Johannes Weyer
Die Echtzeitgesellschaft
Wie smarte Technik unser Leben steuert
Campus Verlag
Frankfurt / New York
Über das Buch
Alles in Echtzeit
In den vergangenen 20 Jahren haben wir eine umfassende Digitalisierung unseres Alltags, des öffentlichen Lebens und der Arbeitswelt erlebt. Alles scheint sich zu beschleunigen und zu verdichten. Die rapide Veränderung des Lebens ist im Grunde nur mit den Umbrüchen im Zeitalter der Renaissance oder der Industrialisierung des 18. und 19. Jahrhunderts vergleichbar.
Viele Prozesse finden mittlerweile in Echtzeit statt, gestützt auf große Mengen verfügbarer Daten. Planen und Handeln fallen in eins. Das Leben in der Echtzeitgesellschaft scheint zwar weniger riskant und besser planbar, doch die Spielräume für flexibles Handeln werden zunehmend enger.
Johannes Weyer geht in diesem Buch den drängenden Fragen an die Digitalisierung und die Beschleunigung unserer Lebenswelt nach: Lassen sich die datengetriebenen Prozesse überhaupt noch beherrschen? Und wie könnte eine politische Steuerung der Echtzeitgesellschaft aussehen?
Vita
Johannes Weyer ist Professor für Techniksoziologie an der TU Dortmund.
1. Auf dem Weg in die Echtzeitgesellschaft
Vorstufen der Echtzeitgesellschaft
Die Echtzeitgesellschaft
Leben in Echtzeit
Beschleunigung
Technik außer Kontrolle?
2. Technik als Gegenstand der Soziologie
Das Automobil
Soziotechnische Systeme
Modellierung und Simulation
Erkundungen der Echtzeitgesellschaft
3. Mensch und Technik im Echtzeitmodus
Die Digitalisierung des Alltags
Das Big-Data-Prozessmodell
Vertrauen in der Echtzeitgesellschaft
Akzeptanz neuer Technik
Autonome Systeme
Simulation 1: Interaktion von Mensch und autonomer Technik
Vertrauen in Automation
Das digitalisierte Flugzeug
Kontrollverlust im smarten Auto?
Kontrollverlust im intelligenten Flugzeug?
Ergebnisse der Pilotenstudie
Fazit
4. Risikomanagement komplexer Systeme
Kritische Infrastruktursysteme
Beispiel 1: Air France AF-447
Beispiel 2: Das Flugzeugunglück bei Überlingen 2002
Beispiel 3: Fukushima 2011
Beispiel 4: Deepwater Horizon 2010
Organisationale Strategien des Umgangs mit Unsicherheit
Normal Accidents Theory
High Reliability Organizations
Der STAMP-Ansatz
Simulation 2: Der Verkehrssimulator SUMO-S
Experimente mit dem Simulator SUMO-S
Fazit
5. Nachhaltige Transformation soziotechnischer Systeme
Das Mehrebenenmodell soziotechnischen Wandels
Wandel durch Rückbau eines soziotechnischen Systems
Simulation 3: Der Simulator SimCo
Experimente mit dem Simulator SimCo
Fazit
6. Die Politik der Echtzeitgesellschaft
Echtzeitsteuerung komplexer Systeme
Politische Steuerung
Intelligente Regulierung der Echtzeitgesellschaft
Fazit
7. Soziologie der Echtzeitgesellschaft
Gesellschaft im Echtzeitmodus
Mensch, Technik, Organisation
Politik im Wandel – Politik des Wandels
Plädoyer für eine Soziologie der Echtzeitgesellschaft
Danksagung
Anhang
Abbildungen
Tabellen
Anmerkungen
1. Auf dem Weg in die Echtzeitgesellschaft
2. Technik als Gegenstand der Soziologie
3. Mensch und Technik im Echtzeitmodus
4. Risikomanagement komplexer Systeme
5. Nachhaltige Transformation soziotechnischer Systeme
6. Die Politik der Echtzeitgesellschaft
7. Soziologie der Echtzeitgesellschaft
Literatur
In den letzten Jahrzehnten haben sich moderne Gesellschaften rund um den Globus in atemberaubender Geschwindigkeit gewandelt. Die Digitalisierung nahezu aller Bereiche des Lebens und Arbeitens ist eine der fundamentalsten Veränderungen in der Menschheitsgeschichte – vergleichbar mit Einschnitten wie der Renaissance des 15. und 16. Jahrhunderts oder der Industrialisierung des 18. und 19. Jahrhunderts.
Ähnlich wie den Menschen der Renaissance, die von der Wucht, vor allem aber der Geschwindigkeit des Wandels regelrecht erschlagen wurden, geht es uns heute. Neue Technik dringt unaufhörlich in unseren Alltag ein: Während Erfindungen wie etwa die Eisenbahn, das Auto und sogar das Telefon Jahrzehnte brauchten, um sich durchzusetzen und selbstverständliche Bestandteile des Arbeits- und Privatlebens zu werden, schafften es Computer und das Internet in wesentlich kürzerer Zeit.
Das Internet ist erst seit zwanzig Jahren Teil unseres beruflichen und privaten Alltags. Vor gut zehn Jahren kam das erste Smartphone für das breite Publikum, das iPhone 2G, auf den Markt. Mittlerweile ist es aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken. In Verbindung mit dem mobilen Internet hat das Smartphone binnen weniger Jahre unser Informations- und Kommunikationsverhalten tiefgreifend gewandelt. Das wirkt sich auch auf die gesellschaftlichen Institutionen und Traditionen aus.
Die Sendungsverfolgung von Paketen, der Gruppen-Chat über WhatsApp, die mobile Navigation, aber auch der Bedeutungsverlust des Fernsehens und traditioneller Medien angesichts von Facebook und YouTube sollen hier als Stichworte genügen. Offenbar beschleunigt sich der technische Wandel und mit ihm der soziale Wandel. Wir steuern auf eine Echtzeitgesellschaft zu.
Dieses Buch unternimmt den Versuch, Beiträge zu einer Soziologie der Echtzeitgesellschaft zu entwickeln und die Konturen dieser neu entstehenden Gesellschaft auszuloten. Ziel ist es zu verdeutlichen, welchen Beitrag die Soziologie zur Analyse, aber auch zur Gestaltung der Echtzeitgesellschaft leisten kann. Die Herausforderung der digitalen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft wird zurzeit aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet: Informatiker und Ingenieure entwerfen IT-Systeme, die in Echtzeit operieren. Wirtschaftswissenschaftler entwickeln Konzepte, um betriebliche Abläufe mithilfe digitaler Tools zu optimieren. Die soziologische Herangehensweise interessiert sich vor allem für das Leben und Arbeiten im Echtzeitmodus und den sozialen Wandel, den die digitale Transformation auslöst. Die Soziologie rückt das Zusammenspiel von Mensch, Technik und Organisation in den Mittelpunkt und fragt danach, welche Konsequenzen es hat, wenn komplexe soziotechnische Systeme unter Echtzeitbedingungen betrieben werden. Ein Thema ist die Mensch-Maschine-Interaktion in hochautomatisierten Systemen, ein anderes das Risikomanagement von Organisationen. Daneben spielen auch Fragen der operativen Steuerung sowie der politischen Regulierung von Echtzeitsystemen eine Rolle. Der Anspruch dieses Buches ist es zu zeigen, dass die Fokussierung auf soziale Prozesse dazu beitragen kann, ein vertieftes Verständnis der gesellschaftlichen Folgen der digitalen Transformation zu gewinnen und das Wesen der Echtzeitgesellschaft besser zu verstehen.1
Um die gesellschaftspolitische Sprengkraft der digitalen Transformation zu erfassen, ist es sinnvoll, in größeren historischen Zusammenhängen zu denken und die Frage zu stellen, wie sich die Echtzeitgesellschaft entwickeln konnte. Der massive Technisierungsschub, den die Wissensgesellschaft momentan erlebt, führt nicht nur dazu, dass nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche bis hin zur Privatsphäre in einem zuvor kaum vorstellbaren Maße von Technik durchdrungen sind, die immer stärker autonom agiert und zum Bestandteil umfassender Datennetze wird.2 Er verändert auch unsere Vorstellungen von Raum und Zeit. Die Wissensgesellschaft wandelt sich zur mobilen Echtzeitgesellschaft. In dieser künftigen Gesellschaft werden tradierte Konzepte nicht mehr greifen, weil die Grenzen von Planung und Handlung, von Autonomie und Kontrolle, aber auch von Steuerung und Selbststeuerung zunehmend verschwimmen. Wie unterscheidet sich die Echtzeitgesellschaft von anderen Gesellschaftsformen?
Die Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts war durch den Gegensatz von Kapital und Arbeit gekennzeichnet, wie etwa Karl Marx ihn beschrieben hat. Zentrale Themen seiner Werke waren die Entfremdung des Arbeiters, dessen Ausbeutung als Lohnarbeiter, aber auch die Perspektiven einer befreiten Gesellschaft. Die von ihm ausführlich analysierte Technik spielte in dieser Epoche vor allem als Produktionstechnik eine Rolle – mit der Dampfmaschine als Antrieb. Erstmals in der Geschichte der Menschheit wurde Arbeit »durch mechanische Systeme [geleistet], die durch künstliche Energie in Bewegung gesetzt werden«.Die neue Technologie der Dampfmaschine begann ihren Siegeszug in den Start-ups, so würde man sie heute nennen, der jungen englischen Baumwollindustrie. Sie ermöglichte einen enormen Produktivitätsschub der kapitalistischen Industrie, die ohne den »artifiziellen Selbstbeweger« (Popitz) nicht hätte entstehen können. Die Maschinenarbeit führte zudem zur Disziplinierung des Arbeiters, der sein Verhalten an den Takt der Maschine anpassen musste.3
Die Technik trat in der Industriegesellschaft auch als Transporttechnik in Erscheinung – in Form der Dampflokomotive oder des Dampfschiffs – mit ebenfalls revolutionären Wirkungen. Denn die Eisenbahn brachte eine »Vernichtung« von Zeit und Raum mit sich. Sie wurde von den Zeitgenossen als eine Zeitmaschine empfunden, war es doch erstmals möglich, Waren und Personen innerhalb weniger Stunden von einem Ort zum anderen zu transportieren. Zudem verlor der Raum seine Wirkung als Medium sozialer Ungleichheit. Denn mit den neuen Techniken war es nun möglich, entlegene Gebiete zu erreichen, was zu einer sukzessiven Angleichung des Lebensstandards führte. Hierzu hat eine weitere Technologie des 19. Jahrhunderts, die Elektrizität, ebenfalls einen wichtigen Beitrag geleistet. Mit ihrer Hilfe konnten sowohl Energie als auch Informationen (Radio, Fernsehen) transportiert werden.4
Die Industriegesellschaft ging Mitte des 20. Jahrhunderts in eine Wissensgesellschaft über. Sie baute auf den Errungenschaften der vorherigen Epoche auf, entdeckte aber in verstärktem Maße das Wissen als Produktivkraft. Unter Verweis auf das rasante Wachstum des tertiären Sektors, also der Dienstleistungsberufe, sprach Daniel Bell vom postindustriellen Zeitalter, in dem sowohl die Landwirtschaft als auch die Industrieproduktion tendenziell an Bedeutung verlören. Neben Kapital und Arbeit entwickelte sich Wissen zu einer eigenständigen Quelle von Wertschöpfung. Softwarefirmen nutzen beispielsweise das in den Köpfen ihrer Mitarbeiter vorhandene, verteilte Wissen dazu, neues Wissen zu generieren, das jedoch kontinuierlich verbessert wird. Zudem geht Wissen stets mit Nichtwissen einher, genauer gesagt: mit dem Wissen, dass man bestimmte Dinge weiß und zu beherrschen glaubt, damit aber andere Dinge ausgrenzt, die man nicht unter Kontrolle hat.5
Die technische Basis der Wissensgesellschaft ist die Informations- und Kommunikationstechnik, die sich nicht nur in der Verbreitung von Massenmedien, sondern auch in vielfältigen Formen der Individualkommunikation, dem Telefon etwa, niederschlug. Außerdem vollzog sich eine Informatisierung weiter Teile der Gesellschaft, angefangen in Produktion, Logistik und Handel, später aber auch im Verkehr, im Bildungswesen und in der öffentlichen Verwaltung.6
Die mobile Echtzeitgesellschaft des 21. Jahrhunderts forciert diese Entwicklungen, indem sie eine nahezu allumfassende Digitalisierung der Arbeitswelt, des öffentlichen Lebens und sogar des privaten Alltags betreibt. Überall finden wir avancierte, miniaturisierte Informations- und Kommunikationstechnik, die in die Gegenstände eingebettet ist und mit diesen regelrecht verschmilzt.7 Die Zutrittskontrolle zu Gebäuden mag hier als Beispiel dienen: Die smarte Tür erkennt durch ihre Sensoren, ob sich eine Person nähert, und öffnet die Tür wie von Geisterhand. Sie kann nach bestimmten Regeln programmiert werden. Personen dürfen dann die Tür nur zu festgelegten Zeiten passieren oder nur, wenn sie bestimmte biometrische Eigenschaften besitzen.
Digitalisierung heißt also, dass realweltliche Vorgänge von Sensoren erfasst und in digitale, maschinenlesbare Daten umgewandelt werden. Mithilfe von Informations- und Kommunikationstechnik werden diese Daten aufbereitet und an Rechner übermittelt, deren Computerprogramme (Algorithmen) die Daten zu Informationen verdichten. Auf diese Weise lassen sich Muster erkennen wie etwa »Person ist bekannt und autorisiert, das Gebäude zu betreten«. Anschließend geschieht mit den Daten dreierlei: Sie werden genutzt, um realweltliche Prozesse automatisch zu steuern, also ohne menschliche Eingriffe.8 Die Tür öffnet sich in der Regel zuverlässig, wenn eine Person sich ihr nähert. Sie werden ausgewertet, um ad hoc ein aktuelles Lagebild zu generieren: Wie viele Leute sind im Gebäude? Wie viele haben es betreten oder verlassen? Derartige Analysen waren zuvor nur mit großem Zeitverzug möglich. Und die Daten werden schließlich gespeichert, damit die Möglichkeit besteht, die erfassten Prozesse zu einem späteren Zeitpunkt zu rekonstruieren (etwa im Fall eines kriminellen Delikts), aber auch, um die Daten in anderen Kontexten und zu anderen Zwecken (etwa werblichen) zu verwerten.
Die Prozesse vollziehen sich zunehmend in Echtzeit. Die smarte Tür muss nicht mehr zeitaufwändig prüfen, ob die Person autorisiert ist, das Gebäude zu betreten. Dank leistungsfähiger Erfassungs-, Kommunikations- und Datenverarbeitungstechnik geschieht das in Sekundenbruchteilen. Stärker noch als in der Wissensgesellschaft werden die Daten damit zum Rohstoff der Echtzeitgesellschaft. Denn nur die allumfassende Verfügbarkeit von Daten jeglicher Art macht es möglich, die Prozesse in Echtzeit zu steuern. Dabei spielen mobile und (teil)autonome Geräte wie das Smartphone eine wichtige Rolle, denn sie bringen eine neue Qualität der Durchdringung mit Informationstechnik mit sich: Im Internet der Dinge sind sowohl Personen als auch Objekte Bestandteile eines umfassenden Datennetzwerkes, die »always online« sind und permanent Daten generieren. Mobile, vernetzte Geräte, Sensoren, »intelligente« Dinge, Maschinen etc. machen Informationen über Position und Identität von Objekten und Personen jederzeit und überall verfügbar. Zeit und Raum werden damit wieder zu relevanten Größen – ganz im Gegensatz zur Industriegesellschaft, in der diese beiden Größen an Bedeutung verloren hatten.9
In der globalisierten Ökonomie des ausgehenden 20. Jahrhunderts war es zunehmend unwichtig geworden, an welchem Ort produziert wurde: in Deutschland oder in China. Die Just-in-time-Produktion trieb die Vernichtung der Zeit insofern auf die Spitze, als die Vorprodukte ohne zeitlichen Vorlauf ans Band geliefert wurden.10 Mithilfe moderner Verfahren der elektronischen Warenwirtschaft wurden aus sequenziellen Zeiträumen – mit Puffern und Spielräumen für Unerwartetes – eng getaktete Zeitfenster, die durch immer perfektere Synchronisation zunehmend miteinander verschmolzen und parallel (statt zuvor sequenziell) abgearbeitet werden mussten. Zwar steigen die Produktivität und die Effizienz eng gekoppelter Systeme, zum Beispiel durch Auflösung von Lagern, die als Puffer dienten. Zugleich steigt jedoch das Risiko, dass unvorhergesehene Störfälle das gesamte System lahmlegen. Das Beispiel der Deutschen Bahn etwa demonstriert anschaulich, dass die immer engere Taktung des Zugverkehrs in den letzten Jahrzehnten zwar die Produktivität gesteigert, zugleich aber auch die Anfälligkeit für Störungen vergrößert hat.
Die Echtzeitgesellschaft setzt auf diesen Tendenzen der Synchronisation sozialer Interaktionen auf und treibt sie auf die Spitze. Mobile Geräte wie das Smartphone ermöglichen, dass wir an mehreren Orten zugleich präsent sind. Der Jugendliche, der während der Familienfeier über soziale Medien online mit seinen Freunden verbunden ist und gleichzeitig bei eBay mitbietet, sei hier als ein Beispiel genannt. Das Just-in-time-Denken, das ursprünglich aus den Bereichen Militär und Logistik stammt und auf einer Logik der Kontrolle basiert, prägt zunehmend auch unser Alltagshandeln. Die Dinge können nicht mehr warten, sondern müssen sofort erledigt werden. »Sofortness« und »digitale Ungeduld« sind die neuen Zauberworte. Der Brief, der noch vor wenigen Jahrzehnten frühestens in acht Tagen beantwortet sein konnte (bei Laufzeiten von drei bis vier Tagen pro Richtung – international eher Wochen), muss heute, sofern er als E-Mail eintrifft, möglichst am selben Tag bearbeitet werden – egal, an welchem Ort der Welt man sich gerade befindet.11
Die Echtzeitgesellschaft ist also einerseits eine zeitlose Gesellschaft. Andererseits gewinnen die Faktoren Raum und Zeit eine neue Bedeutung – und zwar in Form der sogenannten Metadaten, die bei elektronischen Transaktionen quasi nebenbei anfallen. Denn diese enthalten wertvolle Informationen wie die Identität und Position des Senders, die Adresse des Empfängers oder den Zeitpunkt der Interaktion.12
Bereits im Ersten Weltkrieg wurde das Verfahren der Verkehrsdatenanalyse entwickelt. Dem deutschen Militär gelang es nicht, den verschlüsselten Funkverkehr des militärischen Gegners zu decodieren. Man fand aber heraus, dass allein die Verbindungsdaten (wer funkt wann wo mit wem) wichtige Informationen enthalten. Sie ermöglichen es, Kommunikationsmuster zu dechiffrieren, die genauso wertvoll sein können wie der Inhalt der Kommunikation. Man musste die Funksprüche also nicht decodieren. Allein das Muster der Metadaten verriet zuverlässig, was der militärische Gegner vorhatte.13
Dies gilt im Zeitalter der digitalen Kommunikation umso mehr: Wo wir uns befinden, wenn wir mit unserem Smartphone eine Nachricht absetzen oder eine Transaktion tätigen, und wann wir das tun, sind Daten, für die sich nicht nur die Nachrichtendienste interessieren. Auch eine Reihe neuartiger Geschäftsmodelle basiert auf Big-Data-Verfahren der Auswertung von Daten und Metadaten, beispielsweise in Form von »location based services«, die individuell maßgeschneiderte Angebote unterbreiten.14 Im Urlaub enthält die digitale Zeitung im Smartphone lokale Nachrichten aus der jeweiligen Region, die zu Hause nicht angezeigt werden. Das »behavioural targeting« funktioniert ähnlich, also die personalisierte Werbung, die aus den Aktionen (Suchanfragen, Likes etc.) einer Person auf deren Präferenzen schließt und daraus Empfehlungen und Angebote ableitet, die ihr gezielt unterbreitet werden. Schließlich nutzen auch Anbieter von Mobilitätsdienstleistungen Echtzeitdaten ihrer Kunden mit Zeitstempel und Raumkoordinaten, um ein Lagebild – etwa des Verkehrssystems – zu generieren und Empfehlungen auszusprechen beziehungsweise passgenaue Services anzubieten.
In Echtzeit zu leben und zu handeln, bedeutet also eine enorme Verdichtung von Prozessen, die sich zuvor in größeren Zeiträumen abgespielt haben. Die sozialwissenschaftliche Entscheidungstheorie geht davon aus, dass menschliches Handeln typischerweise fünf Teilschritte umfasst: die Situationsanalyse, die Generierung möglicher Handlungsalternativen, die Entscheidung für eine der verfügbaren Alternativen und schließlich die Handlungsausführung, gefolgt von einer Bewertung, ob diese Handlung erfolgreich war. In Echtzeitsystemen fallen diese fünf Schritte faktisch in eins, während sie zuvor einen gewissen Zeitaufwand mit sich brachten oder zeitlich nacheinander abgearbeitet werden mussten. Man denke an die dynamische Routenplanung mithilfe von Mobilitäts-Apps, die die Reisevorbereitung mithilfe des Autoatlas oder des Kursbuches der Bahn ersetzt hat. Die Planung einer Handlung und deren Ausführung erfolgen nun nicht mehr sequenziell, sondern nahezu simultan.
In unserem Alltag leben wir oftmals in Echtzeit. Wir treffen in der Stadt zufällig einen alten Freund und beschließen spontan, mit ihm Kaffee trinken zu gehen. Eigentlich ähnlich wie der Vormensch. Wenn er bei seinen Streifzügen auf etwas Essbares stieß, dann verzehrte er es. Ansonsten musste er oft tagelang hungern. Leben in Echtzeit.
Das änderte sich erst, als Menschen vor gut zehntausend Jahren sesshaft wurden. Planen und Handeln fielen erstmals auseinander. Möglich wurde dies durch die revolutionäre Erfindung einer neuen Technik: der Tier- und Pflanzenzucht.15 Die Produktion und der Konsum von Nahrungsmitteln fanden nunmehr zu unterschiedlichen Zeitpunkten statt, aber dies musste geplant und organisiert werden. Die Möglichkeit, nicht in Echtzeit zu leben, hängt somit stark von der Technisierung der Welt, aber auch der Organisation des Lebens und Zusammenlebens ab. Beides eröffnet die Option, künftige Handlungen vorausschauend zu planen. Die Gefriertruhe ermöglicht es, Speisen aufzubewahren und später zu verzehren. Die Fusionsplanung zweier Unternehmen verheißt, später höhere Gewinne zu erzielen. Und der ICE-Fahrplan der Deutschen Bahn verspricht für nächste Woche schnelle Verbindungen zwischen deutschen Großstädten.
Die fünf Schritte der Handlungssequenz vollziehen sich nicht nur zeitlich getrennt voneinander. Sie können auch sachlich, räumlich und sozial separiert sein. Die Planer der Deutschen Bahn entwickeln Verbindungen für ICE-Züge, die sie nicht selbst fahren und die sich an Orten fernab der Planungsbüros bewegen. Zudem fahren die Züge zu Zeitpunkten, an denen die Planung längst abgeschlossen ist. Der Prozess der Planung ist ferner zeitaufwändig und benötigt einen gewissen Vorlauf vor der Ausführung der Handlung.
Das alles ändert sich in der Echtzeitgesellschaft. Digitale und vernetzte Technik ermöglicht eine zeitliche Verdichtung sämtlicher Prozesse, sodass alle fünf Schritte der Handlungssequenz nahezu simultan erfolgen können. Vorausschauende Planung wird verdrängt von dynamisch-adaptiver Reaktion auf die jeweils aktuelle Situation. Die benötigten Werkstücke werden just in time ans Band geliefert – genauso wie die Pizza-on-demand in die heimische Wohnung. Die Spracherkennung übersetzt unsere Worte im Moment der Eingabe in Geschriebenes. Unmittelbar nach der Online-Klausur stehen die Noten fest. Smarte Geräte unterstützen das Gesundheitsmonitoring und alarmieren die Ärzte automatisch. Und die Mobilitäts-App schlägt im Fall einer Störung sofort eine alternative Route vor.
Dieses Leben in Echtzeit steigert die Flexibilität, aber auch den Zeitdruck und damit das Risiko von Fehlentscheidungen. Zwar muss immer noch geplant werden. Aber das betrifft in erster Linie die Programmierung der Algorithmen, die unser Handeln situativ steuern. Wie sich das morgen in konkreten Handlungen niederschlagen wird, weiß heute noch niemand.
Der Soziologe Hartmut Rosa hat die Veränderungen der Zeitstrukturen der Moderne in etlichen Publikationen beschrieben und mit dem Begriff »Beschleunigung« belegt. Rosa zufolge basiert die Moderne auf den Prinzipien des Wachstums und der Beschleunigung. Die Welt sei »in permanenter Veränderung und immer schnellerer Bewegung«. Angesichts der ungebremsten »Steigerungslogik der modernen Gesellschaft« sei die zentrale Frage, wie ein gutes, selbstbestimmtes Leben möglich sei. Sein Ziel ist es daher, eine »Soziologie des guten Lebens« zu entwickeln.16
Rosa unterscheidet zwei Phasen der Moderne: Die Zeit von der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts sieht er durch Fortschritt und Wachstum geprägt sowie durch eine Steigerung von Optionen, von Lebensqualität und von individueller Autonomie. Die darauffolgende Phase der Spätmoderne, die er ab Mitte beziehungsweise Ende des 20. Jahrhunderts datiert, bringe hingegen einen Rückschritt, allenfalls Stillstand mit sich. Man benötige mittlerweile enorme Energien, um das Tempo des Wachstums aufrechtzuerhalten und individuell mitzuhalten, doch Wachstum und Beschleunigung gingen nicht mehr mit einer Steigerung der Lebensqualität einher.17
Diese pessimistische, ja dystopische Gegenwartsdiagnose basiert auf der Wahrnehmung, dass die Gewinne, die mit der Beschleunigung des technischen und sozialen Wandels, aber auch des Lebenstempos einhergehen, in einer Art Rebound-Effekt wieder aufgezehrt werden. So bringe die Beschleunigung zwar zunächst eine Zeitersparnis mit sich. Das Multitasking steigere aber letztlich nur »die Zahl der Handlungs- und/oder Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit«. Immer mehr müsse im gleichen Zeitintervall erledigt werden, was letztlich zur »Temporalinsolvenz«, zur »Überforderung von Psyche und Physis« und schließlich zum »Burnout« führe.18
Einen möglichen Ausweg aus dieser Spirale sieht Rosa in der gezielten Entschleunigung (Slow Food, Esoterik, Fernsehverzicht, Klosteraufenthalt). Größere Hoffnungen verbindet er allerdings mit dem Konzept der Resonanz, das der zunehmenden Entfremdung des Menschen entgegenwirken könne. Rosa gibt offen zu, dass sein Begriff »Resonanz« wenig klar konturiert ist. Er benutzt ihn im Sinne von Anerkennung (bei der Arbeit, in persönlichen Beziehungen), aber auch von Sinnerfüllung, gesteigerter Lebensqualität und subjektiver Zufriedenheit – also in gewisser Weise als Gegenbegriff zu Entfremdung, den er allerdings nur ex negativo bestimmen kann.
Rosa liefert mit seiner Kritik der Beschleunigung der Moderne und seinem Gegenentwurf der Resonanz eine düstere Diagnose, die aktuelle Strömungen des Zeitgeistes aufgreift und verarbeitet. Er fokussiert dabei jedoch nahezu ausschließlich auf das einzelne Subjekt, dessen psychische Überforderung sowie die Frage nach dem guten Leben, die typischerweise in die Zuständigkeit von Philosophen fällt. Eine gesellschaftspolitische Perspektive ist bei ihm nicht erkennbar. Seine Gegenwartsdiagnose basiert auf wortgewaltigen, oftmals suggestiv vorgetragenen Behauptungen, die nur selten empirisch geerdet sind und als Quellen insbesondere die soziologischen Klassiker sowie anekdotische Evidenzen anführen.19
Gegen Rosa kann man zudem einwenden, dass nicht die Beschleunigung an sich zu den von ihm diagnostizierten Problemen führt, sondern die Art und Weise, wie wir mit den dadurch erzielten Zeitgewinnen umgehen – und zwar als Individuen, aber auch als Organisationen. Die Literaturrecherche für ein Buch war noch vor zwanzig Jahren ein mühsames Geschäft, verbunden mit Reisen zu Bibliotheken in anderen Städten. Dort angekommen, musste man zu knapp bemessenen Öffnungszeiten Texte ausleihen und Seite für Seite fotokopieren. Heute geht das alles mit wenigen Mausklicks vom heimischen Rechner aus. Eine enorme Beschleunigung und ein enormer Zeitgewinn, vor allem aber ein Produktivitätsgewinn. Aber übt das einen derartigen Druck aus, eine Art Sachzwang, dass man heutzutage die doppelte Menge Texte lesen oder die doppelte Anzahl Bücher schreiben muss?
Nicht zwangsläufig, denn es hängt von der Organisation des privaten Lebens beziehungsweise der beruflichen Arbeit ab, ob es zu einem Rebound-Effekt kommt, ob also die Zeitersparnis dazu führt, dass eine Steigerung des Outputs erwartet wird. Jeder Einzelne kann mit sich Regeln vereinbaren, wie mit der gesparten Zeit umgegangen wird. Wenn es heute möglich ist, innerhalb von zwei Stunden nach Mallorca zu fliegen, muss man dies nicht zwangsläufig mehrfach im Jahr tun. Bei Rosa hat es hingegen den Anschein, als ob die quantitative Steigerung der Menge der möglichen Handlungen pro Zeiteinheit quasi automatisch eine qualitative Veränderung des Lebens im Sinne der Beschleunigungsthese nach sich zieht. Dabei legt er sein Augenmerk vor allem auf mögliche negative Begleiterscheinungen wie Stress und Burnout. Dass der Wegfall unangenehmer und zeitraubender Tätigkeiten subjektiv auch als Entlastung oder Erleichterung empfunden werden kann, nimmt er nicht in den Blick.
Beim Umgang mit den Folgen der Beschleunigung sind vor allem die Organisationen gefragt, Regeln wie etwa eine Verkürzung der Arbeitszeit oder das Abschalten der Mailserver an Wochenenden zu vereinbaren. So lässt sich vermeiden, dass die Produktivitätsgewinne zulasten der Beschäftigten gehen. Wenn dies nicht der Fall ist und eine stets steigende Arbeitsleistung gefordert wird, so liegen die Ursachen nicht in der Beschleunigung an sich, sondern in der Art und Weise, wie mit den Zeitgewinnen umgegangen wird und wie die Produktivitätsgewinne verteilt werden. Doch das ist kein individualpsychologisches, sondern ein gesellschaftspolitisches Problem, vergleichbar etwa mit der Einführung des Fließbandes oder der Industrieroboter. Und dieses Problem löst man nicht, indem man resonante Schwingungen erzeugt, sondern indem man sich politisch für Verteilungsgerechtigkeit einsetzt.
Mit seiner Diagnose der Beschleunigung bleibt Hartmut Rosa also auf halbem Wege stecken, nämlich auf der Mikroebene des Individuums. Rosas Ansatz ist eher in der Psychologie beziehungsweise der Philosophie als in der Soziologie verankert und hilft nicht, die Strukturen und Dynamiken der Echtzeitgesellschaft, also die Prozesse der Meso- und Makroebene, zu verstehen. Vor allem aber tragen seine Konzepte der Beschleunigung und der Resonanz nicht dazu bei, Alternativen oder gar Ansatzpunkte für eine Gestaltung der Echtzeitgesellschaft zu identifizieren.
Dass ein Nachdenken über die Echtzeitgesellschaft mehr beinhalten muss als nur die Diagnose der Beschleunigung, ergibt sich allein daraus, dass die digitale Transformation eine Vielzahl ungelöster Probleme aufwirft. Dazu gehört insbesondere die Frage der Beherrschbarkeit datengetriebener Prozesse. Sie laufen mit hoher Geschwindigkeit ab und entziehen sich damit einer Kontrolle durch menschliche Akteure. Ist der Einzelne oder die Gesellschaft noch in der Lage, die mit hoher Geschwindigkeit ablaufenden Prozesse zu verstehen, geschweige denn zu beherrschen? Diese Frage drängt sich auf, wird von Rosa allerdings übergangen.
Die Digitalisierung geht mit einer Steigerung der Komplexität einher, da viele Prozesse von hochautomatisierten technischen Systemen ausgeführt und Entscheidungen in sehr kurzer Zeit getroffen werden. Damit nimmt die Undurchschaubarkeit komplexer, digitalisierter Systeme tendenziell zu. Außerdem geht mit der digitalen Repräsentation von Wirklichkeit der unmittelbare Bezug zum operativen Geschehen verloren. Lkw-Fahrer, Piloten, aber auch Betriebspersonal, das Großanlagen wie Kraftwerke, Chemieanlagen oder den Schienenverkehr steuert, sitzen meist in Leitständen fernab des realen Geschehens. Sie sind auf das digitale Abbild der Wirklichkeit angewiesen, das auf Computerbildschirmen angezeigt wird. Hier kann es zu Verwirrung über den aktuellen Betriebszustand (»mode confusion«) und zu einer Einschränkung der Fähigkeit kommen, im Notfall ein effektives Störfallmanagement zu leisten.20
Mit der Digitalisierung hält eine Logik der Kontrolle in viele Bereiche des Arbeitens und Lebens Einzug, die ursprünglich aus dem Militär und der Logistik stammt. Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte der deutsche General Carl von Clausewitz die Bedeutung der Logistik für die Kriegsführung erkannt. Die Erfassung und Verarbeitung logistischer Daten sollte dazu beitragen, die militärische Einsatzplanung wie auch die Versorgung der kämpfenden Truppen mit Nachschub zu verbessern, um auf diese Weise militärische Überlegenheit zu erzielen. Eine derartige Logik der Kontrolle hat bei der Steuerung von Kraftwerken, Chemieanlagen oder Produktionsprozessen zweifellos eine gewisse Berechtigung, will man diese Prozesse doch möglichst optimal beherrschen und Risiken vermeiden.21
Mit Smartphone, Smartwatch, Smart Home und dem intelligenten Auto dringt digitale Technik immer stärker in den privaten Alltag ein. Damit wird die Logik der Kontrolle in gesellschaftliche Lebensbereiche transferiert, die traditionell durch eine Balance von Autonomie und Kontrolle geprägt sind, deren Bewahrung Teil unserer freiheitlichen Grundordnung ist. Die fortschreitende Datafizierung sämtlicher Prozesse bringt diese Balance ins Wanken. Denn es hat erhebliche Auswirkungen auf den Datenschutz und die Privatsphäre, wenn auch der private Alltag lückenlos aufgezeichnet und überwacht werden kann.22 Nicht alles, was wir tun, sollte kontrolliert und optimiert werden, da wir ansonsten Gefahr laufen, unsere Freiheitsspielräume und unsere Selbstbestimmung zu verlieren. Das »social scoring«, das in China mittlerweile praktiziert wird, mag hier als warnender Hinweis genügen. Bei diesem Verfahren wird eine Vielzahl von Daten der privaten Lebensführung erfasst, um das Verhalten von Individuen als normal oder abweichend zu klassifizieren und dementsprechend zu sanktionieren.
Die zunehmende Digitalisierung von Entscheidungsprozessen in komplexen soziotechnischen Systemen tangiert schließlich auch die politische Öffentlichkeit. Wenn Algorithmen Entscheidungen treffen, könnte dies tendenziell zu einer Erosion von Demokratie und deren Ersetzung durch eine »Algokratie«, also eine Herrschaft der Algorithmen, führen. Warum – so fragen manche Internetexperten – sollte man »schwarze Schafe« in der Taxibranche durch juristische Sanktionen bestrafen, wenn Algorithmen das auf Grundlage der Nutzerbewertungen viel effizienter können? Dieses Argument übersieht allerdings, dass die primäre Aufgabe der Politik darin besteht, Normen zu setzen: Wer darf Taxi fahren? Was ist die zulässige Höchstgeschwindigkeit? Algorithmen sind dazu nicht in der Lage. Dies kann nur der politische Diskurs, in dem unterschiedliche Wertvorstellungen aufeinandertreffen und der zu einer kollektiv verbindlichen Entscheidung führt. Algorithmen sind in der Durchsetzung von Normen, beispielsweise Tempolimits, durchaus hilfreich und nützlich. Sie können jedoch den politischen Prozess nicht ersetzen. Eine Algokratie wäre die Vorstufe einer totalitären Gesellschaft – eine Gefahr, vor der der Computerpionier Mark Weiser bereits 1991 gewarnt hat.23
Die digitale Gesellschaft operiert zwar effizienter und sicherer, zugleich ist sie aber immer stärker von der Technik abhängig und damit auch verletzlicher. Moderne, digitale, oftmals sogar autonome Technik trägt dazu bei, die Sicherheit komplexer soziotechnischer Systeme zu erhöhen und bekannte Risiken zu bewältigen. Ein Notbremsassistent im Pkw verhindert Auffahrunfälle zuverlässig, ein Spamfilter im Computer sortiert verdächtige E-Mails aus.
Zugleich ergeben sich aber auch neuartige Bedrohungen, beispielsweise im Falle eines Versagens der Technik oder durch Fehler im System. Außerdem sind die Systeme anfälliger für Attacken von außen. Probleme können sich zu Katastrophen aufschaukeln, weil kein Mensch mehr in der Lage ist, derartige Störfälle manuell zu beherrschen. Man denke nur an Börsencrashs, die vom »high-frequency trading« ausgelöst wurden, also Computerprogrammen, die vollautomatisch und praktisch unaufhaltsam in die Katastrophe steuerten. Diese Risiken betreffen nicht nur den Einzelnen, sondern das Gemeinwesen als Ganzes, ist die Gesellschaft doch auf das Funktionieren sicherheitskritischer Systeme angewiesen.24
So paradox es klingen mag: Digitalisierte soziotechnische Systeme sind sicherer, zugleich aber auch riskanter. In Erwartung einer hohen Zuverlässigkeit und perfekter Performance verlassen wir uns nämlich nicht nur auf derartige Systeme bei der Bewältigung bisheriger Aufgaben, sondern dehnen zudem die Grenzen unseres Handelns immer weiter aus. Ein Beispiel sind vollautomatisierte Interkontinentalflüge nachts und bei schwierigen Wetterverhältnissen.
Die Frage, ob wir auch in Zukunft in der Lage sein werden, komplexe soziotechnische Systeme zu beherrschen und sicher zu betreiben, lässt sich auf unterschiedliche Weise beantworten. Kapitel 3 widmet sich der Interaktion von Mensch und Technik und richtet das Augenmerk auf die Digitalisierung des Alltags, die Neuverteilung der Rollen von Mensch und (autonomer) Technik, das Vertrauen in Automation, die Akzeptanz von Technik – also auf unterschiedliche Aspekte des Zusammenspiels von Mensch und Technik in hybriden soziotechnischen Systemen. Nach der Mikroebene (Interaktion) wendet sich das Buch in den folgenden Kapiteln der Mesoebene (Organisation) und der Makroebene (Gesellschaft) zu.
Kapitel 4 wirft einen Blick auf das Risikomanagement von Organisationen, die sicherheitskritische Systeme betreiben, beispielsweise in den Bereichen Energieversorgung oder Transport und Verkehr. Es beleuchtet insbesondere die organisationskulturellen Faktoren, die für ein zuverlässiges Funktionieren derartiger Systeme erforderlich sind. Kapitel 5 befasst sich mit der Transformation soziotechnischer Systeme in Richtung Nachhaltigkeit und schlägt damit den Bogen zu Kapitel 6, das Optionen einer »intelligenten« politischen Regulierung der mobilen Echtzeitgesellschaft diskutiert. Mit dieser Palette an Themen, in deren Mittelpunkt die Echtzeitgesellschaft steht, bietet das Buch zugleich auch einen Überblick über die Forschungsarbeiten des Fachgebiets Techniksoziologie der TU Dortmund der letzten zehn Jahre, das verstärkt auf die Methode der agentenbasierten Modellierung und Simulation setzt, um die genannten Fragestellungen zu bearbeiten.
Doch zunächst soll in Kapitel 2 die Perspektive der Techniksoziologie geschärft werden, die einen spezifischen Blick auf die Echtzeitgesellschaft wirft und die Interaktion von Mensch und autonomer Technik, aber auch Fragen der digitalen Transformation mit innovativen Konzepten und Methoden erforscht.
Betrachtet man das Tempo und die Wucht, mit der die Echtzeitgesellschaft sich Bahn bricht, so könnte der Eindruck entstehen, technischer Wandel sei ein Schicksal, dem die Menschheit ausgeliefert ist. Moderne Gesellschaften scheinen von technischen Neuerungen getrieben zu sein: Man erlebt Technik als eine Art Sachzwang, der uns beherrscht und uns diktiert, wie wir uns zu verhalten haben. Die ständige Erreichbarkeit durch E-Mail, SMS oder Messenger-Dienste nötigt uns, auch im Privaten permanent in Habachtstellung zu sein und auf jede Nachricht sofort zu reagieren. Unternehmen scheinen ebenfalls gezwungen, beim enormen Tempo des technologischen Wettrüstens mitzuhalten, das unaufhörlich innovative Produkte generiert. Man spricht hier auch von Technikdeterminismus, also einer fundamentalen Prägung durch Technik, der sich die Gesellschaft nicht entziehen kann.1
So plausibel diese Wahrnehmung auf den ersten Blick erscheint, so verkürzt ist sie bei genauerer Betrachtung. Auch die digitale Transformation hin zur Echtzeitgesellschaft fällt nicht vom Himmel, sondern wird von Menschen gemacht, und zwar nicht nur von mächtigen Internetkonzernen. Tagtäglich beteiligen wir uns an dem Spiel, wenn wir digitale Datenspuren erzeugen. Nichts ist alternativlos: Zu jeder Innovation gab und gibt es Alternativen; und die Entscheidung, welche dieser Varianten sich letztlich durchsetzt, folgt keiner technischen, sondern einer sozialen Logik. Die Soziologie spricht daher von der »sozialen Konstruktion von Technik«, deren Sinn sich erschließt, wenn man die gesellschaftlichen Akteure und deren strategischen Interaktionen betrachtet. Die Akteure beteiligen sich an Aushandlungsprozessen über neue Technik, prägen so den Verlauf der Dinge und erreichen schließlich eine »soziale Schließung« – einen Konsens unterschiedlicher Interessengruppen, der den Ausschlag gibt, welche Alternative sich durchsetzt.2