Die Autorinnen

Dr. med. Mirjam N. Landgraf, Dipl.-Psych., Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin mit Schwerpunkt Neuropädiatrie, ist Leiterin der TESS-Ambulanz (für Risikokinder mit ToxinExposition in der SchwangerSchaft) am iSPZ Hauner des Dr. von Haunerschen Kinderspitals, Klinikum der Universität München, Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU); Koordinatorin der S3-Leitlinie Diagnose der Fetalen Alkoholspektrumstörungen (FASD); Bundesbeauftragte für FASD der Gesellschaft für Neuropädiatrie (GNP).

Prof. Dr. phil. Tanja Hoff, Dipl.-Psych., approb. Psychologische Psychotherapeutin, ist Professorin für Psychosoziale Prävention, Intervention und Beratung an der KatHO NRW; Mitglied des dortigen Deutschen Instituts für Sucht- und Präventionsforschung (www.disup.de) mit Forschungsprojekten u. a. zu Prävention des Alkohol- und Tabakkonsums in Schwangerschaft und Stillzeit. Akademische Studiengangsleitung des Weiterbildungsmasterstudiengangs »Master of Counseling – Ehe-, Familien- und Lebensberatung«.

Mirjam N. Landgraf Tanja Hoff

Fetale Alkoholspektrumstörungen

Diagnostik, Therapie, Prävention

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-024320-0

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-024321-7

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Abkürzungen und Begriffserläuterungen

 

 

 

ADHS

Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung

ADS

Aufmerksamkeitsstörung ohne hyperaktive Komponente

ARBD

alkoholbedingte angeborene Malformationen (alcohol related birth defects)

ARND

alkoholbedingte entwicklungsneurologische Störung (alcohol related neurodevelopmental disorder)

AUDIT-C

Screening-Instrument für riskanten Alkoholkonsum (alcohol use disorders identification test – consumption)

BZgA

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung

Binge drinking

Rauschtrinken, mind. 5 Getränke zu einer Gelegenheit

CAGE-Fragebogen

Fragebogen zur Messung eines riskanten Alkoholkonsums (Cut down – Annoyed – Guilty – Eye-opener, deutsch: Reduzieren – Verägert sein – Sich schuldig fühlen – Augenöffner)

CBCL

Child Behavior Checklist

HTA

Health Technology Assessment

Intrauterin

in der Gebärmutter

IQ

Intelligenzquotient

Faciale Auffälligkeiten

Auffälligkeiten des Gesichts

FAS

Fetales Alkoholsyndrom

FASD

Fetale Alkoholspektrumstörungen

Mikrocephalie

unterdurchschnittlicher Kopfumfang

pFAS

partielles Fetales Alkoholsyndrom

RCT

randomisierte, kontrollierte, d. h. im Kontrollgruppendesign durchgeführte Studie (randomized controlled trial)

T-ACE-Fragebogen

Fragebogen zur Messung des Alkoholkonsums bei Schwangeren, basierend auf CAGE-Fragebogen (Tolerance – Annoyed – Cut down – Eye-opener)

TWEAK-Fragebogen

Fragebogen zur Messung des Alkoholkonsums bei Schwangeren) (Tolerance – Worried – Eye-opener – Amnesia – C(K)ut down)

VÄSE

deutschsprachiger Fragebogen zur Messung von riskantem bzw. schädlichen Alkoholkonsum, basierend auf CAGE-Fragebogen (Verringern – Ärger – Schuldgefühle – Einstiegstrunk)

ZNS

Zentrales Nervensystem

Geleitwort der Reihenherausgeber

 

 

 

Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte im Suchtbereich sind beachtlich und erfreulich. Dies gilt für Prävention, Diagnostik und Therapie, aber auch für die Suchtforschung in den Bereichen Biologie, Medizin, Psychologie und den Sozialwissenschaften. Dabei wird vielfältig und interdisziplinär an den Themen der Abhängigkeit, des schädlichen Gebrauchs und der gesellschaftlichen, persönlichen und biologischen Risikofaktoren gearbeitet. In den unterschiedlichen Alters- und Entwicklungsphasen sowie in den unterschiedlichen familiären, beruflichen und sozialen Kontexten zeigen sich teils überlappende, teils sehr unterschiedliche Herausforderungen.

Um diesen vielen neuen Entwicklungen im Suchtbereich gerecht zu werden, wurde die Reihe »Sucht: Risiken – Formen – Interventionen« konzipiert. In jedem einzelnen Band wird von ausgewiesenen Expertinnen und Experten ein Schwerpunktthema bearbeitet.

Die Reihe gliedert sich konzeptionell in drei Hauptbereiche, sog. »tracks«:

Track 1:

Grundlagen und Interventionsansätze

Track 2:

Substanzabhängige Störungen und Verhaltenssüchte im Einzelnen

Track 3:

Gefährdete Personengruppen und Komorbiditäten

In jedem Band wird auf die interdisziplinären und praxisrelevanten Aspekte fokussiert, es werden aber auch die neuesten wissenschaftlichen Grundlagen des Themas umfassend und verständlich dargestellt. Die Leserinnen und Leser haben so die Möglichkeit, sich entweder Stück für Stück ihre »persönliche Suchtbibliothek« zusammenzustellen oder aber mit einzelnen Bänden Wissen und Können in einem bestimmten Bereich zu erweitern.

Unsere Reihe »Sucht« ist geeignet und besonders gedacht für Fachleute und Praktiker aus den unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Suchtberatung, der ambulanten und stationären Therapie, der Rehabilitation und nicht zuletzt der Prävention. Sie ist aber auch gleichermaßen geeignet für Studierende der Psychologie, der Pädagogik, der Medizin, der Pflege und anderer Fachbereiche, die sich intensiver mit Suchtgefährdeten und Suchtkranken beschäftigen wollen.

Die Herausgeber möchten mit diesem interdisziplinären Konzept der Sucht-Reihe einen Beitrag in der Aus- und Weiterbildung in diesem anspruchsvollen Feld leisten. Wir bedanken uns beim Verlag für die Umsetzung dieses innovativen Konzepts und bei allen Autoren für die sehr anspruchsvollen, aber dennoch gut lesbaren und praxisrelevanten Werke.

Mit dem vorliegenden Band von Mirjam N. Landgraf und Tanja Hoff erfolgt die notwendige Fokussierung für alle in der Suchtforschung, -therapie und -prävention und in den benachbarten Arbeitsfeldern Tätigen auf die pränatale Phase der menschlichen Entwicklung. Aus heutiger Sicht ist es mehr als erstaunlich, dass das Störungsbild des Fetalen Alkoholsyndroms (FAS) erst 1973 erstmals wissenschaftlich beschrieben wurde und seitdem nach und nach Einzug in das Fachwissen der Fachkräfte – vor allem in den Bereichen Gynäkologie und Pädiatrie – gefunden hat. Inzwischen wird in der internationalen Literatur das Konzept der Fetalen Alkoholspektrumstörungen (FASD) als Umbrella-Konzept für eine ganze Reihe unterschiedlicher Phänomene und Symptomatiken benutzt. Diese werden in diesem Band genauer dargestellt und vertieft. Wie immer werden sowohl wissenschaftlich relevante Ergebnisse als auch praxisrelevante Folgerungen vorgelegt. Besonders breiten Raum erfahren dabei die Bereiche der Diagnostik und Prävention. Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern einen Kenntnisgewinn, der letzten Endes den betroffenen Personen, den Schwangeren und Ungeborenen zugutekommen soll.

 

Oliver Bilke-Hentsch, Winterthur/Zürich

Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, Köln

Michael Klein, Köln

Inhalt

 

 

 

  1. Abkürzungen und Begriffserläuterungen
  2. Geleitwort der Reihenherausgeber
  3. Einleitung
  4. Prävalenz, Diagnostik und Therapie der Fetalen Alkoholspektrumstörungen
  5. Mirjam N. Landgraf
  6. 1 Suchtmittelkonsum und Schwangerschaft – Häufigkeiten, Risikofaktoren und Folgen
  7. 1.1 Suchtmittelkonsum in der Schwangerschaft
  8. 1.1.1 Prävalenzen des legalen Substanzkonsums
  9. 1.1.2 Prävalenzen des illegalen Substanzkonsums
  10. 1.2 Risiko- und Einflussfaktoren für Alkoholkonsum in der Schwangerschaft
  11. 1.3 Folgen des mütterlichen Alkoholkonsums in der Schwangerschaft
  12. 1.3.1 Folgen für die Kinder
  13. 1.3.2 Folgen für die Eltern
  14. 2 Diagnostik der Fetalen Alkoholspektrumstörungen (FASD)
  15. 2.1 Fetales Alkoholsyndrom (FAS)
  16. 2.2 Partielles Fetales Alkoholsyndrom (pFAS)
  17. 2.3 Alkoholbedingte entwicklungsneurologische Störung (ARND)
  18. 2.4 Differentialdiagnosen
  19. 3 Entwicklungsrisiken und -störungen von Kindern mit FASD
  20. 3.1 Körperliche Entwicklungsrisiken
  21. 3.2 Kognitive Entwicklungsrisiken
  22. 3.3 Psychosoziale Entwicklungsrisiken
  23. 4 Behandlungsansätze
  24. 4.1 Therapiemöglichkeiten und -notwendigkeiten bei FASD
  25. 4.1.1 Protektive Faktoren als Therapienotwendigkeit
  26. 4.1.2 Grundsätze therapeutischer Möglichkeiten
  27. 4.2 Psychotherapie
  28. 4.3 Sprachtherapie, Physiotherapie, Ergotherapie
  29. 4.4 Sozial- und heilpädagogische Angebote
  30. 4.5 Medikamentöse Therapie
  31. 4.6 Vernetzte Versorgung
  32. Prävention von Alkoholkonsum in der Schwangerschaft und Fetaler Alkoholspektrumstörungen
  33. Tanja Hoff
  34. 5 Konzepte, Methoden und Rahmenbedingungen der Prävention
  35. 5.1 Grundlagen
  36. 5.1.1 Präventionsmodelle
  37. 5.1.2 FASD-Prävention: ein erster Überblick
  38. 5.2 Politische und rechtliche Rahmenbedingungen von Präventionsmöglichkeiten zu Alkoholkonsum in der Schwangerschaft
  39. 5.2.1 Politische Rahmenbedingungen
  40. 5.2.2 Rechtliche Rahmenbedingungen
  41. 5.3 Aufklärung und Sensibilisierung zu Alkoholkonsum in der Schwangerschaft und den Folgen für das ungeborene Kind
  42. 5.3.1 Allgemeine Aufklärung und Sensibilisierung in der Bevölkerung
  43. 5.3.2 Wirkung und Probleme massenmedialer Aufklärungskampagnen
  44. 5.3.3 Warnhinweise
  45. 5.4 Präventionsansätze in der Schule
  46. 5.5 Prävention in der gynäkologischen Praxis
  47. 5.5.1 Möglichkeiten der FASD-Prävention in der gynäkologischen Praxis
  48. 5.5.2 Kurzinterventionen im medizinisch-ambulanten Setting
  49. 5.5.3 Barrieren der Umsetzung
  50. 5.6 Prävention im nicht-medizinischen Bereich am Beispiel der Schwangerschaftsberatungsstellen
  51. 5.6.1 Praxisbeispiel: »Kölner Interventionsmodell« in der Schwangerschaftsberatungstelle und weiteren frühen Hilfen
  52. 5.7 Prävention durch Online-Interventionsangebote
  53. 5.7.1 Praxisbeispiel: Online-Plattform und -Training »IRIS«
  54. 5.7.2 Allgemeine Risiken und Vorteile von Online-Interventionen
  55. 5.8 Prävention durch vernetzte Strukturen und Interventionen
  56. 6 Ausblick
  57. Literatur
  58. Weiterführende Informationen
  59. Anhang: Vorschläge für die neuropsychologische Diagnostik bei Kindern und Jugendlichen mit Verdacht auf FASD
  60. Stichwortverzeichnis

Einleitung

 

 

 

Fetale Alkoholspektrumstörungen – was ist das denn? Früher häufig als Alkoholembryopathie bezeichnet und darauf beschränkt, fasst der international verwendete Begriff nunmehr alle Formen der Beeinträchtigungen eines Kindes zusammen, die durch den Alkoholkonsum der Mutter in der Schwangerschaft entstehen können. Hierunter fallen im engeren Sinne das »Vollbild« Fetales Alkoholsyndrom (FAS), aber auch das partielle Fetale Alkoholsyndrom (pFAS), sowie die alkoholbedingten entwicklungsneurologischen Störungen (ARND). Unabhängig von verschiedenen Risiko- und Schutzfaktoren, die das Entstehen dieser Krankheitsbilder wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher machen, ist der wesentliche Ursachenfaktor: Der Konsum von Alkohol in der Schwangerschaft.

Die Vielfalt der Symptome und Belastungen bei den geschädigten Kindern stellen Betroffene selbst, deren Familien und Fachkräfte der Professionen aus Medizin, Psychologie, Sozialer Arbeit, Pädagogik etc. vor enorme Herausforderungen. Das vorliegende Buch soll den derzeitigen Wissensstand zu Diagnostik, Therapie und Prävention kompakt darstellen und damit interdisziplinär zu einer verbesserten Versorgung beitragen.

Im ersten Teil des Buches widmet sich Frau Dr. med. Dipl.-Psych. Mirjam N. Landgraf, München, dem Themengebiet der Diagnostik und Therapie Fetaler Alkoholspektrumstörungen. Kapitel 1 behandelt entsprechend Häufigkeiten und Einflussfaktoren des Alkoholkonsums in der Schwangerschaft, Kapitel 2 erläutert ausführlich die Diagnostik und Differentialdiagnostik der Fetalen Alkoholspektrumstörungen. Nur wenn die alkoholbedingten Störungen erkannt werden – und hier müssen wir von einer deutlichen Unterdiagnostik sowohl in Deutschland als auch international ausgehen – können adäquate Behandlungen und Hilfen etabliert werden. Nach der Vorstellung der Entwicklungsrisiken und -verläufen von FASD-betroffenen Kindern in Kapitel 3 werden in Kapitel 4 Therapiemöglichkeiten erörtert.

Mit einer Prävalenz von ca. 1% in Deutschland sind die Fetalen Alkoholspektrumstörungen als lebenslang bestehende Behinderung deutlich häufiger als beispielsweise das Down-Syndrom (ca. 0,2%) – wären aber bei konsequenter Vermeidung des Alkoholkonsums in der Schwangerschaft zu 100% zu verhindern. Dass dies in einer alkoholaffinen Gesellschaft wie Deutschland an verschiedenen Barrieren scheitert, liegt nicht nur am Verhalten der Schwangeren im Umgang mit Alkohol, sondern vielfach auch an unzureichenden Präventionsketten von der Schulzeit bis hin zur Schwangerenbegleitung. Der Wissensstand in der Allgemeinbevölkerung, aber auch unter Fachkräften ist nach wie vor zu gering, um ein signifikantes Absenken der Prävalenzraten erwarten zu lassen. Zum Themengebiet Prävention des Alkoholkonsums in der Schwangerschaft und Fetaler Alkoholspektrumstörungen führt Prof. Dr. Dipl.-Psych. Tanja Hoff, Köln, im zweiten Teil dieses Buches in Kapitel 5 die strukturellen und politischen Rahmenbedingungen sowie Inhalte und Methoden der aktuellen Präventionsbemühungen aus.

Im Spannungsfeld der beteiligten Betroffenen und Fachkräfte ist eines nicht zu vergessen: Nicht Forderungen, Zwang, Diskriminierung oder moralische Verurteilung helfen Frauen, in der sensiblen Phase der Schwangerschaft auf Alkohol zu verzichten. Sondern es bedarf eines differenzierten psychologischen und medizinischen Wissens, vor allem aber einer unterstützenden, empathischen und fördernden Haltung, die ursächlichen und aufrechterhaltenden Bedingungen zu verstehen, wegen der Schwangere auf Alkohol nicht verzichten oder nicht verzichten können. Gelingt eine wertschätzende, verstehende beraterische Beziehung in den verschiedenen Feldern der Arbeit mit Schwangeren und gebärfähigen Frauen, können auch Wege zur Alkoholkonsumreduktion und Abstinenz für und mit den Klientinnen eröffnet werden. Gleiches gilt für die notwendigen diagnostischen Wege möglichst früh in der Kindheit: Liegen Entwicklungsverzögerungen oder Verhaltensauffälligkeiten vor, die trotz pädagogischer oder therapeutischer Bemühungen keine Verbesserungen zeigen, ist – auch bei fehlenden physiognomonischen Veränderungen – an eine diagnostische Abklärung einer Fetalen Alkoholspektrumstörung zu denken. Die Feststellung einer solchen Diagnose ist oft für das System – trotz der Perspektive einer lebenslangen Behinderung – auch eine Entlastung, weil auftretende Probleme in der psychosozialen Entwicklung des Kindes besser verstanden werden können und Erwartungshaltungen sich verändern. Hilfreiche und wirksame Therapie- und Präventionsangebote dauerhaft zu implementieren muss das langfristige Ziel aller Interventionsbemühungen für diese Zielgruppe sein.

Wenn bei bestimmten Begriffen, die sich auf Personengruppen beziehen, nur die männliche Form gewählt wurde, so ist dies nicht geschlechtsspezifisch gemeint, sondern geschah ausschließlich aus Gründen der besseren Lesbarkeit.

 

 

 

 

 

 

Prävalenz, Diagnostik und Therapie der Fetalen Alkoholspektrumstörungen

Mirjam N. Landgraf

 

 

 

 

 

1

Suchtmittelkonsum und Schwangerschaft – Häufigkeiten, Risikofaktoren und Folgen

 

1.1       Suchtmittelkonsum in der Schwangerschaft

1.1.1     Prävalenzen des legalen Substanzkonsums

Alkoholkonsum in der Schwangerschaft

Laut der Studie »Gesundheit in Deutschland Aktuell« (GEDA 2011) haben knapp 20% der schwangeren Frauen einen moderaten Alkoholkonsum (Wert im AUDIT-C von 1–3) und knapp 8% einen riskanten Alkoholkonsum (Wert im AUDIT-C von ≥ 4).

Der AUDIT-C (alcohol use disorders identification test-consumption; Bush et al. 1998) ist ein Screening-Instrument zur Identifikation von riskantem Alkoholkonsum, von Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit. Er besteht aus drei Fragen, deren Antworten mit jeweils 0 bis 4 Punkten bewertet werden, sodass ein Gesamtwert von minimal 0 bis maximal 12 Punkten resultiert.

12% der Schwangeren geben ein binge drinking (entspricht einem Rauschtrinken, ≥ 5 Getränke pro Gelegenheit) seltener als einmal pro Monat an, knapp 4% jeden Monat und 0,1% mindestens jede Woche an.

Im direkten Vergleich von elf europäischen Ländern ergaben sich in einer anonymen Online-Befragung deutliche regionale Unterschiede (Mårdby et al. 2017). Der Fragebogen erfasste den Alkohol- und Tabakkonsum während der Schwangerschaft sowie soziodemografische Faktoren und stand im Zeitraum von Oktober 2011 bis Februar 2012 für Schwangere bzw. Mütter nach der Geburt online zu Verfügung. Von 7905 teilnehmenden Frauen berichteten 15,8% von einem Alkoholkonsum in der Schwangerschaft; davon besonders betroffen waren Großbritannien (28.5%), Russland (26,5%) und die Schweiz (20,9%), während Norwegen (4,1%), Schweden (7,2%) und Polen (9,7%) vergleichsweise geringe Prävalenzen aufwiesen.

Laut aktuellem Wissensstand kann keine für alle Schwangeren geltende, für das ungeborene Kind ungefährliche Menge an mütterlichem Alkoholkonsum bestimmt werden.

Merke

Ca. 28% der Frauen in Deutschland trinken Alkohol in der Schwangerschaft, ca. 16% zeigen ein binge-drinking-Verhalten.

Nikotinkonsum in der Schwangerschaft

Laut KIGGS Ergebnissen (Bergmann et al. 2007; Erfassung zwischen 2003 und 2006) rauchen ca. 18% aller Mütter in Deutschland während der Schwangerschaft. Risikofaktoren waren niedrigere soziale Schicht, kein Migrationshintergrund und wohnhaft in einer Großstadt.

In einer aktuellen irischen Studie (Reynolds et al. 2017) zeigte sich über einen Verlauf von fünf Jahren ein signifikanter Rückgang der rauchenden Schwangeren von 14,3% auf 10,9% (n = 42509, durchschnittliches Alter = 31,4 ± 5,5 Jahre). Risikofaktoren für das Rauchen während der Schwangerschaft waren ein jüngeres Alter, Arbeitslosigkeit, Multiparität, ungewollte Schwangerschaft, psychiatrische Erkrankungen, Konsum von Alkohol und/oder illegalen Drogen.

1.1.2     Prävalenzen des illegalen Substanzkonsums

Prävalenzdaten zum Konsum illegaler Substanzen in der Schwangerschaft sind in den wenigsten Ländern verfügbar und liegen zudem häufig in sehr unterschiedlicher methodologischer und damit nicht vergleichbarer Form vor (European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction 2012). Eine annähernde Schätzung des illegalen Substanzkonsums in der Schwangerschaft ist aufgrund häufiger Verschweigungstendenzen, aber auch geringerer Inanspruchnahme von vor- und nachgeburtlichen Hilfen betroffener Schwangerer äußerst schwierig. Im amerikanischen National Survey on Drug Use and Health konsumierten nach Selbstauskunft in der Erhebungswelle 2012/2013 5,4% aller schwangeren Frauen kürzlich illegale Substanzen (z. B. Cannabis, Kokain, Halluzinogene, Heroin, Methamphetamin, missbräuchlich verschreibungspflichtige Medikamente) (U.S. Department of Health and Human Services 2014). Besonders auffällig in den amerikanischen Daten über die vergangenen Erhebungswellen ist, dass vor allem sehr junge Schwangere illegale Substanzen konsumierten: 14,6% der 15- bis 17-Jährigen, 8,6% der 18- bis 25-Jährigen und 3,2% der 26- bis 44-Jährigen. Dabei wurden computerunterstützte Interviewformen genutzt, die als relativ valide gegenüber face-to-face-Interviews gelten, auch wenn generell von Unterschätzungen der tatsächlichen Prävalenzen aufgrund von Antworttendenzen auch unter Schwangeren ausgegangen werden muss.

Dies zeigt sich auch in Untersuchungen, die biologische Marker mit Selbstauskünften der Schwangeren in Zusammenhang stellen. So fanden Friguls et al. (2012) in einer spanischen Studie bei 16% der werdenden Mütter in Haaranalysen biologische Marker für illegale Substanzen während des letzten Trimesters, jedoch gaben lediglich 2% der Mütter einen solchen Konsum an.

Ebenfalls in einer spanischen Studie (Roca Comas et al. 2017) wurden alle schwangeren Frauen um den Geburtstermin in einem Regionalkrankenhaus über einen einjährigen Zeitraum hinsichtlich des Substanzkonsums laboranalytisch untersucht. Dies geschah allerdings mit der zwar forschungsethisch notwendigen, aber aussagelimitierenden Einholung des Einverständnisses der Frauen; 83,6% der angesprochenen 862 Frauen stimmten hier zu. Bei 5,4% der Teilnehmerinnen wurden Hinweise auf Substanzkonsum gefunden. Während keine der Teilnehmerinnen positiv auf Opioide getestet wurde, war die häufigste identifizierte Substanz Cannabis. Auch im aktuellen Deutschen Epidemiologischen Suchtsurvey (Gomes de Matos 2016), nach dem 5,8% aller Frauen zwischen 18 und 64 Jahren illegale Substanzen konsumieren, gilt Cannabis unter beiden Geschlechtern als häufigste konsumierte illegale Droge.

Besonders zu bedenken, auch im Sinne des Schutzes des ungeborenen Kindes, ist, dass viele Konsumentinnen illegaler Substanzen häufig nicht nur eine Substanz konsumieren, sondern unter einer Polytoxikomanie leiden. Auch auf die Dynamik von ggf. ungewollten Schwangerschaften ist hinzuweisen, die sich sowohl motivierend als auch schädigend auf das Verhalten dieser Schwangeren auswirken können: Sowohl die Motivation, das Kind zu schützen, als auch Abwehr und Aggression gegenüber dem Ungeborenen aufgrund einer ungewollten Schwangerschaft sind zu beobachten. Im ersten Fall gelingt ggf. eine Reduktion (aber meist keine völlige Abstinenz) zum Schutze des Kindes, im zweiten Fall ist der schwangeren Mutter in einigen Fällen das Wohl des Ungeborenen gleichgültig bis hin zum Wunsch, das Kind schädigen bzw. loswerden zu wollen.

1.2       Risiko- und Einflussfaktoren für Alkoholkonsum in der Schwangerschaft

Merke

Die Bestimmung von Risikofaktoren für Alkoholkonsum in der Schwangerschaft ist wichtig, um das medizinische, psychologische und sozialpädagogische Fachpersonal bezüglich daraus resultierender Risikopopulationen zu sensibilisieren. Erst dadurch kann den identifizierten Risikogruppen unter den zukünftigen Eltern eine intensivierte Aufklärung angeboten werden.

Ziel ist die Reduktion der Prävalenz von mütterlichem bzw. elterlichem Alkoholkonsum während der Schwangerschaft und damit der Inzidenz von FASD.

Die durch eine systematische Literaturrecherche belegten Risikofaktoren für mütterlichen Alkoholkonsum in der Schwangerschaft sind hier aufgeführt (laut europäischer Literatur, Landgraf und Heinen 2016a):

Alter

•  < 25 Jahre: Rauschtrinken (≥ 5 Getränke zu einer Gelegenheit) (Mullally et al. 2011)

•  > 30 Jahre: häufigerer milder/moderater Alkoholkonsum (Alvik et al. 2006, Göransson et al. 2003, Murphy et al. 2013, Rebhan et al. 2009)

Nationalität

•  Frauen ohne Migrationshintergrund (Bergmann et al. 2007, Murphy et al. 2013, Rebhan et al. 2009, Mullally et al. 2011)

Sozioökonomischer Status

(Bergmann et al. 2007, Alvik et al. 2006, Rebhan et al. 2009, Mullally et al. 2011, Strandberg-Larsen et al. 2008)

•  höhere Bildung

•  höheres Einkommen

•  keine Arbeitslosigkeit

•  private Krankenversicherung

Soziale Umgebung

•  alleinstehende Frauen (Rebhan et al. 2009, Mullally et al. 2011, De Santis et al. 2011)

•  Gefängnisinsassinnen (Cave: nur eine Studie) (Knight und Plugge 2005)

•  Bezugspersonen, die ebenfalls Alkohol trinken, rauchen oder illegale Drogen einnehmen (Studien aus USA: siehe Landgraf und Heinen 2016a)