Die Autoren

Prof. Dr. Sigrun-Heide Filipp ist Professorin der Psychologie an der Universität Trier (Ende der Lehrtätigkeit 2008).

Dr. Peter Aymanns war bis 2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Psychologie an der Universität Trier.

Sigrun-Heide Filipp Peter Aymanns

Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen

Vom Umgang mit den Schattenseiten des Lebens

2., aktualisierte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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2. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

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ISBN 978-3-17-032918-8

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Vorwort zur 2. Auflage

 

 

 

Seit Erscheinen der Erstauflage dieses Buches sind weniger als zehn Jahre vergangen. Ein kurzer Blick in die Welt zeigt uns, dass unsere Thematik keinesfalls an Brisanz und Aktualität verloren hat: Ganze Gesellschaften und Millionen von Menschen befinden sich auf den »Schattenseiten« des Lebens. Und ein kurzer Blick in die Datenbanken unseres Faches zeigt uns, dass einzelne Stichwörter uns oft zu mehreren tausend einschlägigen Veröffentlichungen in den letzten Jahren führen. Was tun? Auf der einen Seite sind wir zu der Überzeugung gelangt, dass unser Buch noch immer einen sehr guten Überblick der Forschungslandschaft zu kritischen Lebensereignissen bietet; auf der anderen Seite sind einige Themen in den Vordergrund gerückt, die wir mit subjektiver Akzentuierung und ohne jegliche Systematik auf den folgenden Seiten kurz darstellen wollen.1

Der zeitgeschichtliche Kontext: Massentrauma und kollektives Leid

Es ist nicht neu, Ereignisse in ihrem jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontext und auf der Makroebene zu beleuchten (»history-graded events«; Kap. 2.2.4). Beispielhaft dafür standen Arbeiten, die der Weltwirtschaftskrise der 1920er Jahre oder unlängst der »Finanzkrise« des Jahres 2008 (Pruchno et al., 2017) gewidmet waren. In diesen Arbeiten ging es nicht darum, singuläre (kritische) Ereignisse und ihre vermuteten Folgen in den Blick zu nehmen, sondern sie waren darauf ausgerichtet, die soziohistorische Kontextualisierung lebenslanger Entwicklung zu illustrieren und nachzuweisen, wie sehr individuelle Entwicklungsverläufe von solchen »Makroereignissen« bestimmt sind und wie unterschiedlich die Folgen sind, die diese Ereignisse für einzelne Generationen resp. Geburtskohorten besessen haben.

Seit jeher und bis zum heutigen Tage sehen wir gänzlich andere Varianten zeitgeschichtlich verorteter Ereignisse: Unzählige Studien sind und waren dem kollektiven Leid gewidmet, von dem große Teile einer Bevölkerung betroffen waren. In diesen Studien ging es – ganz der tradierten Unterscheidung von »natural disasters« versus »man-made disasters« folgend – entweder um Überlebende großer Natur- und Umweltkatastrophen oder um Menschen, die Opfer der unterschiedlichsten Formen menschlicher Gewalt geworden waren. Bis heute gilt es dabei als unwidersprochener Befund, dass es die letztgenannten Erfahrungen sind, die nachhaltige Folgen für die Betroffenen zeitigen (zuletzt Brown et al., 2017). In den Blick geraten ist zudem kollektives Leid in der Folge von Kämpfen und Kriegen, von Folter und staatlicher Gewalt, von Flucht und Vertreibung – »Massentraumatisierung« hat sich hier inzwischen als Begriff eingebürgert. Dementsprechend sehen wir millionenfaches individuelles Leid bei den betroffenen Menschen, die (wiederkehrenden) traumatischen Erfahrungen ausgesetzt sind oder waren. Solche kollektiven wie individuellen Erfahrungen sind, wie wir wissen, weder erstmalig noch einmalig in der Geschichte von Menschen. Für unsere Tage neu daran ist indes, dass all dies eine nie dagewesene mediale Präsenz besitzt und wir – oft ungewollt – zu (virtuellen) Zeugen der vielen Tragödien in den entferntesten Winkeln dieser Erde werden. Bruchstückhaft haben diese Tragödien – wenn überhaupt – Eingang in die Forschung gefunden.

Über Jahrzehnte galt in der Belastungs- und Bewältigungsforschung das Interesse den Menschen, die in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt waren. Die (US-amerikanische) Forschung hatte sich anfangs bekanntlich den Veteranen des Vietnamkriegs oder der Koreakriege zugewandt, später ging es z. B. auch um Soldaten, die am Irak-Krieg teilgenommen hatten (Holbrook et al., 2010). Wittchen et al. (2012) haben über die Folgen berichtet, die bei deutschen Soldaten nach ihrem Einsatz in Afghanistan zu beobachten waren: Diese wiesen (bezogen auf eine Vergleichsgruppe von Soldaten ohne Auslandseinsatz) ein zwei- bis vierfach erhöhtes Risiko auf, Symptome einer Belastungsstörung zu entwickeln. Und bis heute finden sich Studien, die in Deutschland mit Soldaten des Zweiten Weltkrieges (z. B. Nandi et al, 2014) oder mit Hinterbliebenen von im Zweiten Weltkrieg vermissten deutschen Soldaten (Orlowski et al., 2016) durchgeführt wurden. Diese und andere Befunde verweisen beispielhaft auf den langen Arm solcher Erfahrungen selbst über Jahrzehnte hinweg. Kurzum: Das Trauma von Kriegserfahrungen, das millionenfach, in vielen Ländern und fast zu allen Zeiten das Leben der Betroffenen verändert hat, findet bis heute entsprechende Aufmerksamkeit.

Zudem sind und waren Traumatisierungen nicht nur bei denjenigen zu beobachten, die direkt am Kriegsgeschehen beteiligt sind, sondern oft sind auch große Teile der Zivilbevölkerung in Regionen mit Kriegen oder bürgerkriegsähnlichen Zuständen davon betroffen. Das Interesse gilt dabei zunehmend auch Kindern, die Terror ausgesetzt waren und/oder in Kriegsgebieten leben mussten, einschließlich jener, die als sog. »Kindersoldaten« missbraucht wurden (Hermenau et al., 2013; Masten & Narayan 2012; auch Fernando & Ferrari, 2013). Zwar ließ sich auch für diese Gruppen der aus der Traumaforschung berichtete »dose-response«-Gradient nachweisen, wonach die Folgen eines Ereignisses (oder einer Ereignisfolge) umso gravierender sind, je traumatischer und anhaltender diese Erfahrungen waren. Doch hat sich gerade für Stichproben von Kindern (und Jugendlichen) die Trennung oder der komplette Verlust von Eltern und Familien als ein zusätzlicher besonders kritischer Faktor erwiesen (vgl. die Metaanalyse von Furr et al., 2010). Zugleich wurde berichtet, dass bei Kindern seltener als bei Erwachsenen (bei vergleichbaren Belastungen) das Vollbild einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) zu sehen sei – viel häufiger seien bei ihnen Entwicklungsrückschritte oder -verzögerungen, Verhaltensauffälligkeiten oder andere Belastungssymptome nachweisbar (siehe Fegert et al., 2018).

Zunehmend finden sich auch Studien mit Personen, die Opfer staatlicher Willkür bis hin zu Folterungen geworden sind (Gurris & Wenk-Ansohn, 2013), wobei Folter durchweg als die übelste Form der »man-made disasters« etikettiert wird, von der Menschen bis heute in vielen Ländern bedroht sind. Solche Beispiele zeugen davon, welche Abgründe sich in menschlichem Handeln auftun und was der Mensch dem Menschen zuzufügen in der Lage ist. Es sind Erfahrungen auf Seiten der Opfer, die ganz offensichtlich keine Entsprechungen in unserer Vorstellungswelt besitzen, weshalb sie eben im schlimmsten Sinne des Wortes »unfassbar« und so unendlich schwierig zu bewältigen sind. Auch die vielen Studien mit Überlebenden des Holocaust und vor allem die unzähligen Bücher, in denen diese Überlebenden ihre Erinnerungen niedergeschrieben haben, zeugen von solchen »unfassbaren« Erfahrungen und ihren Langzeitwirkungen. Zwischenzeitlich sind auch andere Opfer staatlicher Willkür in den Blick geraten – etwa Überlebende des Rote Khmer-Regimes in Kambodscha (Stammel et al., 2013) oder Personen, die ehemals in der DDR politisch inhaftiert worden waren (Maercker, Gäbler & Schützwohl, 2012) – um nur einige Beispiele zu nennen. Nicht selten ist in diesen Studien von einer »traumabezogenen Langzeitmorbidität« die Rede, deren Symptomatik noch nach Jahrzehnten erkennbar sei. Leid, das Menschen von anderen Menschen in welcher Form auch immer (intentional) zugefügt wird, stößt eben fast immer an die Grenzen des Bewältigens.

Auch Flucht und Vertreibung gehören wohl schon immer zu den größten Tragödien, von denen Massen von Menschen bis heute betroffen sind und waren. Mit Blick auf das Jahr 2014 wird von annähernd 60 Millionen Menschen ausgegangen, die weltweit auf der Flucht sind (Brown et al., 2017); das damit verbundene Leid dieser Millionen von Menschen bleibt und blieb den Forschern in aller Regel verborgen. [Vielleicht mag auch die Ehrfurcht vor dem unvorstellbaren Leiden der Betroffenen so manchen Impuls wissenschaftlicher Neugier unterdrücken?] Selbstredend gibt es Ausnahmen und empirische Evidenz mit Blick auf unterschiedliche Regionen und Epochen.

Erst kürzlich hat sich der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen (siehe Fegert et al., 2017) in einem Gutachten mit der Situation von aus Kriegsgebieten geflüchteten Familien und ihren Kindern befasst. Dort wird hervorgehoben, dass »Kinder aus Flüchtlingsfamilien wegen ihrer Traumatisierungen im Heimatland und der vielfältigen Belastungen durch die Flucht besonders gefährdet seien, gravierende kognitive und sozioemotionale Störungen zu entwickeln und in ihrem weiteren Entwicklungsverlauf nachhaltig beeinträchtigt zu sein« (S. 6). Diese Risiken seien zudem erheblich vergrößert, wenn die Eltern ihrerseits traumatisiert und deshalb kaum in der Lage seien, für ihre Kinder förderliche Lebensbedingungen mit zu schaffen. Folgerichtig sei es eine vordringliche Aufgabe, die Erziehungskompetenz von Flüchtlingseltern zu stärken. Dass es von jeher auch immer um die therapeutische Behandlung traumatisierter Erwachsener wie Kinder ging, zeigt die beindruckende Zahl von Arbeiten, die den Möglichkeiten professioneller Hilfen, der Therapie der Posttraumatischen Belastungsstörungen und anderer Traumafolgen gewidmet sind (zuletzt Brown et al., 2017; zum Überblick auch Maercker, 2013).

Für eine Stichprobe von Personen, die in die Niederlande geflüchtet waren und dort im Durschnitt bereits über zehn Jahre lebten, berichten Huijts et al. (2012) eine hohe Prävalenz von Traumafolgestörungen. Lindert et al. (2018) haben in ihrer Übersichtsarbeit auf sehr hohe Prävalenzraten auch für Angst und Depression in Stichproben geflüchteter Personen verwiesen, zugleich aber betont, wie wenig letztlich in Deutschland (und vermutlich weit darüber hinaus) über die psychische Situation von geflüchteten Personen bekannt sei. Mit Blick auf die Folgen des Zweiten Weltkriegs haben Kuwert et al. (2012) bei einer repräsentativen Stichprobe der deutschen Bevölkerung Erfahrungen von Flucht und Vertreibung ermittelt und dies für gut 12 Prozent der Befragten berichtet. Dabei zeigte diese Gruppe im Vergleich zu Personen ohne Fluchterfahrung auch noch 60 Jahre später deutlich erhöhte Symptome einer PTBS, wobei sich die Anzahl singulärer traumatisierender Erlebnisse, denen diese Menschen während der Flucht ausgesetzt waren, als der entscheidende Mediator erwies. Vor diesem Hintergrund mag es auch nicht verwundern, dass »Heimweh« erneut zu einem vielzitierten psychologischen Konstrukt avanciert ist, das nunmehr im Kontext von Flucht und Vertreibung ein neues Gesicht erhält (Übersicht siehe Stroebe, Schut & Naud, 2015).

Das Individuum im Fokus: Trauma, Verlust, Stress und das Bewältigungsgeschehen

Das verbreitete Interesse an (traumatischen) Ereignissen, die große Gruppen von Menschen bis hin zu ganzen Völkern betreffen, ist – wie soeben skizziert – der Tatsache geschuldet, dass die Welt an vielen Orten aus den Fugen geraten und millionenfaches Leid über große Bevölkerungsgruppen bis hin zu ganzen Völkern gekommen ist. Es wäre indes Sarkasmus pur und käme einer Verhöhnung der Opfer gleich, wollte man hier auf die alte Volksweisheit vertrauen, wonach »geteiltes« Leid eben nur »halbes« Leid sei (wie es zuweilen implizit bei »history-graded events« mitgeklungen war). Die Rede vom Teilen des Leids mag sich – wenn überhaupt – hin und wieder aufdrängen, wenn es im Zuge von technischen Desastern oder (Natur)Katastrophen zu einer Solidarisierung der Opfer und zu wechselseitiger Unterstützung oder nachhaltigen Formen der Vernetzung gekommen war und/oder wenn die Betroffenen das Geschehen mit mutueller Hilfe hatten bewältigen können. In allen Fällen aber werden Ereignisse auf der Makroebene stets transformiert in individuelles Schicksal und in das Leiden jedes einzelnen Menschen. Insofern geht es immer um die Kernfragen, wie sie in der Ereignisforschung seit jeher diskutiert werden: Wie gehen die Betroffenen mit dem fraglichen Ereignis um? Welche Folgen hat es für die Betroffenen? Welche individuellen Unterschiede in Risiken und Ressourcen sind erkennbar? Dies macht deutlich, dass die in unserem Buch dargelegten Themen und Befunde auch auf Analysen auch traumatischer Ereignisse anwendbar sind, obschon diese selbstredend auch Spezifika aufweisen, die über unser Verständnis von kritischen Ereignissen weit hinaus gehen.

Zugleich ist die begriffliche Festlegung, wonach es sich bei einem (kritischen) Ereignis um ein raumzeitlich eng umgrenztes (inzidentelles) Geschehen handle, unscharf geworden; denn viele Ereignisse, die heute im Fokus stehen, weisen entweder eine große zeitliche Erstreckung auf (z. B. Vertreibung), oder es handelt sich eben nicht um ein einmaliges Gesehen (z. B. Verwicklung in einen schweren Unfall), sondern um wiederkehrende Erfahrungen, denen die Betroffenen immer und immer wieder ausgesetzt sind. Das mag für Beteiligte an Kriegshandlungen ebenso gelten wie für jene, die in ihrer Kindheit Opfer sexualisierter Gewalt resp. sexuellen Missbrauchs geworden sind.

»Sexueller Missbrauch resp. Gewalt in der Kindheit« hat als Ereigniskategorie offenbar in den letzten Jahren große Aufmerksamkeit auf sich gezogen. So betont Maercker (2013), dass er dazu erstmals in die Vierte Auflage seines Sammelbands ein entsprechendes Kapitel aufgenommen habe (Ehring, 2013). In der Tat fällt auf, dass auch einige Metaanalysen zu den (Langzeit-)Folgen belasteter Kindheiten »Sexualisierte Gewalt gegen Kinder« nicht durchgängig als spezielles Ereignis aufführen (z. B. Hiller et al., 2016; Trickey et al., 2012); oft wurden in den einzelnen Studien eher akzidentelle Ereignisse (z. B. Verwicklung in einen Verkehrsunfall, schwere Erkrankung, Naturkatastrophe) thematisiert. Natürlich ist die Erfahrung von Gewalt in der Kindheit weder ein neues noch ein seltenes Phänomen (für deutsche Stichproben z. B. Deegener, 2013; Schilling et al., 2016), wie auch der »lange Arm der Kindheit«, vor allem wenn diese von kritischen oder traumatischen Ereignissen überschattet war, immer ein Forschungsthema gewesen ist ( Kap. 9.1). Wohl aber muss man hier auf den Mantel kollektiven Schweigens verweisen, unter dem verschiedene Formen körperlicher (sexualisierter) Gewalt gegen Kinder über Jahre oder Jahrzehnte verdeckt geblieben sind (was vermutlich für viele Regionen und Länder der Erde gilt). Mit Blick auf Deutschland denkt man zugleich an die schleppende Aufdeckung und den nunmehr öffentlich gewordenen Tatbestand des langjährigen Missbrauchs, dem Kinder und Jugendliche in Schulen, Internaten, (Sport-)Vereinen oder kirchlichen Einrichtungen ausgesetzt waren. Auch die Betroffenen ihrerseits fanden und finden in vielen Fällen keine Worte, um das Erlebte mitzuteilen und zu beschreiben, weshalb sich über Jahre zu dem kollektiven Schweigen auch die jeweils individuelle Sprachlosigkeit gesellt hat. Nicht übersehen werden darf selbstredend, dass Kinder immer auch innerhalb ihrer Familien oder Verwandtschaftssystemen zu Opfern sexueller Missbrauchs geworden sind und werden und sie auch dort mit einem kollektiven Schweigen konfrontiert sind.

Wie der Darstellung von Ehring (2013) zu entnehmen ist, sind die langfristigen, d. h. bis in das Erwachsenenalter hineinreichenden Folgen kindlicher Gewalt- und Missbrauchserfahrungen nicht (nur) als Symptome einer PTBS abzubilden, sondern diese manifestieren sich offenbar in einer Vielzahl komorbider Störungen. Daher müsse von einer »hohen Symptomkomplexität« (S. 400) gesprochen werden, deren Ausmaß mit Anzahl, Dauer und Schwere der in der Kindheit erlebten Traumata direkt korrespondiere. Dass zudem, wie Ehring (2013) weiter ausführt, in den einschlägigen (Meta-)Analysen, die der Effektivität psychotherapeutischer Behandlung einer PTBS gewidmet waren, Studien mit Erwachsenen, die in ihrer Kindheit Opfer sexueller und/oder körperlicher Gewalt gewesen waren, unterrepräsentiert seien, mag ein weiterer Beleg für den genannten »Mantel des Schweigens« sein. Vermutlich wird es noch lange dauern, bis die psychobiologische Forschung jene Veränderungen identifiziert hat, über die solche extrem aversiven Kindheitserfahrungen transformiert werden in die Entstehung körperlicher Erkrankungen und psychischer Störungen im Erwachsenenalter.

Im Gegensatz zu der klaren Umschreibung dessen, was Ereignisse zu »traumatischen« Erfahrungen macht (v. a. Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit), lässt sich bis heute nicht eindeutig explizieren, was Ereignisse als »kritisch« ausweist. Als gemeinsamen begrifflichen Kern teilen die einzelnen in der Forschung beachteten Ereignisse ( Kap. 2.3), dass sie fundamentale Weltsichten sensu »positiver Illusionen« (»meine Welt ist ein sicherer Ort«) erschüttern, dass sie die Befriedigung zentraler Bedürfnisse (z. B. nach Zugehörigkeit, nach Selbstachtung, nach Vertrauen in andere und/oder in das eigene Tun etc.) verhindern oder erschweren und/oder dass sie von Angst und/oder Hilflosigkeit begleitet sind. Über die in diesem Sinne »kritischen« Ereignisse hinaus nehmen Verlustereignisse bis heute einen breiten Raum in der Forschung ein, und zwar Verluste normativer Art (z. B. Tod des Ehepartners im hohen Alter) wie auch Verluste in Form erwartungswidriger, non-normativer Zäsuren im Leben (z. B. Tod eines Kindes) bis hin zu Verlusten, die eingebettet sind in kollektives oder individuelles Trauma (z. B. Verlust der Heimat).

Korrespondierend mit dem Interesse an Verlust als breiter Ereigniskategorie findet bis heute der Verlauf des Trauerprozesses resp. finden die einzelnen Varianten der Verlustverarbeitung große Beachtung. Dies zeigt sich u. a. darin, dass prolongierte (komplizierte) Trauer ein prominentes Forschungsthema geblieben ist (z. B. Lundorf et al., 2017; Maccallum & Bryant, 2013; Stroebe, Schut & van den Bold, 2013). Zunehmend wird dabei auf die konzeptuelle Nähe prolongierter Trauer zu repetitivem Denken und Rumination (»grief rumination«; z. B. Eisma et al., 2015; Kap.7.2) verwiesen. Es geht dabei um Gedanken, die in Form des »vor sich hin Brütens« um den Verlust resp. die verlorene Person kreisen und die sich der willentlichen Kontrolle des Trauernden entziehen. Verlustbezogene Gedanken dominieren und verhindern, dass die Betroffenen – um im Sinne des »Dual process model of trauma« von Bonanno et al. (2011) zu sprechen – eine nach vorne gerichtete Perspektive einnehmen können. Ähnliches war bereits in dem »Zwei-Prozess-Modell des Trauerns« angesprochen worden (Stroebe & Schut, 1999; Kap. 6.2). Repetitives Denken resp. Rumination hat eben deshalb eine so lange Haltbarkeitsdauer, weil es den Betroffenen nicht gelingt, Kontrolle über ihr Denken zu gewinnen und ihre Aufmerksamkeit strategisch zu steuern (im Gegensatz zu »reflexivem« Ruminieren, das willentlicher Kontrolle unterliegt). Dies hat bekanntlich zur Folge, dass sich depressive Störungen entwickeln bzw. depressive Episoden zeitlich ausgedehnt und in ihrer Intensität verstärkt werden (Siegrist, Bellingrath & Kudielka, in press). Dass in der (habituellen) Neigung zu Rumination auch der Schlüssel zum Verständnis von Geschlechterunterschieden in depressiven Störungen liegt, erscheint als relativ gesichert (Shors et al., 2016). Zudem gilt das Interesse seit jeher auch den spezifischen Inhalten, um die repetitives Denken kreist. Diese mögen sich in Form von Reue, kontrafaktischem Denken, erlebter Ungerechtigkeit oder Schuldgefühlen nach dem Tod einer geliebten Person (z. B. Li et al., 2013) manifestieren und schwer zu tragende Lasten in sich bergen.

Folgerichtig wird Modellen der Aufmerksamkeitssteuerung bis heute besondere Beachtung geschenkt (Whitmer & Gottlieb, 2013); dies gilt insbesondere auch, wenn es um die Bewältigung traumatischer Ereignisse geht. Denn Defizite in der Aufmerksamkeitssteuerung, wie sie sich in ruminativem Denken offenbaren, befördern nicht nur Depression, sondern auch Angststörungen und das Risiko, eine posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln (z. B. Iqbal & Dar, 2015; Krenek & Majisto, 2013). Zudem gilt für traumatische Erfahrungen, dass sie zentrale Gedächtnisinhalte in Struktur und Funktion nachhaltig verändern und »böse Narben im Kopf« hinterlassen (wie Herta Flor in der FAZ vom 13. Dezember 2017 schrieb). Dies offenbart sich nicht nur in wiederkehrenden Intrusionen und »flashbacks«, die ihrerseits vom Unvermögen der Person zeugen, Kontrolle über ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen (zusammenfassend vgl. Maercker, 2013), sondern auch in dissoziativen Phänomenen als dem teilweisen oder vollständigen Unvermögen, die betreffenden Erfahrungen in das autobiografische Gedächtnis zu integrieren. Nach unserem Überblick hat diese Thematik eine außerordentliche Resonanz in der Forschung (auch und gerade mit Blick auf das breite Spektrum möglicher Interventionsansätze) gefunden.

Als gleichsam salutogenetisches Gegenstück zu repetitivem Denken und Rumination findet neuerdings die Flexibilität des Bewältigungsverhaltens besondere Beachtung: Wie Cheng et al. (2014) im Rahmen ihrer Metaanalyse hervorheben, wird »Flexibilität« höchst unterschiedlich konzeptualisiert und besitzen die einzelnen Varianten unterschiedliche adaptive Bedeutung. Eine Variante von Flexibilität wurde in den erwähnten dualen Modellen thematisiert, in denen der flexible Wechsel der Aufmerksamkeit von dem Vergangenen (Trauma, Verlust) auf das Künftige (Wiederherstellung, Erholung; vgl. »trauma focus vs. forward focus«; Bonanno et al., 2011) betont wird. In diesem (willentlich herbeigeführten?) Wechsel soll der Schlüssel für eine langfristig gelingende Bewältigung liegen. Eine völlig andere Konzeption von Flexibilität im Bewältigungsgeschehen liegt dem Zwei-Prozess-Modell von Brandtstädter zugrunde (vgl. »Das flexible Selbst«; Brandtstädter, 2007; Kap. 6.4), das breite Beachtung gefunden und zwischenzeitlich (auch international) eine Fülle empirischer Studien angeregt hat (zuletzt z. B. Martinet et al., 2017). Ursprünglich war diese Modellbildung zentriert um das Verständnis gelingenden Alterns resp. positiver (Selbst-)Entwicklung über die Lebensspanne, die als Folge des adaptiven Wechselspiels beider Formen der Handlungsregulation (siehe unten) aufgefasst wird. Doch lässt sich der Geltungsbereich dieses Modells nahtlos auf den Umgang mit kritischen Ereignissen (in Sonderheit den Umgang mit Verlusten) übertragen. Denn diese sind konzeptuell auch zu fassen als Ereignisse, die die Erreichung wichtiger Lebensziele dauerhaft blockieren und Handlungspfade verschließen und der Person »Loslassen!« als Imperativ auferlegen. Demgemäß stellt »flexible Zielanpassung« (Akkomodation) in dieser Situation den adaptiven Prozess dar, indem das Aufmerksamkeitsfeld (auch: nicht intentional) für alternative Ziele und Handlungspfade geweitet, die Valenz des jeweiligen alternativen Ziels aufgewertet und die Valenz des blockierten Ziels abgewertet wird. Hingegen würde der alternative Prozess »hartnäckige Zielverfolgung« (Assimilation) in Form des rigiden Festhaltens an Unerreichbarem oder der misslingenden Abwertung des Verlorenen etc. in dieser Situation in Depression (oder andere Störungen) münden. Es geht also im Kern um das ewige, oft so schmerzhafte Wechselspiel zwischen »Loslassen« (Müssen) und »Festhalten« (Wollen), wie es sich allgemein im Umgang mit Verlusterfahrungen offenbart. Nur am Rande sei auch auf einen anderen Pfad verwiesen: Koppe und Rothermund (2016) konnten zeigen, dass einer Stichprobe Depressiver die Zielablösung und das Loslassen (»Let it go«; hier: die Bearbeitung einer unlösbaren Aufgabe frühzeitig beenden) besser gelingt als einer Kontrollgruppe von Nicht-Depressiven. Dies mag an das Diktum vom »depressiven Realismus« erinnern, wonach Depressive die faktische Nicht-Kontrollierbarkeit einer Situation schneller erkennen als Nicht-Depressive und somit weniger der »Illusion der Kontrolle« erliegen. Beide Beispiele weiten auch den Blick für die »adaptiven« Seiten einer Depression. Es geht also in dem genannten Zwei-Prozess-Modell um grundlegende Mechanismen der Informationsverarbeitung im Visavis eines kritischen Ereignisses und um die Passung zwischen den situativen (d. h. ereignisspezifischen) Erfordernissen und den jeweiligen (automatischen wie strategischen) Varianten der Handlungsregulation. Dass es auf eben diesen »fit« ankomme, ist auch ein wichtiger Befund der oben erwähnten Metaanalyse von Cheng et al. (2014; hierzu auch Skinner & Zimmer-Gembeck, 2016).

Jenseits der unzähligen Arbeiten zu Trauma und Verlust und ihren Folgen hat »Stress« als Forschungsthema bis heute nichts an Aktualität eingebüßt, wie sich auch bis heute Forscherpersönlichkeiten der ersten Stunden zu Wort melden (z. B. Folkman, 2013). Was »Stress« für den Einzelnen sei und worin die Besonderheiten einzelner Stressoren zu sehen seien, ist indes weiterhin eine eher offene Frage. Denn während die Stärke eines Traumas (dessen »Dosis«) zwischen den Betroffenen in der Regel nicht stark variiert und vergleichbare Folgen produziert (vgl. das Konzept des »dose-response«-Gradienten; siehe oben), ist die Intensität eines Stressors bekanntlich weniger gut zu bestimmen. Das Erleben von Stress weist hohe interindividuelle Variationen auf, da ihm korrespondierend spezifische Ausgangslagen auf Seiten der Person zugeordnet sind. Beispielhaft lässt sich dies an den so gründlich untersuchten sozialen Stressoren illustrieren (vgl. die Prominenz des »Trier Social Stress Test«; vgl. Henze et al., 2017): Interindividuelle Unterschiede in dem Bedürfnis nach Nähe, Unterstützung oder Wertschätzung durch andere spielen hier eine entscheidende Rolle und bestimmen, wie »stressreich« Situationen sind resp. erlebt werden, in denen das Selbst öffentlich präsentiert wird (oder werden muss).

Ähnliches könnte man auch für Verlustereignisse postulieren, denn worin der Verlust im Einzelnen liegt, mag von Person zu Person sehr unterschiedlich sein (mit einer Ausnahme; siehe unten). Ganz anders stellt sich das für Traumata dar: Das Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit stellt eine menschliche Universalie dar; Erfahrungen von körperlicher Gewalt und Misshandlung bis hin zu Situationen, in denen das eigene Leben bedroht ist, können wohl kaum individuellen Deutungsmustern unterliegen. Und ähnliches kann man auch für den »Tod eines Kindes« vermuten, der bis heute als eine der gravierendsten Verlusterfahrungen gilt und für fast alle Betroffenen (vor allem für Mütter) eine vergleichbare Tragödie darstellt und kaum zu bewältigen ist (Christiansen, 2017; vgl. auch. das erhöhte Mortalitäts-, insbesondere Suizidrisiko in den ersten Tagen nach dem Verlust; z. B. Mogensen et al., 2016).

Die Folgen von Trauma, Verlust und Stress – »Resilienz« als neue Zauberformel?

Seit jeher ist der gemeinsame Nenner all dieser Forschungsbemühungen die gesundheitsbezogenen Folgen der Konfrontation mit Trauma, Verlust oder Stress herauszuarbeiten, die vermittelnden Prozesse zu erhellen und jene Bedingungen zu identifizieren, die über diese Folgen mitentscheiden. Es geht eben nicht nur um die Frage, inwieweit solche Erfahrungen dem psychischen Wohlbefinden oder der Lebenszufriedenheit abträglich sind (was sie in aller Regel ja sind), sondern wann und unter welchen Umständen diese Erfahrungen ernsthafte gesundheitliche Schädigungen resp. psychische und/oder körperliche Erkrankungen nach sich ziehen.

Am weitesten vorangetrieben wurden diese differenzierten Analysen wohl innerhalb der Stressforschung, in der die frühen laborexperimentellen Ansätze wichtige Erweiterungen um den »Stress des Lebens« erfahren haben und zugleich die ökologische Validität vieler Laborexperimente bestätigt wurde (z. B. Henze et al., 2017). Diese Analysen sollten zum einen erhellen, welche Rolle die Art des Stressors (z. B. kognitive, soziale, körperliche Stressoren) spielt (zum Überblick Zänkert & Kudielka, in press); zum anderen sollten gerade die zwischen Stress und seinen gesundheitlichen Folgen vermittelnden Prozesse in den Blick genommen werden. Empirisches Arbeiten im Umfeld von »Stress« ist selbstredend leichter möglich, als wenn man Opfer kritischer oder gar traumatischer Ereignisse als Personenstichproben gewinnen will.

Mit Blick auf die zentralnervöse Verarbeitung von Stress und Trauma werden zunehmend neurobiologische Pfade und hirnmorphologische Veränderungen vermutet (zum Überblick z. B. Schmahl, 2013), wie auch die primären hormonellen Stressachsen, nämlich die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden- und die Sympathikus-Nebennierenmark-Achse im Zentrum stehen (schon Kudielka & Wüst, 2010; Zänkert & Kudielka, in press). Folgerichtig besitzen die jeweiligen Befunde wichtige verhaltensmedizinische Implikationen – beispielsweise wenn es um die Entstehung kardiovaskulärer Erkrankungen geht (Bellingrath, Wolfram & Kudielka, 2013; Siegrist & Kudielka, in press). Sumner et al. (2015) beispielsweise berichten, dass kardiovaskuläre Erkrankungen in der Folge traumatischer Erfahrungen vor allem bei Frauen nachweisbar seien. Nur am Rande sei vermerkt, dass sich in dem umfangreichen Datensatz von Scott et al., (2013) weder Krebserkrankungen noch ein erhöhtes Schlaganfallrisiko als korreliert erwiesen mit der Anzahl der von den Probanden berichteten belastenden Lebensereignisse (sensu »life-time exposure«).

Dass für die Folgen solcher Erfahrungen auch die Häufigkeit und Intensität negativen Affekts eine zentrale vermittelnde Rolle spielen, ist zu unterstellen, wie ja auch seit Jahrzehnten die Entstehung depressiver Störungen vor diesem Hintergrund rekonstruiert wird ( Kap. 4.2; siehe oben). Dies gilt in Sonderheit für Verlusterfahrungen, welche mit depressiver Symptomatik bis hin zu erhöhter Suizidalität assoziiert sind (vgl. die Metanalyse von Liu & Miller, 2014). Immer geht es um die unterschiedlichen Bedingungen und differentiellen Verläufe, wie sie als Folge von Trauma, Verlust und Stress nachweisbar sind, und zwar mit Blick auf alle Arten von psychischen (auch bipolaren) Störungen (vgl. die Metaanalyse von Lex, Bazner & Meyer, 2016) einschließlich der gut dokumentierten Traumafolgestörungen wie auch für einige körperliche Erkrankungen (siehe oben). Dass wir es hier mit einer außerordentlich großen Variationsbreite individueller Reaktionen zu tun haben, zieht sich bis heute wie ein roter Faden durch die Forschungslandschaft.

»Resilienz« hat in den letzten Jahren eine außergewöhnlich große Aufmerksamkeit erhalten. Bekanntlich galt das ursprüngliche Forschungsinteresse der Widerstandskraft von Kindern, die unter den widrigsten Umständen aufgewachsen waren und deren Entwicklung gleichwohl (ganz offensichtlich) positiv verlaufen ist (zuletzt Rutter, 2012). Mittlerweile ist Resilienz in Studien mit Erwachsenen oder im Kontext lebenslanger Entwicklung (z. B. Lerner et al., 2014) eine viel beachtete Konzeption, wie die Fülle der Studien oder Buchpublikationen verdeutlicht (z. B. Kumar, 2017; vgl. auch die Reihe »Studien zur Resilienzforschung«, erschienen beim Springer Verlag). Zunächst war auch im Umfeld der Anschläge von 09/11 von Resilienz die Rede, wie dies nun aktuell auch im Kontext von (Massen-)Traumatisierungen der Fall ist; letzteres hat Masten und Narayan (2013) veranlasst, in der Rückkehr des Resilienz-Konzepts in die Traumaforschung einen »dramatischen Perspektivenwechsel« zu sehen.

Trotz seiner Popularität ist und war der Begriff der »Resilienz« im Kern tautologisch: Resilienz wird jenen Personen attestiert, die nach extremen Belastungen nicht »umgefallen« sind resp. die dem jeweiligen Desaster etwas haben »entgegensetzen« können. Dabei wird in der Regel aus der Abwesenheit von Krankheit oder anderer negativer Folgen auf »Widerstandskraft« geschlossen und vermutet, dass diese Personen wohl über ein Bündel protektiver Faktoren verfügen müssten, das sie immunisiere gegen jedwede Unbill in der Folge solcher Erfahrungen. In diesem Sinne wird Resilienz gleichgesetzt mit dem Gelingen der Bewältigung eines spezifischen kritischen oder traumatischen Ereignisses. Darüber hinaus wird Resilienz auch als Persönlichkeitseigenschaft gefasst, die sich als interindividual difference-Variable entsprechend messen lasse (vgl. die »Resilienz–Skala«, für die mittlerweile bezogen auf Deutschland populationsstatistische Kennwerte vorliegen und die für Männer deutlich höhere Werte als für Frauen aufzeigt; siehe Kocalevent et al., 2015). Dies ging einher mit zahllosen Versuchen, Korrelate der Resilienz zu ermitteln, wobei das so populäre Konzept der Achtsamkeit (»mindfulness«; z. B. Davidson & Kraszniak, 2015) ebenso diskutiert wird wie das traditionsbeladene Konzept der »hardiness« ( Kap. 9.5). Dass »Resilienz« im Kern viel zu tun haben soll mit einem hohem Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, mit einem energetisierenden Optimismus (dem »Zaubertrank der Zuversicht«; Der Spiegel 1/2012, S. 117) sowie mit der Geborgenheit in engen sozialen Beziehungen resp. der sicheren Bindung an andere Menschen (Maercker & Hecker, 2015) ist weder überraschend noch reflektiert es etwas wirklich Neues: Wir sehen darin eine Auflistung der vielen seit jeher bekannten, empirisch gut bestätigten Bewältigungsressourcen, die summarisch in einem neuen begrifflichen Gewande abgebildet werden. Vielleicht ist auch deshalb immer wieder von Resilienz als einem »komplexen Konstrukt« die Rede, wobei nach unserem Kenntnisstand dessen interne Struktur (etwa im Sinne eines »Sekundärfaktors«) eben nicht hinreichend eruiert ist. Zudem wird in dieser Konzeption unterstellt, dass es sich um ein situationsinvariantes Merkmal handelt; denn die jeweiligen Anforderungen des zu bewältigenden Ereignisses oder Traumas bleiben gänzlich unbeachtet – Resilienz als hochgeneralisierter Schutzfaktor gegen alle Spielarten des Unglücks und der Tragödien im Leben? Insofern sieht es so aus, als habe die Frage »Wo nehmt ihr bloß die Stärke her?« (Zander, 2017) noch keine befriedigende Antwort gefunden.

Unlängst haben zudem Infurna und Luthar (2016) davor gewarnt, die Häufigkeit von »Resilienz« nach traumatischen Erfahrungen zu überschätzen. Diese Autoren beziehen sich dabei u. a. auf Befunde, die an Patienten nach einem Herzinfarkt oder an Soldaten, die aus Kriegsgebieten im Nahen Osten zurückgekehrt waren, gewonnen wurden: Mehr als zwei Drittel der Patienten resp. 85 Prozent der Soldaten seien als »resilient« diagnostiziert worden, was diesen Autoren zufolge aber in erster Linie erhebungs- und auswertungsmethodischen Fehlern geschuldet sei. Resilienz sei erst dann differentiell zu bestimmen, wenn diesbezügliche Indikatoren vor dem Eintritt des fraglichen Ereignisses erfasst worden seien und wenn deren Messung angemessen erfolgt und ihre Modellierung insbesondere hinsichtlich ihrer zeitlichen Veränderungsmuster geleistet worden sei. Nur am Rande sei erwähnt, dass diese Autoren Re-Analysen des SOEP-Datensatzes mit Blick auf drei Typen kritischer Ereignisse – Arbeitsplatzverlust, Scheidung, Tod des Ehepartners – vorgenommen und dazu Indikatoren der Lebenszufriedenheit über einen Zeitraum von 28 Jahren anhand differenzierter Zeitreihenanalysen in Beziehung gesetzt haben; ihre Befunde münden in die Schlussfolgerung »resilience is not common as thought«.

Wie eingangs erwähnt, gewinnt der Begriff »Resilienz« allenfalls dann an empirischem Gehalt, wenn man darin das Resultat einer gelungenen Bewältigung sehen will und den Bewältigungsprozess selbst entsprechend modellieren kann. In diesem Sinne haben Schwager und Rothermund (2017) Resilienz unlängst als Ausdruck und Folge erfolgreicher selbstregulatorischer Prozesse rekonstruiert und dargelegt, wie (automatische und strategische) Prozesse der Aufmerksamkeitssteuerung im Umgang mit einem nicht (mehr) erreichbaren Ziel es ermöglichen, andere Handlungspfade zu entdecken. Zweifellos ist dieses »Loslassen« gleichbedeutend mit einer in diesem Sinne »erfolgreichen« Bewältigung, und man mag der Person somit »Resilienz« attestieren. Es handelt sich also um eine Modellierung, die Vorhersagen darüber erlaubt, unter welchen (ereignisspezifischen) Bedingungen »Resilienz« zu erwarten ist und unter welchen nicht. Aus anderen Modellierungen des Bewältigungsgeschehens lassen sich solche Vorhersagen nicht immer so einfach ableiten, denn das Kriterium, an dem der Erfolg des Bewältigens »abschließend« zu bestimmen wäre, ist keineswegs immer so eindeutig definiert. Und oft findet man sich erneut mit Tautologien oder Vagheiten konfrontiert, wenn man beispielsweise liest, dass »positives Denken […] mit guten Outcomes verknüpft« sei (z. B. Pat-Horenczyk et al., 2015).

Allen belastenden Lebensereignissen wird unabhängig von ihrer Schwere und Dramatik das Potenzial der Überwindung, ja sogar das Potenzial der »Reifung« zugeschrieben – dieses Potenzial sei solchen Erfahrungen gleichsam immanent. Demgemäß wurde Resilienz über ihre protektive Variante hinaus (als Schutz vor Beeinträchtigungen der Gesundheit und des Wohlbefindens) auch in einer sog. »promotiven« Variante konzeptualisiert, indem sich Resilienz über die bloße Abwesenheit pathologischer Folgen hinaus auch in einem wie auch immer gearteten »Wachstum und Gewinn« offenbaren soll. Schon vor Jahren hatten Leipold und Greve (2009) auf die konzeptuelle Verknüpfung von »Bewältigung« und »Entwicklung« verwiesen, und es mag nicht verwundern, dass an dieser Stelle sogar wieder von »Weisheit« die Rede ist (Westrate & Gluck, 2017): Denn in der selbstreflexiven Form der Auseinandersetzung mit kritischen Lebensereignissen (vor allem in der »Suche nach Sinn«) liege ein Weg zur Gewinnung von »Weisheit«. Hingegen sei ein Bewältigungsverhalten, das auf das fragliche Ereignis selbst fokussiere (z. B. Neubewertung), »nur« der Erholung und Neuanpassung dienlich. Selbstredend kommt hier sofort ins Spiel, ob Sinnsuche als Prozess (mit ungewissem Ausgang) verstanden wird oder ob von Sinnfindung die Rede ist ( Kap. 7.4; auch Park, 2010). Letztere wird immer wieder in Beziehung gesetzt zu »posttraumatischem Wachstum« und eben auch als der Kern von Resilienz angesehen. Doch hat sich bis heute nichts daran geändert, dass Wachstum in der Folge solcher Erfahrungen zumeist eine (salutogenetisch gleichwohl höchst bedeutsame) Täuschung darstellen kann (»illusorisches Wachstum«), das auf der Basis von Selbstberichten ermittelt wird und das Zöllner und Maercker (2006) schon vor vielen Jahren als die eine Seite des »Janus-Kopfes« beschrieben haben ( Kap. 7.4).

Bei Durchsicht der zahllosen Studien hat es den Anschein, als sei von »posttraumatischem Wachstum« gerade und auch in der Auseinandersetzung mit schweren körperlichen Erkrankungen (oder auch nach dem Verlust des Partners) die Rede. Nun findet man zunehmend Versuche, Wachstum auch im Kontext von Flucht und Vertreibung zu analysieren: Sleijpen et al. (2016) haben dies an einer Stichprobe von geflüchteten Jugendlichen in den Niederlanden untersucht und festgestellt, dass subjektives Wachstum und Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung völlig unkorreliert waren. Auch die Längsschnittstudie von Engelhard et al. (2014), in die Soldaten aus dem Irak-Krieg einbezogen waren, ist hier aufschlussreich: Wahrgenommenes Wachstum 5 Monate nach Rückkehr aus dem Krieg erwies sich als ein Risikofaktor für das Auftreten einer posttraumatischen Belastungsstörung 15 Monate später (auch unter Kontrolle diverser Belastungsmaße und Persönlichkeitsvariablen, die vor Beginn der Kriegsteilnahme erfasst worden waren). Ungeachtet des Sachverhalts, dass wir bis heute nicht so genau wissen, was sich hinter »posttraumatischen Wachstum« verbergen soll, nimmt diese Begrifflichkeit dann sarkastische Züge an, wenn es um die Folgen schwerer Traumatisierungen geht und sich die Frage, ob die Betroffenen »etwas Gutes aus dem Schlimmen« haben lernen können, eigentlich schon aus ethischen Gründen verbietet.

Die soziale Kontextualisierung des Bewältigungsgeschehens: Vom (Mit-)Teilen des Leids

»Keiner ist so reich, dass er auf einen Nachbarn verzichten könnte« ist ein sehr passendes Diktum, dessen Quelle uns unbekannt ist. Denn dass das soziale Umfeld, in das eine Person eingebunden ist, von zentraler Bedeutung für Gesundheit und Wohlbefinden ist, scheint unbestritten –– was auch daran abzulesen ist, dass Einsamkeit immer wieder als gesundheitlicher Risikofaktor berichtet wird (siehe Beutel et al., 2017; Fried et al., 2015). Soziale Nähe resp. die Bindung an andere Menschen gewinnt vor allem an Bedeutung, wenn es um die Auseinandersetzung mit kritischen oder traumatischen Ereignissen geht: Seit jeher gilt »soziale Unterstützung« als einer wichtigsten Prädiktoren dafür, ob es in der Folge solcher Erfahrungen zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder gar zu einer Belastungsstörung kommt oder nicht geht ( Kap. 8). Über viele Jahre ging es dabei um einzelne Formen sozialer Unterstützung (z. B. emotionaler, instrumenteller Art; zuletzt Beutel et al., 2017) und ihre vermuteten positiven Funktionen für die Betroffenen. Mittlerweile wurde dieser Zugang ergänzt um das von Maercker und Horn (2013; siehe auch Maercker & Hecker, 2015) vorgelegte »Sozio-interpersonale Modell« des Bewältigungsgeschehens (spezifischer: der Verarbeitung traumatischer Erfahrungen), das zu der bisherigen Unterstützungsforschung wesentliche Erweiterungen aufweist, und zwar hinsichtlich dreier Aspekte:

Zum ersten wird hervorgehoben, dass das Selbst als interdependente Struktur in Relation zu anderen Menschen gesehen werden müsse. Dies geht schon auf die traditionelle Unterscheidung von independenter und interdependenter Konstruktion des Selbst zurück (hierzu Filipp & Mayer, 2005); doch ist es mittlerweile unumstritten, dass das Selbst einer Person (auch in den sog. »individualistischen« Gesellschaften) nicht unabhängig von ihren sozialen Netzwerken und insofern stets »interdependent« gedacht werden müsse (z. B. Zander & Hannover, 2014). In der Folge der Konfrontation mit kritischen oder traumatischen Ereignissen rücken hier nun »soziale Affekte« in den Vordergrund, die sich erst aus der mentalen Repräsentation der sozialen Umwelt und/oder konkreter Personen konstituieren: Schuld und Scham ebenso wie Wut und Ärger, Gefühle der Rache und Drang nach Vergeltung sind der affektive Ausdruck dessen, dass das Selbst untrennbar verflochten ist mit anderen Menschen und dass solche Affekte nicht selten nach traumatischen »man-made disasters« den Bewältigungsprozess begleiten (und ihn vor allem erschweren).

Zum zweiten werden enge soziale Beziehungen vorwiegend hinsichtlich ihres kommunikativen Aspekts, genauer hinsichtlich ihrer dialogischen Struktur, betrachtet. Bislang war das Forschungsinteresse eher darauf gerichtet, Prozesse des Suchens und Gewährens von Hilfe zu analysieren und zu prüfen, welche inneren oder äußeren Barrieren soziale Unterstützung befördern oder behindern. Nun rückt die Frage in das Zentrum, ob und welche Möglichkeiten der betroffenen Person gegeben sind, das von ihr Erfahrene einem Gegenüber offenzulegen (sensu self-disclosure), und welche Reaktionen die Person damit bei ihrem Gegenüber auslöst. »Der Austausch von Lebensereignissen ist einer der wichtigsten Zugangswege für menschliche Annäherung« stellten Neuner, Schauer und Elbert (2013, S. 328) fest. Und da es bekanntlich zu den genuinen Merkmalen vieler kritischer (insbesondere traumatischer) Ereignisse gehört, dass sie in Sprachlosigkeit münden resp. in die Unfähigkeit, das Erlebte in Worte zu fassen, ist dieser Austausch wohl essentiell. Zuweilen ist sogar davon die Rede, dass solche Erfahrungen begleitet seien von »unausgesprochenen« oder gar von »unaussprechlichen« Geheimnissen. Insofern erhalten enge Beziehungen dadurch ihren besonderen Wert, dass die Betroffenen das Unfassbare in Worte und das Unaussprechliche in eine narrative Struktur kleiden können. Im günstigen Falle werde erst dadurch, so ist die Annahme, bei den Betroffenen die fortwährende Überflutung ihres Denkens und Fühlens durch die mit dem Ereignis assoziierten Inhalte eingedämmt, und erst so könnten sie allmählich eine subjektiv entlastende Rekonstruktion des Geschehens leisten.

Bekanntlich lässt sich ein solcher Prozess im Rahmen professioneller Krisenintervention auch unter gezielter Anleitung evozieren (vgl. »Narrative Exposition«). Wie Neuner et al. (2013) hervorheben, handelt es sich um ein effektives und effizientes Therapieverfahren, das auch in »ressourcenarmen Umwelten« (z. B. in Krisengebieten) einsetzbar sei. Das Verfahren zielt darauf, eine zeitliche und räumliche Verankerung der traumatischen Erfahrungen im autobiografischen Gedächtnis zu ermöglichen, so dass das »ungehemmte Feuern der Furchtstruktur« (S. 333), wie es sich in intrusiven Erinnerungen, Flashbacks und Albträumen offenbare, beendet werde. Erst dadurch würden auch wieder Erinnerungen an positive Ereignisse zugänglich und erhalte die Lebensgeschichte allmählich eine kohärente und identitätsstiftende Struktur.

Ähnliche Funktionen werden auch dem sog. »expressiven Schreiben« als einer Bewältigungsstrategie zugeschrieben ( Kap. 7.8), die ein soziales Gegenüber nicht (zwingend) voraussetzt. Doch indem die Betroffenen auch beim Niederschreiben das Erfahrene in Worte fassen müssen, kann die Aufarbeitung dieser Erfahrungen und deren Integration in das autobiografische Gedächtnis gelingen und so langfristig eine Erholung gesichert werden – nicht zuletzt auch mit Blick darauf, dass die Betroffenen sich anderen Menschen wieder anschließen resp. anvertrauen können und das soziale Umfeld seine potenziell gesundheitsförderlichen Wirkungen entfalten kann.

Zum dritten wird das soziale Umfeld über die dyadische Struktur enger Beziehungen hinaus mit Blick auf den erweiterten sozialen und kulturellen Kontext beleuchtet. Dabei werden in dem Modell gerade jene traumatischen Erfahrungen thematisiert, von denen nicht nur einzelne Menschen, sondern (große) Gruppen von Menschen betroffen sind (siehe oben). Insofern ist es die interdependente Struktur des Leidens, die hier besondere Beachtung findet. Es wird sich wohl erst noch zeigen müssen, ob damit in der Tat unterschiedliche Folgen für die von kollektivem vs. individuellem Leid betroffenen Menschen verbunden sind. Zudem werden auf der Makroebene auch die vorherrschenden religiösen Bindungen und/oder kulturellen Wertorientierungen in den Blick genommen. Daraus ergibt sich als eine zentrale Anschlussfrage, welchen Deutungen das jeweilige kritische oder traumatische Ereignis unterliegt und ob den Betroffenen überhaupt der Status eines »Opfers« zugeschrieben wird oder nicht. Gesellschaften, die ihren von solchen Erfahrungen betroffenen Mitgliedern den Status als »Opfer« verweigern und ihnen die entsprechende Beachtung nicht zukommen lassen, lassen diese Menschen mit allem ihrem Leid alleine und befördern bei ihnen Bitterkeit, Fatalismus und das Gefühl eines sinnentleerten Lebens. Dass solche Gefühle wiederum soziale Isolation verstärken oder den Rückzug aus sozialen Netzwerken nachgerade befördern, liegt auf der Hand. Zudem schreien bekanntlich »man-made disasters« auf Seiten der Opfer nach Rache und Vergeltung, zumindest aber nach »ausgleichender Gerechtigkeit« – wie denn von jeher dem Erleben von Ungerechtigkeit auf Seiten der Opfer eine Schlüsselrolle für den gesamten Bewältigungsprozess zugeschrieben wird (hierzu Montada, 2012). Daher ist es nur folgerichtig, wenn Maercker und Hecker (2015) fordern, dass entsprechende Maßnahmen und Programme zumindest auf kommunaler Ebene implementiert werden und die von solchem Leid Betroffenen eine Stimme und ein Gesicht erhalten sollten.