Außerdem von Andreas Steinhöfel im Carlsen Verlag erschienen:
Die Mitte der Welt
Beschützer der Diebe
David Tage Mona Nächte
Defender
Der mechanische Prinz
Paul Vier und die Schröders
Dirk und ich
Es ist ein Elch entsprungen
Froschmaul Geschichten
Trügerische Stille
Rico, Oskar und die Tieferschatten
Rico, Oskar und das Herzgebreche


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Veröffentlicht im Carlsen Verlag
Copyright © 1994, 2006, 2007 Carlsen Verlag GmbH, Hamburg
Umschlagbild: Regina Kehn
Umschlaggestaltung: formlabor
Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-646-92082-6

Alle Bücher im Internet unter
www.carlsen.de

Inhalt
 

MITTWOCH

  1   Sommerstadt   6

  2   Eis und Spiele   21

  3   Verfolgungen   32

  4   Vermutungen, Entscheidungen und das Ende einer schlaflosen Nacht   49

DONNERSTAG

  5   Bilder einer Ausstellung   64

  6   KEM 5018   84

  7   Der Kriegsrat tagt   105

FREITAG

  8   Oht Kutür   116

  9   Stilles Wasser, wildes Wasser   136

10   Was Griffith will   156

SAMSTAG

11   Darum bin ich hier   177

12   Hoffmanns Erzählungen   195

13   Im Kolk   209

14   Beschützer der Diebe   229

SONNTAG

15   Julia und Romeo   241

16   … und unsterblich   266

Was ist das für ein Spiel?
Ein Rückblick auf den »Beschützer der Diebe«   286

MITTWOCH

Kapitel 1

Sommerstadt

Romeo saß bewegungslos zwischen Pippi Langstrumpf und Kalle Blomquist unter dem Tisch. Seine feinen Schnurrhaare zitterten kaum merklich, als er witternd die Nase in die Luft hob.

»Füller«, sagte Dags leise und eindringlich. »Wo ist der Füller, Romeo?«

Die schwarzen Knopfaugen der Ratte blitzten, während ihr nackter Schwanz unruhig über den Parkettboden schlug. Winzige Staubpartikel wirbelten auf und schimmerten im Sonnenlicht, das durch das hohe weiße Fenster fiel.

Dags hatte den Füller am Ende eines kunstvoll verschachtelten Labyrinths versteckt. Die Seitenwände der Gänge, die sich durch das ganze Zimmer erstreckten, bestanden aus aufgestapelten Büchern, Musikkassetten, CD-Hüllen und Comic-Alben. Romeo hatte bereits zwei erfolglose Anläufe unternommen, den Irrgarten zu durchqueren, und es sah nicht so aus, als wäre er dazu bereit, auch noch einen dritten Versuch zu starten. Er kratzte sich hinter den Ohren und zuckte zusammen, als aus dem Flur das Klingeln des Telefons ertönte.

»Füller«, wiederholte Dags ungeduldig. »Jetzt mach endlich! Ich hab dir das verdammte Ding schon mindestens zehnmal unter die Nase gehalten!«

Dagmars Vater hatte Romeo aus dem Labor mitgebracht, als die Ratte kaum sechs Wochen alt gewesen war, und ihn damit vor dem traurigen Schicksal seiner dort gezüchteten Artgenossen bewahrt, die als Versuchstiere für Krebsexperimente dienten. Dags hatte das kleine schwarzweiß gefleckte Knäuel vom ersten Augenblick an gemocht und Romeo hatte ihre Zuneigung ebenso rasch erwidert. Ihre gegenseitige Liebe war zum Ausgangspunkt einer Reihe von Experimenten geworden, von denen bisher leider keines zum Erfolg geführt hatte. Das einzige Kunststück, das Romeo beherrschte, bestand darin, sich auf die Hinterbeine zu stellen und seinen Oberkörper hin und her zu wiegen, wenn man ihm etwas zu fressen anbot. Dags fand, er wirke dabei ungefähr so graziös wie ein besoffener Balletttänzer.

Sie seufzte und beugte sich zu Romeo herab. Er sprang auf ihre rechte Hand, lief wieselflink den Arm hinauf und kuschelte sich, auf der Schulter angekommen, an ihren Hals. Vorsichtig balancierte sie über das Labyrinth hinweg zur Fensterbank, wo der Rattenkäfig stand, und hielt Romeo dabei einen Käsecracker unter die Nase.

Wiegen, wiegen, wiegen … Dann griffen die zierlichen Pfoten zu und ein Sprühregen aus Krümeln rieselte auf den Boden herab.

»Ich weiß, dass du nicht so blöd bist, wie du tust«, murmelte Dags und kraulte Romeo unter dem Kinn. »Irgendwann wird es klappen.«

Der Kopf ihrer Mutter erschien im Türspalt. »Gudrun ist am Telefon.« Sie ließ den Blick über das Chaos schweifen, das sich zu ihren Füßen ausbreitete. »Was veranstaltest du denn hier schon wieder?«

»Ich versuche Romeo dazu zu bringen, sich an einmal gesehene und benannte Gegenstände zu erinnern und sie dann unter erschwerten Bedingungen wiederzufinden.«

»Aha …« Frau Kreuzer runzelte die Stirn.

»Es ist vollkommen harmlos«, sagte Dags.

»Das hast du auch behauptet, als du letztes Jahr den Orientteppich im Arbeitszimmer mit deinem selbst entwickelten Fleckenmittel behandelt hast.«

»Falsche Formel«, verteidigte sich Dags schuldbewusst. Das Fleckenmittel hatte tiefe Löcher in den sündhaft teuren Teppich geätzt und ihr den dreimonatigen Verlust ihres Taschengelds beschert.

»Nun ja«, erwiderte Frau Kreuzer. »Ich hoffe, du findest unter diesen erschwerten Bedingungen alles wieder, was du in dem Labyrinth verarbeitet hast. Womit ich sagen will –«

»– dass ich den Krempel schleunigst aufräumen soll, ich weiß.« Dags nahm Romeo von der Schulter, setzte ihn in den Käfig und klappte den Drahtdeckel herab. »Mach ich gleich.«

»Und … Dagmar?«

»Hmm?«

»Kümmere dich ein bisschen um Gudrun, ja?« Der Kopf ihrer Mutter war verschwunden, bevor Dags antworten konnte.

Einen Moment lang blieb sie noch am Fenster stehen und sah hinaus. Ein Windstoß fuhr durch die Zweige der dicht belaubten Bäume, die den Blick auf die Fassaden der gegenüberliegenden Jugendstilhäuser versperrten.

Ausgerechnet Gudrun …!

Dags stieß einen leisen Fluch aus. Romeo, der sich am Maschendraht des Käfigs aufgerichtet hatte und sie mit glänzenden Augen beobachtete, gab ein klägliches Fiepen von sich. Kurz entschlossen nahm sie ihn wieder aus seinem Gefängnis, setzte ihn zurück auf ihre Schulter und schlappte hinaus in den Flur, wo das Telefon stand.

Gudrun Berger war ihre Cousine. Vor einem halben Jahr war sie mit ihrer geschiedenen Mutter aus einer westdeutschen Kleinstadt in den Ostteil Berlins gezogen, wo das Bankunternehmen, für das Frau Berger arbeitete, eine Filiale eingerichtet hatte. Seit dem Umzug waren Gudrun und ihre Mutter öfters bei den Kreuzers zu Besuch gewesen, während Dags und ihre Eltern nur einmal den Weg vom Westen in den Osten gemacht hatten. Dags hatte pflichtbewusst versucht sich mit ihrer Cousine anzufreunden, aber Gudrun war schweigsam und in sich zurückgezogen gewesen – eine Folge der Scheidung, wie Dagmars Vater vermutete. Nach einer Weile hatte sie jeden weiteren Annäherungsversuch aufgegeben. Ihr Vater hatte übrigens, wie Dags bei diesen Gelegenheiten festgestellt hatte, nicht viel mit seiner Schwester gemeinsam.

Außer einer Vorliebe für diese bescheuerten altmodischen Namen, dachte sie, als sie den Telefonhörer in die Hand nahm.

»Ja?«

»Hallo, Dagmar. Ich stehe auf dem Ku’damm, in der Nähe vom Café Kranzler?« Gudruns irritierende Art, Feststellungen wie Fragen klingen zu lassen, fiel Dags nicht zum ersten Mal auf und ging ihr gehörig auf die Nerven. »Ich dachte, du hättest vielleicht Lust mitzukommen.«

»Wohin?«

»Na ja, in den Zoo?«

»Da war ich schon mindestens zehnmal.«

»Oh.«

Eine Pause trat ein, in der Dags nichts hörte als Gudruns ruhiges Atmen und das gedämpfte Rauschen des Straßenverkehrs auf dem Kurfürstendamm, Berlins größter Einkaufsstraße und einstiger Promeniermeile. Romeo beschnupperte neugierig ihre Wange. »Warum bist du nicht gleich bis zu uns gekommen?«, unterbrach sie endlich die Stille.

»Das wollte ich. Ich, also, ich bin am Savignyplatz ausgestiegen und dann … dann hab ich mich verlaufen. Ich könnte aber noch mit dem Bus –«

»Nein, nein! Du bist ja sowieso schon fast am Zoo.« Dags überlegte schnell. »Weißt du, in welche Richtung du gehen musst, um zum Bahnhof zu kommen?«

»Ja.«

»Okay. Direkt am Bahnhofsvorplatz, rechts von den Bushaltestellen, ist ein McDonald’s. Da treffen wir uns in zwanzig Minuten.«

»Ist gut.« Gudruns Stimme klang erleichtert. »Dann also bis gleich.«

Dieser Quatsch wäre mir erspart geblieben, wenn wir in Urlaub gefahren wären, dachte Dags, als sie den Hörer auflegte. Sie erinnerte sich an ihre Enttäuschung, als ihr Vater vor vier Wochen einen lang erwarteten Forschungsauftrag erhalten hatte, mit dem die geplanten Ferien in Ägypten ins Wasser gefallen waren. Herr Kreuzer würde für die nächsten Monate ans Labor gefesselt sein und Dagmars Mutter war durch nichts dazu zu bewegen, ihren Mann sich selbst zu überlassen.

»Du weißt doch, wie er ist«, hatte sie erklärt. »Wenn man nicht auf ihn aufpasst, verhungert er. Oder er geht im Pyjama ins Labor – wenn er überhaupt einen trägt – und wir haben eine Anzeige wegen öffentlicher Erregung am Hals.«

»Erregung öffentlichen Ärgernisses«, hatte Dags sie verbessert und dann vorgeschlagen: »Ich könnte ohne euch nach Ägypten fliegen. Claus fährt doch auch allein an die Atlantikküste.«

»Das ist etwas anderes, dein Bruder ist volljährig. Ich weiß, dass alle deine Freunde in Urlaub gefahren sind. Aber du erwartest doch nicht ernsthaft, dass ich dich mit deinen zwölf Jahren allein durch die Weltgeschichte reisen lasse?«

»Fast dreizehn.«

»Wenn überhaupt, kannst du bei einer dieser Ferienfreizeiten mitmachen. An der Ostsee ist es auch ganz nett.«

Dags hatte dankend abgelehnt. Als ihr Bruder kurz darauf mit seinen Freunden nach Frankreich aufgebrochen war, hatte sie in ihrem Zimmer gesessen, sich mit Schokolade vollgestopft und vor Wut geheult.

Und jetzt das, dachte sie. Statt Nil, Sphinx und Pyramiden unter afrikanischer Sonne ein Haufen Affenkacke im Berliner Zoo – und Gudrun. Schöne Aussichten …

»Was wollte Gudrun?«, rief ihre Mutter aus der Küche.

»Sich mit mir treffen, um in den Zoo zu gehen. Ich hole sie jetzt ab.«

»Du warst doch schon so oft im Zoo.«

»Soll ich mich nun um sie kümmern oder nicht?«

Der Satz klang gereizter, als sie beabsichtigt hatte. Ihre Mutter gab keine Antwort. Dags ließ Romeo in die geräumige, von ihr selbst angenähte und mit einem Reißverschluss versehene Innentasche ihrer Jeansjacke gleiten und musterte sich in dem Spiegel, der über dem Telefontisch hing. Ein blaues und ein braunes Auge blickten zurück – die einzig wirklich auffälligen Merkmale in ihrem runden Gesicht, das von einem Wust widerspenstiger rotbrauner Locken eingerahmt wurde. Die unterschiedliche Farbe ihrer Augen war ein genetischer Zufall. Die Chance, so auf die Welt zu kommen, hatte ihr Vater ihr irgendwann begeistert erklärt, lag bei eins zu einer Million. Dags fand diese Tatsache wenig tröstend. Sie steckte ihre Haare mit zwei bunten Plastikkämmen nach hinten und bemerkte dabei einen Pickel auf ihrer Stirn.

Scheißgenetik, dachte sie. Scheißsommer!

Die Geldbörse war aus braunem, makellos verarbeitetem Leder. Ohne sich umzusehen, nahm Olaf sie aus dem Regal und ließ sie mit einer geübten Handbewegung in die Gesäßtasche seiner Jeans gleiten. Einen Moment lang blieb er stehen und wartete, bis sein pochendes Herz sich beruhigt hatte. Dann schlenderte er ziellos weiter durch die breiten, von leiser Musik erfüllten Gänge des Kaufhauses, in das er gegangen war, um …

Um zu stehlen, dachte er.

Das ist ein wenig hässlich ausgedrückt, findest du nicht?, meldete sich eine Stimme in seinem Kopf. Eigentlich wolltest du dich nur etwas umsehen, nicht wahr?

Olaf zuckte resigniert die Achseln, als stehe er vor einem unsichtbaren Gesprächspartner, dem gegenüber er Rechenschaft ablegen musste. Er passierte einige sorgfältig dekorierte Tische, die sich unter Sonderangeboten von Turnschuhen, Reisetaschen und Sportbekleidung bogen. Vor einem Regal mit buntem Modeschmuck blieb er stehen, griff nach einer perlmuttfarben schimmernden Haarspange, die er in der vorderen rechten Hosentasche verschwinden ließ, und überlegte, wem er sie schenken sollte. Es fiel ihm niemand ein.

Er drängte sich weiter durch den Strom der vor ihm herlaufenden und ihm entgegenkommenden Menschen, durch Wogen von Parfüm, Deodorants und dem Geruch von frischem Schweiß und ging auf die gläserne Tür des Ausgangs zu. Eine dicke Frau in blauem Kleid kam ihm entgegen. Er wich ihr im selben Moment aus, in dem dicht hinter ihm eine seltsam hohe Stimme ertönte.

»So, mein junger Freund! Ich glaube, wir müssen uns mal ernsthaft unterhalten.«

Olaf drehte sich um. In seinem Magen breitete sich ein Gefühl aus, als befinde er sich in einem nach unten sausenden Fahrstuhl. Die Stimme und die Hand, die sich schwer auf seine Schulter gelegt hatte, gehörten einem kleinen Mann, der so unscheinbar war, dass er selbst in einem leeren weißen Raum kaum aufgefallen wäre. Die einzige Besonderheit im Durchschnittsgesicht des Kaufhausdetektivs war eine breite Narbe, die sich oberhalb seiner linken Augenbraue entlangzog, wo sie in einem unwirklichen Rot leuchtete.

Wie ein Bremslicht, dachte Olaf. Oder wie ein Betriebsunfall mit einem Lippenstift. Ein Kichern stieg in ihm auf, das er nur mit Mühe zurückhalten konnte.

»Du machst das nicht zum ersten Mal, oder?«, fragte der Detektiv. Aus seiner Stimme klangen Routine, Langeweile und eine Spur von Verachtung.

Olaf gab keine Antwort. Sein Magen hatte sich wieder beruhigt, der Fahrstuhl war am Boden angekommen. Eigentlich war es seltsam, überlegte er, dass er nicht schon viel früher erwischt worden war. Er machte sich nie die Mühe, sich während des Stehlens umzusehen und festzustellen, ob er vielleicht beobachtet wurde. Es war ihm nicht wichtig. Wichtig war nur die Stimme in seinem Kopf, die ihn unbarmherzig dazu antrieb, Dinge mitzunehmen, die ihm nicht gehörten.

Der Detektiv war so unauffällig vorgegangen, wie es seinem Äußeren entsprach. Keiner der Menschen um sie herum hatte bemerkt, dass er Olaf festgenommen hatte, keiner beachtete, wie er ihn zügig, die Hand noch immer fest auf seiner Schulter, vor sich her durch den Verkaufsraum schob. Niemand konnte ahnen, dass in wenigen Minuten, in irgendeinem engen Hinterzimmer, die Polizei einen etwas zu klein geratenen dreizehnjährigen Jungen mit braunen Augen, in Jeans und weißem T-Shirt, vernehmen würde.

Überrascht bemerkte Olaf, dass seine Augen sich mit Tränen füllten. Er hatte Angst vor der Polizei. Er wollte nicht vernommen werden und der Gedanke daran, was seine –

Vor ihnen blockierte die dicke Frau in dem blauen Kleid den Weg. Der Kaufhausdetektiv machte einen Schritt nach links, um an ihr vorbeizugehen, und der eiserne Griff auf Olafs Schulter lockerte sich. Es war die einzige Chance. Olaf riss sich los, wirbelte herum und rannte. Das Letzte, was er von dem Detektiv hörte, war ein überraschtes Keuchen. Dann stürzte er nach vorne, vorbei an funkelnden Spiegeln, an leise surrenden Rolltreppen und einem Stand, an dem Seidenkrawatten angeboten wurden, wie er sie seinem Vater letzte Weihnachten geschenkt hatte. Er hatte sie von seinem Taschengeld gekauft.

Er hetzte durch die erste der beiden Schwingtüren des Ausgangs und über die Warmluftschranke hinweg – verrückt, dass sie auch im Sommer in Betrieb war –, stieß die zweite Tür auf und schoss hinaus auf den breiten Gehsteig. Er drängelte sich durch Passanten und Straßenverkäufer, die auf breiten Bauchläden Sonnenbrillen und billiges Spielzeug anboten, dann rannte er über den Ku’damm, ohne den Verkehr zu beachten. Bremsen quietschten, mehrere Autos hupten, neugierige Touristen drehten sich um und sahen gleich darauf wieder fort.

Weiter, um die nächste Ecke herum, nur nicht umdrehen! Links von ihm schob sich dichter Verkehr durch die flimmernde Nachmittagshitze über die Joachimstaler Straße in Richtung der großen Kreuzung vor dem Bahnhof Zoo. Die Luft war heiß und stickig, sie roch nach Ozon und Abgasen. Olaf rannte weiter und wich dabei den entgegenkommenden Passanten nach links und nach rechts aus. Nur wenige Schritte vor ihm ging ein Mädchen über den Gehsteig. Lange blonde Haare fielen ihr glatt über die Schultern auf den Rücken. Er schlug einen Haken nach links, um sie zu überholen.

Er war noch sechs Schritte von dem Mädchen entfernt, als es eine Hand in die Hosentasche steckte. Etwas blitzte im Sonnenlicht und fiel zu Boden. Das Mädchen blieb völlig unerwartet stehen und bückte sich. Es war zu spät, um noch auszuweichen.

Weiße Federwolken spiegelten sich in den hohen, von schwarzen Streben durchzogenen Glaswänden des Bahnhof Zoo. Guddie war erleichtert, als sie über die Köpfe der anderen Fußgänger hinweg das Gebäude am Ende der Straße sah. Als Dagmar sie gefragt hatte, ob sie den Weg dorthin kenne, hatte sie gelogen. Es war ihr peinlich, dass sie sich immer noch kaum in Berlin auskannte – nicht einmal auf dem Ku’damm –, obwohl sie schon über ein halbes Jahr hier wohnte. Auf den Straßen und Gehsteigen herrschte ein einziges Gewimmel. Sie wich einem jungen, sonnengebräunten Mann aus, der ein kleines Kind auf dem Arm trug. Das Kind griff seinem Vater an die Nase. Er lachte und gab ihm einen Kuss auf die Stirn und Guddie fühlte, wie ihr Herz einen kleinen Sprung machte.

Sie hatte ihren Vater zum letzten Mal vor fast einem Jahr gesehen. Die kaum verborgene Gleichgültigkeit, mit der er sie von jeher behandelt hatte, war nach der Scheidung von ihrer Mutter in offenes Desinteresse umgeschlagen. Ihr Vater legte keinen Wert darauf, von seinem Besuchsrecht Gebrauch zu machen. Er vermied den Kontakt mit Guddie und beantwortete ihre Briefe nicht. Schließlich hatte sie ihn angerufen. Ihr Vater hatte am Telefon nur kurz erklärt, er würde ein neues Leben beginnen, in dem für niemanden, weder für seine ehemalige Frau noch für seine Tochter, Platz sei.

Als ihre Mutter sie Weihnachten fragte, ob sie etwas dagegen hätte nach Berlin zu ziehen, hatte Guddie nur wortlos den Kopf geschüttelt.

Zwei Monate später, als sie ihre Mutter zum ersten Mal in den Stadtteil begleitet hatte, in dem sie in Zukunft wohnen würden, war sie dennoch enttäuscht gewesen. Graubraune Häuser mit zerbröckelnden Fassaden hatten sie begrüßt. Absturzgefährdete Balkons hingen drohend über den Gehsteigen und hier und da stand ein ausgeschlachteter Trabi zwischen den geparkten, auf Hochglanz polierten Wagen, die in dichten Reihen die Straßenränder säumten.

Grau, grau, grau … Sie konnte sich nicht vorstellen, wie das Leben für die Bewohner im Osten gewesen war, bevor mit den ersten Ladengeschäften etwas Farbe in ihren Alltag eingedrungen war.

»Farbe und Unruhe und die fragwürdigen Segnungen des Kapitalismus«, war der Kommentar ihrer Mutter gewesen. Sie hatten in Malerklamotten in der erst zur Hälfte gestrichenen neuen Küche gestanden, umgeben von Bauschutt, Tapetenrollen und einem Durcheinander verschiedener Werkzeuge, und abwechselnd kalte Ravioli aus einer Konservenbüchse gefischt. »Stell dir vor, dein gewohntes Leben wird von heute auf morgen umgekrempelt, ohne dass du gefragt wirst, ob dir das recht ist. So fühlen sich die Leute hier!«

Guddie hatte an ihr eigenes Leben gedacht, das ebenfalls umgekrempelt worden war, ohne dass jemand sie danach gefragt hatte, und wieder hatte sie nur genickt. Seit der Scheidung ihrer Eltern hatte sie ein Gefühl, als läge ein eiserner Ring um ihr Herz. Der Umzug in das kalte dezembergraue Berlin hatte diesen Ring nicht gelockert, wie sie zunächst gehofft hatte, sondern nur noch fester angezogen. Sie war noch nie so unglücklich gewesen.

Aber dann war der Frühling gekommen und alles hatte sich verändert. Als wolle die Stadt einen Ausgleich zu den tristen Wintermonaten bieten, war sie förmlich in Farben, Blüten und Blättern explodiert. Wolken von Robinienduft waren durch die breiten Straßen geweht, hatten über den Parks gehangen und die Nächte mit mildem Geruch erfüllt. Langsam hatte Guddie begonnen sich mit ihrer neuen Heimat anzufreunden. Und langsam, ganz langsam, hatte der eiserne Ring um ihr Herz sich gelockert.

Sie schlenderte durch den brausenden Verkehrslärm und zwischen eilig vorüberhastenden Passanten an einem Imbiss vorbei, wo der Geruch von gebratenem Fleisch ihr in die Nase stieg. Hamburger, Dönerkebabs, Böreks und belegte Fladenbrote: Es war einer der Vorteile Berlins, dass man an jeder Straßenecke etwas zu essen kaufen konnte.

Sie kramte in ihren Hosentaschen herum, zog eine Handvoll Kleingeld daraus hervor und zählte die Münzen. Es würde für einen Hamburger oder einen Milchshake bei McDonald’s reichen, vielleicht sogar für beides, aber sie musste aufpassen, genug Geld für den Eintritt in den Zoo übrig zu behalten. Sie wollte nicht in die Verlegenheit kommen, sich von Dags etwas leihen zu müssen. Ein Zweimarkstück entglitt ihren Fingern und fiel zu Boden, als sie das Kleingeld zurück in die Hosentasche steckte.

»Verdammt!«

Guddie blieb inmitten des Stroms der um sie herumlaufenden Menschen stehen und bückte sich nach der Münze. Sie kam nicht dazu, sie aufzuheben. Der heftige Schlag, den sie plötzlich in ihrem Rücken verspürte, katapultierte sie zur Seite und ließ ihr gerade noch genug Zeit, einen überraschten Schrei auszustoßen, bevor sie schmerzhaft mit den Knien auf dem Asphalt aufprallte.

Kapitel 2

Eis und Spiele

»Tut mir echt leid!«, wiederholte Olaf zum mindestens zehnten Mal und zum zehnten Mal fuhr er sich verlegen durch die dunklen Haare. »Ich konnte nicht schnell genug anhalten.«

»Ist schon gut, war meine Schuld.« Das Mädchen löffelte langsam das Eis aus der Waffel, das er ihr spendiert hatte, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Sie saß neben ihm auf einem Mauervorsprung, ließ ihre blauen Augen unablässig über das Gewimmel huschen, das um den Bahnhof Zoo herum herrschte, und plötzlich lächelte sie ihn an. »Ich hätte nicht einfach stehen bleiben dürfen.«

Sie war verdammt hübsch. Als sie mit einer raschen Handbewegung die langen blonden Haare aus ihrem Gesicht strich und ihn anlächelte, entschied Olaf, dass sie der beste Zusammenstoß war, den er je gehabt hatte. Er dachte an den wesentlich unangenehmeren Zusammenstoß mit dem Kaufhausdetektiv und warf einen nervösen Blick über die Schulter des Mädchens in Richtung Ku’damm. Er befürchtete immer noch, der kleine Mann mit der leuchtend roten Narbe könnte plötzlich aus der Menschenmenge auftauchen, die von allen Seiten auf den Bahnhof zuströmte. Und was würde er dem Mann sagen?

Für einen Moment schweiften seine Gedanken ab. Mit dem Stehlen hatte er vor einem Jahr begonnen, aber das Gefühl, das er dabei empfand, war immer noch dasselbe: Es begann mit einem leichten Kribbeln im ganzen Körper, das sich fast bis zur Übelkeit steigerte. Dann kam die Stimme, ihm wurde schwindelig und … sein Kopf setzte aus. Er hörte einfach auf zu denken, und was dann geschah, war wie ein Film. Oder wie ein Traum, an den man sich nur undeutlich erinnert. Es waren nicht seine Hände, die er sah, wenn sie nach etwas griffen, um es dann schnell in seinen Hosen- oder Jackentaschen verschwinden zu lassen. Und oft, nachdem er atemlos ein Kaufhaus oder einen Supermarkt verlassen hatte, starrte er Dinge an, von denen er gar nicht mehr wusste, dass er sie mitgenommen hatte. Sinnloses, unbrauchbares Zeug. Das meiste davon verschenkte er an die Obdachlosen, die um den Bahnhof Zoo herumlungerten oder die verschiedenen U- und S-Bahn-Stationen bevölkerten. Was übrig blieb, warf er in den nächsten Mülleimer. Er behielt nie etwas für sich.

Denk jetzt nicht darüber nach.

Er wandte sich wieder dem Mädchen zu. »Wie heißt du?«, fragte er.

»Gudrun.« Sie knabberte an der Waffel. »Aber Guddie tut’s auch. So nennen mich … So haben mich zu Hause meine Freunde genannt.«

»Du bist nicht aus Berlin?«

Sie schüttelte den Kopf und machte eine Pause, als überlegte sie, ob sie sich Olaf anvertrauen könne oder nicht. »Meine Eltern sind geschieden«, sagte sie schließlich. »Bis vor einem guten halben Jahr haben meine Mutter und ich in einer Kleinstadt in Hessen gelebt, in der Nähe von Frankfurt.«

Es musste schwer sein, das gewohnte Leben gegen ein neues einzutauschen, überlegte Olaf. Noch schwerer, wenn man aus einer Kleinstadt in das riesige, uferlose Berlin gestoßen wurde, das sich an jeder Straßenecke mit neuen Eindrücken präsentierte. Er versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, Berlin zu verlassen – in einer fremden Stadt zu leben, eine ungewohnte Schule zu besuchen. Es gelang ihm nicht.

»War es schlimm?«, fragte er. »Das mit der Scheidung?«

Guddie nickte. »Mein Vater hatte gute Anwälte. Er hat alles mitgenommen, wie ein Dieb.« Die blauen Augen leuchteten unwirklich. »Ich hasse Diebe.«

In den letzten Worten lag so viel Verachtung, dass Olaf nur mit Mühe seine Bestürzung verbergen konnte. Es war besser, so schnell wie möglich das Thema zu wechseln.

»Ehm … In welchem Kiez wohnst du?«

»Du meinst den Stadtteil? In Friedrichshain.«

»Und was machst du hier?«

»Ich bin verabredet.«

»Mit einer Freundin?«

Guddie schüttelte den Kopf. »Mit meiner Cousine. Ich kenne sie kaum, aber ich glaube, sie ist ganz nett. Ein bisschen komisch vielleicht. Sie hat eine Ratte, die sie ständig mit sich herumschleppt und mit der sie Experimente veranstaltet, und sie interessiert sich für alles mögliche wissenschaftliche Zeugs. Ihr Vater ist Professor. Er arbeitet an einem Krebsforschungsinstitut.« Sie schluckte den letzten Waffelrest hinunter.

Olaf nickte, etwas überrascht von dem plötzlichen Redeschwall. Er überlegte, ob die Cousine genauso hübsch war wie Guddie, behielt aber die Frage für sich. Bei aller Offenheit hatte Guddie etwas Trauriges an sich und er fürchtete, dass sie ihn sofort sitzenlassen würde, wenn er sie weiter mit persönlichen Fragen bedrängte oder damit anfing, ihr aus heiterem Himmel Komplimente zu machen.

»Warum bleibst du nicht hier?«, unterbrach sie seine Gedanken. »Wir könnten gemeinsam etwas unternehmen. Eigentlich wollte ich mit Dags in den Zoo gehen, aber am Telefon klang sie nicht so, als hätte sie dazu besondere Lust.«

»Klar!«, stimmte Olaf begeistert zu. »Nur … vielleicht hat sie was dagegen. Dags, meine ich.«

»Warum fragst du sie nicht?«

Guddie zeigte zur Haltestelle vor dem Bahnhof, wo in unregelmäßigen Abständen Taxis und doppelstöckige Busse anhielten, ihre Fahrgäste entließen, neue Fahrgäste aufnahmen und wieder davonfuhren. Aus einem der Busse war ein Mädchen mit rotbraunen Haaren, bunten Shorts und einer geflickten Jeansjacke ausgestiegen, das sich mit gerunzelter Stirn suchend umschaute. Der Gesichtsausdruck des Mädchens änderte sich nicht, als es Gudrun entdeckte, ihr zuwinkte und auf sie und Olaf zukam.

Bauchlandung, dachte er. Dieses komische Mondgesicht war nicht halb so hübsch wie Guddie.

Dags konnte sich nichts Besseres vorstellen, als dass Olaf sie und Gudrun begleitete. Auf dem Weg zum Bahnhof Zoo war ihr schlagartig bewusst geworden, dass sie sich zum ersten Mal allein mit Gudrun traf – eine Vorstellung, die sie ziemlich nervös gemacht hatte. Lieber mit den beiden zusammen als allein mit Gudrun durch die Gegend ziehen, dachte sie.

Außerdem gefiel ihr Olaf. Im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen hatte er es fertiggebracht, seinen Blick nicht von ihrem braunen zu ihrem blauen Auge und wieder zurück wandern zu lassen, als Gudrun sie miteinander bekannt gemacht hatte. Dags wusste, dass die Leute nichts dafür konnten, wenn sie sie anstarrten, aber das änderte nichts daran, dass sie sich in solchen Momenten fühlte wie ein Zirkustier. Nein, es störte sie nicht im Geringsten, dass Olaf mitkam.

»Schön«, grinste er. »Aber müssen wir wirklich in den Zoo mit den ganzen eingesperrten Viechern? Guddie hat schon gesagt, dass du vielleicht keine Lust dazu hast.«

»Guddie?«

»Mein Spitzname«, erklärte Gudrun.

In Dags stieg eine Mischung aus Ärger und Eifersucht auf. Ihr gegenüber hatte Gudrun – Guddie – diesen Spitznamen noch nie erwähnt. Und die Art, wie Olaf ihn ausgesprochen hatte, gefiel ihr ebenfalls nicht. Sie wusste, dass Guddie besser aussah als sie selbst, aber dieses Wissen vergrößerte nur ihre plötzliche Eifersucht.

»Übrigens, ich hab hier was.« Olaf holte eine Haarspange aus schimmerndem Perlmutt aus der Hosentasche, hielt sie Dags entgegen und deutete auf die beiden einfachen bunten Kämme aus Plastik, mit denen sie ihre Haare zurückgesteckt hatte. »Du kannst so was doch bestimmt brauchen, oder?«

»Woher hast du das Ding?«

Olaf zuckte die Achseln. Er rieb sich kurz mit dem Zeigefinger über die Nase und grinste. »Bei einer Tombola gewonnen. Kannst sie behalten.«

Dags steckte die Spange ein und dachte dabei an das Buch über Körpersprache, das sie vergangene Weihnachten von ihrem Vater geschenkt bekommen hatte. Sie hatte das Buch mehr als einmal gelesen, fasziniert von der Tatsache, dass zwischen dem, was ein Mensch sagt, und dem, was er wirklich denkt, oft Unterschiede bestehen, die sich in der Körpersprache ausdrücken können. Ein kleines Kapitel des Buches beschrieb die Merkmale, an denen man erkennen konnte, wenn jemand log: Seine Pupillen verengten sich unwillkürlich, seine Gestik wurde sparsamer oder fiel ganz aus und der betreffende Mensch legte beim Sprechen eine Hand oder einen Finger direkt auf den Mund oder auf die Nase – als wolle er die Lüge so daran hindern, aus seinem Mund zu schlüpfen.

So, wie Olaf es eben getan hatte. Er hatte gelogen und Dags schloss eine stille Wette mit sich selbst ab, dass er ein Geheimnis hatte – vielleicht nur ein kleines, unbedeutendes Geheimnis, aber ganz gewiss eines, das sich zu erforschen lohnte.

»Also, was ist mit dem Zoo?«, fragte Olaf.

Guddie zuckte die Achseln. »Muss nicht sein«, sagte sie. »War eigentlich auch nur so eine Idee. Weißt du was Besseres?«

»Etwas viel Besseres!«, sagte er.

Seine braunen Augen blitzten und diesmal hatte Dags das sichere Gefühl, dass mit diesem Jungen etwas nicht stimmte. Etwas stimmte ganz und gar nicht und früher oder später würde sie herausfinden, was es war. Plötzlich präsentierte sich der Tag in einem völlig neuen Licht.

Ich muss bekloppt sein. Vor zwanzig Minuten bin ich diesem Typen mit der Narbe entwischt und jetzt spiele ich freiwillig Räuber und Gendarm.

Olaf ließ den Blick über die Obdachlosen wandern, die vor dem Haupteingang des Bahnhofs lagerten. Die meisten schliefen auf zusammengefalteten Zeitungen ihren Rausch aus. Andere beschimpften lautstark die Ausländer, die unverzollte Zigaretten verkauften, diskutierten das Tagesgeschehen oder bettelten vorbeikommende Passanten um Geld an.

Einer der Obdachlosen, ein älterer Mann mit fast schwarzen Zähnen und einem struppigen grauen Bart, winkte ihm lächelnd zu. Er gehörte zu den Pennern, denen Olaf ab und zu geklautes Zeug schenkte. Olaf winkte zurück und drehte sich schnell um, froh, dass Dags gerade in die Richtung sah, aus der Guddie mit einer neuen Portion Eis kam.

»Geht auf meine Kosten«, sagte sie großzügig, nachdem sie das Eis verteilt hatte.

»Möchte nicht wissen, aus was dieses Zeugs zusammengesetzt ist«, murmelte Dags, nachdem sie sich in eine kurze Betrachtung der Eiswaffel und ihres Inhalts versenkt hatte. Sie brach ein Stück von der Waffel ab und ließ es in der Innentasche ihrer Jacke verschwinden. Die Jacke begann zu vibrieren und ein leises Knuspern ertönte.

»Romeo«, erklärte Dags knapp.

Das musste der Name der Ratte sein, die sie überall mit sich herumtrug. Olaf hasste Ratten und hoffte, dass Dags das Vieh nicht aus der Jacke holen würde.

»Also, was hast du vor?«, fragte Guddie, die sich hingebungsvoll ihrem Eis widmete. »Was ist das für ein Spiel?«

»Es hat keinen Namen«, erklärte Olaf. »Aber es ist ziemlich einfach. Jeder von uns sucht sich jemanden aus, der hier herumläuft, und verfolgt ihn oder sie. Sinn der Sache ist, über die verfolgten Personen so viel wie möglich rauszukriegen: Wie verhalten sie sich, was für Klamotten haben sie an – ziemlich genau, also auch Ringe und Uhren und so ein Zeugs –, was für ein Parfüm oder Rasierwasser benutzen sie, wo machen sie was. Alles eben.«

»Was ist das Tolle daran?«

»Das wirst du merken, wenn du es eine Weile gemacht hast. Es ist … kribbelig. Eine Verfolgung eben.«

»Klingt jedenfalls interessanter, als im Zoo den Affen dabei zuzusehen, wie sie sich mit Bananen vollstopfen.« Auf Dagmars Wangen waren kleine rote Flecken erschienen. Offenbar war sie Feuer und Flamme für die Idee.

»Na ja …« Guddie leckte an ihrem Eis und zuckte mit den Achseln. »Ist vielleicht ganz interessant.«

»Okay, also los.« Olaf sah sich suchend um. »Ich glaube, ich verfolge diesen Typen da vorne.«

Ein dicker, mit zwei vollen Plastiktüten beladener Mann war soeben aus einem der U-Bahn-Ausgänge gekommen. Er stellte die Taschen ab, verschnaufte und sah sich suchend um.

»Guddie?«

»Tja …« Guddie ließ ihre blauen Augen über die beinahe unübersehbare Menschenmenge wandern, die sich wie ein Heer bunter Ameisen über den Bahnhofsvorplatz bewegte, und wieder fiel Olaf auf, wie hübsch sie war. Sie deutete auf einen Mann mit kurzen blonden Haaren in einem hellgrauen Anzug, der auf der anderen Seite der Hardenbergstraße stand und darauf wartete, dass die Fußgängerampel auf Grün umsprang. »Der da drüben, der gleich über die Straße kommt. Den nehme ich.«

»Okay.« Dags hatte sich ebenfalls umgesehen. »Dann verfolge ich die Lady mit dem Hund.« Sie zeigte über die an- und abfahrenden Taxis hinweg zur Bushaltestelle, wo eine ältere Dame in einem blassgelben Sommerkleid stand, die einen strubbeligen Pudel an der Leine hielt.

»Warum denn ausgerechnet die?«, fragte Olaf.

»Ich hab was übrig für degenerierte Köter.«

Olaf hatte eine entschiedene Abneigung gegen Fremdwörter, und Leute, die sie benutzten, konnte er nicht ausstehen. Das Mondgesicht hatte schlechte Karten.

Die Fußgängerampel schaltete auf Grün. Der Mann, den Guddie sich ausgesucht hatte, überquerte die Straße und bewegte sich schnell auf den Haupteingang des Bahnhofs zu. Im selben Moment hielt ein Bus an der Haltestelle, wo die alte Dame mit dem Pudel stand.

Guddie und Dags sprangen gleichzeitig auf. »Wann treffen wir uns und wo?«, fragte Dags.

Olaf warf einen Blick auf seine Uhr. »In zwei Stunden auf dem Breitscheidplatz, am Weltkugelbrunnen. Weißt du, wo das ist, Guddie?«

»Der Platz vor der Gedächtniskirche?«

»Genau. Der Brunnen ist nicht zu übersehen.«

Guddie nickte. Der Mann im hellgrauen Anzug war soeben in die Bahnhofshalle gegangen und sie folgte ihm, ohne sich noch einmal umzusehen. Olaf sah ihr stirnrunzelnd nach. Sie schien es plötzlich sehr eilig zu haben, ihn und Dagmar zu verlassen.

»Na dann«, sagte Dagmar. Sie hatte eine Sonnenbrille aus ihrer Jackentasche gezogen und setzte sie auf. »Fröhliche Jagd!«