Wolf S. Dietrich
Wattläufer
Nordseekrimi
Prolibris Verlag
Handlung und Figuren des Romans entspringen der Phantasie. Ebenso die Verquickung mit tatsächlichen Ereignissen. Eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind Institutionen, Straßen und Schauplätze in Cuxhaven und Umgebung. Nur die Insel „Söderland“ gibt es in der Wirklichkeit nicht.
Prolog
Sommer 1695
Das Schwert des Henkers blitzte in der Mittagssonne und sandte grelle Reflexe über die Köpfe der Menge, die sich auf der Amtmannsweide in Ritzebüttel eingefunden hatte, um das seltene Schauspiel der Hinrichtung zu erleben. Bald würde die Gerichtsstätte auf einen Hügel zwischen Stickenbüttel und Sahlenburg verlegt. Dort wurde ein Galgen errichtet, und dann würde die Todesstrafe nur noch durch Erhängen vollzogen werden – ein weit weniger erregendes Schauspiel.
Gelegentlich zuckte ein Zuschauer zusammen, wenn der vom Schwert reflektierte Sonnenstrahl seine Augen traf. Doch blinzelnd riss er sie wieder auf, um nur ja nicht den Hieb zu verpassen, der den Kopf des Mannes vom Rumpf trennen würde.
Auch Katharina kniff die Augenlider zusammen, doch das geschah aus dem unbewussten Gefühl heraus, die Figuren der Szene dadurch besser erkennen zu können. Obwohl sie sich am Rande des Platzes in größtmöglicher Entfernung vom Geschehen hielt, war ihr, als ruhte der Blick des zum Tode Verurteilten nur auf ihr. Und in seinen Augen glaubte sie die Gewissheit eines Mannes zu erkennen, der mit seinem Leben abgeschlossen hatte und dem das Gefühl der Furcht Zeit seines Daseins fremd geblieben war. Der weder Tod noch Teufel und schon gar nicht den Gottesmann fürchtete, der ihn zum Gebet anhalten wollte. Mit wüsten Flüchen verscheuchte er den Schwarzrock.
Zu den Klängen von Trommlern und Pfeifern trat nun der Barbier auf das Blutgerüst, um dem Mann die wild wuchernde rote Mähne zu stutzen und seinen Nacken freizulegen. Der Todgeweihte ließ sich bereitwillig das Hemd vom Oberkörper nehmen und fiel auf die Knie, was die Menge mit einem halb erstaunten, halb bewundernden Raunen quittierte. Während die Schergen dem Mann die Hände auf dem Rücken fesselten, begann der Barbier mit ausholenden Bewegungen die Prozedur des letzten Haarschnitts.
Regungslos beobachtete der Henker aus einigen Schritten Entfernung den Vorgang, das blitzende Richtschwert in den Händen haltend. Er trug eine blutrote Pluderhose über schwarzen Beinlingen, dazu ein schwarz-rotes Wams und einen dunklen Umhang. Über der Schulter lag eine Kapuze, die in der gleichen Farbe wie die Hose leuchtete. Katharina fragte sich, ob er sie über den Kopf ziehen würde, um sich vor dem bösen Blick zu schützen, der ihn im Augenblick des Todes aus den Augen des Hingerichteten treffen würde.
Der Barbier hatte sein Werk vollendet und verließ das Gerüst. Während die Henkersknechte den Mann aufhoben und zu einem Schemel stießen, gesellten sich zu den Klängen der Pfeifer und Trommler die Fanfaren der Trompeter.
Erneut ging ein Raunen durch die Menge, als der Henker mit einer knappen Bewegung der Schulter seinen Umhang abwarf.
Die Pfeifen wurden schriller, die Trompeten lauter, die Trommeln hektischer. In gemessenen Bewegungen näherte sich der Henker dem Delinquenten, zog die Kapuze über den Kopf und hob sein Schwert.
Die Menschen hielten den Atem an.
„Was wird dem Mann vorgeworfen?“, fragte eine Stimme neben Katharina. Sie wandte den Kopf. „Das ist der Rote Claas“, flüsterte sie, als würde das alles erklären.
In diesem Augenblick brach die Musik ab. Katharina richtete den Blick rasch wieder nach vorn. Blitzartig führte der Henker das Schwert in einer einzigen Bewegung zuerst in die Höhe, dann in die Waagerechte und ließ schließlich die Spitze zu Boden sinken.
Katharina blinzelte. Was war geschehen? Hatte er den Hals des Opfers verfehlt? Der Kopf des Roten Claas hatte sich nicht bewegt. Mit Getöse setzte das Spiel der Musikanten wieder ein, und der Henker griff in das leuchtende Haupthaar seines Opfers. Er hob den abgetrennten Kopf in die Höhe und rief dem Richter zu: „Habe ich wohl gerichtet?“ Der Richter nickte. Seine Antwort ging im Gelärm der jubelnden Menge unter. Katharina wusste, dass er die Frage zu bejahen und den Henker von der Blutschuld freizusprechen hatte.
„Wer ist der Rote Claas?“, fragte der Fremde neben Katharina. „Und warum wurde er nicht gehenkt?“
„Das Gerüst auf dem Galgenberg ist noch nicht vollendet“, antwortete sie. „Und er ist ..., er hat ...“ Ihre Stimme versagte. Eilig schulterte sie ihr Bündel und stürzte davon. Die Tat des durch das Schwert Getöteten war jedermann bekannt. Mochten andere dem Fremden Auskunft geben. Sie würde nicht über den Roten Claas sprechen können. Über den anderen vielleicht, den geheimnisvollen, zärtlichen Claas, den Claas, der sie zum Lachen gebracht hatte. Der sie verzaubert hatte. Mit dem sie ein Geheimnis teilte – geteilt hatte. Die Erinnerungen ließen sich nicht verbannen. Mit tränenverschleiertem Blick stahl sie sich abseits der Wege von der Ritzebütteler Amtmannsweide an Häusern und Siedlungen vorbei und machte sich auf den Weg nach Lüdingworth, wo sie die Nacht bei Leuten verbringen würde, die ihr gewogen waren.
Am Morgen würde sie weiterziehen. Vor ihr lag eine ungewisse Zukunft, denn bei ihrer Herrschaft in Sahlenburg konnte sie nicht bleiben. Man würde sie vom Hofe jagen, wenn ihr Zustand sichtbar wurde. Und ihre Eltern würden sie verstoßen, wenn sie von der Schande erfuhren.
Während Katharina mit tränenblinden Augen auf sandigem Weg den schrecklichen Ort verließ, fand der Fremde einen mitteilsamen Bürger, der bereitwillig von der Untat des Roten Claas berichtete.
1
Sommer 1984
Birte Hansens letztes Lachen würden sie niemals vergessen. Ihr Vater nicht, der kopfschüttelnd etwas von Dickkopf gebrummelt hatte. Die Großmutter nicht, die sie ermahnt hatte, sich vom Wernerwald fernzuhalten. Do geiht de Rode Claas üm. Erst recht Birtes Mutter nicht, deren Lebensinhalt ihre Kinder waren und deren ältestes im Begriff war, das Haus zu verlassen, um in Bremen oder sogar in Hamburg – jedenfalls viel zu weit weg von zu Hause – zu studieren. Sie würde sich vorwerfen, in das Lachen ihrer Tochter eingestimmt und mit ihr verschwörerische Blicke getauscht zu haben. Sie lachte gern mit Birte. Und seit sie ein kleines Mädchen gewesen war, hatten sie gegen Vater und Großmutter zusammengehalten.
Sie wollte joggen, hatte Birte erklärt. „Keine Sorge, Oma. Wenn ich den Roden Claas treffe, lege ich ihn aufs Kreuz.“ Seit einem Jahr trainierte sie mit einer Freundin Wen-Do.
Zum Finkenmoorteich würde sie laufen, dann zur Himmelshöhe und zum Wolfsberg, schließlich am Watt entlang ins Deichvorland. Jenen Weg, auf dem sie an der Hand des Großvaters die Welt kennen gelernt hatte. Schilfgras und Strandhafer, Lach- und Silbermöwen, Austernfischer und Rotschenkel. Am Watt hatte er ihr die Seefahrt und ihre Lichtzeichen erklärt, aus Wolken und Windrichtung das Wetter gelesen und ihr die Sterne gezeigt.
In dieser Zeit war das Deichvorland vor dem Arenschen Außendeich ihre geheime Zuflucht geworden. Hier, wo Erde, Himmel und Meer zusammentrafen, wo Wind und Wellen, Sonne und Regen alle Sinne erfüllten, wurde der Kopf klar und die Seele weit. Hier fand sie zu sich selbst, wenn niemand sie verstand, wenn Erwachsene ungerecht, ihr Bruder garstig oder Freundinnen unausstehlich gewesen waren.
Einmal hatte der Großvater sich hinreißen lassen, vom Roden Claas zu erzählen. Dem rothaarigen Fischer, der seit fast dreihundert Jahren keine Ruhe fand, weil er eine schwere Sünde auf sich geladen hatte. Lange hatte Birte nicht verstanden, worin die Sünde bestand, denn ihr Großvater erging sich in Andeutungen. Mareike Petersen. Eine Jungfrau. Dem Jungen von Kapitän Harms war sie versprochen gewesen. Und der Rode Claas hatte sie geschändet. Geschändet und ins Watt geschickt. Aber wer ließ sich ins Watt schicken? Jeder wusste doch, wann man ins Watt gehen durfte und wann nicht. Für die Tat war er hingerichtet worden. Auf der Amtmannsweide in Ritzebüttel. Aber kurz darauf war eine weitere Jungfrau geschändet worden, und so hielt sich das Gerücht, der Rode Claas, ein kräftiger Rothaariger im besten Mannesalter, ginge noch immer um. Auf der Suche nach Mädchen wie Mareike Petersen.
Die Sehnsucht nach Meer und Weite bewegte Birte, ihre gewohnte Strecke zu ändern und zuerst am Strand entlang zu laufen.
Trotz der klaren Luft war die Insel Neuwerk, deren unverkennbares Profil sich bei guter Sicht am Horizont abzeichnete, heute nicht zu erkennen. Wahrscheinlich näherte sich eine Front mit feuchter Luft und hatte die Insel schon erreicht.
Niedrigwasser ließ das Watt als glänzende Fläche erscheinen, in der es weder Priele noch schlickige Löcher gab. Für den arglosen Betrachter zum Wandern einladend. Immer wieder verliefen sich Menschen im Watt, weil sie die Gefahren unterschätzten. Im Watt war im Laufe der Jahrhunderte nicht nur Mareike Petersen ums Leben gekommen. Mancher Einheimische, in der Neuzeit auch der eine oder andere Tourist, war dort verschwunden.
Warnhinweise lagen in den Kurverwaltungen aus, klebten an den Wetterkarten in den Schaukästen an der Strandpromenade. Schilder wiesen auf die sicheren Wege. Trotzdem gab es fast jedes Jahr einen Todesfall. Ertrank ein Badegast, weil er nicht rechtzeitig aus dem Watt zurückkehrte, trieb die Strömung seinen Körper ins Meer hinaus.
Ein Trampelpfad führte Birte zum Badestrand. Um diese Jahreszeit, dazu am frühen Vormittag, war er kaum wiederzuerkennen. Im Sommer bedeckten hier Badematten und Sonnenschirme den Sand. Ein Gewirr von tausend Stimmen, Kinderlachen und Musik übertönte das Rauschen der Wellen.
Heute gehörte der Strand den Möwen. Ihre heiseren Schreie waren die einzigen Hinweise auf lebende Wesen. Elegant schwebten sie über der Uferlinie, schossen hin und wieder pfeilschnell auf die Wasseroberfläche oder ließen sich am weißen Saum der Brandung nieder, um eilig hin und her zu tippeln.
Einmal hatte sie das Gefühl, beobachtet oder verfolgt zu werden. Doch weit und breit war kein Mensch zu sehen, und der Wald stand dicht wie eine Wand. Das kommt von diesen Erzählungen.
Im tiefen Sand versanken ihre Füße. Birte war das gerade recht. Ein wenig Anstrengung konnte der Figur nicht schaden. Und würde sie erwärmen. Der Seewind wehte kühl von Nordwest. Sie stemmte sich dagegen und hoffte, die frische Luft würde Klarheit in Gedanken und Gefühle bringen.
Mehr aus Trotz als aus Überzeugung hatte sie sich für Hamburg entschieden. Mutters Besorgnis und Vaters Kopfschütteln hatten sie getrieben. Dabei wäre sie vielleicht doch lieber in Cuxhaven geblieben. Jedenfalls noch ein Jahr. Bis sie sicher war. In der Genossenschaft hätte sie ein kaufmännisches Praktikum machen können. Oder eine Lehre. Studieren kannst du hinterher immer noch. Das sagte nicht nur ihr Vater. Und erstmal hast du was Richtiges.
Noch etwas ließ sie zögern. Aber das konnte sie nicht zugeben. Schon gar nicht ihren Eltern gegenüber.
Hauke Harms kannte sie, seit sie denken konnte.
Erst im letzten Winter, während des Tanzfestes, waren sie sich näher gekommen. Ganz plötzlich hatten sie einander entdeckt. Mit klopfenden Herzen, aber unsicher angesichts der überraschenden Gefühle, waren sie sich aus dem Wege gegangen, um dann doch – wie zufällig – zusammenzutreffen. Der erste Schritt war schließlich von Birte ausgegangen. Unter den frühen Strahlen der Märzsonne, an diesem leeren Strand, im Windschatten des Wernerwaldes, hatten sie sich zum ersten Mal geliebt. Zärtlich und leidenschaftlich. Inzwischen wussten alle, dass Birte und Hauke ein Paar waren.
Ihre Mutter war nicht gerade begeistert, fügte sich aber in ihr Schicksal. Neuerdings erwähnte sie Hauke, wenn Birte von ihren Plänen sprach. Und traf damit den wunden Punkt. Hauke, der zwei Jahre vor ihr Abitur gemacht und den Ersatzdienst hinter sich hatte, absolvierte eine Banklehre bei der Sparkasse Cuxhaven. Sie würde ihn nur selten sehen können, wenn sie nach Hamburg ging. Später wollten sie zusammen in einer Stadt studieren. Aber bis dahin? Sich so lange trennen?
„Nein.“ Birte zuckte zusammen, schüttelte dann den Kopf. Sie selbst hatte laut in den Wind gerufen.
Plötzlich spürte sie ihre Beine. Die Waden schmerzten von der Anstrengung. Sie lehnte sich gegen den Wind. Ein scharfer Stich schnitt ihr ins linke Bein. Birte schrie leise auf. Wadenkrampf. Sie schüttelte den Unterschenkel, versuchte aufzutreten. Langsam ließ der Schmerz nach. Sie drehte den Rücken zum Wind und setzte sich in den Sand, um das Bein zu entlasten – und erschrak. Ein Mann im roten Jogginganzug, die Kapuze tief im Gesicht, lief auf sie zu, war nur noch wenige Meter entfernt.
Der Rote Claas, schoss es Birte durch den Kopf. Ich muss aufstehen. Im Sitzen habe ich keine Chance. Hastig richtete sie sich auf.
„Kann ich dir helfen?“ Der Jogger sprach hochdeutsch. Wieso duzte er sie? Sie musterte den Mann, der sich bis auf wenige Schritte genähert hatte. Er lief auf der Stelle und schob die Kapuze nach hinten.
„Ach, du bist’s, Jenno.“ Birte seufzte erleichtert „Ich dachte schon ...“
Er lächelte. Perlweiße Zähne, meerblaue Augen, rotblonde Haare. Ein gut aussehender Junge, dachte Birte, aber auch ein Mensch mit dunklen Seiten. Manchmal, wenn er sich unbeobachtet glaubte, erschien sein Blick beängstigend. Lange hatte er vergeblich um Birte geworben. Einmal hatte er ihr aufgelauert, sie in eine dunkle Ecke gezerrt und sich an sie gepresst. Sie hatte sich ihm entwunden und ihn ausgelacht
Er musterte sie prüfend.
Birte spürte, wie sie errötete. Offenbar war er schon länger in ihrer Nähe gewesen. Und sie hatte ihn nicht bemerkt.
„Vielen Dank“, wiederholte sie, „es ist alles in Ordnung.“ Wie zum Beweis trat sie ein paar Mal auf der Stelle.
Er wies zur Seeseite. „Trotzdem solltest du nicht zu weit rauslaufen. Wir bekommen Nebel.“
Birte starrte aufs Meer. Eine weißgraue Wand verdeckte den Horizont und schob sich vor das Blau des Himmels. Seenebel. Gefährlich für Wattwanderer. Minutenschnell konnte die feuchtkalte Luftmasse den gesamten Küstenstrich einhüllen.
„Ich laufe nur noch bis zum Bauhof. Von dort durch den Wernerwald zurück“, sagte sie und wies mit einer Kopfbewegung in die Richtung. Plötzlich fühlte sie sich unwohl. Warum lief er nicht weiter? Sein kalter Blick, der in seltsamem Kontrast zur lächelnden Miene stand, schien sie zu durchbohren.
„Also dann“, sagte sie, „auf Wiedersehen. Ich glaube, ich kann jetzt weitergehen.“
Jenno nickte. „Wernerwald“, sagte er und wandte sich ebenfalls zum Gehen. „Denn man tschüß, Birte Hansen.“
In lockerem Laufschritt entfernte er sich Richtung Waldrand. Kurz bevor er in das Dickicht tauchte, wandte er sich um und warf ihr einen kurzen Blick zu.
Mit festem Tritt setzte Birte ihre Wanderung fort. Jeder Schritt verringerte den Wadenschmerz ein wenig. Je weiter sie vorankam, desto härter wurde der Untergrund, weil der Sandstrand hier in festen, glatten Boden überging.
Für einen Augenblick erwog sie umzukehren. Wenn der Nebel das Festland erreichte, wurde es ungemütlich. Aber es war nicht nur der Nebel, über den sie sich Gedanken machte. Wieso hatte sie Jenno nicht früher bemerkt? Woher war er so plötzlich aufgetaucht? Sie sah sich um.
Hatte sich dort am Gebüsch etwas bewegt? Unvermittelt blieb sie stehen und starrte auf die grünen Blätter. Nichts rührte sich.
„Du spinnst, Birte“, schalt sie sich. Erstens war Jenno nicht der Rode Claas, und zweitens war er längst verschwunden. Welchen Grund also gab es, sich zu fürchten? Keinen.
Doch der Kopf konnte das ungute Gefühl nicht verdrängen. Wie er sie angesehen hatte, und wie er beim Abschied ihren Namen genannt hatte ... Birte fröstelte.
Erneut musterte sie den Waldrand. Ohne Ergebnis.
Sie beschleunigte ihre Schritte. Wenn es Nebel gab, war das Joggen kein Vergnügen mehr. Ein Grund, schneller nach Hause zurückzukehren.
Objektiv der einzige, redete sie sich ein.
Sie fiel in einen leichten Trab und ignorierte den Wadenschmerz. Als sie den Waldboden erreicht hatte, waren die Beschwerden verflogen, und sie kam schneller voran.
Ein Geräusch aus dem Unterholz ließ Birte zusammenzucken. Sie stoppte und sah sich um. Nichts.
Zögernd setzte sie ihren Weg fort.
Plötzlich knackte es hinter ihr.
Birte fuhr herum.
Jenno.
Ärger und Erleichterung hielten sich die Waage. Der Mann hatte sie zu Tode erschreckt. Wütend funkelte sie ihn an. Gleichzeitig war sie froh, dass ihr kein Unhold gegenüberstand. Sie öffnete den Mund, um ihm zu verstehen zu geben, dass sie sein Anschleichen nicht witzig fand, doch die Worte blieben ihr im Halse stecken. Mit kaltem Blick und zusammengepressten Lippen trat er dicht an sie heran. In der rechten Hand blinkte ein Messer.
Reflexartig schoss Birtes Knie nach oben. Der Junge riss Mund und Augen auf, das Messer stieß ins Leere. Mit aller Kraft rammte sie ihre Faust gegen den Kehlkopf des Angreifers. Die Wucht des Schlages ließ ihn rückwärts taumeln. Sein Fuß verhakte sich in einer Baumwurzel, und er stürzte auf den Waldboden. Auch Birte kam aus dem Gleichgewicht, fing sich aber rasch. Blitzschnell ergriff sie einen Ast, der am Wegrand lag. Schon war Jenno wieder auf den Beinen und stürzte auf sie zu, das Messer zielte auf ihren Hals.
Birte wich aus und schwang den Knüppel gegen den Angreifer. Es krachte dumpf, als das Holz auf seinem Nackenwirbel zerbrach.
Plötzlich lag Jenno reglos auf dem Boden.
Zitternd, zwischen Bestürzung und Fluchtinstinkt hin- und hergerissen, starrte Birte auf den reglosen Körper. Ob er noch lebte? War er nur betäubt? Oder stellte er sich ohnmächtig, um sie erneut anzugreifen, wenn sie näher käme, um nachzusehen, ob er schwer verletzt wäre?
Schließlich gewann der Drang zur Flucht die Oberhand. Sie rannte. Ohne Ziel. Nur weg von hier, war der einzige Gedanke, der sie beherrschte. Erst als ihre Lungen streikten, hielt sie inne. Heftig atmend und von Schwindelgefühlen begleitet, sah sie sich um.
Sie rieb sich die Augen, um wieder klarer zu sehen. Ohne Erfolg. Was sie für Sehstörungen durch Schweiß und Tränen gehalten hatte, war Nebel, dichter, feuchter Nebel.
In welche Richtung war sie gelaufen, wie lange war sie gelaufen? Sie wusste es nicht. Und sie wusste nicht, wo sie war. Angestrengt versuchten ihre Augen, die Nebelwand zu durchdringen. Vergebens. Nicht einmal der Stand der Sonne ließ sich erkennen.
Langsam beruhigte sich ihr Atem. Langsam kehrte auch die innere Ruhe zurück. Wenn ich nichts sehe, kann auch mein Verfolger nichts sehen. Wenn er wieder zu sich gekommen ist. Und wenn er mir gefolgt ist.
Allenfalls dem Geräusch ihrer Schritte hätte er folgen können. Aber dann musste sie auch seine Schritte hören. Sie lauschte. Ein leises Plätschern war alles, was an ihr Ohr drang. Es kam von unten. Sie sah an sich herunter. In dem Augenblick, in dem sie das Wasser sah, spürte sie Nässe und Kälte an ihren Füßen. Die Schuhe waren durchgeweicht.
Sie war ins Watt gelaufen.
Also befand sie sich nordwestlich oder westlich des Waldes. Wenn die Flut kam, wurde es im Watt gefährlich. Sollte sie entkommen sein, um im Meer zu ertrinken? Sie musste zurück. Aber welche Richtung sollte sie einschlagen? Unentschlossen sah sie sich um. Es gab keinen Anhaltspunkt.
Dann hörte sie die Schritte.
Zuerst war es nur ein gleichmäßiges Platschen, das sich kaum vom Plätschern zu ihren Füßen unterschied, doch dann sah sie ein Bild vor sich: Ein Mann mit einem Messer näherte sich Schritt für Schritt ihrem Standort. Jedes Mal, wenn er den Fuß aufsetzte, platschte die Sohle auf den nassen Wattengrund. Birte unterdrückte den Impuls, davonzurennen. Das Geräusch ihrer eigenen Schritte würde ihm den Weg weisen. Unbewusst den Atem anhaltend lauschte sie in den Nebel. Plötzlich brachen die Schritte ab. Sekunden später vernahm sie sie erneut. Aber sie kamen nicht näher. Birte triumphierte, als sie sich entfernten und schließlich ganz verloren.
Das Gefühl des Triumphes wurde rasch verdrängt. Angst kehrte zurück. Schlagzeilen aus der Zeitung tanzten vor ihren Augen. Wattwanderin von Flut überrascht. Wieder junge Frau ertrunken. Bei Nebel im Watt verirrt – Hilfe kam zu spät.
Sie fröstelte und schloss ihre Jacke bis unter den Hals.
Hier stehen bleiben kann ich auch nicht, besser in irgendeine Richtung gehen als hier auf die Flut warten. Noch einmal horchte sie angestrengt in den Nebel, dann setzte sie sich in Bewegung. Irgendwo werde ich schon ankommen. Ich darf nur nicht im Kreis laufen. Und nicht ins offene Meer.
Davor, hoffte sie, würde sie ihr Gefühl oder ihr Schutzengel bewahren.
Zum dritten Mal hob Birte den Arm vor die Augen, um die Uhrzeit abzulesen. Zum dritten Mal zeigten die Zeiger halb zwei. Sie blieb stehen und klopfte mit dem Knöchel des Mittelfingers auf das Glas. Dann entdeckte sie den Sprung, der sich quer über das Zifferblatt gebreitet hatte.
Sie hielt die Uhr ans Ohr. Nichts. Seit wann standen die Zeiger still? Um elf war sie aufgebrochen. Sie war also länger als zweieinhalb Stunden unterwegs. Aber wie viel länger? Wann war die Uhr stehen geblieben? Wie lange irrte sie schon im Watt umher?
Mindestens eine Stunde, schätzte sie. Das Gehen strengte zunehmend an. Als sie auf ihre Füße sah, durchfuhr sie ein eisiger Schreck. Bis zu den Knien reichte das Wasser schon. Wenn sie zwei Stunden unterwegs war und noch immer nicht die Küste erreicht hatte, lief sie im Kreis. Oder in die falsche Richtung. Sie zitterte vor Angst und Kälte. Mühsam unterdrückte sie die aufsteigende Panik. Sie werden mich suchen. Sie müssen mich suchen.
Wenn nur der verdammte Nebel verschwinden würde. Bitte, lass den Nebel verschwinden. Ohne Nebel wird alles ganz einfach. Man sucht sich ein Ziel und marschiert darauf los.
Als habe eine höhere Macht ihre Bitte erhört, lichtete sich plötzlich der Schleier vor ihren Augen. Geisterhaft zerflatterte der Nebel in hastig davonschwebenden Schwaden. Neue Geister kamen nach, folgten ihren Geschwistern, ließen für Sekunden das Meer aufblinken und deckten es wieder zu. Hektisch sah sie sich um. Nur einmal die Küstenlinie sehen, nur einmal kurz. Damit ich die Richtung finde.
Wieder wurde ihr Gebet erhört. Wie von einer göttlichen Hand bewegt, glitt der Vorhang zur Seite und gab die Sicht frei. Gebannt starrte sie auf die Erscheinung vor ihren Augen.
Wenige Schritte vor ihr. Ein menschliches Wesen. Die Rettung. Birte öffnete den Mund, um zu rufen.
Jetzt hatte der Mann sie entdeckt. Er hob die Arme, kam auf sie zu.
Jenno!
Schwindel erfasste sie, ihre Knie wollten einknicken. Jetzt einfach fallenlassen, Kälte, Angst und Schmerzen vergessen.
Sie wandte sich um, begann zu laufen, stürzte ins Meer, schluckte Wasser, hustete, wollte aufspringen.
Doch er war schon über ihr, seine Fäuste drückten sie nach unten. Verzweifelt versuchte sie, die Hände abzuschütteln, bewegte Arme und Beine gegen den Widerstand des Wassers, wollte Luft holen, atmen, leben.
Wie in einem bösen Traum zerflossen ihre Kräfte, schwarzer Nebel stürzte auf sie ein, drang in Augen und Ohren und erstickte alles Fühlen und Denken.
2
Sommer 1994
Ein einmaliges Erlebnis hatte er ihr versprochen. Unvergesslich. Barbecue am Strand. Romantisch. Warme Spätsommertage luden dazu ein. Er wusste eine einsame Stelle, kannte sich ja aus in Cuxhaven und im Land Wursten. Sie ahnte, dass es unvernünftig war. Gleich bei ihrer Ankunft am Bahnhof hatte sie ihn kennen gelernt. Er hatte sogar ein Zimmer zu vermieten. Gut und preiswert. Er war wirklich nett, kümmerte sich um sie. Hatte ihr das Meerwasserfreibad Steinmarne in Döse, das Wellenbad in Duhnen und den Strand von Sahlenburg gezeigt, wo er sie zum Stracciatella im Eiscafé an der Wernerwaldstraße eingeladen hatte. In Duhnen hatte er ihr schließlich bei einem der Strandkorbvermieter einen günstigen Strandkorb vermittelt. In bester Lage, gleich gegenüber der Duhner Strandstraße.
Am Strand hatte sie ihre ersten Urlaubstage verbracht. Zwischen unzähligen anderen gelben Strandkörben. Mit jungen Leuten, Familien mit Kindern und Großeltern mit Enkelkindern. Menschen in Urlaubslaune.
Kindergeschrei, eine Durchsage aus den Lautsprechern der Strandwächter oder das Klingeln der Cuxi-Bahn auf der Kurpromenade hatten hin und wieder die fröhliche Geräuschkulisse übertönt. Einmal hatte sie ein Kurkonzert erwischt. Volkslieder, Marschmusik und Operettenmelodien. Musik, bei der sie gewöhnlich das Radio umschaltete. Aber seltsamerweise hatte sie ihr hier gefallen.
Zwischendurch war sie zur Bäckerei Böhn unter dem pyramidenförmigen Haus mit den weißen Balkonen geschlendert und hatte sich einen Pott Kaffee und ein Stück Kuchen geleistet. Oder ein Fischbrötchen von der Fischpfanne. Manchmal auch beides. Und hinterher ein Eis, das sie auf einer Bank vor der Eisdiele – oder an den Dorfbrunnen gelehnt – genossen und dabei die Urlauber beobachtet hatte. Obwohl noch Vorsaison war, drängten sich die Menschen vor den Schaufenstern und in den Geschäften und Restaurants.
Abends hatte sie sich Schinkenplatte in der Schinkenstube, Kutterscholle im Veermaster oder Fischerfrühstück in der Krabbenhütte gegönnt. Alles war teurer, als sie erwartet hatte, und darum war es ein Glücksfall, dass sie so günstig wohnte und sich ihren guten Appetit leisten konnte.
Sie waren mit dem Auto bis nach Sahlenburg gefahren, waren die Kurpromenade entlang geschlendert und hatten sich abseits des Hauptstrandes niedergelassen. Er hatte gegrillte Hähnchenschenkel und gekühltes Bier, Käse und Rotwein mitgebracht.
Der Sonnenuntergang war wie im Kino gewesen. Sie hatte zu viel gegessen und getrunken, fühlte sich schwer und träge. Mit der Dämmerung kroch Kühle vom Wald her über den Sand. Aber sie fror nicht. Das Essen und der Rotwein hatten sie erhitzt.
Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie dort gesessen hatten, versunken in das Farbenspiel des Himmels und das Rauschen des Meeres. Irgendwann hatten sich die anderen Strandspaziergänger verlaufen, der Nordstern glitzerte über dem Wasser, kein Geräusch aus dem nahen Ort durchdrang das Raunen der Wellen. Es war, als habe sich die Menschheit schlafen gelegt und als gäbe es nur noch das Meer und sie.
Und ihn.
Plötzlich waren seine Lippen an ihrem Ohr. „Zieh’ dich aus“, flüsterte er.
Sarah kicherte. „So ist das also. Ich hätte es mir denken müssen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Sie sind wirklich sehr nett. Und wenn Sie brav sind, gibt es nachher einen Abschiedskuss. Aber mehr ist nicht drin.“
„Ich meine es ernst.“ Plötzlich war seine Hand an ihrer Bluse, seine Finger zerrten an den Knöpfen.
Irgendwie erschien ihr die Situation albern. Sie schob die Hand weg und musste wieder lachen.
„Das geht doch nicht“, gluckste sie. „Sie und ich. Hier. Machen Sie das öfter, dass Sie ...“
„Du ziehst dich jetzt aus“, sagte er. „Sonst mache ich es.“
Sarah fuhr zusammen. Etwas in seiner Stimme ließ sie frösteln. Und sie spürte plötzlich die Gefahr.
„Ich möchte jetzt gehen.“
Sie versuchte aufzustehen, aber er zog sie in den Sand zurück. „Du bleibst hier. Jetzt kommt der gemütliche Teil des Abends. Du hast es auch gewollt. Darum sind wir doch hier.“
„Lass den Scheiß.“ Sie hatte unwillkürlich ihre Stimme erhoben und versuchte sich aus seinem Griff zu befreien.
Doch plötzlich war er über ihr und legte ihr die Hand auf den Mund. Sie wollte schreien, brachte aber nur einen unartikulierten Laut hervor. Sein Bieratem kroch in ihre Nase, als sich sein Gesicht dem ihren näherte.
Sarah versuchte den Kopf zur Seite zu drehen. Aber er hielt ihn fest, presste ihn in den Sand. Sie strampelte mit den Beinen und schlug mit den Händen auf ihn ein. Panik erfasste sie, denn sie bekam nicht genug Luft, hatte das Gefühl, ersticken zu müssen. Jetzt lag sein ganzes Gewicht auf ihr. Seine freie Hand umfasste ihren Hals und drückte zu. Er will mich umbringen. Hilfe. Warum hilft mir denn keiner. Warum ... Etwas explodierte in ihrem Kopf und ein Schleier legte sich über ihre Augen. Rot. Violett. Schwarz.
Dann spürte sie nichts mehr.
3
Frühjahr 2005
Es war ein Frühjahrstag wie jeder andere. Über Cuxhaven und dem Land Wursten erhob sich allmählich die Sonne und tauchte die Landschaft in ein rötliches Licht. Wenige Wolken warfen längliche Schatten auf Wiesen und Felder und erzeugten auf dem noch blau erscheinenden Meer türkis schimmernde Flecken.
Auf den Fischkuttern des kleinen Hafens herrschte um diese Zeit bereits Betriebsamkeit. Die Gezeiten bestimmten den Tagesablauf, und weil das erste Hochwasser auf den Morgen fiel, begann für die Fischer der Arbeitstag nur wenig früher als für die meisten anderen Menschen. Jahreszeit und Wetterlage versprachen einen guten Fang, und so waren die Männer damit beschäftigt, Schiffe und Ausrüstungen für die Fahrt auf die Nordsee vorzubereiten. Einige rauchten, ohne die Selbstgedrehte aus dem Mundwinkel zu nehmen. Andere nahmen hin und wieder einen Schluck aus der Thermosflasche. Niemand verlor viele Worte. Die Männer verrichteten ihre Arbeit mit der Sicherheit und Selbstverständlichkeit, die aus langjähriger Erfahrung erwuchs. In ihren Gedanken waren sie noch beim Fang des Vortages oder bereits auf hoher See.
Wie immer, wenn Harry Oltmanns den schweren Diesel startete, erzitterte das Schiff ein wenig. Doch noch während die Maschine zum Leben erwachte, gingen die Erschütterungen in ein beruhigendes Vibrieren über. Oltmanns kontrollierte die Anzeigen der Instrumente und steckte dann den Kopf aus dem Steuerhaus. „Schmiet dei Lien’n los, Macker. We föhrt loos.“
Jungkeerl Hannes Butt, der Moses auf dem Krabbenkutter, warf einen Blick auf die Uhr. Volle zwei Stunden vor Hochwasser. Der Alte hat’s mal wieder besonders eilig heute. Aber was soll’s. Er ist der Schiffer. „Okay“, rief er und hob die Hand, „Leinen los!“ Dann zog er die schweren Taue über die Poller und sprang an Bord, um sie rasch einzuholen.
Gespannt blickte er zur Fahrrinne. Würde die Wassertiefe ausreichen? Sie brauchten mindestens eineinhalb Meter. Viel mehr dürfte der Wasserstand noch nicht hergeben. Oltmanns ging gern an die Grenzen. Aber bisher hatte der erfahrene Kapitän sein Schiff noch nie aufgesetzt. Oder sonst irgendwie in ernste Gefahr gebracht.
Behutsam bugsierte der Schiffer die Wiking in die Mitte der Fahrrinne, die noch kaum breiter war als das Schiff selbst. Aus den Augenwinkeln beobachtete Hannes die anderen Fischer, die mit verschränkten Armen auf der Pier standen und das Manöver ihres Kollegen beobachteten. Wahrscheinlich rätseln sie jetzt, wohin wir fahren.
„To’n Hexenloch“, hatte Oltmanns geknurrt, als die Fischer über den Zustand der Fanggründe gemutmaßt und einander gefragt hatten, wohin sie heute führen. Natürlich hatten sie wieder gepokert. Keiner verriet, welches Gebiet er wirklich aufsuchen würde. Hannes rechnete damit, dass sie tatsächlich zum Hexenloch vor Knechtsand fahren würden. Denn die anderen würden sie überall vermuten, nur dort nicht. Da mussten sie zwar an den Kanten fischen, weil der Grund stellenweise zu tief war, aber Hannes rechnete mit einem guten Fang. Der Alte hatte eine gute Nase.
Die Wiking hatte die Fahrrinne erreicht. Vorsichtig und mit niedriger Maschinendrehzahl steuerte Oltmanns das Schiff an den übrigen Kuttern vorbei in Richtung offenes Meer.
Die Luft roch nach Nordwest, der Wind brachte ein frisches, jodhaltiges Aroma aus dem Nordmeer mit. Im Licht der aufgehenden Sonne wirkte die See eher blau als grau, ein Eindruck, der durch die weißen Schaumkronen auf den Wellen noch verstärkt wurde.
Im Schritttempo passierten sie die Parkplätze für die Kurgäste, die Yachten und Sportboote der Freizeitkapitäne im vorderen Bereich des Hafens und schließlich das Wellenbad mit dem Nationalpark-Haus. Am Leuchtturm Eversand erhöhte der Schiffer langsam die Fahrt. Sie folgten den Pricken zum Hauptfahrwasser. Schließlich waren sie frei und nahmen Kurs auf Knechtsand. Hannes Butt wandte den Blick zurück zum Dorumer Tief. Jetzt machten auch die anderen Fischer ihre Kutter klar. Aber Oltmanns und er waren wieder einmal die ersten. Inzwischen dröhnte die Maschine unter Volllast, und das Schiff stampfte in gewohnter Weise gegen den Wind. Der Wind blies schwach aus Nordwest und sollte auch tagsüber nur mäßig auffrischen und deutlich unter der kritischen Grenze von vier bis fünf bleiben. Wenn der Seewetterbericht Recht behielt, würden sie gute Bedingungen vorfinden.
Bis sie die Fanggründe erreichten, hatte Hannes Zeit, sich um das Fanggeschirr und um den Kessel zu kümmern.
Dabei konnte er in Ruhe nachdenken. Wenn die Netze außenbords gingen, hatte er richtig Stress, und erst recht, wenn der Fang an Bord kam. Da musste er aufpassen, dass jeder Handgriff saß. Ein Fehler konnte ihn über Bord werfen oder den Fang verderben.
Hannes Butt war die Krabbenfischerei in die Wiege gelegt. Schon sein Vater und sein Großvater waren Tidenfischer gewesen. In einem Jahr würde er den Kutter seines Vaters übernehmen und zu den Fanggründen steuern. Als Schiffer und Eigner in einer Person. Als sein eigener Herr. An diesem Ziel hatte er nie gezweifelt.
Doch in letzter Zeit war er nicht mehr so sicher. Die Hauptfanggebiete standen unter Naturschutz, die Kutter mussten immer weiter hinausfahren. Bis unter Helgoland und Amrum. Doppeltiden, bei denen sie vierundzwanzig Stunden auf See blieben, waren keine Seltenheit mehr. Die Betriebskosten stiegen, aber die Erlöse aus der Fischerei wurden immer geringer. Und nun sollte auch noch ein Offshore-Windpark vor der Küste entstehen. Nordergründe. Der das Gebiet ihrer Fanggründe weiter einschränken würde. Ohne den schuldenfreien Kutter seines Vaters hätte die Krabbenfischerei für ihn wohl keine rechte Zukunft. Wenn überhaupt. Die schleichende Verdrängung der Fischkutter war wohl nicht aufzuhalten. Und mit den Fischern würde auch der Tourismus eingehen. Keine rosigen Aussichten für das Land Wursten.
Hannes wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Oltmanns Gas wegnahm und das energische Brummen der Maschine in ein dunkles Grollen überging. Sofort begann das Schiff stärker zu stampfen und zu rollen.
„Kloarmooken to’n Fieren!“, rief der Schiffer, und Hannes löste die Bäume aus ihren Verankerungen und begann die Kurrleinen über die Winde am Steben laufen zu lassen. Dabei behielt er die Schlitten, auf denen die Netze über den Meeresboden gleiten würden, sorgfältig im Auge, damit sie sich nicht verhakten. Als die Kurren über Bord waren und die Bäume auf beiden Seiten des Schiffes über dem Wasser tanzten, ließ Hannes weiter Kurrleine nach und verfolgte die Markierungen an der Winde, bis sie ihm eine Leinenlänge von zehn Metern anzeigten. Langsam versanken die Netze achtern im Wasser. Dann zog er die Bremse an und sah zu seinem Schiffer hinüber. Der hob den Daumen, ohne den Blick vom Echolot zu wenden, und schob den Gashebel auf Volllast. Die Leinen spannten sich, und die Bäume ächzten in ihren Verankerungen. Dröhnend brachte die Maschine ihre Kraft auf die Schraube und schob das Schiff gegen die Wellen und den Widerstand der Schleppnetze.
Eine bis zwei Stunden würde der Kutter nun zu kämpfen haben, um die Netze über den Meeresgrund zu ziehen. So lange hatte Hannes noch ein wenig Ruhe. Er würde Oltmanns einen Pott Kaffee kochen und sich dann in die Koje hauen, um weiter seinen Gedanken nachzuhängen.
Der Klang der Maschine signalisierte ihm, dass die Netze voll waren. Hannes Butt sprang auf. Zeit für den ersten Hol.
Während der Alte die Maschine auf Leerlauf zurückfuhr, nahm er seinen Platz an der Winde ein und hob den Daumen. Vorsichtig löste er die Bremse, und der Schiffer ließ die Winde anziehen. Langsam rollten sich die Kurrleinen auf, bis die gefüllten Büdels an der Wasseroberfläche erschienen. Hannes stellte die Bremse fest, und der Schiffer ließ die Maschine hochdrehen. Schwerfällig nahm die Wiking Fahrt auf, um die gefüllten Netze im Seewasser durchzuspülen.
„Kloarmooken to’n Hieven!“, rief der Schiffer und ließ die Maschine stoppen. Hannes löste für kurze Zeit die Bremse der Winde, schließlich schwebten die Büdels neben der Bordwand über dem Wasser. Er nutzte die Bewegung des Schiffes, um die Bäume nach vorn zu schwenken. Der Steert des ersten Büdels landete genau über dem Aluminiumtrichter, der den Inhalt auffangen würde.
Rasch riss er den Knoten auf, und die schlammige Masse ergoss sich in die Spülwanne.
Auch der zweite Büdel ließ sich problemlos öffnen. Zügig und konzentriert verknotete der junge Fischer die Enden der Netze für den nächsten Zug. Von den Knoten hing alles ab: Sie mussten halten, wenn der Kutter die Netze über den Meeresboden schleppte, sich aber leicht öffnen lassen, wenn der Fang an Bord genommen werden sollte.
Während die Netze wieder außenbords gingen und der Kapitän die Kurrleinen über die Winde laufen ließ, griff Hannes nach dem Schlauch, um den Fang aus dem schwarzen Brei zu spülen. Anschließend sammelte er den brauchbaren Beifang – ein paar kleine Plattfische – in einen Eimer und warf alles andere – Muscheln, Krebse, Unrat – über Bord. Die verbleibenden Krabben mussten weiter gespült und dann gesiebt werden, bis sie schließlich im kochenden Seewasser gegart werden konnten.
Hannes arbeitete aufmerksam und rasch. Jeder Handgriff war ihm längst in Fleisch und Blut übergegangen, und nichts hätte ihn aus dem Gleichgewicht bringen können.
Es geschah beim vierten oder fünften Zug. Jedenfalls sollte es der letzte sein, darin waren Harry Oltmanns und Hannes Butt sich einig. Nach zehn Stunden Arbeit waren die Aluminiumkästen gut gefüllt. Es wurde Zeit, den Hafen anzusteuern, um das Hochwasser für die Rückkehr nicht zu verpassen.
Schon beim Hieven hatte Hannes das Gefühl, dass mit dem Büdel auf Backbord etwas nicht stimmte. Unzählige Male hatte er die auftauchenden Netze gemustert, und stets hatten sie ihre charakteristische Form gezeigt. Doch diesmal hing das Netz schief, ein länglicher Gegenstand hatte sich darin verfangen und ragte seitlich heraus. Erst in der zweiten Sekunde erkannte er die Form des Gegenstandes. Nein, kein Gegenstand. Etwas Menschliches. Ein Paar Beine. An einem Körper. Leichenfahl und nackt. Die Knie waren grotesk gewinkelt und obszön gespreizt, der dazu gehörende Rumpf hing mit nach hinten gebogenem Kopf im Schlamm des triefenden Netzes. Die Haare waren mit Tang zu einem wirren Gestrüpp verfilzt, das rechte Ohr fehlte. Hannes Gehirn weigerte sich, die Botschaft seiner Augen anzunehmen. Vergeblich. Er spürte, wie sich Übelkeit in der Magengegend ausbreitete.
„Verdammter Schiet“, brüllte Oltmanns vom Steuerhaus. „Sütt ut wie’n Liek. Mook denn Büdel butenbords fas. Dat Ding droff nich an Board.“
Mit fliegenden Händen zog Hannes das Netz bis an die Bordwand und verzurrte es am Poller. Aus der Nähe war nicht zu übersehen, was in den Fang geraten war. Ein menschlicher Körper – unbekleidet, bleich, weiblich.
„Hol denn annern Büdel an Board. Fix.“ Harry Oltmanns griff zum Mikrofon, und Hannes sah, wie der Schiffer eindringlich hineinsprach.
Wie in Trance verrichtete der Moses seine Arbeit. Automatisch folgte ein Handgriff dem anderen. Seine Gedanken kreisten um die Frage, was nun geschehen würde. Sie mussten die Tote an Land bringen, durften sie aber nicht an Bord nehmen. Leichen mussten außenbords transportiert werden. Dafür gab es nur zwei Möglichkeiten. Sie konnten sie – so wie sie war – im Netz an der Bordwand mitschleppen. Oder aus dem Büdel ziehen und in eine Persenning wickeln, die sie dann außen an der Reling befestigen würden.
Vor der letzten Möglichkeit grauste es Hannes Butt wie noch nie zuvor in seinem Leben.
Und dann fiel ihm noch etwas ein. Der ganze Fang war hin. Zwölf Stunden harter Arbeit für nichts und wieder nichts. Auch wenn sie die Leiche nicht an Bord holten, durften sie nicht eine der Krabben in den Handel bringen. Eine ganz und gar unverständliche Vorschrift. An die er sich gut erinnerte, weil sie in der Berufsschule heftig darüber gestritten hatten.
Oltmanns rief etwas Unverständliches aus dem Steuerhaus.
„Was hast du gesagt?“
„Clasen kummt mit dee Poseidon vorbi und übernimmt den Fang.“
Eine verwegene Hoffnung keimte in Hannes. „Die Leiche?“
„Doa weer hei ganz scheun dösig, du Döskopp. Nee – dee Knootkissen. Oder schöt wi denn ganzen Fang butenboards schmieten?“
Konrad Röverkamp sah auf die Uhr. Eigentlich war Feierabend. Im Dienstgebäude, dem Siebziger-Jahre-Kasten aus rotem Ziegelmauerwerk an der Werner-Kammann-Straße, war es ruhiger geworden. Das Wochenende stand bevor. Aber was bedeutete das schon in seinem Beruf! Jederzeit konnte die Hektik erneut ausbrechen. Kriminaloberrat Christiansen wollte ihn sprechen, und Röverkamp wusste, worum es ging. Der Chef erwartete eine Entscheidung.
Und dann würde er umziehen müssen. Auf Dauer mochte er nicht als Untermieter einer Kapitänswitwe leben.
Und hier muss auch mal Ordnung geschaffen werden. Der vielfache Tausch von Büroräumen innerhalb des Hauses hatte dazu geführt, dass sich seine provisorische Unterbringung über Wochen hingezogen hatte und zahlreiche Akten in Kartons gelagert wurden, die ungeordnet herumstanden.
Er wandte den Blick aus dem Fenster und beobachtete den Verkehr auf dem Karl-Olfers-Platz. Ein silbergrauer Astra hatte sich falsch eingeordnet und verursachte nun – bei dem Versuch, nachträglich die Spur zu wechseln – eine Kettenreaktion aus Brems- und Ausweichmanövern. Schließlich verklumpten sich die Fahrzeuge zu einem kleinen Stau, und den Fahrern blieb nichts anderes übrig, als die nächste Grünphase abzuwarten.
Wahrscheinlich wieder ein Tourist, der sich verfahren hat. Ist ja auch nicht so einfach, wenn man sich nicht auskennt.
Die unübersichtliche Verkehrsführung war nicht das Einzige, was Röverkamp an Cuxhaven missfiel. Anfänglich, als er noch wöchentlich über die B 73 gekommen war, hatten die Absonderungen aus den Faultürmen der städtischen Kläranlage ihm regelmäßig signalisiert, dass er sein Ziel fast erreicht hatte. Nur die fischige Duftschleuse an der Grodener Chaussee war noch zu passieren. Und die unzähligen Werbeflächen und Hinweisschilder, die zwischen Tankstellen und Fastfood-Imbissen die Zufahrt vom Kreisel bis zur Wernerstraße säumten, waren ihm ebenso wenig einladend erschienen wie die Hundekothaufen in der Nordersteinstraße. Dennoch erwog er ernsthaft, auf Dauer in der Stadt zu bleiben. Denn die erfreulichen Seiten eines Ortswechsels überwogen. In Stade hielt ihn nicht mehr viel, seit seine Tochter geheiratet hatte und nach Dortmund gezogen war.