Andrea Brackmann

EXTREM BEGABT

Die Persönlichkeitsstruktur von Höchstbegabten und Genies

Zu diesem Buch

Statistisch trifft es etwa eine Person von Tausend: Sie oder er ist höchstbegabt und weist einen Intelligenzquotienten jenseits von 145 auf. Was zeichnet extrem begabte Menschen aus? Was unterscheidet sie von »normal Hochbegabten«? Gibt es übereinstimmende Persönlichkeitsstrukturen unter den verschiedenen Begabungsformen? Was bedeutet es für den Einzelnen, mit einem »überstimulierten Nervensystem« zu leben? Andrea Brackmann nähert sich dem Thema »Genie und Persönlichkeitsstruktur« über die internationale Forschung und zahlreiche biographische Skizzen Höchstbegabter – quer durch die Jahrhunderte und diverse Tätigkeitsbereiche. Sie kommt zu Schlussfolgerungen, die auch normal Begabte interessieren werden.

Die Reihe »Leben Lernen« stellt auf wissenschaftlicher Grundlage Ansätze und Erfahrungen moderner Psychotherapien und Beratungsformen vor; sie wendet sich an die Fachleute aus den helfenden Berufen, an psychologisch Interessierte und an alle nach Lösung ihrer Probleme Suchenden.

Impressum

Leben Lernen 311

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Printausgabe: ISBN 978-3-608-89258-1

E-Book: ISBN 978-3-608-11622-9

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20464-3

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Wann werde ich aufhören zu staunen
und beginnen zu begreifen?

Galileo Galilei

Für Dorrit

Einleitung

Das Konzept Hochbegabung scheint weitaus vielschichtiger zu sein als bislang angenommen. Zum einen rücken in jüngerer Zeit unterschiedliche Ausprägungsgrade in die nähere Betrachtung, etwa moderate und extreme Hochbegabung. Zum anderen gibt es verschiedene Formen wie intellektuelle, künstlerische, sozial-emotionale oder psychomotorische Hochbegabung.

Welche Merkmale sind kennzeichnend für Höchstbegabte? Welche Unterschiede gibt es zwischen moderat Hochbegabten und extrem Hochbegabten? Findet man Gemeinsamkeiten zwischen naturwissenschaftlich, künstlerisch oder sportlich Höchstbegabten? Die internationale Forschung ist hierzu noch spärlich und fehlt im deutschsprachigen Raum fast völlig. Es bietet sich daher an, die vielfältige biografische und wissenschaftshistorische Literatur zu bekannten genialen Persönlichkeiten zu untersuchen. Nicht alle Höchstbegabten sind im engeren Sinne Genies, aber die meisten Genies sind offenbar intellektuell höchstbegabt. Dies kann bei historischen Persönlichkeiten in der Regel nicht an Intelligenztest-Ergebnissen belegt werden, lässt sich jedoch aus zahlreichen Fakten schließen. Dazu gehören etwa die extrem frühe Manifestation außergewöhnlicher Begabung, eine stark beschleunigte schulische und akademische Laufbahn, extrem breit gefächerte Bildung, besondere Begabungen auf mehreren Gebieten, herausragende Produktivität sowie die Zuerkennung bedeutender Auszeichnungen.

Was sind mögliche Anzeichen einer Höchstbegabung? Woher rühren ihr enormer Antrieb und ihre Schaffenskraft? Wie gelingt es ihnen, ihre Potenziale voll auszuschöpfen? Und wie deutlich sind Übereinstimmungen mit Ergebnissen psychologischer Forschung? An Extremformen lassen sich Grundmechanismen menschlicher Begabung besonders gut beobachten. Diese finden sich in vieler Hinsicht natürlich auch bei ganz normalen Hochbegabten wieder. Es können sich daher wichtige neue Impulse sowohl für den Einzelnen als auch für Fördermaßnahmen und Forschungsvorhaben ergeben.

Die Begriffe »Genie und Wahnsinn« werden noch immer oft in einem Atemzug genannt, obwohl ein systematischer Zusammenhang von Hochbegabung und psychischer Störung längst als widerlegt gilt. Andererseits kommen neuere internationale Studien zu dem Schluss, Hochbegabte seien oftmals sensibler, instabiler und gesundheitlich anfälliger als die Mehrheit, insbesondere wenn es sich um extrem hochbegabte Individuen handele. Wie passen diese widersprüchlichen Befunde zusammen?

Albert Einstein ist ein extrem schüchterner und wortkarger Junge, entwickelt sich jedoch später zu einem glänzenden Redner und verfasst zahllose sprachgewaltige Schriften. Vincent van Gogh gilt als psychisch labil und extrem feinfühlig, andererseits arbeitet er längere Zeit tatkräftig im Bergbau mit. Marie Curie wird als scheu und introvertiert beschrieben, fährt jedoch im Ersten Weltkrieg mit selbstgebauten Röntgenwagen an die Front, um Verwundeten zu helfen. Alexander von Humboldt ist als Kind kränklich und sensibel, fühlt sich aber später »wie von tausend Säuen getrieben«, seine abenteuerlichen Forschungsreisen um die halbe Welt durchzuführen. Lise Meitner kennt man als rational denkende und erfolgreiche Naturwissenschaftlerin, zugleich leidet sie unter Stimmungsschwankungen, sie braucht Musik und lange Aufenthalte in freier Natur wie Medizin.

Sensibilität und Risikobereitschaft, große Visionen und Selbstzweifel, Schüchternheit und Rebellion: Tatsächlich scheinen es gerade die Widersprüche zu sein, welche die Persönlichkeit von Höchstbegabten und Genies ausmachen. Dem möchte ich in diesem Buch näher auf den Grund gehen.

Kapitel I

Stufen der Hochbegabung

1 IQ 130 »oder mehr«

Ab einem Intelligenzquotienten von 130 Punkten gilt man als hochbegabt. Dies betrifft zwei bis drei Prozent der Bevölkerung. Bislang scheint es, besonders im deutschsprachigen Raum, weitgehend unerheblich, ob das Ergebnis einer Person leicht, weit oder extrem weit über diesem Wert liegt. Vereinzelt findet man in neuerer Zeit in Fachportalen den Begriff »Höchstbegabung«. Damit sind Werte gemeint, die jenseits eines IQ von 145 Punkten liegen. Webb (2015) spricht von »außerordentlich hochbegabten Individuen«, die zu den obersten 0,1 – 0,2 % gehören. Weitere Differenzierungen erfolgen meist nicht, geschweige denn Erläuterungen, ob Höchstbegabte sich von Hochbegabten unterscheiden, und wenn ja, in welcher Weise.

Lange war es unter Psychologen üblich, Eltern lediglich mitzuteilen, ihr Kind habe einen IQ von »über 130« Punkten und zähle damit zu den Hochbegabten. Erwachsene erhalten von der Hochbegabtenvereinigung Mensa e.V. ebenfalls in der Regel kein detailliertes Ergebnis ihres Intelligenztests, sondern nur die Angabe, dass sie das Aufnahmekriterium, nämlich einen IQ von mindestens 130, erfüllen. In Forschung und psychologischer Literatur findet man bis heute oft nur die Formulierung »130 oder mehr«.

Eine Vielzahl gängiger Intelligenztests misst überhaupt nur bis 145 Punkten (z. B. IST-R, APM, MHBT, AID), manche nur bis 130 (z. B. PSB-Horn). Die Neufassung der Wechsler-Adult-Intelligence-Scale WAIS-V (früher: Hamburg-Wechsler-Intelligenztests für Erwachsene) ist der einzige Test für Erwachsene, der bis 160 misst, jedoch erst seit dem Jahr 2013. Der Berliner Intelligenzstrukturtest (BIS-HB) und der Münchener Hochbegabungsbatterietest (MHBT-P) für hochbegabte Kinder und Jugendliche differenzieren zwar genauer im oberen Bereich, finden aber in der Praxis selten Anwendung. Auch der WISC-V für Kinder und der K-ABC gehören zu den wenigen Verfahren, die Werte über 145 IQ-Punkten erfassen, was allerdings bei jüngeren Kindern bis ca. zwölf Jahren sehr viel häufiger erfolgt als bei älteren Kindern oder Jugendlichen. Für sie sind die Obergrenzen der Skalen nicht hoch genug; hier spricht man vom sogenannten ›Deckeneffekt‹.

Intelligenzwerte gelten in der Bevölkerung statistisch gesehen als normal verteilt, das heißt, die Mehrheit hat einen mittleren IQ zwischen 90 und 110 Punkten, eine Minderheit hat extrem niedrige (unter 80) oder extrem hohe Werte (über 130). Die Verteilung wird demnach als Glockenkurve abgebildet (Gauss’sche Normalverteilung). Auf dieser Abbildung werden IQ-Werte über 145 grundsätzlich nicht angezeigt, beinahe so, als würden sie gar nicht existieren. Wenn jemand schon derart schlau ist, so die landläufige, aber auch in Fachkreisen verbreitete Meinung, kommt es nicht darauf an, ob er ein paar Punkte mehr oder weniger hat.

2 Außerordentlich hochbegabt?

In den USA und Großbritannien spricht man hingegen schon länger von ›außerordentlich‹ oder ›extrem‹ hochbegabten Individuen. Die Rede ist von IQ-Bereichen zwischen 145 und 160 Punkten oder sogar darüber. Laut Statistik hat eine von tausend Personen einen IQ von 145 und eine von rund dreißigtausend einen IQ von 160. Bei Jacobsen (1999) ist von außergewöhnlicher Hochbegabung bei 145 bis 180 Punkten die Rede. Während man die Besonderheiten Hochbegabter mittlerweile mehr oder weniger wohlwollend toleriert, werden jene von Höchstbegabten hierzulande weitgehend ausgeblendet. Das Konzept außerordentlicher Hochbegabung ist zwar seit Jahrzehnten bekannt, wird aber kaum näher untersucht.

Einer der möglichen Gründe könnten gewisse Denkverbote sein, denen vermutlich gewisse Berührungsängste zugrunde liegen. Der Reflex, auf Andersartige mit Misstrauen und Ausgrenzung zu reagieren, ist tief verankert und zunächst schlicht menschlich. Oft bewirken aber genaueres Nachdenken und Mitgefühl eine Modulation dieses Reflexes, besonders wenn es sich um schwächere und hilfsbedürftige Individuen handelt. Sind die Andersartigen jedoch extrem intelligent, schlägt das Mitgefühl schnell in Spott und Häme um. »Ihr Kind hat Probleme in der Schule? Na, dann ist es bestimmt hochbegabt!« Extrem begabte Charaktere, die in populären Serien auftauchen, etwa Sheldon Cooper in The Big Bang Theory oder die moderne Variante von Sherlock Holmes in Sherlock, befeuern das Bild vom faszinierenden, aber sozial gestörten Sonderling. Meine Vermutung ist, dass man sich durch die Anwesenheit extrem intelligenter Personen oft verunsichert, vielleicht auch schneller von ihnen durchschaut oder an eigene brachliegende Potenziale erinnert fühlt. Genies werden bewundert und gefeiert, solange sie hoch oben auf einem Podest stehen, sei es in Geschichtsbüchern, bei Nobelpreisverleihungen oder bei Wettbewerben. Wenn sie einem hingegen am Arbeitsplatz begegnen, neben einem auf der Schulbank sitzen oder gar mit am Familientisch, sieht die Sache etwas anders aus. Allerdings werden selbst berühmte Genies oft mit großer Ambivalenz betrachtet: Marie Curie wird als Jahrhundertwissenschaftlerin gefeiert, aber auch als überehrgeizige, kühle Emanze geschmäht. Albert Einstein wird zugleich als Weltgewissen, Kommunist und Kriegstreiber bezeichnet. Bei Vincent van Gogh reichen die Etikettierungen vom überspannten Wahnsinnigen bis zum rationalen Genie. Jacobsen (1999) schlussfolgert: »Die heutige Welt ist auf Effizienz, schnelle Labels, schnelle Ergebnisse, klare Zuordnungen und demokratisches Gleichsein ausgerichtet (…). Die Gesellschaft hegt eine gewisse Hassliebe zu Genies, nach dem Motto: Wir lieben deine einzigartigen Fähigkeiten und deine Werke, aber bitte hör auf, so anders zu sein (…). Genies gehen immer krumme, steinige Wege, ihr Leben ist immer paradox.« Weiter schreibt sie: »Exzellenz hat immer auch mit Authentizität zu tun, und authentisch zu leben ist immer ein Prozess, der mit Risiken, Rückschlägen und Selbstzweifeln einhergeht (…). Es ist schwer, stark zu bleiben und Widerstand zu leisten, wenn die Gesellschaft versucht zu löschen oder zu heilen, was eigentlich kultiviert und honoriert werden sollte.« (S. 33, Übers. v. d. Verf.)

Es gibt jedoch auch ganz pragmatische Gründe, welche gegen die Erforschung extremer Begabungen sprechen: Wollte man im Intelligenzbereich über 130 Punkten verlässliche Ergebnisse erzielen, müsste man die Normierung von Tests mit zehn- oder gar hunderttausenden Personen durchführen. Dies würde einen erheblichen Aufwand an Zeit und Kosten verursachen. Üblich für Testnormierungen sind jedoch Stichprobengrößen von zwei- bis dreitausend Personen. Daher liegen die Obergrenzen messbarer Werte in der Regel bei 145 Punkten. Hier spricht die Psychologie vom bereits erwähnten ›Deckeneffekt‹: Intelligenzmessungen werden im oberen Bereich immer unzuverlässiger und undifferenzierter. Wenn eine Person alle Aufgaben eines Tests lösen kann, erfährt man nicht, ob und wie viele weitere sie noch hätte lösen können. Für Höchstbegabte sind die Decken der gängigen Tests schlichtweg nicht hoch genug. Wer zudem in einem mehrteiligen Test in einem Bereich einen Fehler macht, im anderen Teil aber unterfordert ist und auch noch schwierigere Fragen beantworten könnte, erhält zwar Abzug für den Fehler, profitiert aber nicht von der Stärke im anderen Bereich. »Moderne Intelligenztests, wie der Stanford-Binet oder die Tests der Wechsler-Reihe, tun sich schwer damit, die Fähigkeiten von außerordentlich hochbegabten Kindern differenziert zu erfassen, was dazu führt, dass die Bandbreite der oberen IQ-Werte stark eingeschränkt ist. Bei älteren Testversionen, wie zum Beispiel dem Stanford-Binet Form L-M, konnten sogar IQ-Werte von über 200 erreicht werden. Bei modernen Tests wurden solche ›Ausreißer‹ statistisch in eine Normalverteilungskurve gezwungen, wodurch IQ-Werte über 140 nur noch selten gemessen werden, obwohl das gemessene Leistungsniveau bei früheren Tests Werte von 160 oder mehr ergeben hätte. Aus diesem Grund verwenden manche erfahrenen Fachpersonen nach wie vor die älteren Testversionen, um eine genauere und differenziertere Darstellung der intellektuellen Leistungen zu erhalten und festzustellen, wie stark sie sich von denen der Allgemeinbevölkerung unterscheiden.« (Webb 2015, S. 315)

Die Werte der Wechsler-Skalen sind mit den deutschsprachigen identisch, die der Stanford-Binet-Skala weichen nur geringfügig ab. Somit sind beide, entgegen der gängigen Meinung, weitgehend mit hiesigen Skalen vergleichbar.

Weitere Ursachen dafür, dass Extrembegabte so selten identifiziert werden, können auch in ihren besonderen Persönlichkeitseigenschaften begründet liegen: Zum einen stellt sich die Frage, ob gängige Intelligenztestverfahren für Extrembegabte überhaupt geeignet sind. Ich selbst habe bei Untersuchungen in meiner Praxis oft erlebt, dass extrem hochbegabte Kinder und Jugendliche mit den einfachen Aufgaben am Anfang der Testreihen nicht zurechtkamen. Manche baten mich direkt um schwierigere Aufgaben oder darum, das Verfahren umzukehren und mit den schwierigsten Aufgaben zu beginnen; andere konnten zwar die Aufgaben des Tests für Kinder kaum lösen, liefen aber zu Hochform auf, wenn man ihnen probehalber die Version für Erwachsene vorlegte. Wieder andere konnten nicht glauben, dass in einem Intelligenztest derart leichte Aufgaben gestellt werden, und verkomplizierten spontan die Fragestellungen oder grübelten über einen versteckten, tieferen Sinn. In den meisten psychologischen Praxen sowie beim schulpsychologischen Dienst oder in Kliniken ist es nicht üblich oder nicht möglich, auf solche Besonderheiten einzugehen, ganz zu schweigen von groß angelegten Gruppentests in Schulen, welche oftmals die Grundlage für Auswahlverfahren, Fördermaßnahmen oder wissenschaftliche Studien bilden.

Zum anderen steigt nach meiner eigenen und der Erfahrung vieler Fachleute mit dem Grad der Hochbegabung auch die Neigung zum Zweifeln. Das Nachdenken über zu viele Möglichkeiten und verschiedene Lösungswege, das Aufspüren von Fehlern, Mehrdeutigkeiten und Ungenauigkeiten in Fragestellungen oder das Beachten zu vieler (auch unwesentlicher) Details kann sich, besonders in einer Standard-Testsituation, ungünstig auf die Leistungsfähigkeit auswirken. Höchstbegabte machen sich Gedanken, auf die andere gar nicht kommen. Eine Klientin erklärt nach einer Testung, sie habe nur diejenigen Fragen beantwortet, bei denen sie hundertprozentig sicher gewesen sei, die anderen habe sie ausgelassen, um die Ergebnisse auf keinen Fall durch Raten positiv zu verfälschen. Höchstbegabte denken gründlich, oft übergründlich, nach und brauchen bisweilen länger als andere, um sich nach Abwägen aller Optionen für eine Lösung zu entscheiden. Unter Zeitdruck können manche daher gar nicht arbeiten, was aber von fast allen gängigen Intelligenztests verlangt wird. Gross (2003), Winner (2004) oder Jacobsen (1999) schildern überdies, dass nicht wenige hochbegabte Kinder und Erwachsene ihre Fähigkeiten vor anderen verheimlichen, um nicht unangenehm aufzufallen. Dies deckt sich mit meinen eigenen Beobachtungen. Wenn also bereits normal hochbegabte Kinder und Erwachsene ihre außergewöhnlichen Potenziale verstecken, wie können dann Extrembegabte sie unbefangen zeigen?

Es stellt sich die Frage, ob mehr Forschung auf diesem Gebiet den Aufwand wert wäre, auch wenn das Phänomen der Extrembegabung sehr selten ist, und ob es überhaupt einen nennenswerten Unterschied macht, ob eine Person hoch- oder höchstbegabt ist.

Forscher weisen darauf hin, dass die Gruppe der Hochbegabten weitaus heterogener ist als allgemein angenommen und mit steigendem Grad der Begabung auch die Besonderheiten im Denken, Erleben und Verhalten zunehmen. Bereits Hollingworth (1931) weist darauf hin, dass extrem begabte Kinder mitunter mehr Schwierigkeiten haben als normal Hochbegabte. Greenacre (1956) stellt fest, dass extrem hochbegabte Kinder sich von anderen deutlich unterscheiden, etwa durch eine »enorme Intensität«. Janos und Robinson (1985) fällt auf, dass emotionale und soziale Besonderheiten bei Kindern mit extremer Hochbegabung stärker ausgeprägt sind. Webb (2015) führt aus, dass die bei Hochbegabten häufig anzutreffende »asynchrone Entwicklung« besonders bei außerordentlich Hochbegabten zum Tragen komme. Sie seien etwa intellektuell weit voraus, ihre alltagspraktischen oder sozialen Fähigkeiten hinkten jedoch hinterher.

Hochbegabte unterscheiden sich also offenbar in verschiedenem Ausmaß von der Allgemeinbevölkerung. Diese Differenzierung findet im deutschsprachigen Raum kaum statt. Auch in meinen eigenen Beratungen hatte ich zwar auf vorhandene Höchstbegabung hingewiesen, konnte aber Einzelaspekte dazu nicht ausreichend erörtern, da sie schlicht nicht bekannt waren. Für Betreffende kann das bedeuten, dass sie zwar als hochbegabt identifiziert werden, sich aber unter vielen Hochbegabten dennoch fremd fühlen. Bei einem Aufeinandertreffen kann die Begeisterung darüber, endlich einen Gleichgesinnten gefunden zu haben, zunächst groß sein; nach kurzer Zeit folgen dann Irritation und Ernüchterung, weil das Interesse und die Energie des moderat hochbegabten Gegenübers nachlassen, während der Höchstbegabte gerade erst zu richtiger Form aufläuft. Das führt in der Regel eher dazu, dass der Höchstbegabte sich selbst infrage stellt oder seine Testergebnisse anzweifelt, als den abenteuerlichen Gedanken in Erwägung zu ziehen, er könnte noch schlauer sein als viele der normal Hochbegabten. Höchstbegabte, vor allem wenn sie nicht als solche erkannt werden, können sich naturgemäß mit nur sehr wenigen ihrer Mitmenschen identifizieren. In Biografien berühmter Genies mögen sie manche überraschende Gemeinsamkeit wiederfinden, aber natürlich möchte sich niemand mit derartigen Geistesgrößen vergleichen, oder wenn, dann höchstens im Geheimen. In den Ausführungen dieses Buches finden Höchstbegabte Gelegenheit, sich eingehend mit möglichen Ähnlichkeiten zu genialen Persönlichkeiten zu befassen.

Webb (2015) geht zudem der interessanten Frage nach, ob das Phänomen extremer Begabung in Wahrheit häufiger vorkommt als gedacht: »Die weitverbreitete Annahme, Personen mit IQ-Werten über 160 seien so selten, dass man sie getrost vernachlässigen könne, ist in den letzten Jahrzehnten durch klinische Daten infrage gestellt worden (Webb und Kleine 2012). Geht man von der Normalverteilungskurve aus, dürfte nur eine von 32 000 Personen einen IQ von 160 Punkten oder höher haben und nur eine von 2 590 000 einen IQ‑Wert von 180 oder höher. Feldberichte von Psychologen, die auf außerordentlich hochbegabte Personen spezialisiert sind, deuten jedoch darauf hin, dass mindestens doppelt so viele Personen IQ-Werte oberhalb 160 erreichen und mindestens dreimal so viele IQ-Werte oberhalb von 180.« (S. 45) Schon Wechsler (1935) und Forscher wie Cronbach (1979) oder Dodrill (1997) hätten darauf hingewiesen, dass das obere Ende des intellektuellen Spektrums mit der symmetrisch verlaufenden Normalkurve möglicherweise gar nicht erfasst werden könne und die Annahme, Intelligenz folge einer gleichmäßigen, glockenförmigen Kurve, vermutlich ein Irrtum sei. Wäre es also denkbar, dass wir durch zu ›flache‹ Testnormierungen nur einen Ausschnitt von dem erfassen, was Intelligenz bedeutet und was Menschen auf geistigem Gebiet zu leisten imstande sind? Was wäre, wenn man die IQ-Skala als nach oben hin offen annimmt und zunächst keine Grenzen festlegt? Die erstaunlichen Leistungen vieler Genies sprechen dafür, diesen Gedanken näher in Augenschein zu nehmen. Dasselbe gilt für sogenannte ›Savants‹, die über zwanzig Fremdsprachen beherrschen, mehrbändige Lexika und sämtliche Musikkompositionen der Welt auswendig kennen oder mit acht Jahren auf dem Niveau eines Erwachsenen Klavier spielen.

Aber selbst wenn, wie die gängige Lehre behauptet, nur ein bis zwei von tausend Personen höchstbegabt wären, befänden sich bereits in einer Kleinstadt mit 50 000 Einwohnern rund 50 Höchstbegabte, in einer Großstadt rund 500 bis 1000 von ihnen und in einem Land wie der Bundesrepublik rund 80 000. Kann eine moderne Gesellschaft, in der ›soft skills‹, also geistige Fähigkeiten, immer mehr an Bedeutung gewinnen und die Lösung globaler Probleme immer drängender wird, es sich leisten, auf die Identifikation und Förderung solcher Spitzenbegabungen zu verzichten? Und haben, unabhängig davon, extrem Begabte nicht wie alle anderen auch ein Recht auf Unterstützung bei der Entfaltung ihrer Fähigkeiten? Oder kann man von diesen ›Superhirnen‹ erwarten, dass sie sich selbst erkennen und sich mit ihren überragenden Fähigkeiten erfolgreich durchsetzen? Die Erfahrung zeigt, dass dies unter bestimmten Bedingungen möglich, im Normalfall jedoch oft unwahrscheinlich ist. Welche Faktoren nötig sind, damit Höchstbegabte und Genies ihre Potenziale entfalten können, ist eine der zentralen Fragestellungen dieses Buches.

3 Hochbegabungsstufen

Wie bereits angesprochen, haben Intelligenztests weltweit unterschiedliche Skalierungen. Dies führt bei Laien wie bei Fachleuten immer wieder zu Verwirrung. Selbst in wissenschaftlichen Publikationen fehlen bei der Übersetzung oft Erläuterungen zu den verwendeten Testskalen. Die Cattell-Skala etwa, die vor allem in Großbritannien verwendet wird, hat Normierungen, durch die man viel höhere IQ-Werte erzielt als in anderen Tests: Ein Wert von 130 Punkten entspräche dort zum Beispiel einem von 149 Punkten. Hierdurch erklären sich auch Ergebnisse von bis zu 220 Punkten, wie sie bisweilen in den britischen Medien von sogenannten Wunderkindern oder Filmstars wie Jodie Foster und Sharon Stone in den USA berichtet werden. Das führt jedoch leider auch dazu, dass solche hohen Werte (jenseits von 145 Punkten) hier generell als überzogen und unrealistisch abgetan werden. In den gängigen Testverfahren wie den Wechsler-Skalen und der Stanford-Binet-Skala, die bis zu 160 Punkten messen und einen Mittelwert von 100 haben, sind die Werte (bis auf geringfügige Abweichungen) jedoch weitgehend vergleichbar und daher auf dieselbe Weise zu interpretieren wie hierzulande.

Petermann und Daseking (2009) raten bei Vermutung einer Höchstbegabung zu einer speziellen Auswertungsformel im HAWIK-IV, welche aber in der Praxis so gut wie nie angewandt wird. In den USA wurden für den Wechsler-Test erweiterte Normen (WISC-IV Extended Norms) entwickelt, um im Bereich ab 130 IQ-Punkten besser differenzieren bzw. Höchstbegabte überhaupt identifizieren zu können. Trotz der sehr hohen Werte (bis IQ 210) liegt auch hier Vergleichbarkeit mit deutschsprachigen Skalen vor.

Schon Jacobsen (1999) weist darauf hin, dass Hochbegabung kein simples Entweder-oder-Konstrukt ist, sie erscheine in unterschiedlichen Formen und Graduierungen. Hochbegabung könne breit gefächert oder auf ein einzelnes Gebiet beschränkt sein, normale IQ-Tests könnten viele dieser Stufen und Formen nicht hinreichend erfassen und würden Begabungen bisweilen unterschätzen. Jacobsen unterscheidet die Hochbegabungsstufen »mild, moderate, extraordinary, profound« (übersetzt etwa: leicht, mittel, außerordentlich und extrem). Andere Autoren sprechen von »moderate, high, exceptional und profound« (z. B. Fietze 2010). Für den deutschen Sprachgebrauch bieten sich vorerst folgende Kategorien an:

Diese Kategorien sind noch nicht wissenschaftlich belegt oder klar voneinander abgegrenzt. Wie einige andere Autoren beschränke ich mich daher zunächst im Wesentlichen auf die Unterscheidung zwischen »moderater Hochbegabung« und »Höchstbegabung«.

Wenn Hochbegabte laut wegweisender Studien von Forschern wie Terman (1959) oder Rost (2000) erfolgreicher, psychisch und gesundheitlich stabiler und sozial besser integriert sind, gilt dies dann gleichermaßen oder gar umso mehr für Höchstbegabte? Oder gibt es, wie manche Forscher vermuten, eine eher asynchrone Entwicklung, bei der die Diskrepanz zwischen Stärken und Schwächen mit steigendem IQ zunimmt?

4 Höchstbegabung: Mögliche Anzeichen

Nach meinen Beobachtungen in der psychologischen Praxis zeigen sich in Interaktion und Verhalten tendenziell folgende Unterschiede: Moderat Hochbegabte wirken im Erstkontakt oft aufgeschlossen, neugierig, interessiert, sozial kompetent und mitteilungsfreudig. Manche reden nach kurzer Aufwärmphase wie ein Wasserfall und teilen gern ihr umfangreiches Wissen. Sie arbeiten bei Testungen und Befragungen motiviert und begeistert mit, zeigen hohes Arbeitstempo, hohe Intensität und sind oft unersättlich, wenn sie sich geistig gefordert fühlen. Höchstbegabte Kinder sind hingegen im Erstkontakt oft eher ruhig und zurückhaltend. Sie sprechen zunächst gar nicht oder nur leise und zögerlich. Sehr aufmerksam tasten sie ihr Gegenüber und die Umgebung ab. Oft meiden sie direkten Blickkontakt, nehmen jedoch viele Details wahr. Es dauert länger, bis sie auftauen, und sie benötigen manchmal mehr Zeit, bis sie eine Aufgabe verstehen und lösen können. Höchstbegabte handeln bedacht, zögern öfter, sind leichter blockiert oder irritiert und brauchen behutsame Ermutigung. Spricht man sie zu laut, unvermittelt oder zu vertraulich an, ziehen sie ihre zarten ›Fühler‹ schnell wieder zurück. Offene Fragen verunsichern sie, am liebsten berichten sie von ihren jeweiligen Interessen. In ihren Äußerungen sind sie direkt und schnörkellos, sie achten weniger auf soziale Konventionen und können stur, hartnäckig und eigensinnig sein. Viele zeigen eine Art ›stille Intensität‹, während moderat Hochbegabte ihre Intensität besser nach außen hin zeigen können. Haben Höchstbegabte sich an die neue Situation gewöhnt und sich mit den Testaufgaben vertraut gemacht, können sie sich (bei adäquat hohen Anforderungen) extrem gut konzentrieren und vollkommen in der Arbeit versinken.

Höchstbegabte Erwachsene sind oft weniger leicht zu erkennen, wenn sie nicht gerade Nobelpreisträgerinnen oder renommierte Professoren sind. Mithilfe ihrer extrem hohen Intelligenz haben sie oft eine Vielzahl an Strategien entwickelt, ›normal‹ zu erscheinen, sich anzupassen und ihr Inneres zu verstecken. Sie können daher auf den ersten Blick sozial hoch kompetent wirken, während sie innerlich völlig unsicher, verwirrt und angespannt sind. Sie haben Mühe, das Verhalten anderer zu verstehen, wenn es ihnen etwa nicht logisch, nicht ehrlich oder nicht gerecht erscheint. Oft ziehen Höchstbegabte auch viel zu viele Optionen möglicher Beweggründe ihres Gegenübers in Betracht und laufen daher bereits bei einer gewöhnlichen Unterhaltung innerlich auf Hochtouren. Es kostet sie enorm viel Kraft, ihre Fassade aufrecht zu halten, diese wird ihnen mitunter zur zweiten Natur. Höchstbegabte verstellen und verbiegen sich häufig mehr als moderat Hochbegabte. Erstere trainieren sich angemessenes Sozialverhalten regelrecht an, indem sie andere beobachten und nachahmen. Höchstbegabte sind oft extrem leistungsfähig, vielseitig und ausdauernd, sodass andere staunen, wie ein einzelner Mensch so viele Aufgaben bewältigen kann. Andererseits leiden die Betreffenden manchmal unter Phasen extremer Erschöpfung. Ihre körperliche und seelische Kraft kann mit der geistigen oftmals nicht mithalten – eine Form der oben angesprochenen Asynchronie, die den Betreffenden jedoch selten bewusst ist. Höchstbegabte können vieles überragend gut, etwa Texte oder wissenschaftliche Probleme analysieren, manches jedoch überhaupt nicht, etwa einfache Additionsaufgaben lösen, sich in fremder Umgebung orientieren oder Gesprächen in größeren Gruppen folgen. Das treibt sie oft regelrecht zur Verzweiflung. Da sie weitaus mehr Fragen haben und vieles nicht auf Anhieb verstehen, halten sie sich oft für dümmer als andere. Der Widerspruch zwischen Verletzlichkeit und Stärke ist bei Höchstbegabten besonders ausgeprägt. Dadurch fühlen manche sich innerlich zerrissen. Auch ihre Intelligenztestergebnisse weisen öfter deutliche Schwankungen auf als bei moderat Hochbegabten. In den folgenden Kapiteln werden die möglichen Ursachen hierfür sowie weitere Merkmale von Höchstbegabten eingehend erörtert.

5 Merkmale Höchstbegabter

Hinsichtlich der genauen Unterscheidung zwischen moderater Hochbegabung und Höchstbegabung gibt es auch international noch wenig Daten. Jacobsen (1999) erklärt sinngemäß: Hochbegabte wissen die Antworten auf alle Fragen – Höchstbegabte stellen die Antworten infrage. Hochbegabte sind aufmerksam und konzentriert, wenn eine Aufgabe sie interessiert – Höchstbegabte sind mental und physisch völlig davon absorbiert. Hochbegabte können sich gut Fakten merken und gehen logisch vor – Höchstbegabte finden Lösungen scheinbar eher intuitiv. Höchstbegabte seien außerordentlich kreativ und individuell. Der Fokus auf ihren Beruf oder bestimmte Projekte sei ausgesprochen stark, einige zeigten auch Multipotenzialität, also hohe Begabungen in mehreren Bereichen. Sie scheinen sämtliche Phänomene noch gründlicher zu durchdenken und zu hinterfragen als moderat Hochbegabte, dies betreffe auch die eigene Person. Webb (2015) führt aus, dass die typischen Hochbegabungsmerkmale bei Höchstbegabten viel ausgeprägter sind, mehr Bereiche umfassen und früher auftreten.

Lovecky (1994) zufolge gibt es sowohl quantitative als auch qualitative Unterschiede in der Art des Denkens und der Informationsverarbeitung. Die Autorin gleicht eigene Untersuchungen mit bereits vorhandenen Studien ab und beschreibt als wesentliche Merkmale von Höchstbegabung:

Außerordentliches Gedächtnis: Viele höchstbegabte Kinder haben früh ein herausragendes Gedächtnis für Reime, Lieder, Geschichten, Zahlen und persönliche Ereignisse. Der zweieinhalbjährige Eddie sucht mittels Inhaltsverzeichnis Lieder in einem Liederbuch heraus, nachdem er nur die erste Zeile gehört hat. Gross (2003) berichtet von einem 18 Monate alten Mädchen, das sich mit Kinderliedern selbst in den Schlaf singt. Ein anderes Kind gibt mit zwölf Monaten die Inhalte von Vorlesebüchern wieder, ein zweieinhalbjähriges lernt ein episches Gedicht auswendig und sagt es aus eigenem Antrieb auf. Der Extrembegabte William Sidis erinnert sich nicht nur an alles, was er je gelesen hat, sondern auch an die jeweiligen Zahlen der Seiten, auf denen es steht. Der neunjährige Eric erinnert sich an jedes Detail und jeden Dialog jeder Starwars-Serie, die er je gesehen hat.

Feldmann (1986) führt aus, dass höchstbegabte Kinder sich offenbar an Ereignisse weit vor ihrem dritten Lebensjahr zurückerinnern können bis hin zu den ersten Lebensmonaten; dies schließt die Entwicklungspsychologie üblicherweise aus. Eine höchstbegabte Jugendliche beschreibt etwa in sämtlichen Details, wie sie mit 15 Monaten einen Splitter verschluckte: Sie schildert, wie sie sich selbst fühlte, die komplette Unterhaltung mit der Mutter, wie die Mutter sich fühlte, was sie anhatte, die Fahrt zum Krankenhaus und was der Arzt im Einzelnen gesagt hat. Das Erinnerungsvermögen moderat Hochbegabter sei ebenfalls gut ausgeprägt, reiche jedoch in der Regel nicht so weit zurück (bis ca. 24 Monate).

Aufgrund der stärkeren und weitreichenden Vernetzung einzelner Hirnstrukturen können Höchstbegabte offenbar leichter auf große Mengen von Information, zahlreiche Details und lange zurückliegende Gedächtnisinhalte zugreifen. Häufig haben sie als Jugendliche und Erwachsene Zugang zu Inhalten, die bei anderen im Unterbewusstsein abgespeichert sind. Andererseits sind ihre Möglichkeiten zu einem gesunden Maß an Verdrängung oft weniger gut ausgeprägt.

Emotionale Reaktionen auf abstrakte Konzepte: Höchstbegabte verbinden etwa Zahlen mit bestimmten Gefühlen, sie empfinden eine Neun als beruhigend oder eine Fünf als unangenehm. Ebenso können sie sich an der Schönheit einer Formel, Idee oder Theorie erfreuen. Was auf den ersten Blick wie eine Marotte wirkt, ist vermutlich ebenfalls Folge einer stärkeren Vernetzung von Hirnstrukturen. Die Kernphysikerin Lise Meitner etwa schläft als Achtjährige mit ihrem Mathematikbuch unter dem Kopfkissen. »Herzlich liebe ich die Physik«, sagt sie später. »Es ist eine Art persönlicher Liebe, wie gegen einen Menschen, dem man sehr viel verdankt.« (Rennert 2018)

Konstruktion von Bedeutung: Höchstbegabte zeigen oft schon früh den Drang, überall schlüssige Muster zu suchen und Bedeutung zu finden, um sich Erfahrungen und Phänomene logisch erklären zu können.

Das Einfache ist komplex: Höchstbegabte haben bisweilen Mühe, die Fülle der Informationen, die sie aufnehmen, zu ordnen und wiederzugeben. Sie können sehr gut abstrakt-logische Hypothesen bilden, tun sich aber schwer, ihr Material der Reihe nach aufzubereiten und Argumente auszuformulieren. Der Höchstbegabte sieht so viele Möglichkeiten, dass er sich oft nicht für eine einzelne entscheiden kann. Die einfache Frage »Was macht ein Doktor?« können hochbegabte Kinder laut Lovecky wortreich und ohne Probleme beantworten. Der höchstbegabte Zachery (7 Jahre) erklärt, es gebe sehr viele verschiedene Arten von Ärzten, die alle völlig unterschiedliche Dinge täten. Auch nach wiederholter Ermutigung kann er auf die Frage keine Antwort geben – obwohl bzw. weil er so viel darüber weiß. In einem anderen Beispiel kennt ein höchstbegabter Achtjähriger Hunderte von Vogelarten, deren wissenschaftliche Bezeichnungen er wenn nötig selbst präzisiert. Auch unterscheidet er rund 300 Farbschattierungen, denen er teils eigene Namen gibt. Bittet man ihn, einen »roten Stift« zu bringen oder »einen Vogel« zu zeichnen, sieht er sich vor ein größeres Problem gestellt. Er braucht genauere Angaben. Ähnliche Beobachtungen macht bereits Hollingworth (1942) in ihrer Studie an höchstbegabten Kindern: Sie erfassen viel größere Mengen an Informationen einzelner Objekte.

Das Verlangen nach Präzision: Eng verknüpft mit der hohen Komplexität des Denkens und der Wahrnehmung ist das Bedürfnis nach präzisen Vorgaben und logisch nachvollziehbaren Abläufen. Anderenfalls entstehen Verwirrung und Unsicherheit. Aus der Notwendigkeit einer »logischen Welt« resultieren zudem endlose Fragen und Auseinandersetzungen, das Korrigieren von Fehlern, wo immer sie auftauchen, sowie das Streben nach Präzision im Denken und Formulieren. Als der neunjährige Eric eine neue mathematische Formel konstruiert und sein Mathematik-Lehrer sie als »Theorie« bezeichnet, korrigiert Eric ihn und erklärt, die Formel sei lediglich eine Hypothese, sie sei ja noch nicht bewiesen.