Thomas de Maizière

Regieren

Innenansichten der Politik

 

 

 

 

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019

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Umschlaggestaltung: © Christoph Pittner (Pittner-Design)

Umschlagmotiv: © Henning Schacht

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern

 

ISBN (Buch): 978-3-451-38329-8

ISBN (E-Book): 978-3-451-81487-7

Für Martina

Inhalt

Einleitung: Hinter den Kulissen

1. Die Regierungsbildung

Die Zeit der Starken: Sondierungen und Koalitionsverhandlungen

Keine Werbebroschüre: Warum etwas im Koalitionsvertrag steht

Wie man Minister wird: Der Weg ins Amt

2. Der Alltag der Macht

Klärung vorab: Wie im Kabinett entschieden wird

Hinterzimmerpolitik? Vom Wert informeller Verfahren

Wo bleibt das Parlament? Der Weg zum Gesetz

Mehr Nehmen als Geben: Das Verhandeln

Im Hamsterrad? Die politische Woche

Das Salz in der Suppe: Eigene Initiativen setzen

Zu viel Leerlauf? Die Phasen einer Legislaturperiode

3. Krisen und Ausnahmesituationen

Demokratien sind wie Menschen: Lernen durch Krisen

Unter Druck: Schwere Entscheidungen, einsame Entscheidungen

Kann man überhaupt helfen? Traurige Begegnungen

Die Sorge um die Sicherheit: Regieren mit Terrorwarnungen

Vertrauen ist nötig: Was in der Krise zählt

4. Die Ämter und ihre Besonderheiten

Eher Verwaltungschefs? Die Landesminister

Im Prinzip gleich: Die verschiedenen Bundesministerien und ihr Gewicht

Aufeinander angewiesen: Das Ministerium und der Minister

Nur geliehene Autorität? Der Chef des Bundeskanzleramtes

Der selbstständigste Posten: Der Verteidigungsminister

Zuständig für das Allgemeine: Der Innenminister

Am schwierigsten: Das Amt der Bundeskanzlerin

5. Begleiter und Beobachter

Kollegen: Konkurrenz und Zusammengehörigkeit

Medien: Distanz und Nähe

Lobbyisten und Experten: Einflüsterung und Fachwissen

Mitarbeiter und Minister: Kompetenz, Loyalität und Unabhängigkeit

Ratgeber, Institutionen, Autoritäten und Freunde: Nötige Korrektive

Bürger: Ausgangspunkt und Ziel der Politik?

Oft übertrieben? Kritik und der Umgang mit ihr

6. Bühnen der Politik

Die Mischung macht’s: Der Föderalismus und der Bund

Zukunftsfähig: Die Rolle der Volksparteien

Zu viel oder zu wenig Einfluss? Deutschland und die Europäische Union

Es geht auch anders: Wie im Ausland regiert wird

7. Haltungen und Werte

Verantwortung übernehmen

Dienen, nicht Selbstbedienung

Loyalität vorleben

Pflicht gegen Privatleben

Politikerschelte und Politikverdrossenheit

Die »Blase« Regierung?

Politik und Inszenierung

Vertrauen und Vertraulichkeit

Überzeugung und Engagement

Vom Verlieren und von Verlierern

Schluss: Gutes Regieren

Dank

Über den Autor

Einleitung:
Hinter den Kulissen

Dieses Buch ist ein Werkstattbericht. Aus der Werkstatt des Regierens. Das Regieren hat viel mit Handwerk zu tun. Ein Tischler bereitet seine Teile vor, bevor er sie zusammenbaut. Bestimmte Abläufe sind nötig oder haben sich bewährt und ergeben nur so ein gutes Werkstück. Ähnlich ist es auch beim Regieren. Wie aber entsteht ein politisches Ergebnis durch gutes Regieren? Welche Abläufe braucht es dafür? Wie ist es im Normalfall? Und wie wird in Krisen gehandelt und entschieden?

Schon Goethe wusste vom Wert des Regierens. Nach langen Reisen und ausgedehnten Vergnügungen besann er sich auf seine politische Aufgabe im Herzogtum Weimar und beendete einen langen Tagebucheintrag am 8. Oktober 1777 mit einem Appell an sich selbst, der nur aus einem Wort bestand: »Regieren!!«

Von diesem Handwerk des Regierens will ich in diesem Buch berichten. Von innen, von der Werkbank der Regierung aus und mit meiner Erfahrung aus mehr als 28 Jahren Beteiligung an Regierungen. Ich war Bundesminister in zwei Großen Koalitionen mit der SPD sowie in einer Koalition der Union mit der FDP, und das in drei Ministerien. In zwei Bundesländern – in Mecklenburg-Vorpommern und in Sachsen – arbeitete ich zuvor als Staatssekretär und Minister in insgesamt sechs Ressorts, sowohl in Regierungen mit absoluter Mehrheit als auch in Koalitionen mit FDP und SPD.

Der Schwerpunkt dieses Buches liegt bei der Arbeit in der Bundesregierung. Meine Zeit in den Ländern liegt schon länger zurück. Dennoch gehe ich auch auf die Verflechtungen und Wechselwirkungen zwischen Bundes- und Landesebene ein, wo es für das Verständnis der Regierungspraxis wichtig ist. Das Zusammenwirken zwischen Bund und Ländern hat mich in meiner langen politischen Laufbahn immer besonders beschäftigt. Deswegen mache ich hierzu in diesem Buch auch einige Vorschläge.

Es gibt eine Fernsehsendung mit dem Titel »Bericht aus Berlin«. Sie ist eine Darstellung der Bundespolitik aus der Sicht von Journalisten. Dieses Buch ist kein Bericht von außen, sondern von der Arbeit innerhalb der Bundesregierung.

Mit diesem Buch habe ich den Ansatz verfolgt, meine Erfahrungen zu verallgemeinern und an konkreten Beispielen zu beschreiben, wie Deutschland regiert wird. Ich möchte politisch interessierte Bürgerinnen und Bürger erreichen und informieren. Natürlich kann ein solcher Werkstattbericht weder vollständig noch objektiv sein. Ich habe ihn im Wesentlichen beschreibend, nicht bewertend abgefasst. Ich werfe einen Blick hinter die Kulissen des Regierens und öffne den Vorhang für die Leser dieses Buches.

Dabei ist es durchaus auch meine Absicht, für die Arbeit des Regierens in Deutschland zu werben. Es gibt so viel Abfälliges über die Regierungen im Speziellen und den Politikbetrieb im Allgemeinen zu hören, sei es aus Unkenntnis, aus Hochmut, aus Abneigung gegen Machtausübung schlechthin oder aus Unzufriedenheit über die Ergebnisse. Von außen, von der Zuschauertribüne ist es leicht, eine Mannschaft aufzustellen, taktisch zu bewerten, Spieler auszuwechseln und genau zu wissen, warum die Mannschaft verloren oder gewonnen hat. Von dem Fußballer Adi Preißler stammt der schöne Satz: »Grau ist alle Theorie – entscheidend ist auf’m Platz.« So ist es auch in der Politik und beim Regieren. Wie es »auf’m Platz« des Regierens ist, das beschreibe ich nüchtern, aber voller Sympathie und mit dem Teamgefühl eines Beteiligten.

Natürlich habe ich an mehreren Stellen auch bewertet, wo es nach meiner Meinung strukturelle oder tiefgreifende Mängel im praktischen Regieren gibt und wie sie behoben werden könnten. Damit ist nicht die aktuelle politische Lage gemeint. Jede Regierung, jede Koalition hat mal stärkere und mal schwächere Phasen, stärkere und schwächere Minister und Zeiten, in denen es mal mehr und mal weniger internen Streit gibt. Und es gibt Koalitionen, die scheitern. Das war immer so und wird auch immer so sein.

Ich verkenne nicht, dass es veränderte Umstände des Regierens gibt, die mit der Globalisierung, mit der Individualisierung, mit dem Ansehensverlust der Volksparteien und mit einem anderen Medienverhalten zu tun haben. Ich halte aber wenig von der These, dass früher alles besser war. Das hilft auch nicht weiter, wenn es darum geht, im Jetzt zu bestehen und auch in Zukunft gut zu regieren.

Der Lesbarkeit halber verwende ich im Buch entweder eine männliche oder eine weibliche Grundform. Ich meine damit – wenn nicht ausdrücklich anders angegeben – stets die gesamte Gruppe, unabhängig vom Geschlecht.

1.
Die Regierungsbildung

Die Zeit der Starken: Sondierungen und Koalitionsverhandlungen

»Du bist ja gar nicht zu sehen auf den Balkonbildern. Bist du denn gar nicht wichtig?« Das haben die einen gesagt. »Gott sei Dank, du zeigst dich nicht auf dem Balkon. Es ist ja peinlich, wie sich dort alle produzieren.« – So gegensätzlich waren mir gegenüber die Reaktionen während der »Jamaika«-Verhandlungen zur Bildung einer Bundesregierung im Herbst 2017.

Ich hatte mich bewusst nicht auf dem Balkon in der Parlamentarischen Gesellschaft postiert, auf dem einige Verhandler jeden Tag fotografiert wurden. Ich fand das affig.

Und doch bleiben solche Bilder im Gedächtnis. Genauso wie die Bilder bei der Regierungsbildung 2013. Dort »marschierten« die jeweiligen Führungsgruppen der künftigen Koalitionspartner breit aufgestellt den langen Gang eines der Parlamentsgebäude auf die Kameras zu. Einige drängelten in die erste Reihe. Alle machten eine Miene zwischen Entschlossenheit und Fröhlichkeit. Die Botschaft sollte sein: Wir sind viele, und wir sind stark. Das sollte die Öffentlichkeit und den künftigen Koalitionspartner beeindrucken. Vor allem aber auch die eigenen Leute: Seht her, ich bin dabei, wenn es um die Bildung einer neuen Regierung geht.

So wichtig das für die eigenen Leute sein mag, so wenig wichtig ist das nach meiner Erfahrung für die Bevölkerung. Nach einem langen Wahlkampf und einer absehbaren Regierungsmehrheit wird von ihr eher erwartet, dass diejenigen, die zusammen regieren wollen oder müssen, jetzt schnell zu Potte kommen.

Gleichzeitig zu den Bildern wird deshalb gefragt, warum das denn so lange dauert. Statt Bildern sollten diejenigen, die eine neue Regierung bilden wollen, lieber Ergebnisse produzieren.

Diese Kritik an Koalitionsverhandlungen ist ungerecht. Die Bilder verdecken, dass bei Koalitionsverhandlungen hart um Inhalte gerungen wird, und das auf hohem Niveau.

Koalitionsverhandlungen sind im Kern eine Zeit für die inhaltlich Starken jeder Partei. Wenn die Kameras weg sind, dann kommt es auf die Substanz an. Und da zählt nicht der Titel oder die Funktion einer Person, sondern nur die inhaltliche und physische Kraft. Wer wissen will, ob jemand wirklich etwas kann, der sollte bei Koalitionsverhandlungen zuhören.

Neuerdings wird vor den eigentlichen Koalitionsverhandlungen sondiert, ob man zusammenpasst. Der Begriff hat wirklich etwas mit einer Sonde zu tun. Eine Sonde lotet etwas aus. Sie verändert nichts, aber sie verbessert die Beurteilungsfähigkeit. Mehr nicht. Früher bestanden die politischen Sondierungen deshalb auch nur aus kurzen Treffen der Führungsspitzen der Parteien, um zu erkunden, eben »auszuloten«, ob man zusammenpasst. Einige Knackpunkte wurden andiskutiert, die Detailarbeit aber auf die Koalitionsverhandlungen verschoben.

Das hat sich geändert. Die Sondierungen sind zu echten vorgezogenen Verhandlungen mit dem Ziel einer inhaltlichen Einigung in bestimmen Fragen geworden. Das hat zwei Gründe. Der erste ist: Aus einer Mischung von Eitelkeit und Misstrauen gegenüber der eigenen Parteiführung wollen viele aus der zweiten und dritten Reihe der jeweiligen Parteiführungen schon bei den Sondierungen dabei sein. Und zweitens: Faktisch bedeutet der Beginn von Koalitionsverhandlungen deren Erfolg. Solche Verhandlungen sind noch nie gescheitert. Sie dürfen – anders als Sondierungen – nicht scheitern, das »erlaubt« die Öffentlichkeit nicht. Ein Scheitern würde dann den Verhandlern in die Schuhe geschoben, nicht den Differenzen in der Sache. Die Kritiker einer neuen Koalition wollen sicher sein, dass ihre Interessen also schon früh gehört werden und nicht zu kurz kommen. Und so sind aus Sondierungen vorgezogene Koalitionsverhandlungen geworden.

Die Koalitionsverhandlungen werden durch viele Personen in mehreren Gesprächsformaten geführt. Die Bezeichnungen unterscheiden sich, die Funktion der Formate ist dieselbe:

Es gibt stets eine große Runde, in der aber nicht echt verhandelt wird. Das geht gar nicht. Je größer eine Runde ist, desto weniger geeignet ist sie, wirklich zu verhandeln. Aber die großen Runden sind trotzdem wichtig. Alle Flügel und Ebenen einer Partei werden eingebunden. Die große Runde hat eine »Notarfunktion«: Sie bestätigt das Ergebnis. Wer dabei ist, ist wichtig. Und wer zugestimmt hat, kann hinterher nicht mehr dagegen sein.

Die Hauptarbeit findet in Arbeitsgruppen statt. Sie sind thematisch gegliedert, meistens entlang der Ressorts. Hinzu kommen Querschnittsthemen, die nicht einem Fachgebiet allein zuzuordnen sind, wie etwa Digitales, Integration. Die Leitung der Arbeitsgruppen haben in der Regel die amtierenden Minister der bisherigen Regierung und auf der anderen Seite diejenigen, die gern Minister werden wollen. Hinzu kommen Fachpolitiker aus der Bundestagsfraktion und den Bundesländern.

Anders ist es natürlich, wenn es einen »echten« Regierungswechsel gibt. Das bedeutet, dass alle Koalitionspartner neu sind und bisher nicht in der Regierung waren. Dann gibt es bei der Zusammensetzung der Arbeitsgruppen natürlich schon ein erstes Gerangel und erste Hinweise darauf, wer in einer künftigen Regierung Minister werden könnte oder will.

Die wichtigsten Entscheidungen werden in einer Spitzenrunde gefällt. Dazu gehören in der Regel nicht mehr als vier bis sechs Personen jeder Seite. Es sind die Partei- und Fraktionsvorsitzenden und dazu höchstens einige wenige Spitzenpolitiker. Sie müssen alle Politik­felder im Kopf haben. Sie müssen die wesentlichen Streitpunkte erkennen und lösen. Sie müssen Pakete bilden, um Kompromisse auszuhandeln: Gibst du mir bei diesem Punkt nach, dann gebe ich dir bei einem anderen nach. Dies über Stunden und Nächte durchzuhalten und auszuhalten, ist eine große physische und psychische Leistung, die von außen oft unterschätzt wird.

Damit dies gelingt, gibt es eine Steuerungs- oder Redaktionsgruppe, die die Ergebnisse der Arbeitsgruppen zusammenfasst. In dieser Gruppe sitzen die wichtigsten »Sherpas« der Parteiführer. Sherpas sind im Himalaja Bergführer, die sich besonders gut auskennen und das Vertrauen derjenigen genießen, die den Berg erklimmen wollen. In der Politik sind es – unabhängig von der Hierarchie – Personen, die das ganz besondere Vertrauen der Verhandlungsführer haben. Die Sherpas prüfen und verändern die Textentwürfe der Arbeitsgruppen, sie machen daraus ein lesbares Ganzes. Das bedeutet, sie müssen sich in allen Kernfeldern der Verhandlungen auskennen. Sie formulieren Kompromisse, die die Chefs mündlich verabredet haben. Sie haben ständigen Zugang zu den Verhandlungsführern und geben deren Vorgaben an die sonstigen Verhandler weiter, obwohl sie in der politischen Hierarchie in aller Regel meist nicht so hoch angesiedelt sind. Wer die Karrieren von Spitzenpolitikern oder Spitzenbeamten zurückverfolgt wird feststellen, dass sie in der Vergangenheit oft Mitglieder von Redaktionsgruppen bei Koalitionsverhandlungen, eben Sherpas waren. Hier zeigt sich, wer etwas kann, wer Prokura hat. Das gilt auch für mich: Meine erste Arbeit an einer Koalitionsverhandlung betraf die Gespräche zwischen CDU und FDP 1985 in West-Berlin, als ich so etwas wie der Sherpa von Eberhard Diepgen war, dem Spitzenkandidaten und späteren Regierenden Bürgermeister von West-Berlin. Es folgten viele weitere.

Koalitionsverhandlungen sind eigentlich Verhandlungen zwischen Parteien. Grundlage sind die Wahlprogramme. Die Interessen der Parteien sind unterschiedlich. Und über den Ausgleich der Interessen auf dem Wege des Kompromisses wird verhandelt.

Jeder, der behauptet, die Parteien seien nicht mehr unterscheidbar, müsste einmal bei solchen Koalitionsverhandlungen dabei sein. Nie war ich mehr überzeugt, ein Christdemokrat zu sein, als bei Koalitionsverhandlungen. Das hat mit Sachthemen zu tun, etwa einer Grundeinstellung zur Freiheit und zum Staat, aber vor allem mit einem Zusammengehörigkeitsgefühl.

Dennoch sind Koalitionsverhandlungen zunehmend überlagert von anderen als nur den Interessen der Parteien. Es sind Länderinteressen, und es sind spezifische Belange der Fachpolitiker, also zum Beispiel der Innen-, Bildungs- Gesundheits- oder Umweltpolitiker. Nie ist ein solcher Fachpolitiker so stark wie während der Koalitionsverhandlungen. Hier versuchen sie Dinge durchzusetzen oder zu verhindern, die sie sonst bisher nicht beeinflussen konnten oder in Zukunft nicht beeinflussen können. Vor allem finanzielle Wünsche. Auch deshalb drängen Landespolitiker in die Koalitionsverhandlungen im Bund. Sie sind oft stellvertretende Parteivorsitzende oder haben andere wichtige Parteifunktionen und beanspruchen so eine Führungsrolle, die sie dann aber überwiegend im Interesse ihrer Länder nutzen.

Ein wichtiges Beispiel aus den letzten Verhandlungen waren die Debatten um Steuersenkungen angesichts sprudelnder Steuereinnahmen: Deren bedeutendste in Deutschland sind die Umsatzsteuer und die Einkommenssteuer. Die Erträge dieser Steuern werden zwischen Bund und Ländern in einem bestimmten Verhältnis geteilt. Wenn es Steuermehreinnahmen gibt, profitieren also Bund und Länder gemeinsam. Und wenn Steuersenkungen für die Bürgerinnen und Bürger beraten werden, müssten also auch die Mindereinnahmen von Bund und Ländern gemeinsam getragen werden. So ist es im Grundgesetz vorgesehen.

Die Vertreter der Bundesländer erklärten aber in den Verhandlungen auf beiden Seiten klipp und klar, dass sie überhaupt nicht bereit seien, Steuersenkungen zuzustimmen, wenn sie als Folge weniger Steuereinnahmen bekämen. Das ist deswegen ausschlaggebend, weil ein solches Gesetz der Zustimmung der Länder im Bundesrat bedürfte. Der Bund solle doch die Steuerausfälle der Länder ausgleichen. Das lehnte der Bund natürlich ab. Es gibt eine Steuerverteilung für den Bund und für die Länder nur in beiden Richtungen. Daraufhin musste sich die Debatte um Steuersenkungen nur noch auf den Solidaritätszuschlag bei der Einkommenssteuer konzentrieren, denn diese Einnahmen kommen nur dem Bund zugute.

Einer der Gründe, warum die FDP unter Christian ­Lindner aus den »Jamaika«-Verhandlungen ausstieg, war genau dieser Punkt, nämlich dass es nicht genug Steuersenkungen bei der Einkommenssteuer geben sollte. Die »Schuldigen« hierfür waren aber nicht die Parteivorsitzenden von CDU/CSU oder Grünen, sondern die Länder, die entweder selbst mit am Tisch saßen oder das als SPD-­Ministerpräsidenten von außen unmissverständlich mitgeteilt hatten. Das Gleiche wiederholte sich dann bei den ­Verhandlungen mit der SPD.

Wenn das so weitergeht, wird es auf absehbare Zeit gar keine Reform oder Senkung der Einkommenssteuer mehr geben, nachdem der Solidaritätszuschlag dann ganz abgebaut ist.

Meine Erfahrung ist jedenfalls, dass sehr viele, vielleicht die meisten politischen Konflikte in solchen Verhandlungen nicht parteipolitischer Art sind, jedenfalls nicht zwischen den Volksparteien, sondern sie werden genauso von Vertretern der jeweils anderen Parteien durchgefochten, wenn sie im gleichen Fach arbeiten. Das gilt für Umweltpolitiker, Innenpolitiker, Sozialpolitiker, Bildungspolitiker und alle andern auch. Jeder will viel Geld für seinen Bereich.

Das macht jeden Koalitionsvertrag finanziell auch so teuer. Die Haushaltspolitiker, die in solchen Verhandlungen als nur eine Arbeitsgruppe unter vielen nicht so stark sind wie im Regierungsalltag, können sich nur so behelfen, dass alle Vorhaben eines Koalitionsvertrages unter Finanzierungsvorbehalt gestellt werden. Das bedeutet, dass die Koalitionspartner sagen: Wir finden das Vorhaben gut und richtig, aber ob wir es umsetzen, das entscheiden wir dann, wenn wir wissen, wie viel Geld zur Verfügung steht. Das weckt natürlich Erwartungen. Und weil dies die Fachpolitiker wissen, werden neuerdings »prioritäre Vorhaben« definiert, die keinem Finanzvorbehalt unterliegen. Dazu muss zunächst der Finanzspielraum ermittelt werden, der – unter der Annahme vorhersehbarer wirtschaftlicher Entwicklung – zur Verfügung steht. Also geht der Kampf in den Koalitionsverhandlungen darum, ob und inwieweit ein Vorhaben prioritär ist. Wenn aber deswegen alles schnell als prioritär definiert wird, weil man nicht die Kraft hat, Vorhaben der Fachpolitiker als nicht so wichtig einzuordnen, dann bleibt für andere wichtige Aufgaben, und vor allem für Unvorhergesehenes, kein Spielraum. Und so produziert man Enttäuschungen.

 

Noch ein Wort zu den Länderinteressen. Das eine Bundesland hat zum Beispiel das Interesse, dass die Braunkohle noch lange Zeit abgebaut werden darf. Ein anderes Bundesland möchte ein wichtiges Verkehrsprojekt im Koalitionsvertrag unterbringen. Alle wollen, dass der Bund möglichst viel zahlt und den Ländern Geld zur Verfügung stellt. Inzwischen ist es – auch außerhalb von Koalitionsverhandlungen – selbstverständlich geworden, dass sich die Vertreter der Bundesländer zu allen Themen der Bundespolitik äußern und einmischen. Umgekehrt werden Äußerungen von Bundespolitikern zu landespolitischen Themen entrüstet zurückgewiesen. Kein Bundesminister hat den Anspruch erhoben, an Koalitionsverhandlungen in den Ländern teilzunehmen, auch nicht in einer Eigenschaft als stellvertretender Landesvorsitzender. Umgekehrt wird eine Beteiligung als selbstverständlich angesehen. Das wird nicht vollständig zurückzudrehen sein, aber etwas mehr Zurückhaltung bei der Durchsetzung von Länderinteressen durch die Ländervertreter und etwas mehr Härte bei der Zurückweisung solcher Länderinteressen durch Bundesvertreter wären anzuraten.

Keine Werbebroschüre: Warum etwas im Koalitionsvertrag steht

Zu Beginn jeder Koalitionsverhandlung wird von den Spitzen der Parteien für alle Verhandler die Parole ausgegeben, dass der Vertrag dieses Mal wirklich nicht zu lang werden dürfe. Vielleicht 30 oder 40 Seiten, keinesfalls mehr. Das Ergebnis sind dann aber 150 Seiten und mehr.

Wie kommt das?

Jede Arbeitsgruppe hat das Bestreben, die Bedeutung des eigenen Politikfeldes dadurch zu unterstreichen, dass viel dazu aufgeschrieben wird. Das erwartet auch die eigene Klientel außerhalb der Politik.

Die politische Partei, die glaubt, ein bestimmtes Fachministerium zu bekommen, hat das Interesse, dass dazu möglichst wenig aufgeschrieben wird, damit der eigene Minister durch die Koalitionsverhandlungen nicht zu sehr gebunden wird, es sei denn, es geht um Geld für diesen Politikbereich. Die andere Partei hat das gegenteilige Interesse. Da man aber vorher nicht weiß, wie die Ressortverteilung am Ende aussehen wird, führt das dazu, dass ein Koalitionsvertrag lang und länger wird.

Der Koalitionsvertrag hat auch eine Außenwirkung, zwar nicht auf die Wählerinnen und Wähler insgesamt, wohl aber auf einzelne Wählergruppen und deren Interessenverbände. So war es zum Beispiel bei den letzten Koalitionsverhandlungen überhaupt nicht umstritten, das Technische Hilfswerk (THW) zu unterstützen. Insoweit hätte man auch auf die Erwähnung verzichten können. Das hätten aber die Tausenden von ehrenamtlichen Helfern übelgenommen. Und so entstand eine Passage zum THW. Weil ein solches Thema aber eben nicht umstritten ist, besteht dann eine Passage im Koalitionsvertrag in der Regel aus Allgemeinplätzen und schönen Worten wie »fördern«, »unterstützen«, »stärken« usw. Das wiederum finden dann die Betroffenen nicht genügend aussagekräftig. Nachdem wir in diesem Beispiel etwas zum THW geschrieben hatten, fiel irgendeinem Verhandler in der Arbeitsgruppe auf, dass bisher nichts zur Feuerwehr im Entwurf des Koalitionsvertrages stand, obwohl der Bund hier nahezu keine Zuständigkeit hat. Auch das konnte natürlich wegen der Außenwirkung und wegen der Balance zum THW nicht sein. Und so schrieben wir etwas Freundliches zur Feuerwehr auf.

All das sind Mechanismen, warum Koalitionsverträge so lang werden, ohne dass es eigentlich inhaltlich nötig wäre. Denn ein Koalitionsvertrag soll ja ein Kompass für die ganze Legislaturperiode sein und für die wichtigen umstrittenen Themen einen Kompromiss finden. Er sollte dagegen keine Abhandlung sein zu allen möglichen Themen oder gesellschaftlichen Gruppen, nur damit niemand vergessen wird.

Und dann geht es auch noch um die Ausgewogenheit zwischen verschiedenen Themen und sogar zwischen den verschiedenen Aspekten innerhalb eines Themas. So gab es eine Verhandlungsphase mit den Grünen bei den »Jamaika«-Verhandlungen zur Flüchtlingspolitik. Die Passagen zur Integration waren fertig und im Wesentlichen einvernehmlich. Die Passagen zur Abschiebung hingegen waren höchst umstritten und gerieten deswegen lang, weil viele konkrete Voraussetzungen, Einschränkungen und Bedingungen formuliert wurden. Die Verhandlungsführerin der Grünen, Claudia Roth, bestand nun darauf, den unstreitigen Teil zur Integration zu verlängern, ohne den Inhalt zu verändern. Und zwar mit der Begründung, dass auf dem Parteitag der Grünen genau darauf geachtet würde, wie ausgewogen das Verhältnis zwischen Integration und Abschiebung sei. Und diese Ausgewogenheit müsse nach dem Zeilenumfang gemessen werden, weil der von manchen Delegierten auf dem Parteitag nachgezählt würde. So haben wir das dann auch gemacht und den Text zur Integration verlängert, ohne dass es irgendetwas am Inhalt geändert hat.

Bei allen Koalitionsverhandlungen gibt es das Bemühen, die Inhalte in einer schönen Sprache abzufassen. Dies misslingt meistens, weil die Kompromisse der Fachpolitiker sachlich richtig, für normale Menschen aber unverständlich formuliert werden. Die Versuche der Redaktionsgruppe, dies zu verändern, stoßen bei den Mitgliedern der Arbeitsgruppen auf Widerstand, weil mit der sprachlichen Vereinfachung die Kompromissbildung in der Arbeitsgruppe nicht wirklich abgebildet wird. Wenn in der Arbeitsgruppe lange um einzelne Sätze gerungen wird, dann wird nicht akzeptiert, dass irgendeine Redaktionsgruppe daran irgendetwas verändert.

So heißt es im Koalitionsvertrag mit der SPD von 2018 im ersten Satz zum Thema Datenschutz: »Bei der Plattformregulierung soll ein sektorspezifischer Ansatz verfolgt werden.« Dieser Satz ist für normale Menschen unverständlich. Zwischen Fachleuten ist das die gebräuchliche Terminologie. Gemeint ist Folgendes: Plattformen in diesem Zusammenhang sind Online-Angebote, die eine direkte Kommunikation mit dem Nutzer anbieten, wie zum Beispiel Facebook oder YouTube. Zwischen großen und kleinen Plattformen, zwischen solchen, die viele, und solchen, die wenige Daten sammeln, zwischen denen, die das gewinnorientiert oder für wissenschaftliche Zwecke tun, soll bei rechtlichen Regelungen zum Datenschutz aber jeweils unterschieden werden. Das ist gemeint.

Für die Lektüre des Koalitionsvertrages sind solche Sätze nicht hilfreich. Für die Zusammenarbeit in der späteren Regierung kann das allerdings durchaus nützlich sein, weil die Fachpolitiker, die die Verhandlungen geführt haben, später in der täglichen Koalitionsarbeit zusammensitzen. Und sie wissen dann ganz genau, was sie vereinbart haben.

Dieser Konflikt zwischen Lesbarkeit und Handhabbarkeit wird dann so gelöst, dass vor den Koalitionsvertrag eine Einleitung ge­schrieben wird, die gut formuliert ist, aber wenig inhaltlichen Bezug hat zu den komplizierten Inhalten des Vertrages im Übrigen. Das wird dann als »Narrativ«, als der große Bogen, das Leitmotiv der neuen Koalition wahrgenommen und von der Presse kommentiert, aber im Laufe der Regierungsarbeit von den Koalitionspartnern selber kaum noch aufgegriffen.

Der Koalitionsvertrag ist also mehr ein nach innen gerichtetes Instrument der Steuerung der Regierungsarbeit als ein werbendes Dokument für eine neue Regierung nach außen.

Er ist auch deshalb so lang, weil alle Beteiligten für alle denkbaren Entwicklung in der Zukunft eine gute Lösung erarbeiten wollen. Die Erfahrung zeigt aber, dass sich die Wirklichkeit nicht nach einem Koalitionsvertrag richtet: In der ersten Großen Koalition 2005 bis 2009 stand nichts im Koalitionsvertrag zur Finanzkrise, in der Koalition der Union mit der FDP von 2009 bis 2013 stand dort nichts zur Eurokrise. Und in der letzten Großen Koalition von 2013 bis 2017 fand sich im Koalitionsvertrag nichts oder wenig zur Terror- und Flüchtlingskrise. All das war zum Zeitpunkt der Verhandlungen nicht vorhersehbar. Es wurde dann aber entscheidend für das Regierungshandeln.

Ein guter Koalitionsvertrag ist also wichtig für das Zustandekommen der Regierung und als Interpretationsvorgabe umstrittener Punkte zwischen den Koalitionspartnern.

Der Erfolg einer Regierung bemisst sich aber nicht nach der Länge des Koalitionsvertrages oder einer schönen Sprache, sondern nach der erfolgreichen Arbeit während der Regierungszeit. Und erfolgreiche Arbeit ist mehr, als nur die Maßnahmen des Koalitionsvertrages umzusetzen. Dazu gehört auch ein Umgang miteinander, der dem Anspruch gerecht wird, das größte Land in Europa verantwortungsvoll und seriös zu regieren.

Wie man Minister wird: Der Weg ins Amt

Es gibt keinen typischen Weg, Minister zu werden. Dazu bedarf es einer Mischung von persönlicher Eignung einschließlich einer entsprechenden Vorarbeit, einer politischen Konstellation und einem günstigen Zeitpunkts.

Bei mir waren die meisten Berufungen in ein Staatssekretärs- oder Ministeramt eher untypisch: Im Oktober 1990 wurde ich Staatssekretär für Bildung, Wissenschaft, Jugend, Kultur und Sport, weil mich der damalige Landesvorsitzende der CDU, Günther Krause, aus den Verhandlungen zum Einigungsvertrag kannte, mich nach Mecklenburg-Vorpommern holen wollte und ich in den ostdeutschen Ländern als »Wessi« einen guten Ruf hatte. Minister wurde ich das erste Mal, weil mich der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf in den Gesprächsrunden der Ministerpräsidenten erlebt hatte und mich nach einer Wahlniederlage in Mecklenburg-Vorpommern Anfang 1999 nach Sachsen einlud, zunächst als Berater mit der festen Zusage, nach einer gewonnenen Landtagswahl Minister und Chef der Staatskanzlei zu werden. Er musste für diese Zusage niemanden fragen, weil er sich bei Amtsübernahme von seinen Parteifreunden ausbedungen hatte, dass er alle Personalentscheidungen für Minister allein treffen konnte. Absolut untypisch.

Nicht ganz so untypisch, wenn aber auch unerwartet, war dann meine Berufung zum Bundesminister und Chef des Bundeskanzleramtes im Herbst 2005. Nicht untypisch deshalb, weil zuvor Gerhard Schröder den damaligen Chef der Staatskanzlei des Landes Niedersachsen, Frank-Walter Steinmeier, als seinen Chef des Bundeskanzleramtes in die Bundesregierung geholt hatte. Angela Merkel und ich kannten, schätzten und vertrauten uns aus den Verhandlungen zum Einigungsvertrag und durch meine Jahre in Schwerin, als sie zeitgleich Landesvorsitzende der CDU in Mecklenburg-Vorpommern war. Von daher lag im Nachhinein diese Berufung nicht ganz fern. Für mich und die allermeisten Beobachter kam sie dennoch absolut überraschend. Viele andere Kandidaten in Berlin hatten mich nicht auf der Rechnung und waren überrascht oder enttäuscht.

 

In der Regel kann ein Regierungschef in einer Koalitionsregierung nur die Minister der eigenen Partei auswählen. Im Übrigen be­stimmt der Koalitionspartner sein eigenes politisches Personal. Der Regierungschef hat allenfalls ein informelles Vetorecht. Und auch innerhalb der eigenen Partei ist eine Bundeskanzlerin nicht völlig frei in ihrer Personalauswahl. Zwar wird es in erster Linie natürlich darauf ankommen, ob die Bundeskanzlerin jemandem die Führung eines Ressorts zutraut. Das wird sie bewerten anhand der Persönlichkeit, der fachlichen Eignung und der bisherigen Erfahrung der Zusammenarbeit mit dem Kandidaten oder der Kandidatin. Sie hat daneben aber auch zu berücksichtigen, dass ihre eigene Fraktion im Deutschen Bundestag erwartet, dass Minister auch aus ihren Reihen berufen werden. Sie muss in Rechnung stellen, dass alle Landesverbände davon ausgehen, dass Personal aus ihren Bundesländern berücksichtigt wird und nicht zu viel aus anderen. Wenn schon nicht als Minister, dann wenigstens als Parlamentarischer Staatssekretär. Große Landesverbände erwarten eine größere Beteiligung als kleine. Die Bundeskanzlerin muss zudem auf eine ausgewogene Besetzung bei Frauen und Männern und zwischen Jung und Alt achten. Früher spielte auch die Frage der Religionszugehörigkeit eine große Rolle.

Eine Ausnahme gilt für den Chef der Staatskanzlei bei den Ministerpräsidenten und für den Chef des Bundeskanzleramtes bei der Bundeskanzlerin. Hier wird von den Parteiführungen der eigenen Partei der Bundeskanzlerin beziehungsweise den Ministerpräsidenten eine Personalentscheidung ohne Proporzgesichtspunkte zugestanden. Die politische und menschliche Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Personen muss so eng sein, dass Proporzüberlegungen zurückstehen können und müssen.

Man kann solche Wünsche nach Regional- und Fraktionsrepräsentanz kritisieren und allein auf fachlicher und politischer Eignung für Ministerämter bestehen. Aber es gibt einige gute Gründe dafür: Oft weiß man am Anfang gar nicht, wer für ein bestimmtes Amt besonders gut geeignet ist. Es kann zum Beispiel sehr sinnvoll sein, als Kultusminister gerade keinen Lehrer zu berufen, sondern jemanden, der besonders gut mit dem Finanzminister verhandeln kann. Niemand wird beim ersten Mal als »fertiger« und guter Minister in sein Amt berufen. Bei der Entscheidung kommt es allein auf die Prognose an, ob jemand in Zukunft ein guter Minister werden kann, und nicht darauf, ob er es gleich zu Beginn schon ist. Mancher hochgelobte Nachwuchsstar ist als Minister nach einiger Zeit eingebrochen, und manche als Fehlbesetzung beschriebene Nominierung hat sich später als erfolgreich herausgestellt. Und schließlich kommt es für einen Minister entscheidend darauf an, etwas durchsetzen zu können. Da helfen eine gute Vernetzung in der Fraktion wie auch ein gutes Ansehen in einem Bundesland. Auch die Bevölkerung legt Wert darauf, dass eine Bundesregierung die ganze Breite der Gesellschaft in etwa widerspiegelt.

Insofern ergeben solche Proporzüberlegungen bei der Bildung einer Regierung durchaus Sinn, wenn sie nicht zu einem zu engen Korsett werden.

Ob man Minister wird, hängt also neben der persönlichen Eignung auch davon ab, ob man gerade aus dem richtigen Landesverband kommt und ob das geeignete Ressort nach Ende der Koalitionsverhandlungen der eigenen Partei zugesprochen wird.

 

Die Umstände der Berufung zum Minister sind sehr unterschiedlich. Man muss unterscheiden, ob es um eine Neubesetzung nach einem Rücktritt oder in einer Krise geht oder um das Zusammenstellen eines Kabinetts zu Beginn einer Legislaturperiode. Ich habe beides erlebt. So wurde ich im Januar 2001 innerhalb von Tagen Finanzminister in Sachsen, nachdem Ministerpräsident Kurt ­Biedenkopf den Finanzminister Georg Milbradt im Streit entlassen hatte. Wir steuerten auf die Endphase der Verhandlungen zum Solidarpakt II zu. In einem Hotelzimmer bot mir Kurt Biedenkopf an, das Amt zu übernehmen. Ich hatte praktisch keine Zeit zum überlegen und keine Wahl, weil ich der faktische Verhandlungsführer der ostdeutschen Länder war.

Als Karl Theodor zu Guttenberg am 1. März 2011 zurück­trat, war ich tagsüber als Bundesinnenminister in Hannover bei der CEBIT-Messe unterwegs. Abends spät rief mich die Bundeskanzlerin an und drängte mich sehr, Verteidigungsminister zu werden, obwohl ich noch nicht lange Innenminister war und große Pläne zu einer Reform der Sicherheitsbehörden entscheidungsreif waren. Ich sagte aus Pflichtgefühl zu.

In einer solchen Krisensituation steht der Regierungschef unter großem Druck. Gelingt es nicht, innerhalb ganz weniger Tage einen Nachfolger für einen entlassenen oder zurückgetretenen Minister zu präsentieren, dann wird seine Führungskraft angezweifelt.

Zu Beginn einer Legislaturperiode dagegen hat der Regierungschef viel Zeit, eine Personalangelegenheit zu überdenken und mit Vertrauten zu diskutieren. Das kann dann dazu führen, dass der Regierungschef mit den Kandidaten ausführliche Gespräche führt. So ist es mir – außer bei der Erstberufung zum Minister und der »Versetzung« zum Verteidigungsminister – mit der Bundeskanzlerin ergangen. Sie führte in ihrem Dienstzimmer mit mir ausführliche Gespräche und erläuterte mir die Gründe für ihre Entscheidung. Das war natürlich verbunden mit dem Gebot strikter Vertraulichkeit. Für die Bundeskanzlerin war so etwas auch oft wie ein Test. Wer hier nicht schweigen konnte, wurde nicht berufen oder hatte sonst einen schlechten Einstand bei ihr.

Es kann aber auch anders sein. So führte Ministerpräsident Milbradt zwar während der Koalitionsverhandlungen in Sachsen im Herbst 2004 ein ausführliches Gespräch mit mir über die Frage, ob ich Justizminister bleiben wolle oder welches andere Ressort in Frage komme. Die Entscheidung aber hielt er sich offen. Wochen später, nur einen Tag vor der Vereidigung, rief er dann per Handy an und sagte in der kürzestmöglichen Form trocken: »Also, Innen. Bis ­morgen.«