Maik Brüggemeyer

DAS DA-DA-DA-SEIN

Roman

Impressum

ISBN 978-3-8412-0311-3

 

Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, September 2011
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2011
© 2011 Maik Brüggemeyer
Die Originalausgabe erschien 2011 bei Aufbau, einer Marke der
Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

 

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Umschlaggestaltung hißmann, heilmann, hamburg/ Gundula Hißmann unter Verwendung eines Motivs von A Hornsby / Getty Images / Flickr

 

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Inhaltsübersicht

Prolog

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig.

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Epilog

 

»Diesen in seinem Woher und Wohin verhüllten, aber an ihm selbst um so unverhüllter erschlossenen Seinscharakter des Daseins, dieses ›Daß es ist‹ nennen wir die Geworfenheit dieses Seienden in sein Da, so zwar, daß es als In-der-Welt-sein das Da ist.«

Martin Heidegger

 

»Was wir Dada nennen, ist ein Narrenspiel aus dem Nichts, in das alle höheren Fragen verwickelt sind; eine Gladiatorengeste; ein Spiel mit den schäbigen Überbleibseln; eine Hinrichtung der posierten Moralität und Fülle.«

Hugo Ball

 

»Da da da – ich lieb dich nicht, du liebst mich nicht.«

Trio

|7|Prolog

For the beginning is assuredly

the end – since we know nothing, pure

and simple, beyond

our own complexities.

William Carlos Williams

Als ich heute Morgen erwachte und in das dunkle Loch des Tages schaute, dachte ich: Es ist alles sinnlos. Ich fragte mich, ob es einen Satz gäbe, der auf diesen ersten Satz des Tages folgen konnte. Ich fragte:

»Wie von hier weiter?«

Eine Stimme in meinem Kopf entgegnete:

»Es ist alles sinnlos.«

Das Weiterdenken läuft nur über die Wiederholung. Das habe ich gelernt.

***

Eine Flucht vorm ersten Satz des Tages. All den ersten Sätzen, die mit »Es ist« beginnen. Ein Abschiedsbrief vom Dach der Welt. An alles, was ist. Für den, der ihn findet. Zufällig. Es ist alles sinnlos. Ich wiederhole mich.

|8|Eins

Neulich sah ich einen Mann, wie er auf dem Bürgersteig vor sich hingaloppierend versuchte, der Geige, die er sich artgerecht zwischen Schulter und Kinn geklemmt hatte, eine Melodie zu entlocken. Wenig später betrat er dasselbe Wartezimmer, in dem auch ich nun schon saß. Ich las in einem Roman, der mir ziemlich auf die Nerven ging, weil der Erzähler sich genötigt sah, alles zu kommentieren und zu erklären, was die Figuren da taten. Woher wollte er das alles denn so genau wissen?

Der Mann legte sein Instrument auf den Tisch, setzte sich auf einen Stuhl schräg gegenüber und linste in meine Richtung.

»Entschuldigen Sie. Lesen Sie auch zwischen den Zeilen?«

»Das ist bei diesem Buch leider kaum möglich.«

Er stutzte, schaute mich eindringlich an.

»Ihre Antwort bringt mich direkt nach Kalifornien.«

»Na, Sie kommen aber rum … in Gedanken.«

»Ich habe da mal gelebt. Ein paar Jahre. Mit einer Frau. Die konnte auch nicht zwischen den Zeilen lesen.«

»Aha. Wie lange waren Sie denn da?«

»Acht Jahre.«

Er schaute vor sich hin auf den Boden, aber irgendwie ins Leere. Ich schaute verlegen weg, dann fasziniert doch wieder hin. Da hatte er den Kopf gehoben. Er sprach Richtung Decke.

»Die Medikamente schlagen auf die Nieren.«

Dann stand er auf, lief schnurstracks aus dem Zimmer und vergaß seine Geige.

***

|9|Tja, so ist das, habe ich noch gedacht, wenn die Welt nicht nach der eigenen Geige tanzt, kann einem das ganz schön auf die Nieren schlagen – besonders, wenn man zwischen den Zeilen lesen kann.

***

Ich weiß selbst nicht, ob das eine traurige oder eine komische Geschichte ist (jeder, dem ich sie erzähle, lacht jedenfalls). Ja, ich weiß nicht einmal, wie viel von dieser Geschichte eigentlich wirklich passiert ist, weil ich kaum unterscheiden kann zwischen der Realität, den unterbelichteten Bildern aus der Dunkelkammer meines Kopfes und der so genannten Fiktion, die manchmal einfach eine schöne Illusion, manchmal die Wahrheit und oft eine bloße Lüge ist. Ich muss alles ordnen. Ich muss mich wiederholen. Es ist sonst alles sinnlos.

***

Die Begegnung mit dem Geigenmann fand jedenfalls im Wartezimmer meiner Therapeutin statt. Und warum ich bei einer Therapeutin bin, können Sie sich vermutlich schon denken.

|10|Zwei

Mein Problem ist folgendes: Zwei Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, die Frau getroffen zu haben, die ich heiraten wollte. Mit fünfzehn und mit dreißig. Das klingt natürlich erst mal nach einer herrlichen Symmetrie und gar nicht nach einem Problem.

Aber es geht schon los, wenn ich Ihnen erzähle, dass ich tatsächlich schon einmal verheiratet war. Aus Versehen. Mit Mitte zwanzig. Gleich nach dem Studium. Da war ich gerade aus Köln weggezogen. Sie hieß Aurelie Sosie und sah ziemlich genauso aus wie die erste Frau, die ich hatte heiraten wollen. Aber auf die kommen wir später. Das wird sonst alles zu kompliziert.

Das eigentliche Problem betrifft die zweite Frau, die ich heiraten wollte. Shirley Novoletsky. Ich lernte sie durch eine Freundin in einer Münchner Bar kennen. Sie hatte lange schwarze Haare, einen bleichen Teint und ein Lachen, das man vielleicht am besten als unterkühlt beschreiben kann. Wenn überhaupt. Ich meine, wenn es überhaupt ein Lachen war.

Als ich sie zum ersten Mal sah, hatte ich das Gefühl, ich hätte von einem Moment auf den anderen den Text für den Rest meines Lebens vergessen. Alles hatte sich verändert – das Set, das Drehbuch, die Hauptdarsteller. Und nach vier Jahren Beziehung und drei Jahren Zusammenwohnen sah alles nach einem Happy End aus. Ich hatte bereits Verlobungsringe gekauft und wartete eigentlich nur noch auf den richtigen Augenblick. Der richtige Augenblick kommt natürlich nie. Deshalb muss man ihn selbst |11|schaffen. So heißt es doch immer in diesen Lebensratgebern.

***

Shirley ging wie jeden Morgen um halb neun aus dem Haus. Normalerweise schlief ich um diese Uhrzeit noch. Aber an jenem Tag stand ich zeitig auf, aß eine Schale Müsli und wollte mit der Recherche beginnen, um endlich meinen Antragsplan in die Tat umzusetzen. Doch mein Laptop war verschwunden. Auf dem Schreibtisch lag ein Zettel.

»Guten Morgen, Liebster. Musste deinen Rechner mitnehmen, meiner hakt irgendwie, und ich halte doch heute meinen Vortrag. Bis später, Shirl.«

Ihr Vortrag, den hatte ich ganz vergessen. Bei einer Messe für Recruiting oder Personalmanagement oder sowas. Davon hatte sie irgendwann erzählt. Jedenfalls musste ich nun Flexibilität zeigen, schnell und spontan meine Pläne ändern.

Ich beschloss, in die Stadt zu fahren. Um neun Uhr dreißig stand ich im Novemberniesel vor der Filiale einer Buchladenkette am Stachus. Nur um festzustellen, dass diese erst eine halbe Stunde später öffnete. Das brachte meinen gesamten Zeitplan durcheinander. Die Beine wurden mir unruhig, und ich lief die Fußgängerzone hinauf. Am Rathaus sah ich einen Buchhändler gerade einige mit Folie abgedeckte Tische vor die Ladentür schaffen. Das war meine Chance.

»Sagen Sie, haben Sie Kochbücher?«

»Äh ja, wir öffnen allerdings erst in einer Viertelstunde.«

»Aber es ist eilig. Sehr eilig.«

»Na gut, kommen Sie mit rein.«

Ich folgte ihm, und er zeigte mir ein kleines Regal in einer dunklen Ecke.

»Bitte sehr.«

Dort standen vielleicht fünfzig verschiedene Bücher, Hefte und Magazine mit Rezepten aus aller Herren Länder. |12|Ich war ziemlich überfordert. Der Schweiß stand mir auf der Stirn. Ich hätte den Händler um Rat fragen können, aber – ehrlich gesagt – hatte ich nicht vor, ein Kochbuch zu erwerben. Viel zu teuer, ich musste ja auch noch Zutaten kaufen. Alles, was ich wollte, war ein irgendwie originelles und trotzdem einfaches Rezept.

Ich zog ein Buch von Alfred Biolek aus dem Regal. Den kannte ich, der schien mir vertrauenerweckend. Ich hatte noch nie jemanden in seiner Kochsendung maulen sehen. Zettel und Stift einzustecken, hatte ich dummerweise vergessen. Ein Foto mit dem Mobiltelefon wäre sicher möglich gewesen. Ich hätte den Moment abwarten müssen, in dem der Händler nicht hinsah. Doch jetzt, wo ich in seine Richtung blickte, schaute er natürlich zurück.

»Finden Sie, was Sie suchen?«

»Naja, schon, bestimmt. Ich brauch nur noch ein bisschen Zeit.«

»Ich dachte, Sie wären in Eile?«

»Auch, ja, auch. In Eile. Es ist … ich habe allerdings eingeplant, dass ich hier ein bisschen länger brauche.«

Ich blätterte durch das Bio-Buch. Spargelzeit war gerade nicht, oder? Fisch? Wenn überhaupt, dann nur als Filet. Ohne Kopf jedenfalls. Oder Lamm? Zu langes Rezept, schwer zu merken. Arabisches Huhn? Das sah kompliziert aus. Also vielleicht Möhren-Ingwer-Honig-Suppe. Aber war das romantisch genug? Mit dem Honig war es einfach, der bedeutete das Süße im Leben, die Blumen und die Bienen. Na ja, und Möhren und Ingwer könnten symbolisch fürs Wurzelnschlagen stehen. Darum ging es ja. Beziehungsweise, das war natürlich zu altmodisch gedacht. Der Baum und die Wurzel zeichnen ein trauriges Bild des Denkens, das unaufhörlich, ausgehend von einer höheren Einheit, einem Zentrum oder Segment, das Viele imitiert. So ging’s natürlich nicht! Aber der Ingwer war ja auch eine Knolle, hatte also eine rhizomatische Struktur. Da hätte nicht mal eine poststrukturalistische Feministin einen Einwand gehabt. |13|Alles deutete auf eine moderne, von Machtstrukturen freie Ehe hin.

Ich versuchte, das Rezept zu memorieren: Fünfhundert Gramm Möhren in feinen Scheiben, eine Stange Staudensellerie, zwei Stück Ingwer, walnussgroß, ein Esslöffel Honig, dreiviertel Liter Gemüsebrühe – mehr konnte ich in der Aufregung nicht behalten, der Rest müsste Pi mal Daumen funktionieren.

Es war jetzt zehn Uhr durch, und niemand betrat das Geschäft, um den Buchhändler auch nur für einen Moment abzulenken, damit ich den Laden ohne Kauf verlassen konnte. Andererseits war diese Möhren-Ingwer-Honig-Suppe in der Anschaffung nicht allzu teuer. Ein Alibi-Taschenbuch konnte ich mir leisten. Ich entschied mich für Die Stunde der wahren Empfindung und verließ den Laden mit dem Roman in der Tasche und Möhren, Sellerie, Ingwer und Gemüsebrühe im Kopf.

***

Um vierzehn Uhr köchelte tatsächlich etwas auf unserem Gasherd, das einer Möhren-Ingwer-Honig-Suppe zumindest der Farbe und Konsistenz nach ähnelte. Das konnte jetzt richtig durchziehen – ich hatte mal gehört, dass das beim Suppekochen oft von Vorteil wäre.

Dazu hatte ich Vollkornbaguette, Antipasti und Weißwein besorgt. Nun hieß es warten. Noch vier Mal suchte ich den Tengelmann auf. Für Kerzen, für Servietten, für Mineralwasser, für neue Streichhölzer. Außerdem fischte ich zur Vorbereitung Jane Austens Persuasion aus dem Regal, um mit zitternden Händen Captain Frederic Wentworths Brief an Anne Elliot zu lesen. Bis mir aufging, dass die dann ja abgelehnt hatte. Warum kam mir in diesem Moment kein Beispiel für einen gelungenen Antrag in den Sinn? Von Shakespeare bis Tschechow – irgendwas war immer falsch. Italo Svevo? Sie machen Witze.

Als ich nach der Suppe schaute, stellte ich fest, dass sie |14|etwa zur Hälfte in recht fester Konsistenz und dunkler Färbung eine Verbindung mit dem Topf eingegangen war. Ich schöpfte den noch intakten Teil meiner Kreation in ein anderes Gefäß, verlängerte das Ganze mit Weißwein, kochte es kurz auf und stellte die etwas dünne Mischung in den Kühlschrank. Ab halb sieben wärmte ich sie dann wieder auf. Shirley musste bald heimkommen. Also Kerzen an.

Eine halbe Stunde später drehte ich die Gasflamme auf die kleinste Stufe, legte mich aufs Wohnzimmersofa und schlief sofort vor Erschöpfung ein.

Erst Shirleys vor dem Schloss klimpernde Schlüssel weckten mich. Es war kurz vor neun.

»Hallo. Ich bin wieder da-ha. Hat etwas länger gedauert. Wir haben noch was gegessen zusammen … Was ist denn hier los? Erwartest du wen?«

»Äh, nein, ich dachte, ich koch mal.«

Sie schaute mich skeptisch an.

»Du?«

Ich rappelte mich auf, ging in die Küche, um nach der Suppe zu sehen. Zweifellos gut, dass Shirley schon gegessen hatte.

»Also, ich bin satt. Aber ein Glas Wein trink ich gern.«

Ich hatte die Musik vergessen! Konnte ich jetzt noch, ohne dass es auffiel, etwas Romantisches …? Das würde doch den Grund für die Inszenierung allzu unsubtil herausposaunen – beziehungsweise heraustrompeten, denn ich hatte eigentlich an Chet Baker gedacht. Immerhin die Kerzen brannten noch auf Halbmast.

Shirley saß am gedeckten Tisch und mümmelte an einem Stück Brot. Ich goss ihr ein Glas Weißwein ein.

»War ein echt interessanter Tag. Tut gut, ab und zu mal vor Leute zu treten. Dieser Adrenalinschub – also, man ist gleich ein ganz anderer Mensch.«

»Mhm.«

»Und was hast du so gemacht. Bist du weitergekommen mit deinem … deinem … Projekt?«

|15|»Ja, ich denke, ich bin auf dem richtigen Weg.«

»Willst du mir nicht mal zeigen, wie weit du schon bist. Also mit dem Konzept.«

»Am Wochenende vielleicht … Also, warum ich das hier eigentlich alles …«

»Du hast dich ganz schön ins Zeug gelegt. Mit Tischdecken und so. Welch köstliche Speise ist mir denn entgangen?«

»Ach, es war nur … nur eine Kleinigkeit.«

»Irgendwas ist doch nicht in Ordnung, oder? Brauchst du Geld?«

»Nein. Nein! Weswegen ich eigentlich – also, es sollte einfach eine schöne Atmosphäre sein, weil ich dir …«

»Wir sollten kurz mal frische Luft reinlassen. Es riecht ein bisschen angekokelt.« Sie ging zum Fenster. »Aber red ruhig weiter.«

Ich räusperte mich – vielleicht mit ein bisschen zu viel Emphase.

»Glücklicherweise bist du nicht Anne, und unglücklicherweise habe ich nicht die Worte von Cap…«

»Entschuldige, wenn ich dich unterbreche, aber mir kommt diese ganze Situation gerade ein bisschen seltsam vor. Ich fühl mich irgendwie unwohl.«

»Seltsam? Also, nein, keine Angst. Es ist alles in Ordnung. Ich wollte dich nur fragen, willst du …«

»Sei mir nicht böse, aber ich bin echt geschafft. Vielleicht ist das der Grund. Ich geh schon mal ins Bett. Wir können ja morgen Abend weiterreden.«

Dann stand sie auf und ging ostentativ gähnend Richtung Schlafzimmer. Ich blieb sitzen, ließ die Ringe, die ich unter dem Tisch in den feuchten Händen gehalten hatte, zurück in meine Jacketttasche fallen und leerte den gekühlten Weißwein – und dann den ungekühlten.

Ich versuchte mich mit dem Gedanken aufzumuntern, dass Pierre Curie einst auch etliche Versuche hatte unternehmen müssen, bis seine Marie den Antrag angenommen |16|hatte. Andererseits war er Atomphysiker gewesen und gehörte somit einer Profession an, die es gewohnt ist, mit großen Zeiträumen und winzigen Wahrscheinlichkeiten umzugehen. Und er lebte in einer ganz anderen Zeit – ich meine, er wurde von einer Droschke überfahren!

***

Von diesem Abend an hatte Shirley sich immer weiter von mir entfernt. Am nächsten Tag kam sie wieder spät nach Hause, dann zwei, drei Mal überhaupt nicht. Und sie redete kaum noch mit mir. Eine solche Reaktion hätte ich in dem Moment, als ich die Ringe kaufte, nie für möglich gehalten. Aber man darf sich der Welt, in der man lebt, nie zu sicher sein. Denn erstens bewohnt man sie am Ende ja allein und niemand sonst kann die Gesetze und Gewissheiten, die dort herrschen, nachvollziehen, und zweitens kommt mit Sicherheit irgendwann jemand aus einer anderen Galaxie und zerstört sie. So wie in Mars Attacks.

Etwa zwei Wochen nach meinem misslungenen Antrag, es war ein Freitagabend, kam ich vom Einkaufen nach Hause, und Shirley war weg. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel. »Bin übers Wochenende zu meinen Eltern gefahren. Shirl.« Spätestens da wusste ich, dass ich ein Problem hatte. Denn wer fährt schon freiwillig nach Brandenburg!

Wie groß dieses Problem wirklich war, konnte ich in diesem Moment natürlich noch nicht ahnen. Aber mir fiel wieder ein, was Shirley gesagt hatte, nachdem wir uns den letzten Jarmusch im Kino angeschaut hatten: »Männer werden mit dem Alter immer einsamer.«

War das ein versteckter Hinweis gewesen? Sofort flackerten Bilder durch meinen Kopf: Ich in einer einsamen Sozialwohnung auf dem Boden liegend – nach einem Herzinfarkt oder Schlaganfall, vielleicht schon tot. Würde mich jemand finden? Mich überkam – immer noch auf Shirleys Zettel starrend – eine große Angst vor der Einsamkeit. Nein, Einsamkeit klingt zu romantisch, dieses Gefühl hatte nichts |17|Malerisches, Caspardavidfriedrichhaftes. Vereinsamung ist das bessere Wort. Isolation.

Shirley war meine Verbindung zur Welt gewesen, so wie Barbara Hershey für Max von Sydow in Hannah And Her Sisters. Sie war das Periskop, durch das das Draußen zumindest in Sichtweite blieb. Sie gab mir das Gefühl, ein Teil davon sein zu können, wenn ich nur wollte.

Nach der Trennung von Aurelie überkam mich diese Angst zum ersten Mal. Natürlich war ich in den vier Jahren, bis ich Shirley kennenlernte, nicht die ganze Zeit allein gewesen, doch jedes Mädchen, das ich kennenlernte, schluchzte mir früher oder später ein »Ich bin beziehungsunfähig« in die sich anbahnende Zweisamkeit. Das gehörte in jenen Jahren anscheinend zum guten Ton. Ein damals enger Freund von mir meinte mal, für mich müsste man eigentlich eine neue Form der Hure erfinden: die Anti-Domina. Wenn man zu ihr ins Zimmer ginge, setzte sie sich auf die Bettkante und erklärte unter hysterischen Heulkrämpfen, warum sie jetzt keinen Sex haben könnte.

Roger Eberts beschreibt in The Little Book of Hollywood Cliches diese archetypische Szene: Eine Frau beschließt aus einer Enttäuschung heraus, sich nicht mehr zu verlieben. Als sie eines Tages aus dem Supermarkt kommt, platzt ihr die Einkaufstüte, ein Mann kommt ihr zu Hilfe und sammelt nicht nur all die heruntergepurzelten Orangen und Birnen ein, sondern hilft ihr auch, das Chaos in ihrem Leben in den Griff zu bekommen. Ich habe mich immer mit dem Mann in dieser Szene identifiziert – dabei war ich wohl eher die Frau.

Die Jahre nach der Scheidung wurden die dunkelsten meines Lebens – die ganze Welt schien beziehungsunfähig zu sein. Wahrscheinlich steckte ich in einer tiefen Depression. Und während ich nun in der Küche auf den Zettel starrte, schien sich dieser vertraute Schatten erneut über mein Herz und meine Gedanken zu legen.

Ich konnte den Abend also unmöglich allein zu Hause |18|verbringen. Andererseits hatte ich, wohlwollend betrachtet, höchstens noch vier Euro in der Tasche. Und neues Geld war frühestens am Montag auf dem Konto. Die einzige Möglichkeit war daher das Flametti. Dort arbeitete mein Freund John damals als Koch und manchmal auch als Drogenkurier. Der würde mich kostenlos durch den Abend bringen – oder zumindest konnte ich anschreiben.

John ist schon viele Jahre in München, denn er ist Vater einer während der Love Parade mit einer Bajuwarin gezeugten Tochter. Wobei ich nicht weiß, ob der Akt wirklich auf diesem Event in Berlin oder sonstwo vonstattenging oder ob es sich nur um eine Metapher handelt. Zumindest singt er in dem Song, der den Namen seiner Tochter trägt:

 

Got laid at the Love Parade

Got laid at the Love Parade

Well, that was my perfect fate

 

John schlägt sich seitdem in München mit Gelegenheitsjobs durch. Er ist zwar der Sohn reicher Eltern, aber das vorzeitig ausgezahlte Erbe hat er teils bei Immobilienspekulationen verloren und teils verprasst. Seine Vorfahren haben in Florida jede Menge Geld mit Obstanbau gemacht. Zudem ist er der Großneffe eines legendären, an einer Überdosis Heroin verstorbenen, weißen Bluessängers.

John scheint in jeder Hinsicht dessen Erbe angetreten zu haben. Er säuft, nimmt alle möglichen Substanzen in sich auf, schreibt Songs mit wirren Texten und führt sie, wenn man ihn dazu überreden kann, zugedröhnt auf. Er ist auch ein ziemlich guter Geschichtenerzähler. Die meisten seiner absurden Stories handeln von anderen Kindern reicher Eltern, von Drogen und von obskuren oder nach ihrem Ableben berühmt gewordenen Musikern, die er alle noch zu Lebzeiten getroffen haben will. Was teilweise unmöglich scheint, denn er ist zwei Jahre jünger als ich. Ich gebe trotzdem immer vor, ihm das alles zu glauben, damit er weitererzählt.

|19|Manchmal kommen tatsächlich einige der Typen, von denen ich sicher war, sie seien schon lange tot oder hätten gar nie gelebt, in unsere Stadt, und wenn sie irgendwann spätabends an der Theke des Flametti oder irgendeines anderen Ladens John begegnen, fallen sie ihm um den Hals, als hätten sie einen ewig vermissten Freund wiedergefunden. Es hat mich manches Mal erstaunt, wie er es schafft, die Realität mit seinen Phantasien abzugleichen. Mir gelingt so etwas nie.