1. Kapitel
New York, Ende März
Mit großen Augen schaute Cassie zu dem Eisbären auf. Er stand aufrecht auf den Hinterbeinen und blickte zähnefletschend, die riesigen Pfoten wie ein Boxer erhoben, auf sie hinab. Zweieinhalb Meter groß und dieser leere, glasige Blick – Cassie konnte die Augen kaum von ihm abwenden. Seit acht Jahren stand er schon hier, doch das beeinträchtigte seine einschüchternde Erhabenheit in keiner Weise: Er beherrschte unzweifelhaft den ganzen Saal. Langstielige Gläser mit funkelndem Champagner in den Händen, huschten die Blicke der Anwesenden immer wieder ehrfürchtig zu ihm hin, und gelegentlich strich eine schlanke, beringte, gepflegte Hand bewundernd über sein dichtes weißes Fell, das den kostbaren Abendroben der in Samt und Seide gekleideten Gäste in nichts nachstand.
Eine beeindruckende Gewölbedecke überspannte den Saal. Filigrane Kristalllüster verbreiteten weiches bernsteinfarbenes Licht, in dessen Schein die holzgetäfelten Wände sanft schimmerten. Ausgebleichte Orientteppiche dämpften das Geräusch von Füßen, die eher an robustes Schuhwerk, wasserfeste Socken und Steigeisen gewöhnt waren, als an Lackschuhe und Smoking.
Cassies Blick fiel wieder auf Henry, die zweitinteressanteste Persönlichkeit im Saal – wenn man den Eisbären mitzählte. Er war von Gratulanten umringt, die ihm lachend auf die Schultern klopften und ihn zu seiner Aufnahme in den altehrwürdigen Explorer’s Club beglückwünschten. Mit aufmerksamen Mienen und konzentriert gerunzelten Brauen lauschten sie seinen Berichten über seine letzte Forschungsreise, eine Trekkingtour durch das Kurama-Gebirge von Usbekistan, der er auch seine Aufnahme als neues Mitglied in den Traditionsklub verdankte. Das war der Grund für ihren viertägigen Abstecher ins spätwinterlich kalte New York.
Außerhalb der altmodischen Sprossenfenster peitschte Eisregen herab, Schneematsch behinderte die Verkehrsströme durch die East 70th Street. Die Atmosphäre im Saal bildete einen eigenartigen Kontrast zum hektischen Leben in einer modernen Großstadt – gedämpfte Stimmen zwischen beeindruckenden Tiertrophäen aus einer längst vergangenen Zeit: ein sprungbereit geduckter Gepard; rechts und links vom offenen Kamin zwei mächtige Elefantenstoßzähne. Eine alte Zeit, die einst eine neue gewesen war, eine Zeit des Aufbruchs zu neuen Ufern, zur Entdeckung neuer Welten. Welche Ironie, dachte Cassie. Memento mori. Nichts bleibt, wie es ist. Das Leben ist immer in Bewegung. Was heute neu ist, ist morgen bereits veraltet.
Das wusste wahrscheinlich niemand besser als die hier Anwesenden. Unten schien eine Tür aufgegangen zu sein, denn ein Windstoß strich über die Clubfahne, die wie ein Gobelin an der Wand befestigt war. Drei diagonale Streifen, rot, weiß und blau, in der Mitte eine Kompassrose auf weißem Grund, flankiert von den Buchstaben E und C. Cassie kannte die Fahne gut.
»Hast du gewusst, dass diese Fahne von den ersten Polarforschern gehisst wurde? Auf beiden Polen, dem Nord- und dem Südpol?«, erzählte Brett, der mit frischen Drinks in der Hand zu ihnen stieß und Cassies Blick bemerkte. »Und auf dem Gipfel des Mount Everest und obendrein auf dem Mond?«
Schmunzelnd nahm Cassie ihr Glas entgegen. »Na, genau genommen nicht diese Flagge. Aber klar weiß ich das. Ich wäre ja eine schöne Verlobte, wenn ich nicht wüsste, wie die Hauptstadt von Tadschikistan heißt oder welche Währung man in Peru verwendet, ganz zu schweigen vom genauen Datum der ersten Mondlandung. Henry würde mich nicht mehr ansehen, wenn ich nicht mal die Flagge des Explorer’s Club erkennen würde!«
Kelly lachte. »Ach was! Solange du Kleider wie dieses trägst, würde es ihn nicht mal scheren, wenn du den Union Jack nicht vom dänischen Dannebrog unterscheiden könntest!« Sie wies mit einem anerkennenden Nicken auf Cassies bodenlanges, schulterfreies Schlauchkleid aus rotem Taft, das mit einer Reihe von zierlichen kleinen Schleifchen am Mieder besetzt war. Cassie konnte noch immer nicht recht fassen, dass Henry das Valentino-Kleid kurzerhand für sie gekauft hatte, nachdem sie es im Schaufenster einer teuren Boutique an der Madison entdeckt hatten. Das war so gar nicht seine Art. Ganz abgesehen davon, dass sie sich eine solche Ausgabe kaum leisten konnten. Als Forscher und Entdecker bezog Henry kein regelmäßiges Gehalt, man musste sehen, wie man zurechtkam, es gab sowohl fette als auch magere Zeiten. Der heutige Abend war zwar eine große Auszeichnung für Henry, aber satt wurden sie davon noch lange nicht. Erst wenn es ihm gelang, sich die in Aussicht gestellte Fördersumme von 120.000 Dollar für seine nächste Expedition zu sichern (eine Erforschung noch unbekannter Unterwasserregionen in der Arktis), käme wieder etwas Geld in die Haushaltskasse. Henry rechnete sich gute Chancen aus, die Clubfahne auf die Reise mitnehmen zu dürfen, ein ganz besonderer Gunstbeweis, den der Club nur einmal jährlich an die »würdigste« Expedition vergab. Da sich auch die UN mit ihrem Umweltschutzprogramm an dem Projekt interessiert zeigten – vorausgesetzt, der Film mit seinen wichtigen neuen Daten und Erkenntnissen würde rechtzeitig auf der nächsten Klimakonferenz gezeigt werden können –, bestanden gute Aussichten auf bessere Zeiten.
»Danke! Rot trage ich gewöhnlich nie.«
»Das solltest du aber. Es ist deine Farbe, steht dir ausgezeichnet«, bemerkte Kelly auf ihre offene Art. Kellys Lieblingsfarbe war Schwarz. Sie trug ausschließlich Schwarz. Gelegentlich auch Anthrazit. Oder Marineblau. Aber das waren die einzigen Ausnahmen. Heute Abend war sie in einem enganliegenden schwarzen Schlauchkleid von Alexander Wang erschienen – der Inbegriff von urbanem Schick. Das lange schwarze Haar fiel ihr in sorgfältig geglätteter, seidenmatter Fülle über Schultern und Rücken. Ihr einziges farbliches Zugeständnis war der knallrote Lippenstift. Keine Frau der Welt – ob aus Osaka, Ottawa, Oman oder Ohio – hätte übersehen können, dass Kelly im »Big Apple« beheimatet war: Sie trug die Stadt im Gesicht, in den Haaren, in der Kleidung und Gestik, in der Art, wie sie sprach, ja sogar wie sie lachte.
Nicht dass sie heute Abend sonderlich oft lachte. Sie und ihr Mann Brett – mit dem sie seit zwei Jahren verheiratet war – wirkten bedrückt und schweigsam, was sie hastig zu verbergen versuchten, sobald sie sich beobachtet fühlten. Cassie hatte ein flaues Gefühl im Magen. Als frisch Geschiedene kannte sie die Anzeichen nur zu gut: das gezwungene Lächeln, die aufgesetzt wirkende Begeisterung, die Art, wie sie persönliche Fragen abblockten und mit Gegenfragen von sich abzulenken versuchten.
Leider hatte Cassie bisher einfach keine Gelegenheit gehabt, richtig mit Kelly zu reden. In den drei Tagen, seit sie hier war, waren sie bei zwei Mittagessen und auf fünf Partys gewesen, und der heutige Abend war ihr dritter Empfang. Cassie war zum Umfallen müde, da half nicht mal die belebende Wirkung eines knallroten Viertausend-Dollar-Kleids oder die modische Frisur, die Bas, ihr Haarstylist und bester Kumpel, ein wahrer Meister in der Handhabung von Bürste und Föhn, gezaubert hatte: Ihr blondes Haar war zu einem glänzenden glatten Pferdeschwanz zusammengefasst. Cassie, die unter einem fürchterlichen Jetlag litt, hatte sich keine Sekunde ausruhen können. Ein Event jagte den anderen, eine Party die nächste. Neben Henrys Verpflichtungen und Empfängen (er traf sich mit zahllosen Freunden und Bekannten, immer auf der Suche nach einem Sponsor) hatten Brett und Kelly ein gnadenloses Unterhaltungsprogramm auf die Beine gestellt. Morgen wollten sie wieder zurückfliegen. Cassie hatte eigentlich vorgehabt, sich während des langen Flugs einen Spielfilm nach dem anderen reinzuziehen, doch nun sehnte sie sich nur noch danach, den gesamten Flug zu verschlafen.
»Du siehst müde aus«, bemerkte Kelly, der auffiel, wie Cassie krampfhaft das Gähnen unterdrückte.
»Ich? Nö, mir geht’s gut«, wehrte Cassie automatisch ab. Ihr viermonatiger Aufenthalt in New York vor zwei Jahren hatte sie gelehrt, dass Worte wie »Müdigkeit« oder »Erschöpfung« in Kellys Vokabular nichts verloren hatten und einem Kapitalverbrechen gleichkamen.
»Also, ich bin jedenfalls total erledigt. Ich halte es in diesen Schuhen keine halbe Stunde länger aus; ich hab schon Blasen.«
Cassie – und Brett – fiel fast die Kinnlade runter. Erledigt? Schuhe, die drückten? Brett hätte nicht erstaunter sein können, wenn seine Frau von ihm verlangt hätte, sie ab jetzt Bob zu nennen.
»Tja, also …«, stammelte Brett verblüfft.
»Ehrlich, wenn ihr gehen wollt, dann geht ruhig. Meinetwegen müsst ihr wirklich nicht bleiben. Ich warte einfach hier auf Henry, lange wird er ja nicht mehr brauchen. Außerdem wollte ich sowieso noch mal mit dem Kerl reden, der beim Dinner mein Tischnachbar war – er hat erzählt, dass er erst vor kurzem von einer Expedition zu allen acht Polen der Erde zurückgekehrt ist.«
»Es gibt acht?«, fragte Brett überrascht.
Cassie zuckte die Achseln. »Scheint so. Wer hätte das gedacht, was?« Sie berührte Kellys Arm. »Geht’s dir gut?«
»Ja klar. Hab bloß eine stressige Woche hinter mir.« Kelly sah blass aus. Das Lächeln schien sie Mühe zu kosten.
»Ah, der Mann der Stunde!«, rief Brett munter.
»Was geht ab?« Henry schlang lächelnd den Arm um Cassies zierliche Taille und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Misstrauisch musterte er ihre übertrieben munteren Mienen. »Was ist? Was habt ihr? O nein, sagt bloß nicht, ihr langweilt euch zu Tode! Es war der alte Mayhew, stimmt’s? Er belästigt jeden mit seinen uralten Geschichten von seiner Expedition zum Chimborazo. Ich weiß – nicht jeden interessiert, dass das der Ort ist, der am weitesten vom Erdmittelpunkt entfernt liegt …«
»Überhaupt nicht!«, protestierte Kelly. »Ich habe heute Abend mehr interessante Menschen getroffen als in meiner Branche in einem Jahr! Ach was, in zehn! Alles, worüber die reden wollen, sind irgendwelche neuen Luxusresorts in der Karibik. Deine Leute dagegen sind echt cool, Henry-Boy.« Sie zwinkerte ihm zu.
Aber so leicht ließ Henry sich nicht täuschen. »Warum dann die ausweichenden Blicke? Wie Füchse, die man beim Hühnerstehlen erwischt hat.«
Brett lachte. »Ach was! Aber jetzt erzähl mal, kriegt ihr die Fahne? Wie ist es gelaufen?«
Henry grinste breit, und Cassie schmolz dahin. Sie konnte sich noch immer nicht an ihm sattsehen: sein welliges dunkelblondes Haar, das im Nacken schon ein wenig lang wurde, sich über seinen Ohren lockte und an den Schläfen immer ein wenig abstand. Seine Wimpern, die geradezu ungerecht lang waren und wache eisblaue Augen überschatteten, mit denen er ihre Gedanken lesen zu können schien, dazu seine ganzjährige Bräune, die er einem Leben unter freiem Himmel zu verdanken hatte. Wenn man all das zusammennahm und ein mitternachtsblaues Smoking-Jackett aus Samt hinzufügte, war’s kein Wunder, dass ihr das Atmen schwerfiel.
Sie schob ihre kleinere Hand in seine, wie eine Haselmaus, die sich in ihr Nest kuschelt. Er drückte sie liebevoll und zärtlich, mit einer Verheißung auf die restlichen Stunden der Nacht.
»Wir haben ein Treffen im Juni in London vereinbart. Es liegt zwar noch eine andere Bewerbung vor, aber da ich ja jetzt ihr neuestes Mitglied bin …« Er senkte verschwörerisch die Stimme. »… Ist die Sache schon so gut wie geritzt.«
»He, Mann, das ist toll!« Brett strahlte aufrichtig. Er selbst war Börsenmakler und verdiente das Vierfache von dem, was Henry in einem Jahr machte, aber er inhalierte jede von Henrys Geschichten und gesammelten Heldentaten und Abenteuern, als wären sie reiner Sauerstoff.
Kelly legte beschwichtigend die Hand auf Bretts Arm. »Würde mich nicht wundern, wenn er eines Tages einfach alles hinschmeißt und sich als Freiwilliger zu einer deiner Expeditionen meldet«, bemerkte sie sarkastisch. »Aber wir müssen schließlich eine HYPOTHEK abzahlen, klar?« Sie sprach es so deutlich aus, als müsste sie durch Panzerglas mit ihm kommunizieren.
»He! Ich kenne meine Grenzen! Henry mag damit ja seinen Lebensunterhalt verdienen, aber wenn ich verkünden würde, ich wolle den tiefsten Punkt des Ozeans erforschen, dann würden sie mir einen Zementblock an die Füße binden und mir einen Schubs von der Mole geben anstatt hundert Riesen Fördergeld!«
Alle lachten.
»Mann, es ist nicht ganz so toll, wie es sich anhört«, meinte Henry mit seiner typischen Bescheidenheit. »Ein regelmäßiges Einkommen ist nicht zu verachten. Früher war’s leichter, da hat es mir nichts ausgemacht, wenn ich zwischendurch mal nichts verdient hab. Ich konnte bei Suze und Arch auf der Couch pennen und mich von trockenem Brot ernähren, aber jetzt …«
»Jetzt, wo du mit einer wunderschönen Frau verlobt bist, die nur das Beste gewöhnt ist …« Kelly zwinkerte Cassie zu. »Apropos verlobt – habt ihr schon einen Hochzeitstermin? Oder wie lange wollt ihr es noch spannend machen?«
Cassie stöhnte. »Nicht du auch noch!«
Kelly lachte. »Was? Ich brauche einen Vorwand, um mir ein richtig tolles Kleid zu kaufen, okay?«
»Sobald wir’s wissen, werdet ihr es erfahren.«
Kelly betrachtete Henry mit hochgezogener Braue. »Unfassbar, nicht? Seit zwei Jahren ist sie mit dir verlobt und will noch immer erobert werden!«
»Wem sagst du das«, meinte Henry trocken.
»Hast du mit allen geredet, mit denen du reden wolltest?«, erkundigte sich Cassie.
»Du versuchst doch nicht etwa das Thema zu wechseln, Madame?«, fragte Kelly mit einem diebischen Funkeln in den Augen.
»Nein! Ich wollte bloß wissen, ob wir gehen können. Du hast doch gesagt, dass dir die Füße wehtun!«
Kelly zuckte übertrieben zusammen, als hätte Cassie sie auf frischer Tat ertappt.
»Wusste ich’s doch! Ihr seid total angeödet«, bemerkte Henry mit einem traurigen Kopfschütteln. »Nein!«, schallte ihm sofort aus allen Richtungen entgegen.
»Wahrscheinlich hat euch Cornell mit seinen Biosphärenreservaten am Baikalsee und am Genfer See genervt. Er ist ganz besessen davon. Seid ehrlich.«
Wieder verneinte die Runde.
»Wir sind unheimlich stolz auf dich.« Kelly tätschelte ihm die Schulter. »Vom heutigen Abend werde ich noch monatelang zehren, glaub mir.«
Henry seufzte zerknirscht. »Na ja, ich bin für heute jedenfalls fertig. Ich besitze eine neue Krawatte« – er holte eine Clubkrawatte aus einer Tasche seines Smokings –, »habe einen vollen Magen und einen üppigen Zuschuss in Aussicht. Wie wär’s mit einem Schlummertrunk? Ich kenne da eine tolle kleine Bar im Village, da kriegt man fünfzig Jahre alten Malt-Whisky.«
»Gute Idee!«, meinte Kelly. Ihre wunden Füße waren offenbar vergessen.
Cassie fragte sich, wie die Leute reagieren würden, wenn sie und Kelly in ihren bodenlangen Uptown-Roben in einer Downtown-Bar aufkreuzten. Doch im selben Moment hörte sie auf sich Sorgen zu machen. Sie hatten ja Henry dabei – und der hatte im Jemen sogar mal einen Mann um den Finger wickeln können, der ihm eine Uzi unter die Nase gehalten hatte.
»Na gut.« Cassie drückte Henrys Arm und lehnte sich mit einem müden Lächeln an ihn.
Brett ging nach draußen, um ein Taxi anzuhalten, während Henry ihre Mäntel von der Garderobe holte. Kelly hatte Cassie eine schwarze Kunstpelz-Stola geliehen, die zwar schick aussah, aber praktisch null Wirkung gegen die Kälte hatte. Immerhin waren ihre nackten Schultern bedeckt, und sie mussten ja lediglich von der Tür zur Gehwegkante sprinten, wo hoffentlich das Taxi bereitstand.
»Alles klar, Leute!«, rief Brett ihnen von draußen zu. Henry hielt den Damen die Tür des alten jakobinischen Hauses auf, und Kelly stürzte als Erste los, durch die wild tanzenden Schneeflocken. Der Asphalt schimmerte nass im Licht der Straßenlampen und der Taxischeinwerfer, die mit ausgeschaltetem Schild langsam durch den Schneematsch an ihnen vorbeifuhren. Es war noch viel kälter, als Cassie erwartet hatte. Bibbernd schlang sie die Arme um den Oberkörper und sah zu, wie Kelly einstieg und in ihrem engen Kleid mühsam über den Sitz rutschte, um Platz zu machen. Ein Windstoß fuhr Cassie von vorne in die Beine und blähte den Rock ihres Kleids wie ein rotes Segel auf.
Cassie quietschte. »Mein Gott! Was für ein Wetter!«
Im nächsten Moment wurde sie von der Wärme von Henrys Smoking-Jackett eingehüllt und krallte dankbar die eisigen Finger in den dicken Samtstoff. Henry gab ihr einen Kuss auf den Schwanenhals, den sie willig entblößte. Er hielt sie fest umschlungen, und sie schmiegte sich genießerisch mit dem Rücken an ihn.
»Schlechtes Wetter gibt’s nicht …«, flüsterte er ihr ins Ohr.
»Bloß schlechte Kleidung«, beendete sie seinen Satz. Sie kannte den Spruch, er stammte von einem seiner Idole, Sir Ranulph Fiennes. Ja, sie war wirklich eine sehr gute Verlobte.
Er lachte beeindruckt auf, und sie warf ihm einen kessen Blick zu, selbst ein wenig stolz auf sich. Gerade wollte sie einsteigen, als ihr Blick auf ein langsam vorbeifahrendes Taxi fiel. Ein blasses Gesicht hinter der verregneten Scheibe schaute zu ihnen herüber. Schaute sie an.
Cassie erstarrte. O nein. Nein, nein, unmöglich. In einer Stadt, in der neunzehn Millionen Menschen lebten, musste sie ausgerechnet der Person begegnen, die sie am allerwenigsten sehen wollte. Sie täuschte sich, das musste es sein. Der starke Regen trübte die Sicht, es war zu dunkel, um etwas erkennen zu können. Ein flüchtiger Eindruck, mehr war es nicht gewesen.
Und dennoch … sie war bekannt dafür, dass sie Leute aus den Augenwinkeln erkannte, nur an ihrem Gang.
»Cass? Alles in Ordnung?«
Henry hielt besorgt ihren Arm. Sie merkte, dass sie mitten im Einsteigen erstarrt war, einen Fuß angehoben.
»Ja, klar«, stieß sie verwirrt hervor und ließ sich neben Kelly auf den Rücksitz fallen.
Henry stieg ein und schlug die Tür mit einem dumpfen Knall zu. Sein Oberschenkel drückte warm gegen ihr Bein, aber es half nicht viel. Ihr war der kalte Schrecken in die Glieder gefahren, und sie erschauderte von Kopf bis Fuß.
»Was ist denn mit dir los? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen«, witzelte Kelly.
Wenn sie wüsste, wie recht sie hat, dachte Cassie.