgäste, Brautjungfern, Brautführer, Bänder und Blumengirlanden. Sophie war die Braut und »in meinem Leben nimmer schöner gewesen, als damals im Brautschleier und Kranz aus Maßliebchen«. Nach dem Hochzeitsmahl gab es ein »wildes Versteckspiel«, bei dem zwar der Bräutigam seinen künstlichen Bart verlor, »aber trotzdem war es eine überaus herrliche Hochzeit gewesen«.

Am 1. Mai 1928, acht Tage vor ihrem siebten Geburtstag, wurde Sophie in die evangelische Volksschule eingeschult. Religion war Grundbestand des Fächerkanons. Sophie Scholl wurde also frühzeitig zu Hause, in der Vor- und der Grundschule und in der Kirche protestantisch sozialisiert.

Später hat man die erwachsene Frau als schweigsam, zurückhaltend, sogar schüchtern beschrieben.15 Umso intensiver suchte man nach Hinweisen, die schon in ihrer Kindheit auf das Besondere, Außergewöhnliche ihrer Persönlichkeit verwiesen. So soll sie vehement dagegen protestiert haben, dass ihre Schwester Elisabeth an ihrem Geburtstag wegen einer schlechten Leistung in die letzte Klassenreihe zurückgesetzt wurde. Inge wiederum erzählte die Version, Elisabeth habe damals »ihre erste und einzige ›Tatze‹ verabreicht« bekommen, also einen Schlag auf die Handfläche. Das habe bei der kleinen Sophie einen »stummen, nicht enden wollenden Tränenstrom« der Empörung ausgelöst: »Ein solcher Mißklang des Seins erfüllte Sophielein mit dem ganzen Weltschmerz, dessen ihr von Gerechtigkeit und Harmonie ergriffenes Seelchen fähig war.« Auch wurde berichtet, Sophie habe sich schon als Grundschülerin selbstsicher mit den Worten charakterisiert: »Die Brävste bin ich nicht, die Schönste will ich gar nicht sein, aber die Gescheiteste bin ich immer noch.«16 Es bleibt zu konstatieren: Außer in der Scholl’schen Familiensaga gibt es keinen Hinweis, dass Sophie sich als Kind in irgendeiner Weise vor anderen auszeichnete.

Auch an das Osterfest in Forchtenberg erinnerte sich Sophie in ihrem Schulaufsatz. Im Hause Scholl war in der letzten Passionswoche bis Karfreitag alles geputzt und aufgeräumt. Der österliche Frühstückstisch war bunt mit Blumen, Leckereien und kleinen Geschenken geschmückt, und der große Osterspaziergang führte zur Burgruine, wo versteckte Geschenke auf ihre Entdeckung warteten. Es wurde viel gespielt. Sicher wird die Familie auch in die Kirche gegangen sein, Sophie erwähnte den Gottesdienstbesuch allerdings nicht. Im letzten Satz erinnerte sie an den säkular-symbolischen Sinn der Feiertage: »Die Osterfreude am Sieg alles Lebens wird uns jedes Jahr reich und frei machen.«

In weiten Teilen Deutschlands bekam das Osterfest inzwischen eine völlig neue Bedeutung. So dichtete etwa Heinrich Anacker 1933 in Deutsche Ostern:

Hört ihr die Osterglocken frohlocken?

Auch Deutschland erlitt sein Golgatha,

und ward ans Kreuz geschlagen -
nun hat das Bittre, das ihm geschah,
herrliche Frucht getragen.17

Anackers Verse führten nicht nur exemplarisch den Missbrauch der biblischen Botschaft vor Augen. In seinen Zeilen kam auch die weitverbreitete Aufbruchsstimmung im Land zum Ausdruck. Die NSDAP hatte am 30. Januar 1933 die Macht übernommen.

Sophie ließ der Schilderung des Osterfests die Beschreibung eines Erntedankfeuers in Forchtenberg folgen. Beim Schreiben sprang sie förmlich in ihre Erinnerung hinein: »Das war früher, als wir noch kaum in der Schule waren«, lautete der erste Satz. Auf einem abgeernteten Kartoffelfeld entzündeten die Kinder das Kraut. Sie schrien, lachten und sangen um das mächtig qualmende Feuer herum und legten »ein paar Kartoffeln in den schwelenden Haufen«. Die Kinder hatten ihren Spaß: »Sie schmeckten nachher nach Rauch und Erde, aber wir versicherten uns, daß dieser Geschmack ganz köstlich wäre und etwas anderes als der fade Milchbrei daheim.«

Es war eine fröhliche Sophie, die aus diesen Jahren berichtete. Doch die Geborgenheit, die die Heranwachsende in der großen Familie erfuhr, ließ Krankheit und Tod nicht außen vor. In der Nacht vom 4. auf den 5. Januar 1926 starb Thilde, die jüngere Schwester. Bis zu ihrer Aussegnung und Bestattung zwei Tage später wurde die Kleine in der Wohnung aufgebahrt.

Im Dezember 1929 stand Robert Scholls Wiederwahl zum Bürgermeister an. Sie endete für ihn mit einem Debakel, er unterlag dem Gegenkandidaten mit 176 zu 299 Stimmen. Mit seinen Modernisierungen hatte er sich nicht nur Freunde gemacht, zudem wenig Kontakt zur Bevölkerung gesucht. Er galt als überheblich. Seine Gegner hatten auch auf die »sittliche Verfehlung« in Gestalt des unehelichen Sohnes Ernst Gruele hingewiesen.

Robert Scholl und seine Familie sahen sich dadurch auf schlimmste Weise verleumdet. Es folgte ein nervenaufreibender juristischer Kleinkrieg. Auch die achtjährige Sophie wird die Stimmung als bedrohlich empfunden haben. Die acht Scholls rückten noch enger zusammen.

Robert übergab die Amtsgeschäfte am 9. März 1930, verließ die Rathauswohnung aber erst am 13. Juni 1930 – nach Androhung einer Räumungsklage durch den Gemeinderat. Er hatte sich im Frühjahr erfolgreich in Stuttgart auf den Posten des Geschäftsführers einer Genossenschaft der Maler und Lackierer beworben. Als Wohnort wählte die Familie Ludwigsburg, wo sich die Eheleute fünfzehn Jahre zuvor kennengelernt hatten. Ernst Gruele blieb für eine Schlosserlehre bei seinem Lehrherrn. In der Garnisonsstadt mit rund 30 000 Einwohnern, rund zwölf Kilometer nördlich der Landeshauptstadt gelegen, sollte die Familie allerdings nicht einmal zwei Jahre bleiben.

Sophie ging ab Juni 1930 in die Evangelische Mädchenvolksschule. Im Januar 1932 schmückte ihr Eintrag das Poesiealbum einer Freundin. Als hätte die Mutter ihr das vorgesprochen, malte sie in Schönschrift:

Lass nie den frohen Mut Dir rauben. / Und halte fest an Deinem Glauben / In guten, wie in schlimmen Tagen, / So wirst die Last du leichter tragen. / Ein fester Stab ist kindlich Gottvertrau’n!18

Der Vater bildete sich in Abendkursen in Stuttgart weiter. Im Herbst 1931 bewarb er sich erfolgreich als Wirtschaftsprüfer und Steuerberater um die Teilhaberposition in einem Steuerbüro in Ulm. Sophie wechselte zwar noch in Ludwigsburg an die Realschule, aber im März zog die Familie in den Norden Ulms, in die Kernerstr. 29, Teil eines Villenviertels am Rande des Michelsberges.19

Im April 1932 begann für Sophie der erste Schultag an der Mädchenoberrealschule. Inge Scholl schrieb im März 1947, damit sei für Sophie auch die »Zeit der Freundinnen« gekommen, doch sie habe das distanziert, »mit Interesse, jedoch nicht ohne Abstand« wahrgenommen: »Eine einzige Freundschaft, die schon in frühester Kindheit geschlossen wurde, begleitete sie durch ihr ganzes Leben.« Gemeint ist Lisa Remppis. Inge betonte: »Zu Freunden aber wurden ihr in dieser Zeit mehr und mehr ihre Geschwister.«20

Mit dem Wohnortwechsel von Ludwigsburg nach Ulm zogen die Scholls in eine der Hochburgen der nationalsozialistischen Bewegung. Seit 1930 war die NSDAP dort die stärkste Partei. Die 1922 gegründete Ortsgruppe zählte rund tausend Mitglieder und hatte mit dem Ulmer Sturm ein eigenes Kampfblatt, das beständig gegen Mitbürger jüdischen Glaubens hetzte. Die braunen Truppen waren durch Aufmärsche, Gewaltaktionen der SA und mehrere Auftritte Hitlers bereits vor der Machtübernahme präsent. Schon 1929 war die Albert-Einstein-Straße in Fichte-Straße umbenannt worden und die Stadtverwaltung begann, Miet- und Lieferverträge mit Juden zu kündigen. Bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 übertraf die NSDAP in Ulm mit 45 Prozent der Stimmen den Reichsdurchschnitt um gut ein Prozent. Einen Tag später veranstaltete die Partei einen Fackelzug, am 7. März zogen Angehörige von SA, SS und Stahlhelm zum Rathaus, hielten Reden und hissten dort und an anderen öffentlichen Gebäuden Hakenkreuzfahnen. Am 13. März stimmte die Mehrheit des Gemeinderats für seine Selbstauflösung, die sozialdemokratischen Politiker der SPD zwang man noch vor dem Verbot der Partei zum Mandatsverzicht. Bereits am 15. März wurde Hitler zum Ehrenbürger ernannt.21

Ein Untersuchungsausschuss entfernte im selben Jahr – wegen angeblicher Korruption – zahlreiche Beamte aus ihren Ämtern, darunter den jüdischen Museumsdirektor und den liberal gesinnten Oberbürgermeister. Die Stadt war ab 1933 nicht nur administrativ fest in nationalsozialistischer Hand, die breite Mehrheit der Bevölkerung begrüßte und trug den neuen Staat. Wer anders dachte und das öffentlich vertrat, war in Gefahr, im Konzentrationslager Fort Oberer Kuhberg inhaftiert zu werden, das seit November 1933 bestand.22

Insgesamt war 1933 das Jahr der institutionell herbeigeführten nationalsozialistischen Revolution: Am 30. Januar wurde Adolf Hitler vom Reichspräsidenten Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt. Im Februar brannte der Reichstag. Die Reichstagsbrandverordnung setzte die Bürgerrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft.

In dieser Zeit des Umbruchs erhielt an einem Sonntagnachmittag im Herbst 1933 Robert Scholl Besuch von Richard Scheringer, einem alten Bekannten.23 Der hatte noch 1930 als Leutnant der Reichswehr mit zwei Kameraden in Ulm für die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei geworben. Da das Innenministerium die Mitgliedschaft in der NSDAP als Hochverrat einstufte, wurde Anklage auf Vorbereitung zum Hochverrat erhoben. Adolf Hitler trat im Prozess als Zeuge vor dem Reichsgericht in Leipzig publikumswirksam auf und beschwor die Legalität seiner Bewegung. Die drei Offiziere wurden aufgrund ihrer politischen Agitation zu achtzehn Monaten Festungshaft verurteilt. In der Gefangenschaft wurde Scheringer Kommunist, ein KPD-Abgeordneter verlas 1931 sein Bekenntnis zum »wehrhaften Proletariat« im Reichstag. Weitere Haftstrafen folgten. Scheringer kannte die Familie Scholl durch die Mutter seiner Lebensgefährtin Marianne Heisch, die mit Lina Scholl befreundet war.

In seiner 1979 erschienenen Autobiografie behauptete Scheringer später, Robert Scholl habe an jenem Sonntag in Ulm »empört« die Nazis eine »Rotte von Verbrechern« genannt. Man habe darin übereingestimmt, der Diktator müsse weg, wenn man auch nicht wüsste, wie. Als er auf die »kommunistische Volksrevolution gegen Hitler« verwies, habe Scholl erwidert, es komme »gar nicht darauf an, wo die Kräfte herkommen, die dagegen sind«, allein der Erfolg sei wichtig, über alles andere könne man später reden. In ihrer Frontstellung seien sie sich einig gewesen, sonst aber seien »Gegensätze oder Unterschiede« aufgetreten, da Scholl ein »ziviler, streng nach der Legalität orientierter Mensch« gewesen sei, »dem Machtfragen nie geläufig« gewesen seien – was wohl bedeutet, dass er Gewaltanwendung ablehnte.

Für Scheringer war »die ganze Familie [schon 1933] gegen die Nazis eingestellt«. Die jahrelange Begeisterung für und die Teilhabe der Schollkinder an der nationalsozialistischen Bewegung erwähnte er nicht.24