Julie. Meine Liebe.

Liest Du diese Briefe? Das hoffe ich, aber ich verlange nichts, ich halte mich im Hintergrund. Ich kann Dir nichts bieten, und ich kann verstehen, daß Du enttäuscht bist. Ich schreibe trotzdem, ich bin ja schließlich Dein Vater. Das Schreiben ist mir zu einer lieben Gewohnheit geworden, es beruhigt mich. Du weißt ja, wie die Situation ist, wie es mir geht. Gott und die Welt sind hinter mir her, weil ich Geldschulden habe, ich komme mir vor wie ein Stück gejagtes Wild. Gute Freunde habe ich nicht mehr, nur noch zwielichtige Kontakte. Kannst Du Dich an Bjørnar Lind erinnern? Er war mein bester Kumpel, wir haben uns schon als Kinder gekannt, jetzt will er nichts mehr mit mir zu tun haben. Ich schulde ihm zweihunderttausend, und ich weiß nicht, woher ich die nehmen soll. Ich habe Angst, daß er mir seine Leute auf den Hals hetzen wird, Angst davor, was sie machen werden, wenn ich nicht bezahle. In der Szene gehen Gerüchte um, daß er versucht, sich einen Schläger zum Geldeintreiben zu besorgen. Weißt Du, was die mit ihren Opfern machen? Sie schneiden ihnen die Finger mit einer Heckenschere ab, mir wird schon schlecht, wenn ich nur daran denke. Der Alltag fällt mir sehr schwer. Mein Arbeitslosengeld reicht nicht aus, ich kann Rechnungen und Schulden nicht bezahlen.

Wenn das doch nur endlich ein Ende hätte! Ich habe mir das alles selbst eingebrockt, und Du darfst Dir keine Sorgen machen, denk nur an Dich und sei fröhlich. Sei jung und gesund und vielversprechend! Glaub mir, ich versuche auf meine armselige Weise, alles in Ordnung zu bringen. Ich besitze noch einen Rest Tatkraft, auch wenn ich auf den Knien liege, ich habe Pläne. Träume. Mein Gehirn sucht fieberhaft nach einer Lösung. Es mahlt, es knirscht, es scheint zerspringen zu wollen. Wann haben wir beide uns zuletzt gesehen? Am 27. Mai, weißt Du das noch? Wir haben uns gestritten. Ich habe nur versucht, Dir zu erklären, zu welcher Besessenheit das Spielen werden kann. Die Leidenschaft, die Abhängigkeit. Du hast mit der Autotür geknallt, und ich dachte, ich werde sie niemals wiedersehen, noch eine Chance bekomme ich nicht. Ich fuhr mit dem Gefühl, in allem versagt zu haben, nach Hause in die Blomsgate. Es muß eine Lösung geben! Kann es sein, daß ich die einfach nicht sehe? Ich starre in die Zukunft, bis meine Augen tränen und brennen, ich laufe im Zimmer hin und her, ich beiße mir auf die Lippe, bis sie blutet. Ich denke oft an Mama, denke an sie mit Reue und Wehmut. An alles, was sie wegen meiner Sucht durchmachen mußte. Früher war alles leichter, sie hat auf uns aufgepaßt und für alles gesorgt. Sie war eine Art korrigierende Instanz. Ich kann nicht fassen, daß sie nicht mehr da ist. Einmal die Woche gehe ich zu ihrem Grab, das ist schwer. Oft möchte ich einfach nur auf die Knie fallen, im Boden wühlen, den Deckel vom Sarg reißen und sie zurückholen. Gestern habe ich eine Erika gekauft und vor ihren Grabstein gestellt, Du weißt schon, diese robuste rotlila Blume, eine Art Heidekraut. Du kannst mir glauben, ich sorge da für Ordnung, ich jäte Unkraut und dekoriere und gieße. Manchmal suche ich nach Spuren, ob Du vielleicht da gewesen bist und Dich ein bißchen um das Grab gekümmert hast. Tust Du das? Und stehst Du dann allein vor dem Grab und weinst? Mir gefällt diese Erkenntnis und der Beweis, daß der Tod uns alle heimsucht. Vielleicht verwelkt man dann einfach, so wie Oma dasitzt und verwelkt. In meinen schlimmsten Momenten habe ich an den Tod als eine Lösung gedacht, Du weißt, ich habe Opas alten Revolver. Verzeih mir meine Offenherzigkeit, Du bist nicht für mich verantwortlich. Ich werde sicher nicht sehr alt werden, ich bin doch jetzt schon so müde. Stell Dir vor, Oma ist schon neunundsiebzig. Aber sie sitzt vollkommen bewegungslos in ihrem Sessel und ist nur noch zum Teil lebendig. Sie lebt in einer Art Dämmerzustand, in dem nichts passiert. Ihr scharfes Profil aber ist noch das alte, ebenso wie ihr vorspringendes Kinn, das Du geerbt hast. Ich selbst kann nicht in einem Dämmerzustand verschwinden, bei mir zittert jede einzelne Zelle. Das Blut strömt durch meinen Körper, meine Finger zittern. Nachts horche ich in die Dunkelheit, dieses alte Haus ächzt und seufzt so, ich bekomme nicht viel Schlaf. Kommen sie jetzt, frage ich mich, ist das hier meine letzte Stunde? Heute war ich auf dem Arbeitsamt, aber niemand will einen Mann in meinem Alter. Und gute Zeugnisse habe ich auch nicht, nichts, was ich vorzeigen oder womit ich prahlen könnte. Julie! Ich gebe nicht auf, auch wenn ich zu extremen Mitteln greifen muß! Ich habe jede Stunde vom Tag damit verbracht, eine Lösung zu finden. Es geht hier nur um Geld, das ich nicht habe. Um Dinge, die ich mir nicht leisten kann, Pläne, die ich nicht in die Tat umsetzen kann. Schulden, die ich nicht bezahlen kann. Es geht hier nur um Angst und Scham, um die Furcht, jedesmal, wenn es an der Tür klingelt, die langen Stunden, ehe der Schlaf kommt, die einzige Linderung, die ich überhaupt spüre. Wenn ich nicht vom Untergang träume. Das Leben kann so nicht weitergehen, es zehrt zu sehr an meinen Kräften. Immer diese Angst, dieses hämmernde Herz. Mein eigenes jämmerliches Gesicht im Spiegel, die Gewißheit, daß ich alles ruiniert habe. Nur aufgrund einer Schwäche. Einer Schwäche für Spiel, Risiken und Glück.

Ich bitte Dich nicht um Verzeihung, sondern nur um ein wenig Verständnis. Jetzt bin ich auf dem Weg zu etwas anderem. Das Spiel schenkt mir keine Freude mehr, ich glaube, ich könnte jetzt an einem Automaten vorübergehen und das Geld dabei in der Tasche lassen. Aber da ist etwas mit diesem funkelnden Licht, es kommt mir vor wie ein Rausch. Vor der Maschine bleibt die Zeit stehen, und ich bin quicklebendig. Ich nehme die Maschine in Besitz, lenke sie, fordere sie heraus, sie begrüßt mich überschwenglich mit Licht und Musik, sie zieht an mir, lockt mich. Und ich gebe mich hin, lasse mich treiben, träume. Du hältst mich vielleicht für schwach, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Wenn Du wüßtest, wie verzweifelt ich bin, wie weit ich gehen würde, wenn wir nur wieder Kontakt zueinander haben könnten. Ich habe doch nur Dich. Ich habe das Gefühl, daß ich an den Abgrund getrieben worden bin, und ich weiß nicht, wo es enden wird. Ich bin freundlos, arbeitslos und kinderlos. Nein, nicht kinderlos, ich halte noch immer an Dir fest, auch wenn Du das nicht brauchst, nicht willst. Vielleicht hast Du mich ab und zu gesehen, ich sitze vor der Schule im Honda, versteckt zwischen den Autos auf dem Parkplatz. Ich sehe, wie Du mit Deinen Freunden aus dem Schulgebäude kommst, wie Du scherzt und lachst und wie froh Du aussiehst. Ich sehe Deine prachtvollen roten Haare, die Dein Gesicht wie eine Wolke umrahmen. Komme ich in Deinem Leben denn überhaupt nicht vor? Ich weiß nicht, ob ich es ertragen kann, wenn Du mich endgültig fallen läßt. Wenn ich allein, ohne irgendeine Bindung alt werden muß. Von allen Unglücken, die einen Menschen treffen können, ist Einsamkeit das schlimmste. Daß man in dieser elenden Welt nicht einmal jemandem hat, mit dem man zusammen lachen kann. Du bist das einzige in meinem Leben, worauf ich stolz bin. Aber Du siehst dünn aus, Julie, ißt Du genug? Du mußt Dich wärmer anziehen, jetzt ist doch Winter. Das würde Mama auch sagen, wenn sie Dich mit nacktem Hals sähe. Und auf sie hast Du doch immer gehört. Kannst Du Dich an diese glückliche Zeit erinnern? Als ich noch die Arbeit im Autohaus hatte. Ich war ein guter Verkäufer, vertrauenerweckend und tüchtig, und ich kann mich so gut daran erinnern, wie schön es war, nach jedem Verkauf mit der großen Glocke läuten zu können. Das Gefühl, Erfolg zu haben, ein Teil der Welt zu sein. Abends zu Dir und Mama nach Hause zu kommen, in die Wärme und das Licht. Aber Licht gibt es nicht mehr, mein Leben verschwindet. Während ich das hier schreibe, bist Du mir so nah. Ich habe das Gefühl, Deine Hand zu halten, ich bringe es nicht über mich, loszulassen. Hör auf mich! Denk an mich, laß mich spüren, daß ich in Deinem Leben vorhanden bin. Gefällt Dir Dein neues Zimmer, geht es gut in der Schule? Ich träume davon, Dich zu beeindrucken, Dir das zu geben, was Du Dir am meisten wünschst. Ich glaube nicht an Wunder, aber ich glaube, daß man sein eigenes Schicksal umkehren kann, das ist eine Frage von Phantasie und Willen. Von Durchhaltevermögen und Mut. Ich glaube auch, daß es seinen Preis kostet. Und jetzt würde ich jeden Preis bezahlen, ich habe nichts zu verlieren. Vor mir liegen schwarze Tage voller Angst.

EIN MANN GEHT zu Fuß durch die Dunkelheit.

Für einige Sekunden ist er im Licht der Straßenlaternen zu sehen, wird von der Dunkelheit verschluckt und taucht dann wieder auf, als existiere er nur für kurze Augenblicke. So kommt es ihm vor, so ist sein Leben geworden. Er lebt auf und fängt an zu glühen, um dann wieder zu verlöschen. Es kommt und geht wie ein heißes, zitterndes Fieber. Er hat die Fäuste in den Taschen geballt, während er durch die Dunkelheit stapft, aber er erregt keine Aufmerksamkeit. Niemand dreht sich um und schaut hinter ihm her, er ist ein ganz normaler Mann mittleren Alters, mit schütteren Haaren, und er denkt, fast schon verwundert: Man sieht es mir nicht an. Das, was ich bald tun werde. Die Menschen wissen ja so wenig. Hier gehe ich mitten unter ihnen, und siehe da, sie gehen durch die Straßen und denken an ihre eigenen Angelegenheiten.

Die Gesichter, die ihm entgegenkommen, sind ausdruckslos. Es ist kein Glück zu sehen, keine Freude über den Tag und das Leben oder über die rieselnden Schneeflocken. Dieses Leben, das sie nur für kurze Zeit besitzen und das sie für selbstverständlich nehmen, gleitet langsam vorbei, während sie von einem anderen Leben an einem anderen Ort träumen. Von Liebe, Fürsorge, von allem, was Menschen brauchen. Er geht und geht, am liebsten würde er umkehren, aber er weiß, daß es zu spät ist, er ist schon zu weit gegangen. Kann fast nicht fassen, daß er an diesen Punkt gelangt ist, verdrängt es aber und läßt sich weiter vorantreiben, läßt sich treiben von Furcht und Notwendigkeit. Er starrt in diesen Abgrund, der sich vor ihm auftut, und der ist bodenlos. Der Sturz jagt ihm Todesangst ein, der Sturz ist verlockend. Er krümmt die Finger in der Tasche, er hat solche Angst vor ihnen, er denkt an eine Heckenschere, die die dünne Haut durchtrennt, an das Blut, das wütend aus den Stümpfen schießt. Ihm wird schlecht. Er kann dieses Bild nicht verdrängen. Er muß einen anderen Ort aufsuchen, auch wenn dieser Ort Entsetzen heißt. Er trägt eine große Schande, er hat ein erbärmliches Leben, jetzt kann er nicht mehr, jetzt muß er handeln. Ab und zu schaut er verstohlen zu den nichtsahnenden Menschen hoch. Sie sehen dieses gewaltige Grauen nicht, das langsam in ihm wächst. Wächst es schon, überlegt er, bin ich jetzt schon dabei, geschieht dies wirklich? Ist die Stadt nicht eine Kulisse, ist das hier nicht ein Film? Die Mietshäuser könnten aus Pappmaché sein, und alle anderen wären dann Statisten. Nein, das hier ist wirklich, er ballt die Fäuste, spürt, wie seine Muskeln sich anspannen. Er ist jetzt soweit, er nimmt Anlauf, er läuft weiter wie auf Schienen.

Seine Unterlippe ist aufgeplatzt, er weiß nicht, wann das passiert ist, er spürt den süßlichen Geschmack von Blut auf der Zunge, der Geschmack gefällt ihm. Später, wenn alles vorüber ist, werden die Menschen entsetzt sein, sie werden die Hände vors Gesicht schlagen und ihn verurteilen. Auch, wenn er alles erklären kann. Er weiß, daß er alles erklären kann, Schritt für Schritt, den mühseligen Weg, den tiefen Abgrund vor ihm, wenn er nur Zeit dafür bekommt. Wenn sie nur seiner Geschichte zuhören wollen. Aber die Leute haben keine Zeit, sie haben ihre eigenen traurigen Geschichten, ach, er hat so schwer zu tragen, er ist so allein! So denkt er, während er durch die Straße geht, die Hände tief in den Taschen, das Gesicht dem matschigen Boden zugewandt.

Er ist mittelgroß und kräftig gebaut, er trägt einen grünen Parka. Der Parka hat eine Kapuze, die sich jetzt gerade mit Schnee füllt. Sein Gesicht ist breit, die Augen sitzen dicht beieinander und sind grau, kein schöner Mann, aber auch nicht sonderlich unansehnlich. Hohe Stirn, breite Wangenknochen und ein kräftiges bärtiges Kinn. An den Füßen trägt er kurze Stiefel, das Leder ist abgenutzt und zieht Wasser, seine Zehen sind schon taub. Er bemerkt das kaum, er hat soviel, woran er denken muß. Nein, er wagt jetzt nicht, zu denken, er leert sein Gehirn, ist nur ein fest entschlossener Organismus, der nicht zurückblickt. Er muß sein Ziel erreichen und darf die Angst nicht an sich heranlassen. Die hüllt ihn ein wie ein farbloses Gas, er wagt fast nicht, Luft zu holen. Er kommt an einem Spiegelladen vorbei, entdeckt plötzlich sein eigenes Gesicht und schlägt entsetzt die Augen nieder. Sein Gesicht ist so nackt, seine Augen werden vom Schatten verdeckt. Er wendet sich ab, er geht und geht, seine Gestalt ist kräftig und kompakt, die Schultern sind rund und breit, und er hat einen wiegenden, zielbewußten Gang. Wenn seine Stiefel auf den Boden auftreffen, spritzt der Schneematsch nach allen Seiten, ein feuchtes, gurgelndes Geräusch. Nichts kann ihn aufhalten. Trotzdem denkt er, wenn mir jetzt jemand begegnete, ein alter Freund zum Beispiel, dann würden wir vielleicht über Wind und Wetter und alte Zeiten plaudern. Wir könnten im Dickens ein Bier trinken, und alles würde anders werden. Aber es kommt kein alter Freund. Er hat keine Freunde, jetzt nicht mehr, auch keine Arbeit, er hat sich von allem zurückgezogen, er lebt in seiner eigenen Welt. Lebt mit Angst und Kummer und Sorge. Seine Welt ist klein und elend. Es ist der 7. November, und es fällt Schneeregen. Riesige feuchte Flocken. Er steckt sich eine Zigarette an, zieht kräftig daran, füllt seine Lunge mit Rauch. Es sticht, er muß husten, aber er weiß, das geht vorbei. Kurz darauf sieht er eine Tankstelle mit grellen neongelben Schildern. Er schaut zu den großen Plakaten von Hennes & Mauritz hoch. Sie beherrschen die Fassade des Hauses zu seiner Rechten. Seltsam, denkt er über die üppige Frau in der Spitzenunterwäsche, wie nackt sie ist, an diesem trüben Abend. Trotzdem scheint sie sich wohlzufühlen, er selbst ist naß und friert, aber das kann man wohl kaum als Qual auffassen. Es ist eher etwas, das er nur vage registriert, als sehe er sich selbst von außen. Kurze Zeit später sieht er den Eingang vom Blumenladen. Sofort verlangsamt er sein Tempo. Er geht das letzte Stück und schaut verstohlen durch das Schaufenster. Er kann jetzt nicht anhalten, denn er folgt diesem Gleis, vor ihm geht es steil nach unten, und dort verschwindet alles in der Finsternis. Gleichzeitig windet er sich innerlich, ist er erschüttert, begreift nicht, daß es möglich sein kann, daß er an diesen Abgrund geraten ist. Daß vor ihm eine einfache Aufgabe liegt, ein schändlicher Plan. Er, der gute alte Charlo. Charles Olav Torp. Ein ganz normaler Mann. Ein wenig vom Pech verfolgt, vielleicht, ein wenig schwach, sonst aber ein herzensguter Mann. Oder ist er vielleicht kein herzensguter Mann? Er glaubt schon, er beißt die Zähne zusammen, lehnt sich gegen die schwere Tür, sie geht nach innen auf. Er hört eine Klingel. Das klimpernde, helle Geräusch stört ihn. Er möchte lieber lautlos sein, niemand soll ihn bemerken, niemand soll ihn hören. Mitten im Raum bleibt er stehen. Sofort nimmt er den Duft wahr, süß und betäubend. Das wird zuviel für ihn, für einen Moment wird ihm schwindlig, er muß sein Gewicht auf den anderen Fuß verlagern, weil sich vor ihm alles dreht. Er hat lange nichts mehr gegessen, hat er das vergessen? Er weiß es nicht. Dieser Tag ist für ihn wie eine Schlammbrühe, als wäre er jetzt erst aufgewacht, und zwar am Rande des Abgrundes. Seine Augen irren durch das Geschäft. Er kommt sich vor wie in einem kleinen Dschungel aus Blumen und Grünpflanzen, Blättern und Blüten. Er sieht Seidenblumen und Gießkannen, Blumendünger und Blattglanzspray, sieht Kränze aus getrockneten Rosen. Ein unbeschreibliches Blütenmeer. Er liest exotische Namen, Chrysantheme und Erika, Hibiskus und Monstera. Eine junge Frau steht abwartend hinter dem Tresen. Sie erinnert ihn an seine Tochter Julie, aber sie ist nicht so schön wie Julie, denn Julie ist die Schönste, die Beste. Ihm wird warm ums Herz, wenn er an seine Tochter denkt. Zugleich empfindet er einen dumpfen Schmerz, und sein Verrat wird ihm in seiner ganzen Schändlichkeit bewußt. Er schluckt und richtet sich auf, sieht die junge Frau noch einmal an, sie ist schmächtig und blond, hat lange Zöpfe, und er registriert ihre dünnen Handgelenke, so unglaublich schmal und weiß. Sie ist jung, denkt er, ihr Körper ist geschmeidig wie der eines Katzenjungen. Sie kann Spagat und eine Brücke machen, vielleicht, jedenfalls glaubt er das. Ihre Haut ist frisch und rosa und ungewöhnlich klar. Ihr Blick sittsam gesenkt. Auf dem Boden stehen überall Blumen in roten und blauen Plastikeimern. Rosen, sieht er, rote und gelbe, andere Blumenarten, deren Namen er nicht kennt. Er bleibt stehen und schaut sich um, zögernd, mit den Händen in den Taschen. Für einen Moment ist er überwältigt. Er fühlt sich ungeheuer exponiert in dem scharfen Licht, allein mit der jungen Frau, die noch immer wartet. Sie sieht ihn jetzt an, ist unsicher, aber entgegenkommend. Sie steht gern hier, sie mag ihre Arbeit, bald ist Feierabend und sie wird nach Hause gehen zu ihrem möblierten Zimmer und einem heißen Bad. Vielleicht zu etwas Gutem zu lesen oder etwas im Fernsehen. Oder einem langen Telefongespräch mit einer Busenfreundin. Er weiß es nicht, aber er sieht, daß sie es gut hat, daß sie mit dem Stand der Dinge zufrieden ist. Manche Menschen haben es eben gut, denkt er, so muß es sein, sonst wäre die Welt schon untergegangen und Büsche und Gestrüpp würden ungehemmt immer höher und weiter wachsen und schließlich alle Spuren der Spezies Mensch bedecken. Das wäre schön, denkt er, ein patinagrüner Erdball ohne Menschen, nur ein paar grasende Tiere und flatternde, schreiende Vögel. Die junge Frau ist dünn, aber sie sieht gut aus. Sicher ißt sie, was sie braucht, denkt er, vielleicht macht sie Sport, nichts setzt bei ihr an. Oder sie ist erblich belastet und stammt aus einer schmächtigen Familie. Er spekuliert, schindet Zeit, spürt sein Herz unermüdlich schlagen, spürt, daß seine Wangen glühen, obwohl er eben erst eine Ewigkeit lang durch die Straßen gewandert ist, in Kreisen durch die Stadt, grau vom Schneeregen und Nebel. Er hat am Flußufer gestanden und ins Wasser gestarrt, er hat es als eine Lösung betrachtet. Vom Ufer zu springen, sich zu Boden sinken zu lassen. Es geht schnell, hat er gedacht, zuerst kommt ein explosiver Schmerz, dann wird der Kopf glühend heiß, und alles wird rot vor Augen. Das Leben passiert Revue. Inga Lills Krankheit, Julies Verzweiflung, seine eigene krankhafte Spielsucht. Mit Gewalt verdrängt er diese Gedanken. Alles wird jetzt zunehmend realer für ihn. Das, was er seit Tagen und Wochen in seiner Phantasie sieht, wird jetzt Wirklichkeit. Das hier ist der erste Schritt. So harmlos, so vertrauenerweckend wie einen Blumenstrauß zu kaufen. Die junge Frau wartet geduldig, wird aber unsicher, weil er nichts sagt. Sie tritt von einem Fuß auf den anderen, zieht die Hände zurück, legt sie dann wieder auf den Tresen. Ihre Finger sind mit dünnen Ringen geschmückt, die Nägel rotlackiert. Sie schiebt sich die Zöpfe auf den Rücken, die sind blond und glänzen wie Nylonseile, in der nächsten Sekunde fallen sie wieder nach vorn und pendeln über ihren Brüsten. Und er weiß, wenn sie abends schlafen geht und die Gummis abstreift, dann bauschen sich die vom Zopf befreiten Haare nur so um ihren Kopf. So jung sind sie, diese Mädchen, so glatt, so durchscheinend. Er denkt an Reispapier, Porzellan und Seide, er denkt an dünnes Glas. Er kann ihre Adern wie ein feines grünes Netzwerk unter der Haut ihrer Handgelenke sehen. Leben pulsiert darin, mit Nahrung und Sauerstoff, alles, was sie braucht, um am Leben zu bleiben. Wieder holt er tief Luft. Das Licht im Laden, der starke Rosenduft und die fast süßliche Wärme werden zuviel für ihn. Vor seinen Augen tanzen schwarze Flecken. Er merkt, daß er schneller atmet, und er ballt die Fäuste, er spürt, wie seine Fingernägel sich in die Haut bohren. Schmerz, denkt er, das hier passiert wirklich. Nein, nichts ist passiert, noch nicht, aber die Zeit vergeht, und früher oder später werde ich dort ankommen. Wo werde ich hinkommen, wird es schrecklich sein? Das Mädchen hinter dem Ladentisch macht noch einen Versuch, sie lächelt zuvorkommend, aber er erwidert dieses Lächeln nicht. Sein Gesicht ist unbeweglich. Er weiß, daß er lächeln müßte, um wie ein normaler Kunde zu wirken, ein Mann, der etwas tut, was Freude bringt. Der einen Blumenstrauß kauft. Aber er ist kein normaler Kunde, was er hier tut, bringt keine Freude.

Zögernd tritt er vor den Tresen, sein breiter Körper schwankt über den Boden. Er ist sich seiner Stimme nicht sicher, er hat sie schon eine Weile nicht mehr gehört, und deshalb legt er etwas mehr Kraft hinein als sonst.

»Ich möchte einen gemischten Strauß«, sagt er, und beim Klang seiner eigenen lauten Stimme fährt er zusammen. Ich habe nasse Füße, denkt er, meine Stiefel sind undicht. Kalter Schweiß läuft über seinen Rücken, seine Wangen dagegen sind glühend heiß. Ich bin nicht sicher, ob das hier passiert. Müßte es nicht ein anderes Gefühl sein, müßte ich nicht viel präsenter sein? Ich habe so viele seltsame Gedanken. Verliere ich die Kontrolle? Nein, ich bin zielstrebig, ich bin sicher. Ich habe einen Plan, und an den halte ich mich. Er wird aus diesen Gedanken gerissen, weil die junge Frau etwas sagt.

»Soll es zu einem besonderen Anlaß sein?« fragt sie. Ihre Stimme ist freundlich und kindlich, ein wenig aufgesetzt, sie macht sich jünger als sie ist, sie beschützt sich, damit er rücksichtsvoll mit ihr umgeht. So machen Frauen das eben, und er verzeiht, aber nur, weil sie jung ist. Erwachsene Frauen haben sich wie Erwachsene zu benehmen, er kann dieses Affektierte bei älteren Frauen nicht ausstehen, die immer ihr sogenanntes schwaches Geschlecht heranziehen, obwohl sie doch eigentlich zäher, ausdauernder, cleverer und berechnender sind als Männer. Das läßt ihn an Inga Lill denken. Sie hat es oft so gemacht, vor allem in der ersten Zeit. Sie hat ihre Stimme zuckersüß klingen lassen, hat sich eingeschmeichelt und ist hinter dieser geballten Feminität in Deckung gegangen, und er kam sich dann richtig brutal vor, weil er geradeheraus und offen war. Inga Lill, jetzt bist du nicht mehr da, du weißt nicht, was passiert, und dafür danke ich Gott. Ich verliere den Überblick, merkt er plötzlich, ich verzettele mich in Belanglosigkeiten, ich muß bald zur Sache kommen. Wie alt kann sie wohl sein, fragt er sich und mustert die junge Frau, ob sie schon achtzehn ist? Sie ist älter als Julie, und Julie ist sechzehn. Es spielt keine Rolle, ich kenne sie nicht, wir werden uns nie wiedersehen. Es kommen so viele Menschen hierher, sie erinnert sich an fast keinen, denn sie ist jung und lebt wie junge Mädchen eben leben, einen Großteil des Tages in einem Traum über alle wunderbaren Dinge, die sie vielleicht erleben wird.

Sie schiebt die Ärmel hoch und macht sich an die Areit.

Ihr Pullover liegt eng an und ist dunkelrot, sie sieht aus wie eine Blume, eine schmale Tulpe, frisch, straff und leuchtend. Ja, es ist für einen besonderen Anlaß. Herrgott, wenn sie wüßte! Aber er will nichts sagen, will sich nicht mehr als unbedingt nötig zu erkennen geben. Blumenkaufen ist etwas Alltägliches. Es wird später nicht mit dem anderen, das er tun muß, in Verbindung gebracht werden können. Was soll er machen, wie wird es enden? Er weiß es nicht, er läuft am Wegesrand, dem Weg zu einer Lösung. Der Laden genießt einen guten Ruf. Jeden Tag kommen viele Kunden her, er sieht vor sich einen stetigen Strom von Menschen, die ein und aus gehen. Unendlich viele Gesichter, unendlich viele Bestellungen, Sträuße in allerlei Farben. Er fällt in seinem grünen Parka nicht weiter auf. Die ganze Zeit hält er den Blick gesenkt, um die Aufmerksamkeit der jungen Frau von sich abzulenken. Wie alles blüht in den großen Eimern! Er kann es fast nicht fassen, daß das alles aus der schwarzen, nassen Erde kommt. Zu Erde sollst du werden, denkt er, und aus der Erde kommen Blumen. Löwenzahn oder Brennesseln. So soll es ja auch sein, der Tod ist besser als sein Ruf, davon ist er ganz überzeugt. Die junge Frau wartet geduldig. Sie ist Floristin. Sie hat ihren Berufsstolz. Sie ist eine Künstlerin, die mit Blumen arbeitet. Sie kann nicht einfach ein paar Stengel zusammenraffen, so rein zufällig, hier ist eine Komposition gefordert, Farbe, Form und Düfte, keine zwei Sträuße von ihrer Hand sind gleich. Sie hat ihre eigene Signatur, aber sie braucht etwas, um in Gang zu kommen. Einen kleinen Anstoß, eine Idee. Die bekommt sie nicht. Charlo ist stumm und unwillig.

»Für eine Dame?« fragt sie vorsichtig. Sie bemerkt seinen Unwillen, sie versteht ihn nicht und findet ihn unangenehm. Er wirkt gleichgültig, als kaufe er für andere ein, er scheint sich nicht wohl in seiner Haut zu fühlen und kommt ihr nervös vor. Er scheint heftig zu schwitzen, sein Körper bewegt sich langsam hin und her, er beißt die Zähne fest zusammen. Sie denkt, vielleicht muß er einen Krankenbesuch machen. So etwas kann man ja nicht wissen.

Charlo nickt, ohne ihren Blick zu erwidern. Aber dann fällt ihm ein, daß er den Laden schneller verlassen kann, wenn er ihr hilft und sich kooperativ zeigt. Er braucht jetzt einen klaren Kopf, darf sich nicht mehr verzetteln, muß seinen Plan in die Tat umsetzen. Meine Nerven, denkt er, die sind gespannt wie Drahtseile. Er hat gewußt, daß es so kommen würde. Er konzentriert sich jetzt wieder auf sein Ziel.

»Ja«, sagt er. »Für eine Dame.« Wieder klingt seine Stimme zu schroff, und aufgrund einer plötzlichen Eingebung, die ihm klug vorkommt, fügt er hinzu: »Sie hat Geburtstag.«

Erleichtert macht die junge Floristin sich an die Arbeit. Alles ist für sie wieder so, wie es sein soll, ihr schmächtiger Körper konzentriert sich. Ihre Schultern senken sich, die dünnen Finger greifen zu einer Zange, sie bückt sich über die Eimer und zieht Blumen heraus, eine nach der anderen. Ihre Finger schließen sich so behutsam um die Stengel. Sie scheint einen Plan zu haben, sie kennt kein Zögern mehr, keine Unsicherheit. Sie läßt ihren Blick über die Eimer schweifen, sie hat ein geübtes Auge, ist jetzt auch wieder selbstbewußt. Weiße Lilien, blaue Anemonen, Wicken und Rosen. Langsam entsteht zwischen ihren Fingern ein runder Strauß in Pastelltönen. Sie fängt im Zentrum des Straußes mit einer Lilie an, diesem Kern, den die restlichen Blumen umkränzen sollen, wippend und wogend, aber dennoch festgehalten, so daß die Blumen einander beschützen und stützen, und das ist eine Kunst. Er sieht es und begreift es, er ist zutiefst fasziniert und verliert sich in dem, was hier vor seinen Augen entsteht, aber er fröstelt bei dem Gedanken, daß die Blumen einem grausamen Zweck dienen sollen. Er tritt von einem Fuß auf den anderen. Sein Herz hämmert unter seinem Parka, er will es beruhigen, aber das schafft er nicht, das Herz hört nicht mehr auf ihn. Ja, ja, denkt er, dann soll es eben hämmern, so heftig es will, ich habe ja auch noch ein Gehirn, und das funktioniert so wie es soll. Ich bestimme hier, ich gebe meinem Körper den Befehl zum Handeln. Auch wenn das Blut wild durch meinen Körper strömt und mein Gesicht rot färbt, so bestimme doch immer noch ich. Er holt noch einmal Luft, so tief, daß sie es hört und aufblickt. Sie ist sich über ihn im klaren, sie begreift, daß sich hier etwas zusammenbraut, aber sie kann sein Verhalten nicht deuten. Instinktiv klammert sie sich an ihr Handwerk, das sie beherrscht. Blumen binden. Charlo atmet jetzt wieder ruhig. Reiß dich zusammen, sagt eine innere Stimme, nichts ist passiert, noch nicht. Niemand kann etwas gegen dich vorbringen. Du kannst noch immer umdrehen, du kannst aussteigen, und das Leben wird wieder seinen gewohnten Lauf nehmen, es wird auf den Tod zugehen. Er schaut immer wieder schnell den Strauß an, seine Gedanken schweifen ab, er ist nur teilweise anwesend. Er ist eine Null, er ist ein Nichts, jetzt will er sich endlich von allem befreien. In Gedanken glaubt er, so einigermaßen zu wissen, wie das alles ablaufen wird. Er hat es ein ums andere Mal durchgedacht. Er wird den Moment beherrschen, er wird die Regie für alles führen, was passieren soll. Es gibt keinen Platz für unvorhergesehene Dinge, er wischt sie eilig beiseite. Er starrt aus dem Fenster, sieht, daß noch immer dichter Schneeregen fällt. Spuren, denkt er und tastet in seinen Taschen. Will sich davon überzeugen, daß er nichts vergessen hat. Das hat er nicht, er hat an alles gedacht, er hat viele Wochen lang nachgedacht. In Gedanken hat er geübt, und einige Male, im Schlaf, hat er vor Angst aufgeschrien.

Der Strauß wächst.

Die Türklingel bimmelt munter in der Stille, er fährt zusammen. Eine Frau kommt herein, sie trägt einen grünen Mantel mit einem schwarzen Pelzkragen, auf ihren Schultern liegen Schneeflocken. Sie wischt sie mit einem beigen Handschuh weg und schaut ihn aus dunkel geschminkten Augen an. Sie sieht mich abschätzend an, überlegt Charlo. Ist sie eine von diesen alten Scharfsichtigen, die alles registrieren? Details, ein Merkmal, die sie dann später beschreiben kann. Aber er hat doch keine besonderen Merkmale, das glaubt er zumindest nicht, er beruhigt sich wieder. Sie beugt sich über einen Eimer, zieht eine Rose heraus, mustert den Stengel mit zusammengekniffenen Augen. Rasch wendet er sein Gesicht ab. Dieses Gesicht, das ihm so groß vorkommt, es scheint nach unten zu hängen, zu wehen wie eine Fahne. Er steht da und schaut hinaus in den Schneeregen. Unter den Laternen ist der besonders deutlich, er fällt dicht, grauweiß und schräg durch die Dunkelheit. Er ist traurig. Wegen des schrecklichen Schicksals, das ihm auferlegt worden ist. Das habe ich nicht verdient, denkt er, ich bin doch ein herzensguter Mensch. Aber Angst essen Seele auf. Er ist dabei, sich selbst zu verlieren. Die junge Frau ist noch immer beschäftigt. Wird die denn nie mehr fertig, denkt er, der Strauß ist groß und schon ziemlich teuer. Er denkt an die Zeit, die vergeht, und hier steht er, exponiert und ausgeliefert. Das hier kann gefährlich für ihn sein. Von jetzt an ist alles gefährlich. Er ist auf diese Angst vorbereitet. Sie ist körperlich, aber er kann sie in Schach halten, wenn er das mit dem Atem schafft.

»So kostet der Strauß jetzt zweihundertfünfzig Kronen«, sagt die Floristin. Sie schaut zu ihm auf, wendet ihren Blick dann aber schnell wieder ab. Sein Unwille macht sie noch immer unsicher. Er nickt und sagt, das ist gut so. »Das sieht schön aus«, fügt er hinzu, ein unbeholfener Versuch von Freundlichkeit. Sie lächelt erleichtert. Es gibt doch etwas Gutes in ihm, denkt sie und ist froh. Ich hätte reden und lächeln sollen, denkt Charlo. Sie bezaubern, denn das kann ich, wenn ich will. Und dann würde sie mich bald wie alle anderen auch vergessen.

»Dauert es lange, bis sie ins Wasser kommen?« fragt sie.

Jetzt klingt ihre Stimme frischer, offener.

Er schweigt und denkt nach. Werden sie überhaupt ins Wasser kommen? Das weiß er nicht. Es ist kurz vor acht Uhr abends, und er weiß, daß der Laden in wenigen Minuten schließen wird. Er muß noch eine Weile warten, ehe er zur Tat schreitet. Bis der Verkehr in den Straßen zum Erliegen kommt. Bis die Leute in die Häuser verschwunden sind und er ungesehen durch die Stadt wandern kann.

»In ein oder zwei Stunden«, sagt er und sieht zu, wie sie die Stengel in feuchtes Papier wickelt. Dann schlägt sie sie in Zellophan ein, es knistert unheilverkündend. Charlo hat sich wieder abgewandt. Als er sich umdreht, sieht er, daß sie den Strauß in eine Art Tüte mit Henkeln schiebt. Auf der Tüte steht deutlich sichtbar in Rot und Blau die Aufschrift »Tinas Blumenladen«. Er zieht seine Brieftasche hervor, um zu bezahlen, seine Finger zittern ein wenig. Die junge Frau weicht seinen Blicken aus und starrt statt dessen die Brieftasche an, die ist zerfetzt und braun. Sie sieht mit jungen, wachen Augen, daß der Reißverschluß defekt ist, er ist abgerissen und das Leder ist verschlissen. Sie sieht den kleinen rotweißen Aufkleber, der ihn als Blutspender ausweist. Er bezahlt, steckt die Brieftasche weg und schenkt ihr ein kleines Lächeln. Sie lächelt zurück, sie sieht, daß die Ecke seines rechten Schneidezahns abgebrochen ist, er hat es nicht geschafft, es reparieren zu lassen. Es läßt sein Lächeln durchaus charmant wirken. Charlo schaut kurz zu der älteren Frau hinüber, die noch wartet. Der Schnee auf ihren Schultern ist geschmolzen, die feuchten Stellen funkeln im Licht. Sie schaut auf die Uhr, hat wenig Zeit, jetzt tritt sie vor den Tresen. Ihre Nase ist spitz und rot in ihrem langen, mageren Gesicht. Tiefe Furchen in den Mundwinkeln, blaue Schatten unter den Augen. Er weiß, daß er sich für immer an dieses Gesicht erinnern wird. Endlich kann er gehen. Die Tür fällt ins Schloß, die Klingel bimmelt. Die Luft draußen kommt ihm seltsam frisch vor. Er geht mit seiner Tüte durch die Straßen. Ist unter den Laternen für einige Sekunden zu sehen, wird von der Dunkelheit verschluckt und dann wieder sichtbar. Die Tüte baumelt an seiner Hand. Soviel Fürsorge hat sie in diesen Strauß gesteckt, soviel Wissen und Erfahrung, und alles ganz ohne Sinn. Die Blumen sind nur eine Eintrittskarte. Um ins Haus zu gelangen.

Und dann weiter in die Küche von Harriet Krohn.

SIE WOHNT IN Hamsund in der Fredboes gate.

Es ist siebzehn Kilometer entfernt. Harriets Haus gehört zu einer unter Denkmalschutz gestellten Ansammlung von Holzbauten aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, es liegt in einer sehr stillen Straße. Niedrige, hübsche Holzhäuser mit schön gerahmten Fenstern. Die meisten, die hier wohnen, sind ältere Menschen, die meisten können über ihre Finanzlage nicht klagen. Im Sommer sind die Fassaden geschmückt mit übervollen Blumenkästen, voller Pelargonien, Kresse und Margeriten. Das Haus liegt einige Minuten vom Bahnhof entfernt, es sind insgesamt zwölf Häuser, auf jeder Straßenseite sechs. Harriet wohnt in Nummer 4. Das Haus ist grün wie Flechten auf den Felsen, die Fensterrahmen und Windbretter am Dach sind gelb. Charlo nähert sich Hamsund. Noch immer fällt dichter Schneeregen, er konzentriert sich gewaltig, um das Auto auf der Straße zu halten, er will nicht im Straßengraben landen, nicht an diesem Abend. Neben ihm auf dem Sitz liegt ein alter Husqvarna-Revolver, er ist nicht geladen. Er soll nur meine Absicht betonen, denkt er, bestimmt macht sie mit, sie wird es nicht wagen, sich zu wehren, sie ist alt. Er hat auch ein Paar schwarze Lederhandschuhe und einen Beutel für die Wertgegenstände, die er vielleicht finden wird. Der Beutel liegt zusammengerollt in seiner Tasche. Charlo fährt über die Europastraße 134, am Fluß entlang, der fließt zu seiner Linken, schwarz und wild. Er weiß, daß es im Fluß von Lachsen nur so wimmelt, aber Angeln hat ihn nie interessiert. Als er daran denkt, erinnert er sich an seine Kindheit. Sein Vater, der immer angeln wollte, während er selbst dabeisaß, sich langweilte und die Angelrute gleichgültig über das Wasser wippen ließ. Angeln war zu langsam für ihn, zu öde. Er hat es nie laut gesagt, das hätte seinen Vater verletzt, er wollte nicht klagen. Früher war ich ein rücksichtsvoller Junge, denkt er. Und warum denke ich jetzt bloß an meinen Vater, der ist doch nicht mehr da, der ist jetzt von allem befreit. Die Leute verschwinden, so wie ich verschwinden werde, und das ist gut so. Das ist wirklich gut, sagt er sich und konzentriert sich auf die Straße. Der Mittelstreifen ist gerade noch zu sehen, der Schneematsch liegt wie ein grauer Brei auf dem Asphalt, die Scheibenwischer mühen sich mit dem feuchten Schnee ab. Aber der Honda läßt ihn nicht im Stich, der Honda ist unübertroffen und zuverlässig. Er hat sich schon im Vorwege einen guten Parkplatz ausgesucht. Das letzte Stück wird er zu Fuß gehen, es sind nur ein paar hundert Meter. In Hamsund gibt es ein stillgelegtes altes Hotel, und auf dessen Hinterhof abgestellte Autos sind von der Straße nicht zu sehen. Er biegt nach rechts ab auf die Landstraße 35, er sieht die Kirche von Hamsund im Flutlicht, er sieht die Grabsteine. Er kommt an einem Opelhändler vorbei, zwei Einkaufszentren, dann rollt er langsam am Bahnhof vorbei, der zu seiner Rechten liegt. Es ist ein sehr schönes Gebäude, es sieht aus wie ein großer Geburtstagskuchen mit Creme und Verzierungen. Er findet es seltsam, daß er jetzt an Kuchen denkt, er findet an diesem Abend alles seltsam, er spielt in einem Film mit. Es herrscht fast kein Verkehr. Die Leute bleiben zu Hause. Dann sieht er das Hotel, das »Fredly« heißt. Ein stattliches weißes Gebäude mit vielen schönen Erkern und schwarzen blinden Fenstern. Er fährt auf den Hinterhof und hält dort an, sein Auto ist hier das einzige. Ein Schild an der Wand gegenüber verkündet, daß unbefugt Parkende abgeschleppt werden, aber er weiß, daß an diesem Abend niemand herkommen wird, bei diesem Schmuddelwetter sitzen alle zu Hause. Dann hört er ein Geräusch. Eine Art Knacken und ein leises Rasseln, er fährt im Auto herum und starrt aus dem Fenster. Kommt da doch jemand? Hat jemand das Auto gesehen? Wieder wird er schrecklich nervös. Ich muß das hier tun, murmelt er in die Dunkelheit. Ich bin nicht ganz ich selbst. Kann nicht irgend jemand mich aufhalten, gibt es eine andere Möglichkeit? Aber es kommt niemand, und es gibt keine andere Möglichkeit. Seine innere Stimme ist dünn, kraftlos. Er schaut zurück auf sein Leben, das ist jämmerlich. Schuld und Verrat, Feigheit. Lug und Trug. Versprechen, die er nicht gehalten hat. Gibt es dort überhaupt etwas Gutes? Inga Lill war gut. Julie ist das Kostbarste, was er besitzt. Er versucht, ruhig zu atmen. Er glaubt, über alles nachgedacht zu haben, aber es ist leicht, etwas zu übersehen, ein Detail, das entscheidend sein und ihn dann schließlich zur Strecke bringen kann. Dieses »zur Strecke bringen« kommt ihm aber trotzdem nicht so beängstigend vor. Es gehört in die Zukunft, und da ist er noch nicht, eigentlich glaubt er nicht an sie. Er lebt im Hier und Jetzt, er tut das, was er tun muß, und die Zeit läuft ihm davon. Das wird er sagen, wenn sie ihn erwischen. Ich mußte das tun, ich sah keinen anderen Ausweg, es ging um mein Leben. Er schaltet den Motor aus. Sitzt im Auto hinter dem stillgelegten Hotel und horcht hinaus in die Dunkelheit. Hört seinen eigenen Atem, er atmet schnell und keuchend. Er sieht auf die Uhr, die Zahlen leuchten grün im dunklen Wageninneren. Er zieht die Blumen aus der Tüte und legt sie sich auf den Schoß. Der Strauß ist schwer und ansonsten eher schlicht, er ist in weißes Papier gewickelt. Was, wenn sie Besuch hat, denkt er, hier kann noch sehr viel schiefgehen. Aber er glaubt nicht, daß Harriet Krohn Besuch hat. Er hat sie beobachtet, ist ihr gefolgt, hat gelauscht, wenn sie mit ihrer besten Freundin im Café saß. Sie ist eine alte, einsame Seele, und bestimmt wird sie nicht sofort die Tür aufmachen. Aber ich bin bewaffnet, denkt er, mit diesen unwiderstehlichen Blumen und einem alten Revolver aus dem Krieg, sie muß tun, was ich ihr sage. Er zieht die Handschuhe an und verläßt das Auto. Schließt ab. Steckt den Revolver in den Hosenbund unter seinem Parka. Horcht wieder hinaus in die Dunkelheit, hört aber nichts, nur seine eigenen Stiefel, die durch den Schneematsch schwappen. Wenn ich nur ins Haus komme, denkt er, als er durch die Dunkelheit geht, ins Haus zu kommen ist das Schwierigste. Alte Leute fürchten sich doch vor so vielen Dingen.

Harriet Krohn geht durch ihr Wohnzimmer.

Die dünnen Knöchel tragen ihr bescheidenes Körpergewicht von neunundvierzig Kilo, die Waden biegen sich wie alte Zweige. Die Adern liegen dicht unter der Haut und sind als knotige Verzweigungen sichtbar, trotz der dicken Strümpfe. Es ist ihr letzter Tag, ihre letzte Stunde auf Erden. Sie hört die Wanduhr ticken. Draußen auf der Straße ist alles still. Sie setzt sich an ihren Wohnzimmertisch und ißt eine Scheibe Brot mit Leberwurst. Sie hat das Brot mit roter Beete belegt, sie achtet sehr auf ihre Ernährung. Zum Brot trinkt sie Tee mit etwas Zucker. Sie nimmt den frischen Geschmack der roten Beete wahr, er vermischt sich mit dem süßen des Tees. Sie unterbricht ihre Mahlzeit für einen Moment. Ein Korn steckt zwischen zwei Backenzähnen fest und scheint sie auseinanderdrücken zu wollen. Sie versucht, einen Nagel zwischen ihre Zähne zu bohren und das Korn zu befreien. Aber es ist unmöglich, ihr Nagel ist zu dick. Sie braucht einen Zahnstocher, will aber zuerst essen und danach aufräumen. Bei ihr liegt nichts herum, alles wird sofort weggeräumt. Sie kaut lange und umständlich, weil das gut für die Verdauung ist, und als sie fertig ist, trägt sie Tasse und Teller in die Küche. Wischt die Krümel ins Spülbecken, füllt die Tasse mit Wasser und Spülmittel. Danach legt sie buntes Konfekt in eine Schale und stellt sie auf den Wohnzimmertisch. Das ist eher als Dekoration gedacht, ihr gefallen die Farben. Es ist zu früh, um schlafen zu gehen. Es ist erst zehn, und sie langweilt sich. Irgendwie muß sie den Abend hinter sich bringen, und im Fernsehen gibt es nichts Interessantes. Sie ist unzufrieden. Nichts, worauf sie sich freuen kann, nichts Erfreuliches steht ihr bevor. Nur das Alter und eine ständig zunehmende Schwäche. Bald wird sie sechsundsiebzig, aber sie kommt sich viel älter vor. Sie ist gut versorgt und besitzt Familiensilber und nicht wenig Geld, aber sie hat keine Kraft, um das alles zu nutzen, weder für sich noch für andere. Sie beschließt, einen Brief zu schreiben. Sie hat einen Neffen in Deutschland, mit dem sie regelmäßig Kontakt hat. Briefeschreiben ist etwas Lustbetontes, und so kann sie die letzte Stunde herumbringen. Sie geht immer um elf Uhr schlafen. Im Wohnzimmer steht eine alte Kommode mit einer ausklappbaren Schreibtischplatte, so daß sie dort einen gemütlichen kleinen Arbeitsplatz hat. Sie schaut aus dem Fenster, sieht den dichten Schneeregen. Im Wohnzimmer ist es warm, sie hat alle Heizkörper voll aufgedreht. Obwohl sie eine schmächtige Frau ist, bewegt sie sich nur schwerfällig. Sie war erst dreizehn Jahre, als bei ihr Gelenkrheumatismus diagnostiziert wurde. Ihr Leben lang hat sie gekämpft, um diese Krankheit in Schach zu halten. Es ist trotzdem ein guter Abend, die Schmerzen könnten viel schlimmer werden als an diesem Abend, dem 7. November. Es gibt Tage, an denen sie einfach nur im Bett liegt und sich bemitleidet. Ihr Schicksal verflucht, das soviel härter ist als das von anderen. Vor Verbitterung wird ihr heiß, sie muß diese Gefühle zu Papier bringen. Sie schaltet die Lampe neben der Kommode ein, die wärmt ihr die linke Wange. Sie sieht den Mann nicht, der die Straße hochkommt, sie hat einen Briefbogen hervorgeholt. Sie sucht ihre Brille, setzt sie auf, setzt den Kugelschreiber aufs Papier. Es ist ein fast andächtiger Moment für Harriet Asta Krohn. Das weiße Papier, unberührt, alles, was sie auf dem Herzen hat. Der Kugelschreiber will in ihrer Hand nicht still liegen, sie zittert vor Anstrengung. Aber sie weiß aus Erfahrung, sowie die Hand auf das Papier auftrifft, kommt sie zur Ruhe. Dann hat sie Kontrolle über ihre Muskeln und eine durchaus brauchbare Handschrift mit feinen, dünnen Schnörkeln. Obwohl sie weiß, daß die Hand wieder zittern wird, wenn der Brief sich dem Ende nähert, weil dann die Schmerzen zu stark werden. Die Wohnzimmeruhr tickt, Harriets Herz schlägt. Noch schlägt es, das Blut strömt durch ihren gebrechlichen Körper, sie ist warm, sie ist satt. Doch dann bemerkt sie wieder das Korn, das zwischen ihren Zähnen drückt. Sie hat vergessen, sich einen Zahnstocher zu holen, und jetzt will sie nicht mehr. Sie denkt, das hat doch Zeit bis nachher.

Charlo steht unten an der Treppe.