Inhalt

Titel

Danksagung

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

Glossar

Impressum

 

Katie MacAlister

Roman

Ins Deutsche übertragen von
Margarethe van Pée

 

Mein allerherzlichster Dank geht an Aleta Pardalis, Zita Hildebrandt und Kat Robb, die mich immer unterstützen, ganz gleich, wie verrückt die Situation ist. Ich hoffe, euch allen gefällt dieser kleine Vorgeschmack auf etwas Neues und Anderes.

1

Verfluchte Schwestern

»Guten Morgen, Jack. Ist das ein Molekulardetektor in deiner Tasche oder freust du dich nur, mich zu sehen?«

Die Stimme, die ertönte, als ich vorbeiging, war weiblich, sanft und erotisch wie die Sünde. Ich blieb stehen und grinste eine der beiden Frauen an, die hinter dem großen, nierenförmigen Empfangstisch standen, der die Eingangshalle des Nordic-Tech-Gebäudes zierte. »Morgen, Karin. Würde es gegen die Personalrichtlinien verstoßen, wenn ich dir sagen würde, wie gut mir dieses Oberteil gefällt?«

Die rothaarige Empfangsdame kicherte und beugte sich vor, um mir einen besseren Einblick in ihren Ausschnitt zu gewähren. Sie hatte ein Top an, das sie freitags, wenn lässigere Kleidung erlaubt war, gerne trug. »Wahrscheinlich, aber ich verrate es keinem. Du kennst meine Grundsätze, Jack.«

»Was in der Rezeption geschieht, bleibt auch in der Rezeption?«, fragte ich augenzwinkernd.

Sie kicherte wieder. »Ganz schön frech. In Khaki siehst du übrigens zum Anbeißen aus. Ist das das neue Shirt der Airship Pirates?«

»Ja. Ich habe sie gestern Abend in der Gießerei gesehen«, antwortete ich. Das war ein Lokal, in dem Gruppen auftraten, die sich ein wenig abseits des Mainstreams bewegten. Ich drehte mich, damit sie die Rückseite des Shirts bewundern konnte.

»Oh, und ich hatte gehofft, du würdest mich mitnehmen.« Schmollend verzog sie die Lippen und beugte sich noch ein bisschen weiter vor. Sie ließ einen Finger über meinen Arm gleiten. »Wir hatten so viel Spaß, als wir das letzte Mal zusammen ausgegangen sind. Na ja, jedenfalls, bis mir schlecht wurde und ich nach Hause fahren musste, aber ich bin mir sicher, dass es wieder lustig werden könnte.«

Sie schwieg, anscheinend um mir Gelegenheit zu geben, sie erneut einzuladen, aber die Erinnerung daran, wie sie völlig betrunken hinten in meinem Auto gelegen hatte ganz zu schweigen davon, dass es mich ein Vermögen gekostet hatte, die Sitze zu reinigen und den Gestank aus dem Auto zu bekommen, hielt mich davon ab, noch einmal eine Einladung auszusprechen.

Es war jedoch nicht Jack Fletcher, den sie wollte. Es war der falsche Jack, der ihr gefiel, der fiktive Jack, dem irgendwie der Ruf eines wilden Casanovas anhing. Ich tat also, was von mir erwartet wurde, und beugte mich lüstern über ihr Dekolleté. »Du weißt doch, dass ich die Finger nicht von dir lassen könnte, wenn dein Freund nicht wäre.«

»Ach der«, erwiderte sie affektiert und fuhr mit den Fingern über meine Hand. »Jerry ist auf jeden eifersüchtig.«

»Als er mich das letzte Mal gesehen hat, hat er gedroht, mir den Kopf abzureißen und mir in den Hals zu spucken«, vertraute ich ihr in verschwörerischem Flüsterton an. »Ich glaube, das hat er ernst gemeint.«

»Ich glaube dir nicht eine Minute, dass du Angst vor Jerry hast«, sagte sie kokett, blickte mich aber erfreut an. »Du doch nicht. Nicht der berühmte Jack Fletcher. Oh, Jack, das ist übrigens Minerva. Sie vertritt mich, wenn ich zwei Wochen Urlaub in Cancún mache.«

Ein mädchenhaftes Gesicht mit großen, irgendwie leeren Augen schob sich in mein Gesichtsfeld. »Hi, Dr. Fletcher. Karin hat mir schon so viel von Ihnen erzählt.«

»Glauben Sie ihr kein Wort«, warnte ich sie und zwinkerte auch ihr zu. Schließlich hatte ich einen Ruf zu verlieren. »Ich bezweifle, dass irgendwas davon wahr ist.«

»Natürlich ist es wahr«, protestierte Karin. Sie schob sich ein bisschen weiter über die Theke, damit ihre Brust gegen meinen Arm drückte. »Jeder weiß doch, dass du ein Held bist! Du bist nur zu bescheiden, es zuzugeben.«

Vielleicht hatte ich auch nur resigniert, weil die Leute so konsequent die Wahrheit ignorierten und lieber der viel attraktiveren, unterhaltsameren Legende anhingen, die vor ein paar Jahren ihren Anfang genommen hatte.

»Karin sagte, Sie hätten in Kairo einen berüchtigten Ring von Industriespionen aufgespürt«, warf Minerva, atemlos vor Erregung, ein. Sie wollte sich ebenfalls über die Theke beugen, aber ein strenger Blick ihrer Freundin hielt sie davon ab.

»Er hat sie nicht nur aufgespürt er hat sie zu Brei geschlagen und geheime Pläne für die Regierung gerettet.«

Minerva gab bewundernde Laute von sich und sah mich an wie einen Helden. Der Aufrichtigkeit halber korrigierte ich Karin. »Ich habe sie nicht aufgespürt, sondern bin zufällig auf die Leute gestoßen, die Geheiminformationen verkauft haben. Sie dachten, ich wäre ihnen auf den Fersen, aber in Wahrheit hatte ich mich nur verirrt, als ich zum Hotel zurück wollte, um meine Reisegruppe wiederzufinden. Ich war noch nicht einmal in Gefahr gewesen, weil Interpol sie die ganze Zeit überwacht hat und sich außerdem die Kairoer Polizei auf dem Basar versteckt hielt. Von einem gefährlichen Abenteuer kann also kaum die Rede sein.«

»Und dann noch Alaska«, sagte Karin, die die langweilige Wahrheit ebenso hartnäckig ignorierte wie jeder andere, wenn ich zu erklären versuchte, was wirklich in Kairo passiert war.

»Alaska?«, fragte Minerva. »Was war mit Alaska?«

Karin wandte sich an ihre Freundin. »Das war einfach unglaublich. Es steht auf der Homepage von Greenpeace

Innerlich stöhnend bereitete ich mich darauf vor, auch das richtig zu stellen.

»Was ist denn da passiert?«, fragte Minerva fasziniert.

»Ich war im Urlaub, habe geangelt, und das von mir gemietete Boot hatte einen Motorschaden. Ein Schiff mit Tierschützern hat mich an Bord genommen, und sie«

»Er hat einen Walfänger gekidnappt!«, unterbrach Karin mich triumphierend und strahlte mich an.

»Ooohh!«, hauchte Minverva.

»Ich habe noch nicht einmal zur Gruppe gehört«, sagte ich rasch. Warum wollte eigentlich nie jemand glauben, dass ich immer nur das Opfer widriger Umstände war? »Mein Motor sprang nicht mehr an, und die Greenpeace-Leute haben mich aufgenommen. Sie wollten gerade einen Walfänger angreifen. Es war reiner Zufall, dass ich zur gleichen Zeit auf dem Schiff war, und dieses Foto von mir, wo ich eine Pistole auf den Kapitän richte, war einfach total irreführend. Sie war ihm aus der Hand gefallen, und ich wollte sie ihm gerade zurückgeben, als ein Fotograf dieses Foto von uns«

»Du bist dafür ins Gefängnis gegangen, nicht wahr?«, fragte Karin. Sie drückte meinen Arm und blickte mich voller Mitgefühl an.

»Drei Monate«, erwiderte ich resigniert. »So lange hat mein Anwalt gebraucht, um den Richter davon zu überzeugen, dass ich mit dem ganzen Walfang-Fiasko nichts zu tun hatte.«

»Aber das Tollste war Mexiko«, sagte Karin zu Minerva.

»Ich liebe aufregende Geschichten«, gestand Minerva und ergriff meinen anderen Arm. »Was ist da passiert? Das muss ich unbedingt wissen!«

»Ach, du lieber Himmel, nicht Mexiko. Es lohnt sich nicht, darüber auch nur ein Wort zu verlieren«

»Jack war geschäftlich mit Mr Sawyer in Mexico City, und Mr Sawyer wurde von radikalen mexikanischen Antitechnologie-Fanatikern gekidnappt!«, erklärte Karin mit ernstem Gesicht. »Die Fanatiker wollten Mr Sawyer gerade auf einem Maya-Altar opfern, als Jack ihn gerettet hat! Er hat ihm das Leben gerettet!«

»Mr Sawyer das Leben gerettet!«, keuchte Minerva.

Dass jetzt auch noch ein Maya-Altar zu dem ganzen Blödsinn hinzukam, war mir zu viel. »Es gab keinen Altar«, sagte ich mit fester Stimme.

»Mr Sawyer hat ihm ewige Dankbarkeit geschworen«, sagte Karin und nickte heftig.

»Und eigentlich war es gar keine Gruppe radikaler Fanatiker, sondern zwei Arbeitslose, die Mr Sawyers Limousine mit der des Arbeitsministers verwechselt hatten.«

»Er hat Jack einen Job auf Lebenszeit in seinem Unternehmen zugesichert«, fuhr Karin fort.

»Als ihnen ihr Fehler klargeworden ist, haben sie uns sofort ins Hotel zurückgefahren«, sagte ich verzweifelt. Warum zum Teufel hörte mir nie einer zu?

»Nun, das hätte ich auch gemacht«, erwiderte Minerva. »Ich würde mir ja in die Hose machen vor Angst, wenn ich auf einem Maya-Altar geopfert werden sollte! Das war so mutig von Mr Fletcher!«

»Die ganze Sache geriet erst außer Kontrolle, als bei der Polizei eine Anzeige wegen Entführung einging und sie das Militär eingesetzt haben, um uns zu suchen. Dabei war das lächerlich, weil wir um diese Zeit schon längst wieder heil im Hotel waren, am Pool lagen und Margaritas tranken. Erst am nächsten Tag wurde uns klar, dass sie nach uns suchten«, sagte ich, aber ich wusste bereits, dass ich meinen Atem vergeudete. Ich erlebte schließlich nicht zum ersten Mal, dass die Leute nur das hören, was sie hören wollen.

»Nun, Jack war nämlich beim Militär«, fuhr Karin fort. Ihre Stimme sank zu einer vertraulichen Lautstärke herab, wobei sie anscheinend vergaß, dass ich direkt vor ihr stand. »Geheime militärische Studien.«

»Wow.« Minerva riss die Augen auf. »Was für Studien?«

»Ich weiß nicht, aber es muss etwas ziemlich Heikles gewesen sein, weil Jack nie darüber redet.«

Seufzend ergriff ich meine Aktentasche und die Morgenzeitung und eilte zur Treppe.

»Er ist wie Indiana Jones, nicht?«, hörte ich Minerva sagen, als ich die Treppe zum vierten Stock hinaufging, wo mein Büro lag. »Bis hin zum Hut. Ob er wohl auch so eine lange Peitsche hat, die er sich um die Taille wickeln kann?«

»Er müsste eigentlich eine haben«

»Hey, Jack.« Ich betrat den ersten einer Reihe von untereinander verbundenen Räumen, die uns als Forschungslabor dienten, und legte Hut, Tasche und Zeitung auf meinen Schreibtisch. Ein großer Mann mit lockigen schwarzen Haaren tauchte aus dem hinteren Raum auf. »Du bist spät dran.«

»Ich hatte eine lange Nacht.« Ich sank auf den Stuhl hinter meinem Schreibtisch und holte meinen Laptop hervor.

»Warst du in der Gießerei?« Brian, ein Student, der bei uns ein Praktikum machte, hockte sich zu mir auf die Schreibtischkante.

»Ja. Die Airship Pirates sind gestern Abend aufgetreten.«

»Airship« Sein Gesicht hellte sich auf. »Oh, diese Goth Band?«

»Ein Drittel Steampunk, ein Drittel Gothic, ein Drittel Industrial.« Ich runzelte die Stirn, als eine Mail in meinem Postfach ankam. »Da solltest du auch mal hingehen.«

»Habe ich etwa Zeit, in der Gießerei herumzuhängen? Du vielleicht, aber ich muss arbeiten.« Er wies mit dem Kinn auf den Cleanroom hinter sich. »Wenn ich heute diese Punkte nicht erledige, habe ich ein Praktikum gehabt. Ach, apropos, Dr. Elton hat nach dir gefragt. Er sagt, die letzte Version des Quantengatters, die du ihm geschickt hast, lässt sich nicht mehr umwandeln. Ob du es vielleicht bis Mittag reparieren könntest, damit er Sawyer ein funktionierendes Modell präsentieren kann.«

»Das steht schon auf meiner To-do-Liste für heute«, murmelte ich.

»Feeley hat angerufen und gesagt, wenn du ihm bis heute Abend nicht das Budget vorlegst, dünstet er deine Eier in Knoblauch-Wein-Sauce.«

Ich verzog das Gesicht. Ich hasste es, mich um das Jahresbudget kümmern zu müssen.

»Oh, und dann war eine Frau hier, die dich besuchen wollte.«

»Eine Frau?« Überrascht blickte ich auf. »Wer?«

Brian zuckte mit den Schultern und ergriff einen kleinen Kanister mit flüssigem Helium, mit dem wir die Computer herunterkühlten. »Hat sie nicht gesagt. Aber sie hat gemeint, sie käme wieder.«

»Wer das wohl gewesen sein mag?« Ich zermarterte mir das Hirn, welche meiner weiblichen Bekannten wohl bereit wäre, sich unter die Technikfreaks von Nordic Tech zu begeben.

»Jemand, den du gestern Abend kennengelernt hast?«, sagte Brian und begab sich wieder in sein aufgeräumtes Büro.

»Unwahrscheinlich. Ich war mit ein paar Freunden unterwegs.«

Brian blieb in der Tür stehen und zog die Augenbrauen hoch. »Du bist mit Quäkern aus gewesen? Und ihr habt euch eine Goth Band angesehen? Ist das nicht eine Sünde?«

»Wieso das denn?«, erwiderte ich. »Schließlich haben sie ja keine Fledermaus geköpft oder so.«

»Ja, aber Quäker! Auf einem Goth Concert! Das hört sich irgendwie falsch an.«

»Ich wüsste nicht, warum. Ich gehöre schon mein ganzes Leben dieser Kirche an, und ich kann dir versichern, dass in der Bibel nichts darüber steht, dass Goth-Konzerte verboten sind«, antwortete ich. Dabei überflog ich eine Mail vom CEO, Jeff Sawyer.

»Ich weiß zwar, dass du dazugehörst, aber du bist ja auch irgendwie Quäker light, oder? Ich meine, du trinkst Alkohol und kannst besser fluchen als mein alter Herr, und der war bei der Handelsmarine. Du gehst mit Frauen aus. Und du warst in der Army. Ich dachte, das wäre alles Anti-Quäker.«

»Viele von uns gehen ihre eigenen Wege, aber es gelingt uns trotzdem, uns nützlich zu machen, ohne unseren Glauben zu verraten.«

»Das stimmt. Karin am Empfang hat gesagt, du hättest in der Army Untersuchungen angestellt, statt im Mittleren Osten zu kämpfen. High-Tech, was? Spionagetechnologie und so, oder?«

Ich zog eine Augenbraue hoch. »Ich könnte dir etwas darüber erzählen, aber dann müsste ich dich töten.«

Ihm blieb der Mund offen stehen.

»Das war ironisch gemeint, falls du es nicht gemerkt haben solltest.« Ich musste unwillkürlich lächeln.

»Na ja, ich finde es eher ironisch, mich töten zu wollen, wenn ich der einzige Praktikant bin, den du hast«, antwortete er und zog sich sicherheitshalber einen Schritt zurück.

»So gern ich dir auch etwas darüber erzählen würde, aber wir haben beide zu tun. Wenn du diese Quantenpunkte vor heute Nachmittag fertig kriegen willst, werden wir die Diskussion über mein persönliches Weltbild auf ein anderes Mal verschieben müssen.«

Er blickte auf die Uhr, stieß einen Fluch aus und stürzte zum Umkleidebereich des Cleanroom, wo wir unseren Quantencomputer bauten.

Als ich eine halbe Stunde später gerade über eine winzige Schalttafel gebeugt war, ging die Tür auf.

»Guten Morgen, Indiana. Was für Abenteuer haben wir denn heute früh erlebt? Eine Jungfrau aus Bedrängnis gerettet? Ein kostbares Amulett davor bewahrt, von Schurken gestohlen zu werden? Unschuldige Baby-Robben aus einem Pelzhandel geschmuggelt?«

»Halleluja«, sagte ich und winkte ihr mit einem kleinen Lötkolben zu. Ein winziges Stück Lötzinn flog in ihre Richtung. »Was machst du denn hier?«

»Ich hüte mich vor inneren Verletzungen«, antwortete sie und trat einen Schritt zur Seite. »Und nenn mich nicht so. Du weißt, wie sehr ich das hasse.«

»Nicht so sehr, wie ich es hasse, Indiana genannt zu werden.«

»Wer den Hut trägt, soll auch bei seinem Namen genannt werden«, erklärte sie, nahm sich einen Hocker und trug ihn zu meinem Arbeitstisch. »Na, wenigstens hast du keine Bullenpeitsche. Noch nicht.«

»Du hast mit Karin gesprochen.«

»Phh«, erwiderte meine Schwester abschätzig. »Ich hoffe, du hast keine ernsthaften Absichten, was sie anbelangt, sie ist nämlich absolut der falsche Typ für dich.«

»Ich habe überhaupt keine ernsthaften Absichten, nicht dass es dich etwas anginge«, sagte ich und blickte durch das Mikroskop, um entscheiden zu können, wo ein winziges Teilchen hinmusste.

»Ah, es geht mich sehr wohl etwas an, großer Bruder. Ich bin nämlich hier, um dich mit einer absolut großartigen Frau zu verbandeln.«

Ich legte den Lötkolben beiseite. »Doch nicht schon wieder ein Blind Date, Hal? Du hast mir versprochen, mich diesen höllischen Experimenten nicht mehr auszusetzen.«

Sie ergriff ein Teil der Schalttafel und spielte damit, während ich durch das Labor ging, um mir Draht zu holen. »Vertrau mir, Linda wird dir gefallen. Sie ist anders. Sie mag alles, was du magst.«

»Und was zum Beispiel?« Ich nahm ihr das Stück Schalttafel ab. Geistesabwesend ergriff sie eine Pinzette, mit der man Kleinteile einsetzte, und pickte damit nach meinen Notizen.

»Sie hat einen Laptop, den sie überallhin mitschleppt, also ist sie beinahe so ein Computerfreak wie du. Und sie liest gerne, und du hast doch auch ständig die Nase in irgendeinem Comic stecken

»Graphic Novel. Das nennt man Graphic Novel.«

»Wie auch immer.« Sie ergriff mit der Pinzette ein Stück Muffin, das von meinem Frühstück übriggeblieben war, und steckte es sich in den Mund. »Sie mag so was auf jeden Fall sie hat eine Geschichte gelesen, die wohl ein Jules-Verne-Buch nacherzählt, und es klang genauso wie das, was du immer liest, mit diesen viktorianischen Raumschiffen zum Mond und Leuten, die mit Strahlenpistolen und Schutzbrillen herumlaufen.«

»Es freut mich, dass du eine Freundin hast, die Steampunk und Computer mag, aber ich verstehe leider nicht, warum du sie unbedingt mit mir verkuppeln willst. Ich bin sehr glücklich mit meinem Leben.«

Sie glitt vom Hocker und ging im Labor herum, ordnete Papiere, stellte Schachteln mit Computerteilen anders hin und tat das, was sie immer als »Aufräumen« bezeichnet. »Es ist na ja weißt du«

»Spuck es schon aus, Hallie«, sagte ich und blinzelte durch mein Mikroskop, um einen Draht um einen Halbleiter zu wickeln.

Sie holte tief Luft, dann sagte sie ganz schnell: »Ich habe dich Linda versprochen.«

Ich blickte auf. »Was hast du?«

»Ich habe dich Linda versprochen. Das heißt, ich habe dich an sie verkauft.« Sie nahm einen kleinen Kanister mit Helium in die Hand und drehte abwesend am Deckel, während sie mich mit besorgter Miene beobachtete.

»Du hast mich verkauft? Wie einen Sklaven oder so?«, fragte ich verwirrt. »Was soll das heißen, du hast mich verkauft?«

»Nein, nicht wie einen Sklaven, sei nicht albern«, erwiderte sie und biss sich auf die Lippe. »Es war eine Auktion. Eine Wohltätigkeitsauktion.«

Ich schloss einen Moment lang die Augen, dann schüttelte ich den Kopf. »Was für eine Wohltätigkeitsauktion?«

»Nicht in diesem Ton«, sagte sie defensiv und schwenkte dabei den Kanister in meine Richtung. »Ich weiß, was du von meinen Wohltätigkeitsveranstaltungen hältst, aber diese hier ist fabelhaft, Jack, einfach fabelhaft. Es geht um Pflege und Rehabilitation freigelassener Sittiche.«

Ich war so verblüfft, dass ich vergaß, mir Sorgen um den Deckel des Heliumkanisters zu machen. »Freigelassener was?«

»Sittiche! Hast du überhaupt eine Ahnung, wie viele Sittiche jedes Jahr ihr Heim verlassen und draußen alleine zurechtkommen müssen? Hunderte, Jack! Tausende armer, unschuldiger kleiner Vögel, die einfach aus dem Fenster geworfen werden und nicht wissen, wie sie sich Futter beschaffen oder wo sie leben sollen. Es ist eine einzige Tragödie, und wir bei ›Menschen für humane Behandlung von Sittichen‹ tun, was wir können, um diese Tiere zu retten und ihnen wieder ein Zuhause zu geben bei guten Menschen, die für sie sorgen.«

Hallie trat immer für irgendeine gute Sache ein. Das hatte sie schon als kleines Mädchen getan, und als sie älter wurde, stürzte sie sich jedes Mal aufs Neue aus ganzem Herzen auf irgendeine wohltätige Aufgabe, die ihr gerade gefiel.

»Was ist denn aus der Gruppe geworden, in der ihr Pullover für haarlose Hunde im Tierheim gestrickt habt?«

»Oh, die hat sich schon vor Monaten aufgelöst«, sagte sie und drehte erneut am Deckel des Behälters. »Wir konnten uns nicht entscheiden, ob wir Mohair oder lieber Acrylwolle nehmen sollten. Aber diese Gruppe ist ausgesprochen solide, Jack. Und du magst doch Tiere.«

»Das bedeutet aber noch lange nicht, dass ich ihretwegen in die Sklaverei verkauft werden will. Für was hast du mich überhaupt verkauft?«

»Fünfhundert Dollar! Kannst du das glauben? Kein anderer Ehemann oder Bruder ist für so viel weggegangen. Es war schade, dass du nicht persönlich anwesend warst, um dich vorzustellen, aber ich habe das Foto von dir genommen, als du mit Jeff Sawyer in Mexiko warst und ihn davor bewahrt hast, von durchgedrehten Mayas entleibt zu werden.«

Ich seufzte leise. Es war schon traurig, wenn nicht mal meine eigene Schwester mir richtig zuhörte.

»Auf jeden Fall fanden sie das Bild alle toll, und viele Damen haben auf dich geboten, aber Linda hat gewonnen, und das ist deshalb so perfekt, weil sie die Frau ist, die ich für dich ausgesucht habe. Sie ist klug, und sie mag die gleichen Dinge wie du, und sie hat fünfhundert Dollar bezahlt, nur um Zeit mit dir zu verbringen.«

»Ich habe nicht gefragt, wie viel sie geboten hat, sondern welche Dienste von mir sie erworben hat«, sagte ich misstrauisch.

»Oh, na ja, das liegt an Linda«, erwiderte meine Schwester und schwenkte den Kanister in meine Richtung.

»Hör auf, so damit herumzuwedeln!« Ich sprang auf, um ihr den Kanister abzunehmen, bevor sie uns in die Luft jagte.

»Ich weiß, dass du sauer bist, weil ich dich verkauft habe, ohne dich zu fragen, aber es ist wirklich für einen guten Zweck« Hallie umrundete den Labortisch, damit ich sie nicht zu fassen kriegte.

Besorgt um ihre Sicherheit, unterbrach ich sie. »Nein, du Idiot! Der Deckel ist abgegangen, und du schüttelst den Behälter. Das Zeug ist äußerst flüchtig!«

»Das?« Sie blickte auf den Behälter. »Das ist doch nur eine Thermoskanne mit Kaffee. Wieso soll Kaffee flüchtig sein?«

»Das ist kein Kaffee das ist flüssiges Helium.«

»Helium?« Sie hielt den Kanister hoch, als könnte sie durch die Edelstahlwände hindurchblicken. »Was um alles in der Welt machst du mit Helium?«

»Wir verwenden es, um den Kern des Chips zu kühlen, wenn er getestet wird. Und jetzt stell es ganz vorsichtig wieder hin.«

»Oh, wie Druckluftspray? Das benutze ich bei meiner Stereoanlage zu Hause auch immer. Wenn du das eine Zeitlang machst, wird die Flasche ganz frostig. Du bist also nicht böse mit mir wegen der Auktion, oder?«, sagte sie und ergriff den Deckel, um ihn wieder auf das Gefäß zu schrauben. Sie schien sich überhaupt nicht im Klaren darüber zu sein, was sie da in der Hand hielt.

»Meine Emotionen in diesem Augenblick sind ziemlich schwer zu beschreiben«, sagte ich und trat auf sie zu, um ihr den Kanister abzunehmen.

»Das blöde Ding will nicht zugehen«, grummelte sie und versuchte, den Verschluss mit Gewalt daraufzusetzen, aber das innere Ventil hatte sich anscheinend verschoben, und man konnte den Deckel nicht mehr richtig zuschrauben.

»Stell es einfach hin, Hallie, ich kümmere mich schon darum.«

»Vielleicht hat sich eine Luftblase gebildet oder so etwas, und deshalb geht es nicht richtig zu.« Sie warf den Deckel beiseite, direkt auf die Schaltfläche, die ich gerade fertiggemacht hatte. Einige winzige LED-Lichter glühten auf, ein Zeichen dafür, dass der Computer Strom bekam.

»Nein!«, schrie ich und griff nach ihr. Gerade als sich meine Hand um die ihre schloss, kippte sie das Ventil und flüssiges Helium ergoss sich auf die Schalttafel. Hallie griff nach dem kostbaren Gegenstand, damit ihm nichts passierte, aber es war zu spät. Ein strahlendes silbernes Licht erfüllte meinen Kopf, als sie die Schalttafel ergriff. In der Ferne hörte ich Stimmen, aber ich konnte nicht verstehen, was sie sagten. Das Licht breitete sich aus, bis es den gesamten Raum zu erfüllen schien. Ich wurde ganz ruhig.

Hallie schrie, als das Licht um mich herum, durch mich hindurch und in mir erstrahlte.