Deutsche Erstausgabe
Als Ravensburger E-Book erschienen 2020
Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg
© 2020 Ravensburger Verlag GmbH
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2018 unter dem Titel »Cry Baby«.
Copyright © 2018. Cry Baby by Ginger Scott.
Published by arrangement with Bookcase Literary Agency and RF Literary Agency.
The moral rights of the author have been asserted.
Umschlaggestaltung: Sandra Taufer, München, unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock.com (Klavdiya Krinichnaya, ami mataraj, Nik Merkulov, LongQuattro, tomertu, Shebeko)
Übersetzung: Franziska Jaekel
Lektorat: Christina Rees
Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten
Printed in Germany
ISBN 978-3-473-51066-5
www.ravensburger.de
Für Tim.
Weil du ganz doll an mich glaubst.
Da spricht bestimmt die Liebe.
PROLOG
Ein Kind beachten die Leute nicht weiter. Selbst wenn sie es täten, würden sie mich nicht gerade als Bedrohung sehen. Sie fürchten sich eher vor Typen mit Tattoos im Gesicht und grimmigen Augen. Ironischerweise sind das die Letzten, vor denen sie sich in Acht nehmen müssen. Es sind die lächelnden Gesichter, vor denen sie Angst haben sollten. Ich habe Männer lachen sehen, während sie jemandem das Gesicht zertreten haben, nur um ein Auto zu klauen.
Letzte Woche wäre ich fast erwischt worden. Eine ältere Lady saß im Kino neben mir auf einer Bank und wartete auf ihren Ehemann, der zur Toilette gegangen war. Sie fragte mich, ob ich Filme mag. Ich zuckte mit den Schultern, weil Dub es nicht leiden kann, wenn ich zu viel rede.
Aber ich hätte mit ihr reden sollen … hätte etwas sagen sollen, das sie vielleicht erschreckt, denn sie hörte nicht auf, mich zu mustern. Als Dub klopfte, saß sie immer noch auf der Bank, und als ich aufstand, um die Notausgangstür zu öffnen, spürte ich, dass sie mich aufhalten wollte. Ein Blick auf den Boss und die Gang, und sie ließ die Hand rasch wieder fallen. Doch die Lady stand nicht schnell genug auf und Dub … er rückte ihr ganz nah auf die Pelle und starrte sie an, während sie in ihren hässlichen Schuhen zurückwich. Ha! Beinahe wäre sie rückwärts ins Männerklo gestolpert. Auf dem Weg ins Kino lachten wir darüber, aber später an diesem Abend zog Dub mich gleich vor der Mall in eine Ecke, packte meinen T-Shirt-Kragen und drehte ihn so lange, bis mir der Stoff in den Hals schnitt. Beim nächsten Mal sollte ich darauf achten, dass mich niemand bei der Arbeit beobachtet, sagte er.
Dub ist wie mein Dad, nur dass er eben nicht mein Dad ist. Mein Dad sitzt im Gefängnis. Dub sagt, Dad habe etwas Dummes getan und wurde erwischt, also bringt er mir alles bei, was ich wissen muss, um nicht auch dort zu enden. Ich vermassele nur selten etwas, ganz anders als mein Freund Paul. Er gerät oft in Schwierigkeiten, deshalb gibt ihm niemand mehr wichtige Jobs. Als er letztes Mal mit mir zusammen eingeteilt war, an der Kinotür auf Dub zu warten, wurde er beim Klauen erwischt. Er ließ Süßigkeiten mitgehen, weil er Hunger hatte. Ich hatte ihn noch gewarnt, aber er hört nie auf mich. Am nächsten Tag hat Dub ihm mit einer Zigarette den Handrücken verbrannt und gesagt, das solle ihm eine Lehre sein. Paul hat einfach gelacht und gelacht, die ganze Zeit, während seine Haut verbrannte. Er hat erst geweint, als er sich danach in meinem Zimmer verkriechen konnte. Von da an nannte ihn jeder Joker, weil er alles ins Lächerliche zieht. Zumindest sollen das die anderen denken.
Manchmal lasse ich mir aus Mitleid von Paul helfen und weil er gern beweisen möchte, dass er nicht alles vergeigt. Das weiß ich. Trotzdem sind das immer nur kleinere Jobs, wenn wir zum Beispiel Häuser bewachen oder aufpassen sollen, dass die Tribes nicht auf unserem Basketballplatz ihr Zeug verticken. Die Tribes haben ihr Revier auf der anderen Seite der Sixty-First Street, aber dort gibt es keinen Park oder einen anderen guten Ort zum Abhängen. Tja, das ist ihr Problem.
Dub meint, dass es meine Bestimmung ist, eines Tages seine Gang zu übernehmen. Wenn das so kommt, werde ich Paul einen wichtigen Posten in der Gang geben. Er würde mir nie in den Rücken fallen. Ich vertraue ihm wie einem Bruder. So hat auch Dub meinem Dad vertraut. Er sagt, dass mein Dad gut den Mund halten kann. Ich habe ihn einmal gefragt, was das heißt, und er meinte, dass mein Dad im Gefängnis ist, weil die Leute unsere Gang zerstören wollen, es aber nicht können, wenn mein Dad ihnen nicht hilft. Er kommt nie wieder nach Hause, weil er uns alle so sehr liebt. Er würde eher sterben, als uns in Schwierigkeiten zu bringen.
Ich bin genau wie er. Ich würde auch eher sterben.
An diesem Abend hielten sich ein paar Leute in der Nähe meiner üblichen Bank auf, also begann ich, mir den Bauch zu halten, zu stöhnen und so zu tun, als würde ich mich gleich übergeben müssen. Die Leute um mich herum hatten alle ein Date und warteten auf den Beginn ihres Films – reiche weiße Kids, die ihr eigenes Auto haben und so ’n Scheiß. Sie hatten Pläne und ein Zehnjähriger mit schäbigen Klamotten und brauner Haut war ihre Zeit nicht wert; also verzogen sie sich und taten so, als beachteten sie mich gar nicht. Mein Plan ging auf, denn fünf Minuten bevor Dub auftauchen wollte, war nur noch ich hier.
Während ich eine Hand schon auf der Türstange des Notausgangs habe, drehe ich die andere um und checke die Zeit auf meinem Handy. Wir schicken uns keine Nachrichten – es soll keine Aufzeichnungen geben, dass wir jemals hier waren. Meistens sucht Dub einen Film aus und nennt uns eine Zeit, dann macht jeder seinen Job. Wer das nicht tut, ist raus. Und niemand will aus den Fifty-Sevens geworfen werden. Nicht, wenn er aus diesem Wohnviertel kommt. Wer raus ist, geht kaputt und stirbt jung. Wenn man drin ist, weiß man wenigstens, dass man Rückendeckung hat.
Ich zähle die Sekunden – sechs, fünf, vier …
Langsam drücke ich die Türstange nach unten und öffne den Ausgang weit genug, dass Dub seinen Arm hineinschieben und durch den schmalen Spalt schlüpfen kann. Heute sind wir nur zu zweit. Wir reden nicht, aber er drückt seine Hand auf meinen Kopf und schiebt mir meine Kappe tiefer in die Stirn. Mit einem schiefen Grinsen rücke ich den Schirm meiner Kappe wieder nach oben und fange seinen Blick auf. Das ist seine Art, mir zu sagen, dass ich es diesmal gut gemacht habe.
Mein richtiger Name ist Tristan Lopez, aber Dub nennt mich Cry Baby. Er findet das witzig, sagt er, weil ich eigentlich nie weine, und es stimmt – das tue ich nicht. Als er letztes Jahr anfing, mich so zu nennen, hatte ich Angst, dass sich die anderen über mich lustig machen würden, aber Paul meinte, weil Dub mir den Namen verpasst hat, würde das niemand wagen. Und er hatte recht.
Ich folge Dub ins Kino, ein unschuldiger kleine Junge, der sich mit seinem großen Bruder einen Film ansieht. Das glauben die Leute zumindest, wenn sie uns sehen – immer lächeln und keinen Augenkontakt vermeiden, als hätten wir genauso Eintritt bezahlt wie sie. Meine Baggy Jeans hängt ebenso tief wie seine, aber wo seine Arme mit schwarzen, ineinander verschlungenen Zahlen und Buchstaben tätowiert sind, werden meine von dem verschlissenen Flanellhemd meines Dads verdeckt. Die Ärmel hängen weit herunter, bis über meine Finger. Ein Zigarettenbrandloch prangt auf der Brusttasche, ein verkohlter runder Rand wie ein Volltreffer genau in der Mitte.
Wir bleiben hinter den Sitzen am Ende des Kinos stehen, damit Dub die richtige Reihe aussuchen kann. Er sucht nach weniger besetzten Stellen, will keine »zusätzlichen Augen«, die ihn bei der Arbeit beobachten könnten, aber trotzdem soll es nicht zu weit abseits sein. Falls dann doch irgendwelche Leute etwas mitbekämen, würden sie es nicht glauben wollen.
»Hier dealt doch niemand direkt in der Öffentlichkeit mit Drogen! Nicht in dieser Gegend.«
Das Geld kommt rein und die Tütchen gehen weg. Die Leute bekommen, wofür sie bezahlen, und wenn sie nicht genug bezahlen, sorgt einer der Typen aus der Gang dafür, dass sie es auf andere Weise wiedergutmachen.
Ich lerne viel, während ich ihm bei der Arbeit zusehe.
Eine Schießerei erhellt die Leinwand, eine Vorschau auf den neuen Film mit Jason Foreman.
Dub beugt sich zu mir. »Guck dir den Schwachkopf an, wie der die Waffe hält, als wüsste er, was er da macht«, flüstert er. Ich kann Alkohol in seinem Atem riechen. Nur schwach, wahrscheinlich von gestern.
Ich lache und sehe zu, wie auf der Leinwand zwei Autos eine Gasse entlangrasen. Ein Typ hängt sich aus dem Beifahrerfenster und feuert auf die Reifen des Wagens vor ihm. In der nächsten Szene hat Jason Foreman – der einen knallharten Gangsterboss in New York oder Boston oder sonst wo spielt – den Detective in der Mangel, der am Boden liegend um sein Leben winselt. Er verpasst dem Kerl einen Tritt und lässt ihn gehen, seine Glock zeigt auf die Füße des Cops, während der zu seinem Wagen zurückrennt.
Ein echter Mann würde ihn nicht gehen lassen. Er würde seine Waffe auch nicht nach unten halten. Er würde dem Cop zeigen, wer der Boss ist, und ihn in das dunkle Loch im Metall starren lassen. Er würde abwarten, bis der Cop sich den Rauch vorstellen kann, der aus diesem Loch kommt – mit nur … einem … Klick.
Dub stößt mich mit dem Ellbogen an und ich schaue zu ihm. Er hebt langsam den Arm, presst die Lippen zu einer festen, geraden Linie zusammen und zeigt auf den millionenschweren Schauspieler auf der Leinwand. Er kneift ein Auge zu, dann streckt er den Arm ganz aus und krümmt die Finger. Hätte er seine Knarre in der Hand, wäre Jason Foreman jetzt tot.
Dämlicher Idiot. Kein Gangster kann es mit Dub Lewis aufnehmen.
KAPITEL 1
SIEBEN JAHRE SPÄTER
TRISTAN
Joker wirft diesen blöden Racquetball jetzt schon seit zwanzig Minuten gegen unser Garagentor. Er ist angepisst, weil ich ihn hier draußen nicht kiffen lasse, aber meine Mom bittet mich nicht um viel, und mal ehrlich, dieses Zeug ist sowieso nicht gut für ihn.
Das monotone Geräusch versetzt uns beide in eine Art Trance. Mindestens drei Autos sind an meinem Haus vorbeigefahren und ich weiß nicht mal, welche Farbe sie hatten. Das ist gefährlich – nicht auf Details zu achten. Ich breche aus meinem Dämmerzustand heraus und schnappe den Ball aus der Luft, bevor er ein weiteres Mal gegen das sowieso schon demolierte Garagentor knallt.
»Komm schon, Mann. Das Teil schließt eh nicht mehr ganz.«
Er verdreht leicht die Augen und schnalzt kurz mit der Zunge.
»Das Geräusch nervt zu Tode«, sage ich trocken, bevor ich den Ball in den Nachbargarten werfe.
Joker zuckt zusammen, dann dreht er den Kopf, bis sich unsere Blicke treffen. »Du bist ein Arsch.«
Ich antworte nicht. Mein Hintern ist ganz taub vom Sitzen auf diesem Metallstuhl. Dub hat gesagt, dass wir vor dem Haus auf ihn warten sollen, aber er wollte schon vor einer Stunde hier sein. Ich glaube nicht, dass er noch kommt.
»Schreib ihm mal, Mann«, sage ich, beuge mich vor und lehne mich mit den Ellbogen auf die Knie.
Joker nimmt sein Handy und lässt die Fingerspitzen nervös über dem Display kreisen. In ein paar Tagen wird er achtzehn, was bedeutet, dass die Gang ihn sich schnappt, um ihn offiziell aufzunehmen. Es muss nicht direkt an seinem Geburtstag passieren – aber so um den Dreh herum. Als er heute Morgen vor meiner Tür aufgetaucht ist, wusste ich, dass er vermutete, er könnte heute dran sein. Aber Dub würde hier nie mit seiner Gang aufkreuzen. Meine Mom hat schon zu viel gesehen und sie vertraut ihm nicht.
Das sollte sie auch nicht. Die Drogen, die sie in die Entzugsklinik gebracht haben, als ich elf war, kamen von seinen Leuten. Sie war die meiste Zeit meines Lebens davon abhängig und sie brauchte Jahre, um davon loszukommen. Als mein Dad im Gefängnis starb, fand sie zu Gott. Ich wohnte bei meinem Onkel Alonzo, bis sie die Entziehungskur hinter sich hatte. Mittlerweile ist sie seit sechs Jahren clean und geht jeden Tag in die Kirche. Sie arbeitet sogar für die Kirchengemeinde. Ich weiß, dass ein Teil von ihr versucht, mir all das zu ersparen, aber das schafft sie nicht. Ich habe mich schon als Kind an dieses Leben verkauft, geblendet von den Kriminellen, die ich vergötterte, und den Geschichten, die sie mir über meinen Dad erzählen. Die einzige Möglichkeit, diesen Teil meines Lebens vor ihr abzuschirmen, ist diese lockere Linie, die ich gezogen habe, um die schlimmen Sachen von zu Hause fernzuhalten – obwohl es sich manchmal unmöglich anfühlt, alles draußen zu lassen.
Ich werde erst in fünf Monaten achtzehn, aber für mich wird das Prügelritual nur reine Formsache sein. Ich würde alles geben, um an Jokers Stelle zu sein. Nicht weil ich mein Schicksal beschleunigen will, sondern weil er immer noch eine Wahl hat. Keine große Wahl, aber schon das ist mehr, als ich je haben werde. Wenn er aussteigen will, muss er nur die Schläge überleben und ein Tattoo tragen. Mein einziger Ausweg ist der Tod. Aber es gibt härtere Schicksale als meins, also was soll’s.
Das Dröhnen kündigt Dubs Wagen an, bevor er um die Ecke biegt. Jokers Gesicht wird rot vor Erleichterung, weil er die Nachricht noch nicht abgeschickt hat. Seine nervöse Anspannung ist aber immer noch da. Erst als er nur zwei Typen im Auto sitzen sieht, senken sich seine Schultern. Wenn sie jemanden verprügeln, machen mindestens sieben Mitglieder mit. Das sind die Aufnahmeregeln, obwohl niemand weiß warum. Ein paar junge Männer haben sie vor Jahren aufgestellt, nur um zu beweisen, wie knallhart sie sind. Niemand hinterfragt das Ganze. Wer es tut, bekommt Schläge.
Die Beifahrerscheibe des Camaro fährt nach unten, während die Räder langsamer werden. Dub beugt sich über die Mittelkonsole an dem Typen vorbei, der neben ihm sitzt. Ich kenne ihn nicht, aber Dub hat ihn mitgenommen, also muss er jemand Wichtiges sein. Sein Körper ist mit Tattoos übersät, einige sind über ältere gestochen wie eine chaotische Story, die darum kämpft, umgeschrieben zu werden. Der Kerl ist high, das merke ich sofort. Ich kenne Schicksale wie seins. Tragisch und langweilig.
»Was geht ab, ihr Loser?«
Der Typ neben Dub hustet eine Mischung aus Potqualm und Gelächter aus. Ich nehme das Aroma in mir auf. Ich rauche das Zeug nicht, aber der Geruch beruhigt mich immer. Bestimmt hab ich sowas schon eingeatmet, als ich noch im Gitterbett lag.
»Wir warten nur auf dich, Lahmarsch«, blaffe ich zurück.
Joker hasst es, wenn ich so mit Dub rede. Die Anspannung kriecht wieder seinen Rücken hinauf und er zieht den Kopf ein.
Dubs Mundwinkel wandert nach oben, seine Augen sind hinter einer schwarzen Sonnenbrille verborgen. Ein Teil des tätowierten Kreuzes neben seinem Auge lugt unter dem Brillenrand hervor. Er ist neunzehn Jahre älter als ich, aber er tut immer so, als wäre er in meinem Alter. Von der geistigen Reife her bin ich wohl eher in seinem Alter und er in meinem. Er trägt immer noch dieselben Baggy-Klamotten, die er schon anhatte, als er mich inoffiziell adoptiert hat, nachdem mein Dad weg war. Er steht total auf Baseballkappen – mit flachem Schirm und zur Seite gedreht. Seine Initialen – DL – sind rechts eingestickt. Die Kappe heute ist weiß mit goldener Schrift. Den vorne abgebildeten Diamanten hat er selbst entworfen. Er sagt, das drückt Reichtum aus, was witzig ist, denn er ist ständig blank und braucht immer schnell Geld.
»Wie war die Schule, du Nerd?«, zieht er mich auf, während er mir eine Tüte Gras vor die Brust wirft. Ich fange sie wie einen schlecht geworfenen Football auf und lasse sie unauffällig in der Fronttasche meines Hoodies verschwinden.
Ich zucke mit den Schultern. »Wie immer.«
Eigentlich war es überhaupt nicht wie immer. Ich war wohl in irgendeinem Test zu gut gewesen, und das hatte mir Aufmerksamkeit eingebracht. Jedenfalls fand ich mich um zehn Uhr vormittags im Büro meiner Studienberaterin wieder – ich wusste nicht mal, dass ich eine Studienberaterin habe. Sheryl Beaumont gehört zu den Lehrern, die man aus Filmen kennt und die an einer beschissenen Schule wie meiner arbeiten, weil sie die Kids aus den unteren Schichten inspirieren wollen, es besser zu machen als ihre Eltern und »sich selbst aus dem Sumpf zu ziehen«, wie es jeder Politiker verspricht. Sie ist eine hübsche, blonde, weiße Lady an einer Schule, in der die armen Schichten in jeder Farbe vertreten sind und in der die gefährlichsten Schlägereien der Stadt ausgetragen werden. Sie hat mich zu einem Termin gebeten, um mit mir übers College zu sprechen, denn offenbar könnte ich einen Platz bekommen. Ich habe keine Ahnung, warum ihr BMW nicht längst geklaut wurde.
»Denkst du, du kannst das Zeug bis Freitag verticken?«
Dub braucht bestimmt mal wieder Kohle. Er nennt mir nur eine Frist, wenn er schnell flüssig werden muss.
Ich wiege den Kopf von einer Seite zur anderen. »Keine Ahnung, vielleicht?«
Ich spüre, wie Joker den Kopf dreht und mich ansieht. Hätte Dub ihm das Pot zugeworfen, hätte er auf alle Fälle Ja gesagt. Aber das wäre eine Lüge gewesen. An der Schule können wir nichts mehr verkaufen. Es gibt überall Kameras, seit jemand im Hauptflur mit einer Waffe rumgeballert hat. Unsere Spinde wurden herausgerissen, sodass wir unseren Kram die ganze Zeit mit uns rumschleppen müssen, und ständig finden zufällige Taschenkontrollen statt. Deshalb dealen wir am Basketballplatz in unserem Viertel, aber die ernst zu nehmenden Käufer kommen nicht vor Freitag- oder Samstagabend vorbei. In einer Menge kann man sich besser verstecken.
»Ich brauche die Hälfte bis Freitagabend. Kriegst du das wenigstens hin?« Dub muss echt verzweifelt sein.
»Klar, wir packen das«, quakt Joker dazwischen, ohne mir die Chance zu geben, realistisch zu bleiben. Ich hasse es, wenn er das tut. Und er weiß, dass ich sauer bin, denn er macht nach seiner Ansage einen scheinbar lässigen Schritt aus meiner Reichweite.
»Gut. Wir sehen uns.« Dub nickt einmal, als hätte er sein Urteil gesprochen, dann fährt er weiter.
Gleich nachdem er weg ist, verpasse ich Joker einen Klaps in den Nacken.
»Was? Ich muss meinen Wert unter Beweis stellen, Mann. Das will ich nicht mit was anderem machen müssen.« Er reibt sich die gerötete Stelle und bringt noch etwas mehr Abstand zwischen uns. Ich kann nur den Kopf schütteln und auf den Boden spucken.
»Fuck«, brumme ich vor mich hin und drehe mich zum Haus um.
Joker glaubt tatsächlich, wenn er in vier Tagen Pot im Wert von mehreren Tausend Dollar für Dub verkauft, muss er die ganzen anderen Sachen nicht machen, die alle neuen Mitglieder erledigen müssen, um ihre Loyalität zu beweisen – so was wie Rivalen oder Drogenfahnder mit Jagdmessern abstechen und sie an einer belebten Straßenecke rauswerfen, wo sie um ihr Leben kämpfen können. Ich erzähle ihm nicht, wie oft ich auf dem Rücksitz saß, wenn Dub jemanden so auf die Probe stellte. Und ich weiß, dass er nicht mit den Konsequenzen umgehen könnte, wenn dabei etwas schiefgeht. Joker gefällt die Vorstellung, Gangmitglied zu spielen. Erst wenn er dabei helfen muss, die Leiche irgendeines Typen zu verscharren, der verblutet ist, bevor die Gang ihn an einer Ecke abladen konnte, wird ihm das die Augen öffnen. Ich kann ihn nicht warnen. Er muss die brutale Realität unserer Welt selbst erleben, um sie zu verstehen. Und dann wird es zu spät sein, um noch wegzulaufen.
Es sei denn, man ist wie ich, und der eigene Dad und sein bester Kumpel haben die Gang gegründet, dann wächst man mit weit geöffneten Augen auf. Manchmal gibt es keinen großen Unterschied zwischen Fluch und Segen, schätze ich.
»Komm schon, wir müssen nur jeden Abend am Basketballplatz sein. Wir könnten auch nach der Mittagspause schwänzen.«
Joker klingt wie ein Kind, das seine Eltern überreden will, mit ihm in den Zirkus zu gehen. Er hat überhaupt keine Vorstellung von Verantwortung oder Konsequenzen.
»Und dann werden wir gemeldet und Larry kommt zu uns nach Hause«, erwidere ich automatisch.
Larry ist unser Schulcop. Er ist schwerer bewaffnet als die meisten anderen und er hat eine Menge Befugnisse wegen der großen Probleme an der South High.
»Quatsch, wär doch nur ein Mal. Wir haben seit zwei Monaten nicht geschwänzt«, hält Joker dagegen. Er folgt mir ins Haus und in mein Zimmer ganz am Ende des Flurs.
Ich antworte nicht sofort und ich weiß, dass ihn das verunsichert. Das sollte es auch. Er hätte vorher überlegen sollen, bevor er sein großes Maul aufreißt. Das hätte ihn davon abgehalten, etwas zu versprechen, für das ich mir am Ende den Arsch aufreißen muss.
Ich schnappe mir meinen Basketball und suche gleichzeitig den mit Klamotten vollgemüllten Boden meines Zimmers nach meinen Jordans ab. Wenn wir bis Freitagabend zwei Riesen für Dub machen sollen, dürfen wir keine Zeit verlieren. Der Basketballplatz muss zu unserem zweiten Zuhause werden, bis wir das Geld zusammenhaben. Als ich meine Schuhe schließlich unter den Sachen entdecke, die ich gestern anhatte, ziehe ich meine Vans nacheinander mit der Fußspitze an der Ferse aus, bevor ich zu den begeisterten Augen meines Kumpels aufblicke.
Ja, Joker. Daddy geht mit dir in den Zirkus, aber wir nehmen nicht deinen Weg.
»Ich werde keine Kurse schwänzen«, sage ich und sein strahlendes Lächeln lässt etwas nach. »Anders helfe ich dir nicht und dir ist bestimmt klar, dass nur du dafür am Haken zappelst. Du hast das Versprechen gegeben und du weißt, wie das bei Dub läuft.«
Joker nickt mit offenem Mund. Am liebsten würde er mich anflehen, doch noch einmal zu schwänzen, aber er kennt mich zu gut. Und er weiß, dass er ohne mich aufgeschmissen ist.
Doch egal, wie sauer ich auf ihn bin, ich liebe ihn trotzdem wie einen Bruder, also halte ich ihm meine Faust entgegen. Er boxt leicht dagegen, während ich mit einem Fuß schon in den aufgeschnürten Basketballschuh schlüpfe, dann geht er zur Tür.
»Wir sehen uns dort.« Ich nicke ihm zu.
Er erwidert mein Nicken, dann haut er kurz nach Hause ab, um sich ebenfalls umzuziehen und sich mit mir auf dem Basketballplatz zu treffen.
Manchmal frage ich mich, ob Joker aus alldem raus will – ob er es bereut, sich in der dritten Klasse mit mir angefreundet zu haben. Aber die Fifty-Sevens hätten ihn sich wahrscheinlich sowieso geholt. Er hat zwei Dinge, die neue Anwärter mitbringen müssen – er wohnt hier in Miller County und sein Nachname ist Contreras. Die Fifty-Sevens zeigen ihre Diskriminierung nicht offen – mit der Ausnahme, dass alle Mitglieder männlich sein müssen –, aber wenn man Latino ist, hat man als Gangmitglied eine bessere Chance, nach oben zu kommen und in unserem Viertel Macht zu ergreifen. Das hat hauptsächlich mit dem allgemeinen Respekt vor meinem Vater zu tun, Dominic Lopez, der als Kind aus Honduras hierhergeschickt wurde, um den Gangs zu entkommen, die sich dort bildeten. Als er alt genug war, gründete er hier seine eigene. Der Witz geht auf Kosten meiner Großeltern, die dachten, sie würden ihm die Freiheit schenken.
Dubs Mom ist weiß und in Miller geboren und aufgewachsen, genau wie meine. Sein Dad kam aus Chicagos South Side, wo er schon mit fünfzehn eine der berüchtigtsten Schwarzen Gangs von Cook County leitete. Dubs Dad wurde erschossen – während eines Raubüberfalls, der schiefgegangen ist –, also zog seine Mom zurück nach Miller, weil sie dachte, in einem Vorort im Mittleren Westen würde es nicht so viele Probleme geben. Es war auch ziemlich ruhig hier, bis die Fabrik geschlossen wurde und die Eigenheimpreise in den Keller fielen. Es musste zur Gründung der Fifty-Sevens kommen – dazu waren nur die entsprechenden Lebensbedingungen und zwei gelangweilte, zornige Jugendliche nötig.
Der Drogenhandel begann erst, nachdem sie etwa ein Jahr lang die Straßen unsicher gemacht hatten. Es war nie ihr Ziel gewesen, reich zu werden – es ging um Macht. Für diejenigen von uns, die in Straßen wohnen, wo die Stadt sich nicht darum schert, klaffende Löcher zu stopfen, die sich in der Mitte bilden, ist es schwer, irgendwo anders nach Macht zu suchen. Sogar jetzt sorgt Dub dafür, dass wir genug reinbringen, um die Rechnungen zu bezahlen. Das hält ihn – und uns – auf der Straße, um andere von unserem Viertel fernzuhalten. Ich versuche, nicht darüber nachzudenken, denn wenn ich das tue, wird mir bewusst, wie sinnlos das alles ist.
Irgendwo außerhalb dieser unsichtbaren Mauern gibt es eine große weite Welt, wo Leute Heilmittel gegen Krankheiten entwickeln, während andere zur gleichen Zeit damit drohen, Kriege mit Bomben zu führen, die ganze Kontinente auslöschen könnten. Wir spielen mit Messern herum und schießen Kugeln in Autos und Wände. Was soll das bringen?
Nur der Ball in meinen Händen fühlt sich nach Zuhause an. Unsere Schulmannschaft ist scheiße – aber ich könnte mich sowieso nie für eine Schulmannschaft qualifizieren. Manchmal, wenn ich den Gedanken zulasse, wird mir klar, wie nah ich schon am Gefängnis bin, wenn ich dieses Leben weiterführe. Es gibt so viele Dinge, die ich nicht tun kann. Ich musste mich echt zusammenreißen, nicht laut loszulachen, als die Studienberaterin mir sagte, ich könnte aufs College gehen.
Den Teufel werde ich tun. Mein College ist hier bei Professor Dub Lewis und seinem Jagdmesser und seinen automatischen Waffen und den dürftigen Gräbern im Wald, wo Leichen verrotten, die immer noch nicht von den Behörden gefunden wurden.
»Du gehst schon wieder? Du bist doch gerade erst nach Hause gekommen.« Die Worte meiner Mom werden vom Klappern der Töpfe begleitet, die sie aus dem Unterschrank zieht.
»Ich war die ganze Zeit zu Hause, Ma. Paul war hier, wir saßen nur draußen.« Ich wünschte, ich hätte etwas, womit ich mich beschäftigen könnte, um ihrem Blick auszuweichen, mit dem sie mich jetzt fixiert – und direkt in mich hineinschaut.
»Du hättest ihn fragen können, ob er zum Abendessen bleiben möchte«, sagt sie mit rauer Stimme, ihre Augen spiegeln ihre Sorge wider.
»Er isst zu Hause, Ma. Ich muss los. Wir treffen uns in fünf Minuten am Basketballplatz.« Ich schnappe mir einen Apfel aus der Schale, die sie immer auf die Anrichte stellt, doch bevor ich den Arm zurückziehen kann, greift sie nach meinem Handgelenk.
»Was?« Ich hasse es, dass ich wie ein genervter Teenager klinge, der beim Lügen erwischt wurde. Aber genau das bin ich. Es ist alles ein Fake – sie weiß, wieso ich abends auf den Basketballplatz gehe, und ich weiß, warum sie möchte, dass ich Paul zu uns einlade. Sie wird nie aufhören, zu versuchen, uns dieses Leben zu ersparen.
Heute ist Bibelabend. In einer Stunde wird unser heruntergekommenes Wohnzimmer – gelblich gefärbt durch nicht zusammenpassende Lampen und den orangefarbenen Teppichboden – voller Mütter aus der Nachbarschaft sein, die sich alle an die Hoffnung klammern, die Sünden ihrer Ehemänner und Söhne einfach wegbeten zu können. Ich mache mich nicht über ihren Glauben lustig. Ich beneide das Gute daran. Er rettet ihnen das Leben. Ich kann nur nicht hierbleiben und es mit ansehen. Es ist, als würde man Weihwasser über den Teufel gießen.
»Lass mich dir wenigstens ein Sandwich machen«, sagt sie und nimmt ihre Hand weg. Was sie nicht ausspricht, lese ich in ihrem Blick. Es ruft einen vertrauten Schmerz in meiner Magengegend hervor. Jedes Mal wenn ich dieses Haus verlasse, enttäusche ich sie.
»Brauchst du nicht, alles gut. Außerdem liebe ich Äpfel.« Ich beiße kräftig in die knackige Schale, Saft spritzt auf mein Kinn. Ich wische die Tropfen mit dem Unterarm ab, dann beuge ich mich vor, um meiner Mom einen Kuss auf die Wange zu geben. Sie zittert, aber ich bin mir nie sicher, ob ich mir das nur einbilde oder es wirklich spüre. Vielleicht zeigt sich darin auch nur unsere Nervosität.
Ich klemme mir den Ball unter den Arm, hänge mir meine Ohrstöpsel um den Hals und stecke Schlüssel, Brieftasche und Handy in meine Hosentasche. Die Haustür fällt hinter mir ins Schloss und ich drücke das Sicherheitstor zu, bis ich es klicken höre. Mit dem halben Apfel im Mund umrunde ich das Haus und schlucke ein großes Stück runter, als ich hinter der Klimaanlage in die Hocke gehe. Dieses Ding klappert so stark, dass sich schon die Hälfte der Schrauben am Gehäuse gelöst haben. Ich sollte mir wahrscheinlich ein anderes Versteck für meine Pistole suchen, bevor Mom einen Handwerker bestellt. Ich schließe die Hand um das Metall und mache mir gedanklich eine Notiz, die Waffe irgendwo anders zu verstecken, wenn ich heute Abend nach Hause komme. Jetzt verstaue ich sie erst mal sicher hinten in meinem Hosenbund.
Nach vier weiteren Bissen bin ich am Kerngehäuse, also werfe ich den Rest des Apfels in einen offenen Mülleimer am Ende der Straße. Ich stecke mir die Ohrstöpsel rein, meine Finger gleiten wie gewohnt zum Ball, und ohne stehen zu bleiben, beginne ich zu dribbeln. Die Musik dröhnt im Takt der Aufschläge, die Rap-Lyrics fangen perfekt meine Ängste ein.
Leere Straßen machen mich nervös und heute ist es hier ziemlich ruhig. Garagentore rollen herunter, als ich vorbeigehe. Es kommt mir vor wie nach einer Zombie-Apokalypse. Die Sonne ist fast untergegangen, also riegelt alles ab. Gleich ist Sperrstunde, Leute!
Mein Schatten ist lang. Manchmal frage ich mich, ob er versucht, vor mir wegzulaufen.
Ich bin ganz in den Rhythmus meiner Schritte versunken, in die Bewegung meiner Hand, die den Ball immer wieder auf den Gehweg schlägt. Ich sehe sie nicht kommen. Das rettet sie wahrscheinlich vor mir. Aber ich muss damit aufhören, es darf nicht passieren, dass ich Leute nicht kommen sehe. Das ist gefährlich.
Mein Mund hängt offen, während meine reflexartige Wut, die sofort in mir ausbricht, ein heftiges Feuer in meinem Bauch entfacht. Zum Glück wandert mein Blick zuerst über das Mädchen und dann zu meinem Ball, den sie zwischen den Händen hält und gegen ihre Brust drückt. Ein ausgewaschenes T-Shirt bedeckt eine Schulter, dicke braune Haare fallen über die andere. Ihre Lippen bewegen sich. Sie sagt etwas zu mir und ihre Augen – Fuck, die sind so blau wie Wasser – warten auf eine Reaktion von mir.
You gotta shoot the rats that tell, or you’ll be next, motherfu…
Ich ziehe die Ohrstöpsel raus, bevor der Text weitergeht. Diese Worte passen nicht zu dem Gesicht, das ich vor mir habe.
Ich kann sie nur anstarren.
»Ich. Brauche. Deine. Hilfe.«
Das hat sie wahrscheinlich schon ein paarmal wiederholt, während ich mit dem dröhnenden Sound in meinen Ohren in einer Art Trancezustand war. Aber die Art, wie sie sich über mich lustig macht, indem sie ganz langsam spricht … ist ziemlich frech und … na ja, auch süß.
Ich schaue auf meinen Ball und dann zurück in ihre Augen. »Äh, kann ich den wiederhaben?« Ich lasse die Arme unten, während ich das frage, weil ich will, dass sie mir den Ball von selbst gibt. Vielleicht ist ein Teil von mir doch ein wenig verärgert darüber, wie sie um Hilfe gebeten hat.
Sie lässt den Ball über ihre Fingerspitzen rollen, er wandert ein paarmal von Hand zu Hand, während sie die Zunge von innen gegen ihre Wange schiebt. Schließlich drückt sie mir den Ball an die Brust und hält ihn dort fest, bis ich ihn nehme. Ich kenne dieses Mädchen nicht, aber sie wird Schwierigkeiten bekommen, wenn sie in diesem Viertel so mit den Leuten umspringt.
»Hilfe? Jetzt?« Sie hebt die Augenbrauen und schiebt die Füße ein oder zwei Schritte zurück.
Ich starre sie immer noch an, ein wenig amüsiert, aber ich nehme auch ihre Konturen wahr, während sie immer mehr Abstand zwischen uns bringt. Schwarze kurze Jeans, perfekt geformte Beine, und ihr graues Shirt hängt ziemlich hoch, sodass ihre sonnengebräunte Haut und ein silbernes Piercing an ihrem Bauchnabel zu sehen sind.
»Schöne Schuhe«, sagt sie und deutet mit dem Kinn auf meine ungeschnürten Jordans, bevor sie sich umdreht, weil sie ganz genau weiß, dass ich mitgehen werde.
Ein »Danke« kommt mir nicht über die Lippen, aber ich denke es – und ich folge ihr zu einem alten Pick-up, der mit Umzugskartons beladen ist. Die Hälfte des Wagens ist grün grundiert, die andere ist grau. Entweder ist die Lackierung noch nicht fertig oder die Karre stammt aus irgendeiner Auktion. Wie der Wagen meiner Mom. Eigentlich ist er beides: ein neunzehn Jahre alter Ford, den ich mit meinem Onkel aufarbeiten sollte. Tatsächlich haben wir nur das Öl gewechselt.
»Ich habe meinem Dad versprochen, dass ich den größten Teil abgeladen habe, wenn er nach Hause kommt, aber die Bank ist im Weg, und sie ist schwerer, als ich dachte.« Sie ächzt mitten im Satz, als sie über die offene Heckklappe klettert. Krass, wie gelenkig sie ist. Ich stecke meinen Ball zwischen zwei Kartons auf dem Boden, nehme kurz Anlauf und springe neben sie. Sie verzieht unbeeindruckt den Mund und richtet die Aufmerksamkeit auf einen Stapel Gewichte und eine Hantelbank, die auf der rechten Seite der Ladefläche verstaut ist.
»Ich kann nach hinten gehen, wenn du mir hilfst, das Ding rauszubekommen.«
Ich warte, bis sie sich zum hinteren Teil der Ladefläche durchgeschoben hat, dann greife ich nach einem der Standfüße.
»Ist schwerer, als es aussieht, also denk nicht, dass du …«
Bevor sie zu Ende gesprochen hat, springe ich vom Pick-up und hebe das vordere Ende der Bank vor meine Brust. Sie hat recht – das Ding ist viel schwerer, als es aussieht, aber das werde ich natürlich nicht zugeben.
Sie zuckt mit den Schultern, ich glaube, jetzt ist sie doch ein wenig beeindruckt. Ich gehe rückwärts, halte den größten Teil des Gewichts, bis sie mit dem anderen Ende am Rand der Ladefläche angekommen ist. Sie stellt die Bank kurz ab und springt vom Wagen, dann heben wir die Bank gemeinsam herunter und stellen sie ein Stück weiter auf dem Gehweg ab.
Sie schnauft kurz durch. Meine Unterarme brennen. Wir drehen kleine Kreise, um wieder zu Atem zu kommen, neben uns steht der Pick-up, der immer noch mit schwerem Zeug vollgepackt ist. Das liefert mir einen Grund zu bleiben und ich ziehe mein Handy aus der Tasche, um die Uhrzeit zu checken. Mist, dass ich noch wohin muss – dass mir eine Frist gesetzt ist, weil mein Kumpel den Typen beeindrucken will, der sich einen Scheiß für ihn interessiert. Dub wird sich nicht lange daran erinnern, dass wir ihm ein paar Riesen besorgt haben. Er wird es schon in ein paar Tagen vergessen haben, wenn wir wieder etwas anderes für ihn erledigen müssen.
»Du ziehst gerade ein?« Ich lege den Kopf zur Seite und blinzele leicht, damit ich sie im Gegenlicht der untergehenden Sonne besser sehen kann.
Ihre Lippen kräuseln sich belustigt.
Ich lache kurz auf und schüttele den Kopf. »Klar, ich meine offensichtlich.«
Sie klettert wieder auf den Pick-up, nimmt eine Hantelscheibe in jede Hand und reicht sie mir. Fünfzehn Kilo pro Stück. Ich kann sie mit dem ganzen Kram nicht allein lassen. Also nehme ich ihr die Teile ab und trage sie bis zur Mitte der ölbefleckten Auffahrt.
»Sollen die in die Garage?«, frage ich.
»Ja, leg sie einfach irgendwo ab.«
Als ich zurückkomme, hat sie schon zwei weitere für mich an den Rand der Ladefläche geschoben. Auf diese Weise arbeiten wir uns durch mehr als ein Dutzend Gewichte, und ohne ein Wort zu verlieren, gehen wir dann zu den Kartons über, bis alle ebenfalls in der Garage aufgestapelt sind. Nachdem wir fertig sind, drückt sie die Heckklappe zu und klemmt sich meinen Ball unter den Arm.
»Puh!« Sie wischt sich den Schweiß von der Stirn, unsere Blicke begegnen sich. Ich bin mir sicher, dass ihre Mundwinkel nach oben wandern, aber ihre Augen halten mich so gefangen, dass ich mir ihr Lächeln nur vorstellen kann.
Ich lache wieder leicht, weil ich nervös bin und wir uns ein wenig zu lange schweigend gemustert haben.
»Also, du spielst Basketball, ja?« Sie unterbricht den Blickkontakt zuerst und lässt den Ball wie vorhin zwischen ihren Händen hin und her rollen. Ich weiß noch nicht mal, wie sie heißt oder woher sie kommt. Ich weiß nur, dass sie in diese Hölle gezogen ist. Sie gehört nicht hierher.
»Ja, aber nur auf dem Platz zwei Straßen weiter – gleich neben dem Spielplatz im Park. Ich spiele nicht in einem Team oder so.« Ich zucke mit den Schultern, mein Blick wandert von ihren Händen zu ihrem Gesicht, als sie auch gerade wieder ihre Augen auf mich richtet. Der Ball friert zwischen ihren Handflächen ein.
»Dann bist du ein Amateur oder so was?« Sie beginnt, den Ball auf ihrer Handfläche zu drehen, und ihr Blick kehrt zurück zu ihren Händen. Sie grinst, weil sie wahrscheinlich genau weiß, dass diese Bemerkung an meinem männlichen Stolz kratzt. Und sie hat recht, das tut sie. Ich verlagere mein Gewicht und hole tief Luft, um etwas größer zu wirken.
»Ich schätze … also, das sind wir alle. Meine Kumpels, meine ich. Aber wir sind gut. Wir spielen nicht wie Amateure.« Trotz meines Gestammels spüre ich, dass mir die Brust schwillt wie bei einem verdammten Pfau, als müsste ich etwas beweisen. Doch je länger sie meinen Ball auf ihrer Handfläche tanzen lässt und dabei die Lippen fest zusammenpresst, um sich das Lachen zu verkneifen, desto mehr fühle ich mich wie ein Idiot.
»Verstehe«, sagt sie und lässt mich endlich vom Haken. Ihr Blick ist immer noch auf ihre Hände und den Ball gerichtet. Sie dreht ihn noch einmal, diesmal auf der Spitze ihres Mittelfingers, dann wirft sie ihn hoch, lässt ihn auf den Boden prallen und dribbelt zweimal, bevor sie ihn mir zuwirft. Sie spielt wahrscheinlich auch.
»Tristan«, sage ich schließlich und nicke ihr zu.
Sie braucht ein paar Sekunden – ein paar sehr lange Sekunden –, um zu antworten. Ein sonderbares Gefühl macht sich in mir breit. Ich verdränge es und halte ihrem Blick stand, bis sie wieder etwas sagt.
»Riley, die Neue.«
Diesmal erhasche ich einen Blick auf ihr Lächeln. Ihre Lippen glänzen und sie schnalzt mit dem Kaugummi, bevor sie ihn mit der Zunge an den Gaumen drückt.
Als sich unsere Blicke erneut treffen, erröten ihre Wangen – aber nur ein bisschen. Bevor auch ich rot werde, vibriert mein Handy an meinem Oberschenkel. Ich hebe kurz einen Finger und nehme Jokers Anruf entgegen, während ich gleich hier in der Einfahrt die Fantasie begrabe, dass ich in meiner Welt auch nur mit so einem Mädchen befreundet sein könnte.
»Ja, ich weiß. Bin schon unterwegs«, sage ich und lege auf, bevor er die Chance hat, irgendetwas zu erwidern.
Meine Gefühle fahren Achterbahn, als ich wieder aufschaue. Manchmal wünschte ich einfach …
»Ich muss los.« Ich zucke mit der rechten Schulter und schiebe die Füße nach hinten, weil es mir schwerfällt, mich umzudrehen und einfach zu gehen, ohne … keine Ahnung … ohne irgendwas.
»Wir sehen uns«, sagt sie leichthin.
Ich nicke und spüre ein tiefes Bedauern in meiner Kehle aufsteigen, als ich ihr den Rücken zukehre und im Takt meiner Schritte zu dribbeln beginne.
»Hey, Tristan!«
Ich knirsche mit den Zähnen und zucke zusammen. Ich wünschte, ich könnte es einfach genießen, dass sie meinen Namen ruft. Sie sollte meinen Namen kennen.
Ich bleibe nicht stehen, aber ich drehe mich um und gehe rückwärts weiter.
Ich hätte so tun sollen, als hätte ich sie nicht gehört.
»Ihr Jungs spielt jeden Abend?«
Ich setze meine Schritte fort. Ich bin schon so weit entfernt, dass sie das Zucken meiner Augen und Lippen nicht mitbekommt, aber als Reaktion auf ihre Frage halte ich unwillkürlich inne. Sie möchte uns zugucken, aber der Basketballplatz ist kein Ort für sie. Er ist kein Ort für irgendjemanden, außer für mich, die anderen Stammspieler und die Leute, die vorbeikommen, um ihre Geschäfte zu machen. Ich sollte sie irgendwie abschrecken, etwas sagen, das sie vergrault.
Stattdessen bringe ich kein Wort heraus. Ich zucke nur mit den Schultern und nicke, denn mein verdrehtes Hirn überzeugt mein Gewissen in diesem Sekundenbruchteil, dass ich es nicht tierisch versaue, wenn ich nichts sage. Aber ich habe es versaut. Ich habe die Beute in die Höhle der Löwen eingeladen.
Und ich habe dabei gegrinst.