Reitemeier / Tewes · Purer Neid
Sämtliche Personen und Institutionen sind frei erfunden, und eine Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig. Einige Schauplätze im Roman sind real, andere hingegen fiktiv.
Pendragon Verlag
gegründet 1981
www.pendragon.de
Unveränderte Neuausgabe
der Erstausgabe aus dem Jahr 2004
Veröffentlicht im Pendragon Verlag
Günther Butkus, Bielefeld 2020
© by Pendragon Verlag Bielefeld 2020
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagillustration: Alfons Holtgreve
E-Book-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund, www.readbox.net
E-Book ISBN: 978-3-86532-693-5
Purer Neid
PENDRAGON
„Wir schlagen Schaum,
wir seifen ein,
wir waschen unsere Hände wieder rein!“
Kurt Tucholsky
Wieder mal: Wer sich den Schuh anzieht, dem passt er. Doch wir sind keine Schuster!
Mit anderen Worten, auch diesmal sind alle Ähnlichkeiten nicht das Resultat des puren Neides, sondern des puren Zufalls. Es ist alles reine Phantasie!
Prolog
Von Greifswald nach Ostwestfalen war es ein ganz schöner Ritt. Seit er um kurz vor drei heute morgen in Berlin auf die A2 gefahren war, kümmerte ihn keine Geschwindigkeitsbegrenzung. Er trat aufs Gaspedal und hatte nicht die Absicht den Fuß vor dem Hinweisschild Bielefeld-Sennestadt von demselben zu nehmen. Seit zwei Wochen war er nicht mehr an seiner alten Wirkungsstätte in Paderborn gewesen. Er hatte sie nicht vermisst. Endlich nicht mehr unter der Fuchtel des Alten. Zwar hatte man ihm auch hier im Osten wieder einen Chef vor die Nase gesetzt, doch der war weit weg und machte nicht den Eindruck, viel auf der Pfanne zu haben.
Ursprünglich hatte er die Absicht gehabt, noch zwei weitere Wochen im Wilden Osten zu verweilen. Doch gestern kam von der Chefsekretärin die Order, so schnell wie möglich zurückzukommen. So ein Quatsch, dachte er, man konnte doch alles telefonisch regeln. Der Alte war eben ein Patriarch wie er im Buche stand. Vor nicht einmal zwei Monaten hatte ihn sein Chef von heute auf morgen in die gerade befreite DDR geschickt. Er sollte Bildungsprogramme konzipieren und vor allen Dingen verkaufen. Diese sollten den befreiten Bürgern der Ostzone dazu verhelfen, westlichen Standard zu erreichen. Er hatte sich die Nächte um die Ohren gehauen und Konzepte entwickelt. Super Konzepte! Nur der Preis stimmte nicht. Zwei vom Land ausgeschriebene Lehrgänge waren schon an die Konkurrenz gegangen, weil er es nicht geschafft hatte, den Eigenanteil von zwanzig Prozent aufzubringen, die der jeweilige Bildungsträger in das Geschäft selbst einlegen musste. Zwanzig Prozent, wo sollte er das Geld hernehmen, wenn nicht stehlen? Er musste dieses Thema unbedingt mit dem Chef im Westen und den Kollegen besprechen, die in den anderen Teilen der ehemaligen SBZ die Geschäfte betrieben.
In Zeitz war er ja ganz erfolgreich gewesen, doch das passte wohl dem Pädagogischen Leiter Ost nicht. Der faselte immer etwas von anderen Absprachen, die er getroffen habe. Die würde er, Dirk Liebermann, stören. Der Leiter hier im Osten hatte trotz aller Inkompetenz Einfluss. Jetzt, nach mehreren Auseinandersetzungen, war er, Liebermann, nach Greifswald versetzt worden.
Gerade war er an der Abfahrt Bielefeld-Sennestadt vorbeigerast. Na gut, dann eben die Abfahrt Gütersloh. Auf die halbe Stunde kam es jetzt auch nicht mehr an. Es wurde schon hell. Warum sollte er noch zu seiner alten Wohnung fahren? Sich jetzt noch schlafen legen, das lohnte nicht mehr. Er würde irgendwo einen Kaffee trinken und anschließend zur Geschäftsstelle gehen, dachte er, lenkte seinen BMW auf die Autobahnabfahrt und war wenige Momente später auf der Straße, die von Gütersloh nach Verl führte.
Wieder holten ihn seine Gedanken ein. Seine Konzepte waren das Beste, was der deutsche Bildungsmarkt je gesehen hatte. An sich müsste der Alte mit ihm zufrieden sein. Die zwanzig Prozent Eigenanteil würde er ihm schon aus dem Kreuz leiern. Schließlich wollte sein Chef in den nächsten Bundestag. Da kamen ihm so ein paar Vorzeigeprojekte, wie er sie entwickelt hatte, für seinen Laden sicher gerade recht. Qualität hatte eben ihren Preis. Klar, nicht einmal Kohle war schwärzer als sein Chef. Doch das sollte ihn nicht weiter stören. Wenn er sich in anderer Weise als dankbar erwies, hatte er nichts dagegen, dass sein Boss sich mit seinen Ideen schmückte.
Da konnte seine Kollegin noch so blond sein und noch so lange Beine haben. In diesem Geschäft würde sich immer Qualität durchsetzen, jedoch nicht die, die nötig war, um gut im Bett zu sein.
Er grinste vor sich hin. Ein Gefühl von Zufriedenheit machte sich in ihm breit. Er war ein Arbeitstier. Das würde sich jetzt auszahlen.
Eine Stunde später betrat er das Büro der Chefsekretärin. An sich war sie immer zu einem kleinen Flirt, mindestens jedoch für einen lockeren Spruch aufgelegt. Heute begegnete sie ihm seltsam kühl.
„Dirk, du bist aber früh dran! Warte doch bitte auf dem Flur! Sobald der Chef da ist, sage ich ihm, dass du da bist.“
Hier saß er nun schon über eine Stunde. Nichts war passiert. Langsam wurde er ungeduldig. Also ging er wieder in das Büro der Sekretärin.
„Was ist denn nun, Sabine? Wie lange soll ich noch da draußen Däumchen drehen?“
Dirk Liebermann war verärgert. Wortlos erhob sich die angesprochene Frau und klopfte gegen eine Tür, die sich an der Stirnseite des Zimmers befand und ging dann in den dahinter liegenden Raum. Es dauerte keine zwei Minuten, da trat ein weißblonder, blutleerer Mann ins Zimmer. Kalte, stählerne Augen sahen Dirk Liebermann an.
„Herr Dolee, sie wollten mich sprechen?“, war die erwartungsvolle Frage.
„An sich nicht“, kam die Antwort. „Geben Sie den Schlüssel Ihres Dienstwagens ab, dann können Sie gehen!“
Liebermann trat der Schweiß auf die Stirn. Ihm wurde gleichzeitig heiß und kalt. Er bekam Ohrensausen und der Boden schwankte unter seinen Füßen. Alle Symptome, die einen Schock kennzeichneten, stellten sich ein. Er musste sich setzen. Umständlich wischte er sich mit einem Papiertaschentuch über das Gesicht. Es verging geraume Zeit bis Dirk Liebermann dazu in der Lage war, das Zimmer zu verlassen. Er war fassungslos. Die Niederlassung des Bildungswerkes beschäftigte sechzehn pädagogische Mitarbeiter. Bis vor einigen Minuten war er einer dieser Personen gewesen. Für den Bereich Ostwestfalen waren Edgar Wolf und bis vor kurzem die Kollegin Elvira Nolte zuständig.
Ede und die Lange Blonde, wie Elvira Nolte in der Einrichtung genannt wurde, mussten Bescheid wissen, warum man ihm gerade den Stuhl vor die Tür gesetzt hatte. Mit zitternden Knien schleppte sich Dirk Liebermann die Treppe hinauf in den zweiten Stock. Hier befand sich das Büro von Ede Wolf. Als er die Tür zu dessen Zimmer öffnete, sah ihn dieser entgeistert an. Offensichtlich wusste er wirklich etwas über das Schicksal Liebermanns, denn er wurde sogleich verlegen. „Na, was macht der wilde Osten?“, stellte er die obligatorische Frage und fuhr dann fort: „Tut mir leid, aber ich habe im Moment wirklich keine Zeit für ein Schwätzchen, ich müsste eigentlich schon seit einer halben Stunde in der Übungswerkstatt sein. Es gibt mal wieder Ärger. Seit nur noch Beschäftigte mit befristeten Verträgen für uns arbeiten und Honorarkräfte, geht es bei uns zu wie in einem Taubenschlag, keine Kontinuität und dadurch ständig Stress im Laden. Jetzt haben wir auch noch diesen bekloppten Betriebsrat. Ich möchte mal wissen, wie die anderen Träger das alles geregelt kriegen.“
Er schob Liebermann beiseite, um an einen Schrank zu kommen, in dem seine Jacke hing. „Wo ist denn die Lange Blonde?“, fragte Liebermann schon ziemlich verzweifelt.
„In Zeitz! Elvira ist erst in einer Woche wieder im Hause.“
„Ede“, presste der Gefeuerte heraus, der jetzt endgültig am Ende seiner nervlichen Belastbarkeit war. „Der Alte hat mich gerade rausgeschmissen!“
Ede Wolf grinste ihn süffisant an, klopfte ihm auf die Schulter und sagte: „Pech, Dirk, ausgesprochenes Pech“, dann hielt er Liebermann die Tür auf und deutete ihm mit einer Handbewegung an, sein Büro zu verlassen.
1
Eigentlich war der Tag bis dahin gar nicht schlecht gelaufen.
Ein sonniger Donnerstag im Mai. Nicht so warm, dass einem das Hemd am Rücken klebt. Aber immerhin so, dass Hermann Rodehutskors kurz vor dem Feierabend seine Krawatte lockerte. Es hatte die ganze Zeit über keine Probleme gegeben. Ein nicht eben spektakulärer, aber ein angenehmer Tag. Bis um 21.15 Uhr!
Nachdem Rodehutskors um ca. 19.30 Uhr die Redaktionsräume der Heimatzeitung in der Detmolder Ohmstraße verlassen hatte, fuhr er noch nicht sofort nach Hause. Einer alten, aber lieb gewordenen Gewohnheit folgend, kehrte er noch für eine Stunde im Detmolder Hof ein, trank ein Glas Wein und plauderte mit seinen zahlreichen Bekannten. Hermann Rodehutskors hatte ein Problem, welches dringend ertränkt werden musste. In zehn Tagen begann seine Kur! Aber keine herrliche Zeit mit morgens Fango und abends Tango. Nein, ihm war eine Fastenkur verschrieben worden. Ein Alptraum!
Aber noch hatte er alle Zeit der Welt. Seine Frau war nicht zu Hause. Sie besuchte gerade ihre gemeinsame Tochter in Bremen. Als er kurz nach 21 Uhr vor seinem Haus in Berlebeck anhielt, verzauberte die untergehende Sonne das enge Tal am Eingang zur Gauseköte mit einem warmen und freundlichen Licht.
Er schaute in seinen Briefkasten, eine amerikanische Mailbox, und fand darin neben zwei Briefen ein kleines braunes Päckchen. Beim flüchtigen Draufschauen erkannte er eine Rechnung seiner Versicherung und einen anscheinend privaten Brief. Drinnen legte er das Päckchen und den Privatbrief auf seinen Küchentisch. Die Rechnung öffnete er und brachte sie anschließend mit leichtem Unmut in sein Arbeitszimmer. Nach einem ausgiebigen Toilettenbesuch nahm er sich dann die restliche Post vor. Er nahm das Päckchen in die Hände, drehte und wendete es, um den Absender zu finden. Es gab keinen. Es gab nur die Adresse, mit einem PC auf ein weißes Blatt geschrieben und auf den weichen, dick gefütterten DIN A 4-Umschlag geklebt. Unter seinem Vor- und Nachnamen stand ein fettes Nur persönlich zu öffnen!. In der linken unteren Ecke standen handgeschrieben sechs Zahlen. Einen Sinn machten sie nicht. Briefmarken gab es keine, offenbar war das Päckchen nicht per Post zugestellt worden. Erstaunlich war das Gewicht des Päckchens im Verhältnis zur Größe. Der eigentliche Schwerpunkt war nicht in der Päckchenmitte, wie es doch eigentlich zu erwarten gewesen wäre, sondern am linken Rand. Verschlossen war das Päckchen mit einer Unmenge an Klebeband. War der Inhalt so wertvoll oder fürchtete man dessen Beschädigung? Als Rodehutskors das Päckchen unschlüssig hin und her drehte, wunderte er sich über seinen plötzlichen Appetit auf Marzipan. Er schnupperte nun intensiver und war sicher, den Duft von Mandeln wahrzunehmen. Merkwürdige Post! Aber was sollte das Grübeln. Er brauchte das Päckchen nur aufzureißen und nachschauen. Aber irgendwas hielt ihn zurück. Irgendwas brachte ihn dazu, das Päckchen erst mal wieder auf den Küchentisch zu legen, es noch mal in Ruhe anzuschauen, die Stirn zu runzeln… und sich dann erst mal dem Brief zu widmen.
Auch hier gab es keinen Absender. Auch hier die gleiche Form der Adresse. Auch hier keine Briefmarke.
Aber der Brief hatte ein ganz normales Gewicht und roch auch nicht komisch. Hermann Rodehutskors riss ihn kurz entschlossen auf, entnahm ein bedrucktes DIN A-4-Blatt und las.
Nach den ersten Worten spürte er, wie ihm die Knie weich wurden, sich der Magen zusammenballte und ihm schwindelig wurde. Er ließ sich plump auf einen Küchenstuhl fallen und las weiter.
Sehr geehrter Herr Rodehutskors,
Sie haben heute mit einem Sonderkurier diesen Brief und ein Päckchen erhalten. In dem Päckchen befindet sich eine Briefbombe! Wenn Sie es unsachgemäß öffnen, wird die Bombe gezündet. Der Sprengsatz reicht aus, um jedes Leben in einem geschlossenen Wohnraum zu töten. Wir haben Sie sehr sorgfältig als Empfänger ausgewählt. Nicht, weil wir etwas gegen Sie persönlich haben. Im Gegenteil! Wir wollen mit Ihnen zusammenarbeiten! Wir würden uns freuen, wenn diese, zugegeben etwas unkonventionelle Form der Kontaktaufnahme Ihr Interesse findet und Ihnen Motiv genug ist, sich mit uns in Verbindung zu setzen.
Die Bombe wird in Kürze ferngesteuert gezündet. Die Explosion lässt sich nur vermeiden, wenn Sie umgehend die Handy-Nummer 0171-26169479 anwählen und laut und deutlich die Zahlenreihe auf dem Umschlag vorlesen. Tun Sie das bitte sofort, denn uns ist mehr an der Arbeit mit Ihnen, als an Ihrem Tod gelegen.
Verein zur Datenvermeidung n.e.V. (nicht eingetragener Verein) OWL
Kalter Schweiß stand dem alten Journalisten auf der Stirn. Waren das nun völlig Verrückte? Was war zu tun? Er schaute wie gelähmt auf die Handynummer. Dort anzurufen erschien ihm als die richtigste Handlungsweise. Damit würde er Kontakt zu den Bombenbauern bekommen und die bedrohliche Anonymität dieser Leute durchbrechen. Gleichzeitig, und das war ihm natürlich erst einmal am wichtigsten, würde dadurch die Bombe entschärft. Er sprang hektisch auf, lief in sein Arbeitszimmer und kam mit dem schnurlosen Telefon wieder zurück. Mit zittrigen Fingern begann er die Handynummer einzutippen. Nach den ersten vier Zahlen stoppte er. Er konnte sich nicht erklären warum, aber irgendetwas in ihm hatte Alarm geschlagen. War es Lebenserfahrung? War es Instinkt? Auf jeden Fall war er plötzlich nicht mehr in der Lage, weiterhin die Ziffern einzugeben. Ihm wurde schwindelig. Leicht wankend schlurfte er ins Wohnzimmer, öffnete den Schrank und entnahm ihm eine Flasche Cognac und ein Glas. Er füllte das Glas bis zur Hälfte und trank es im Stehen aus. Danach setzte er sich benommen hin und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Nach einigen Minuten gelang ihm das auch. Hermann Rodehutskors griff wieder zum Telefon und wählte. Aber diesmal die Nummer der Detmolder Kriminalpolizei. Spätschicht hatte Kommissar Bernhard Lohmann, den Rodehutskors gut kannte. Nicht mit der ihm sonst eigenen Ruhe, sondern hektisch und etwas durcheinander erklärte er dem Polizisten die Lage. Es dauerte eine Weile, bis Rodehutskors seinem Gegenüber klar machen konnte, dass er ihn nicht „veräppeln“ wolle. Als Lohmann dies endlich verstanden hatte, reagierte er schnell und professionell. Er wies Rodehutskors an, alles liegen und stehen zu lassen, so schnell wie möglich aus dem Haus zu gehen und es hinter sich abzuschließen. Die Spezialisten vom LKA wären in spätestens einer Stunde bei ihm. Er solle sich solange auf der Straße aufhalten, es sei ja noch schön warm draußen.
Es dauerte anderthalb Stunden, bis der Sprengstoff-Experte in Begleitung von zwei Polizisten eintraf und allein ins Haus ging, nachdem Rodehutskors ihn über alles informiert hatte. Und eine weitere Stunde, bis er wieder vor die Tür trat und den alten Journalisten hereinrief. Rodehutskors wusste nicht, was ihn mehr erleichterte. Die Tatsache, endlich wieder ins Haus zu dürfen, nachdem es draußen doch mittlerweile recht kühl geworden war. Oder die Erlösung, dass in seiner Küche doch keine Bombe explodiert war.
Der Spezialist, ein dürrer, aber drahtiger Mann um die Fünfzig mit kurzen, schneeweißen Haaren, setzte sich auf einen Küchenstuhl, wischte sich den Schweiß von der Stirn und schaute Rodehutskors sehr ernst an.
„Da haben Sie aber ein ganz verdammtes Glück gehabt!“ begann er. „Wenn Sie diese Handynummer angerufen hätten, wären Sie jetzt nicht mehr am Leben!“
Nun war es an Rodehutskors, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen.
„Wieso?“, stammelte er, „was hätte das bewirkt?“
Der Experte lachte kurz und trocken, blieb dabei aber sehr ernst.
„Das Handy, welches zu dieser Nummer gehört, war in dem Paket. Hätten Sie die Nummer wirklich angewählt, hätte das einen schwachen, aber ausreichenden elektrischen Impuls im Handy gegeben. Dieser Impuls hätte die Bombe zur Explosion gebracht. Wenn ich den Trick mit der Handynummer auch ziemlich hinterfotzig finde, muss ich rein fachlich vor dem Bombenbastler den Hut ziehen. Saubere Arbeit, da gibt’s nichts!“
Es klingelte. Die Kripo Detmold in Person von Kommissar Lohmann stand bereit, die bedrohte Welt zu retten. Rodehutskors musste ihm alles noch einmal haarklein erzählen, während sich Lohmann in seiner peniblen Handschrift Notizen machte.
Es war fast Mitternacht, als Rodehutskors endlich wieder allein war. Er wollte gerade zu Bett gehen, als das Telefon schrillte. Eine ihm unbekannte Stimme sagte:
„Herzlichen Glückwunsch! Sie haben sich bewährt. Wir haben es doch gewusst. Rodehutskors ist der richtige Mann für uns. Es hätte uns wirklich leid getan, wenn Ihnen was passiert wäre, das sollten Sie wissen. Aber wir mussten Ihnen doch irgendwie klarmachen, dass Sie es bei uns mit ebenso entschlossenen wie kompetenten Leuten zu tun haben. Und dass es sich lohnt, uns zuzuhören.“
Rodehutskors war sprachlos.
2
Josef Schulte trottete noch im Halbschlaf seinem Hund hinterher, der ihn durch die Heidentaler Feldflur führte. Es war kurz nach Sechs. Immer, wenn er zu so unchristlicher Zeit mit seinem vierbeinigen Freund Gassi ging, war er völlig verwundert, wieder zu Hause angekommen zu sein. Hätte ihn zu diesem Zeitpunkt jemand gefragt, welchen Weg er gegangen sei, er hätte ihm keine Antwort geben können. Wenn ihm dies bewusst wurde, überlegte er immer, ob er seinen Rottweiler-Staffordterrier-Mischling nicht doch zum Blindenhund ausbilden sollte. Diesen Gedanken verfolgte er jedoch nie sehr lange, da er die dreißigminütigen morgendlichen Gewaltmärsche nur sehr selten absolvieren musste, denn im Allgemeinen kümmerte sich sein Nachbar und Vermieter, der Bauer Anton Fritzmeier, um das Tier. Doch im Moment hatte dieser die Handwerker im Haus und morgens musste er sich, wie er sagte, erst darum kümmern, dass alle an die Arbeit kamen. Schließlich kostete jede Minute, die die Männer herumstanden, sein sauer verdientes Geld. An solchen Aussagen merkte Schulte, dass dem an sich großzügigen Fritzmeier der Lipper aus jedem Knopfloch guckte.
Gedankenverloren kramte der Polizist in seinem Brotkasten. Er fand ein Brötchen, das er auf den Toaster legte. Es würde Zeit, dass die Bauerei bei Fritzmeier auf dem Hof endlich ein Ende hatte und der Bauer wieder seinen alltäglichen Pflichten nachgehen konnte, die unter anderem darin bestanden, die Einkäufe für Schulte zu erledigen. Als er dann im nächsten Moment in die gähnende Leere seiner Kaffeedose starrte, warf er das inzwischen angekokelte Brötchen seinem Hund zum Fraß hin, fluchte und entschloss sich, seinen morgendlichen Kaffee im Büro zu trinken. Lohmann, sein Kollege, hatte bestimmt schon eine Kanne gekocht.
Schulte ging noch kurz zu Fritzmeier, besprach das Nötigste und übergab ihm seinen Hund zu treuen Händen. Dann startete er seinen VOLVO, einen ehemaligen Leichenwagen, den er liebevoll „Black Beauty“ nannte und nahm Kurs auf Detmold.
Eine Viertelstunde später hielt er die ersehnte Tasse Kaffee in der Hand, hatte die Füße in die unterste Schublade seines Schreibtisches gelegt und las die Lippische Heimatzeitung, als Maren Köster sein Büro betrat. Sie hatte noch etwas blaue Farbe in den Haaren, auch die Finger waren nicht verschont geblieben.
Seine Kollegin hatte vor einiger Zeit eine unerwartete Erbschaft gemacht. Ein Haus in Lemgo, das sie seitdem in mühevoller Eigenleistung nach ihren Vorstellungen renovierte. Mit ihr gemeinsam wollte Axel Braunert, ein Kollege von Schulte und Maren Köster, eine Hausgemeinschaft eingehen.
„Na, was macht das Pinselquälen?“
„Endlich fertig! Ich hatte ja gehofft, du würdest dich mal zum Helfen bei uns einfinden, aber wenn man sich auf dich verlässt, ist man verlassen.“
„Das tut mir jetzt aber auch weh. Hättest ja mal was sagen können“, versuchte sich Schulte rauszureden.
Maren Köster machte eine Handbewegung, also wolle sie Schultes Argumente wie einen Schwarm Fliegen verscheuchen. „Ist ja auch egal, wir sind gestern Abend fertig geworden. Jetzt brauche ich ein paar starke Männer, die mir beim Umziehen helfen.“
„Ich soll Detmolder Möbel über den Apenberg schleppen?“ Schulte suchte nach einer überzeugenden Ausrede.
„Nun stell dich mal nicht so an, Jupp! Wenn alle Freunde mithelfen, ist der Umzug Samstagmittag erledigt. Im Übrigen habe ich längst nicht so viele Möbel wie Braunert.“
„Ach du Scheiße, der ist ja auch noch dran! Steht der etwa schon hinter der Tür und kommt kurz nach dir mit ähnlichen unsittlichen Anträgen um die Ecke?“
„Keine Panik, bei Axel dauert es noch ein paar Wochen, so penibel wie der ist. Eine besondere Farbe fehlt noch. Der Gardinenstoff lässt auch auf sich warten, den bekommt er erst in zwei Wochen. Du kennst ja unseren Kollegen, wenn bei dem nicht alles fertig ist, stellt er kein einziges Möbel in die neue Wohnung. Bis der seinen Umzug vorbereitet hat, hast du den Muskelkater, den dir das Schleppen meiner Möbel höchstwahrscheinlich bereiten wird, längst vergessen. Also, Samstag um acht Uhr an meiner alten Wohnung! Ich zähle auf dich.“
Die Polizistin klopfte dem Hauptkommissar aufmunternd auf die Schulter. Im nächsten Moment hatte sie sein Büro verlassen.
3
Wie jeden Morgen ging der Bankangestellte Wilhelm Wieburg zu Fuß zu seiner Arbeitsstelle. Mit seinen Gedanken war er noch bei seiner von ihm über alles geschätzten Lippischen Heimatzeitung, deren Lektüre für ihn jeden Morgen ein Muss war. Vor dem Gebäude der ehemaligen Hiddeser Gemeindeverwaltung stoppte er. Hatte ihm seine Frau sein Frühstücksbrot eingepackt? Umständlich kontrollierte er seine Aktentasche. Außer einigen Vorgängen, die er gestern Abend noch bearbeitet hatte, war sie leer. Ärgerlich überlegte er: Zurückgehen? Auf das Frühstück verzichten? Dann wurden seine Gesichtszüge wieder versöhnlicher. Ein Mettbrötchen von der Metzgerei Grundmann, lautete die getroffene Entscheidung. Freudig dachte er an den bevorstehenden Genuss. Das entgangene Frühstück, das ihm seine Frau eingepackt hätte, wäre, wie immer, ein Vollkornbrot mit Margarine und Rübenkraut gewesen. Wieder gut gelaunt wechselte er die Richtung. Hielt sich rechts, wollte eiligen Schrittes den kleinen Park neben der Hiddeser Sparkasse durchqueren, da sah er das Malheur. Jemand hatte den Inhalt der Papierkörbe über die gesamte Fläche verteilt. Die überdimensionalen Schachfiguren, mit denen die Kurgäste, wenn sie sich denn noch in den Ort am Fuße des Hermannsdenkmals verirrten, das Brettspiel der Könige spielen konnten, lagen kreuz und quer zwischen diversem Unrat herum. Auf den für das Spiel vorgesehenen vierundsechzig quadratischen Feldern lag noch der wahrscheinlich betrunkene Penner, der, so dachte Wieburg, mit absoluter Sicherheit für dieses Chaos verantwortlich war und schlief. Der Banker war empört. Er hasste alles, was mit Unordnung zu tun hatte. Seien es zerknüddelte Geldscheine, Falschparker oder irgendwelche Menschen, die betrunken in an sich aufgeräumten Parks herumlagen. Energisch näherte er sich dem auf der schwarz-weiß karierten Fläche Liegenden. Blieb dann wie angewurzelt stehen. Leichenblass! Vor ihm lag ein Mann in einer Blutlache. Der Kopf war von der schwarzen Dame des königlichen Spiels zertrümmert worden. Wieburg trat kalter Schweiß auf die Stirn. Er musste sich übergeben. Anschließend setzte er sich auf die nächste Parkbank. In diesem Moment hielt vor der Drogerie Asendorf ein Streifenwagen. Nahrungskonkurrenten des Bankangestellten. Wie er wollten sich die Gesetzeshüter in den Besitz frisch belegter Brötchen bringen.
Wieburg drückte seine Körpermasse von über zwei Zentnern in die Höhe. Mit watschelndem Gang und mit den Armen winkend näherte er sich dem Polizisten, der ihn an Körperfülle noch übertraf. Der Mann in Uniform versuchte den Heranstürmenden zu übersehen, denn wenn er die Gesten dessen richtig deutete, sah die ganze Zeremonie nach Arbeit für die Polizei aus. Der Wachtmeister hat jedoch nur ein Interesse: In Ruhe ein paar frische, mit Mett bestrichene Brötchen zu verzehren.
Doch Volle, so hieß der Uniformierte, hatte Pech. Schon erfasste eine Hand seine Schulter. Die vierzig Meter Wegstrecke, die Wieburg rennend, wenn man das überhaupt so bezeichnen konnte, zurückgelegt hatte, machten den Bankangestellten atemlos. Er holte immer wieder tief Luft und presste nach jedem Schnaufer: „Ein Toter“ hervor.
Widerwillig drehte sich Volle dem am Rande eines Infarktes Stehenden zu. Er sah seine Brötchen in Gefahr.
„Nun beruhigen Sie sich doch, wenn er tot ist, läuft er uns doch nicht mehr weg.“
Der Bankangestellte starrte in das Panzerknackergesicht des Polizisten. Dieser wandte sich an den Fahrer des Streifenwagens, der uninteressiert in die Welt stierte.
„Büschemann, hier faselt einer was von einem Toten, kümmere dich mal um ihn! Ich sorge inzwischen dafür, dass wir was zwischen die Zähne kriegen.“
Ein hagerer, circa fünfundzwanzig Jahre alter Mann, mit einem von Akne übersäten Gesicht, schälte sich hinter dem Steuer des Streifenwagens hervor. „Na, dann zeigen Sie mir mal, wo es brennt!“, sagte er gelangweilt.
4
Schulte nahm sich die Akte vor, die ihm Maren Köster auf den Schreibtisch gelegt hatte. Sie enthielt den Bericht über den versuchten Briefbombenanschlag auf Rodehutskors.
Seltsame Geschichte, dachte Schulte. Er hatte zwar selbst schon mit dem Zeitungsmann gesprochen, konnte sich jedoch keinen Reim auf das Ereignis machen. Dennoch schob er jetzt die Heimatzeitung beiseite, öffnete die Akte und begann zu lesen. Der Anschlag fiel zwar in den Aufgabenbereich von Köster und Lohmann, doch Schulte verspürte ein ernsthaftes Interesse an dem Fall. Gerade hatte er sich die Kopien des Berichtes zurechtgelegt, da störte ihn sein Telefon. „Hallo Jupp, hier Nübel, leg deine Zeitung beiseite, in Hiddesen ist ein Toter gefunden worden. Sieht ganz nach einer Gewalttat mit Todesfolge aus. Die Spurensicherung ist schon raus.“
„Dann sei doch so freundlich und sag mir, wo der Tatort ist. Das stand nämlich heute nicht in der Zeitung“, entgegnete Schulte süffisant.
„In dem kleinen Park neben der Sparkasse.“
„Bin schon unterwegs! Weiß Braunert Bescheid?“
„Der hat eigentlich überstundenfrei. Ich habe ihn aber schon angerufen. Wusstest du, dass er sich in Baumärkten herumtreibt? Ich traue unserm Axel ja vieles zu, aber ich dachte immer, wenn der einen Hammer in die Hand nimmt, dann bringt er sich damit um.“
„Tja, stille Wasser …“.
Schulte legte den Hörer auf, griff nach seiner speckigen Lederjacke, die er an solchen Frühsommertagen eher aus Traditions- als aus Trachtengründen dabei hatte und war zehn Minuten später am Tatort.
Ein kreidebleicher Mann in Anzug und Krawatte und ein ebenso bleicher Polizist standen abgewandt von dem Geschehen. Sie wirkten apathisch. Was um sie herum geschah, schienen sie nicht wahrzunehmen.
Ein weiterer Mann, ebenfalls mit einer Polizeiuniform bekleidet, sah zu, wie die Spurensicherung das Umfeld der Leiche untersuchte. Dabei aß er offensichtlich genüsslich ein Mettbrötchen.
Als Heinz Krause Schulte kommen sah, richtete er sich auf und ging ihm entgegen.
Noch bevor der Kommissar ihn begrüßen konnte, gab der mit Gummihandschuhen bekleidete Mann, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, Auskunft über den Toten. Fast amüsiert sagte er:
„Hallo Jupp, wir haben es mit einem Toten zu tun, der erschossen und erschlagen wurde.“
Schulte glotzte den Kollegen an.
„Wie, erschossen und erschlagen?“
„Na ja, er hat einen Einschuss in der Brust, ein riesiges Loch, und den Schädel zertrümmert.“
„An welcher der beiden Verletzungen ist er denn gestorben?“
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass er erschossen wurde. Jedoch nicht hier. Wir haben keinen Kugelriss gefunden, weder im Boden noch in einer der Hauswände. Er wurde mit einem großen Kaliber erschossen, wahrscheinlich mit einem Zerlegungsgeschoss. Der Ausschuss ist weitaus größer als der Einschuss. Ich vermute, dass die Kugel auf eine Rippe getroffen ist, dann aufpilzte, so dass diese verheerende Wunde zustande kam. Im Moment, nimm meine Aussage mal als Vermutung an. Der Gerichtsmediziner und der Pathologe kommen noch. Ich denke, sie werden uns bis morgen sagen können, wie der genaue Tötungshergang verlaufen ist. Ich glaube jedoch, ich liege nicht falsch.“
„Gibt es zum jetzigen Zeitpunkt sonst irgendwelche nennenswerten Spuren?“
„Keine, außer die von Volle, diesem Idioten, verstreuten Brötchenkrümel. Wenn ich was habe, lasse ich es dich wissen.“
Schulte zückte sein Handy, rief Braunert an und signalisierte ihm, dass er seinen Streifzug durch Detmolds und Lemgos Baumärkte beruhigt fortsetzen könne. Dann sah er sich den Tatort in aller Ruhe an und versuchte ein erstes Gespräch mit dem Bankangestellten zu führen, der die Leiche gefunden hatte. Dieser war jedoch noch so geschockt, dass keine einigermaßen ergebnisorientierte Unterhaltung mit ihm möglich war. Also bestellte Schulte den Mann für den nächsten Tag in die Kreispolizeibehörde.
5
Heute fühlte er sich das erste Mal seit langem befreit. Er hatte sich rasiert und gewaschen. Nun wollte er den Tag in angemessener Weise verbringen. Jahrelang hatte er das Gefühl nicht mehr gekannt.
Er hatte sich eingeigelt. Seinen Freundeskreis verloren. Seine langjährige Lebensgefährtin hatte sich von ihm getrennt.
Die langen Zeiten der Arbeitslosigkeit zwischen den Zeitverträgen und den ABM-Maßnahmen waren jedes Mal, als würde er sterben und jedes Mal starb wirklich ein Stück von ihm.
Jedes Mal fühlte er sich leerer, geradezu hohl. Seine Ideale, die er nach dem Studium hatte verwirklichen wollen, waren zusammengestürzt wie ein Kartenhaus.
Doch heute war alles anders. Jetzt wusste er, wie er der Lethargie entkommen konnte. Er hatte die Quelle gefunden, aus der er seine Kraft schöpfen konnte.
6
Nachdem Schulte seine Aufgaben am Tatort erledigt hatte, sah er auf die Uhr. Zeit, etwas zu Mittag zu essen. Er überlegte nicht lange, setzte sich in seinen VOLVO Leichenwagen und fuhr Richtung Innenstadt.
Sein Lieblingsimbiss, Rudolfs Rostbratwurststand, hatte seit kurzem sein Angebot erweitert. Es gab nun an bestimmten Tagen neben der obligatorischen Brat- und Currywurst auch Nackensteaks mit Krautsalat. Zur Zeit Schultes favorisiertes Mittagessen. Nachdem er sich dieses einverleibt hatte, ging er zum Marktplatz, um sich in der Eisdiele noch einen Espresso und ein Wasser zu genehmigen. Er sah noch einige Zeit dem Treiben auf der Detmolder Langen Straße zu, grüßte einige Bekannte, die vorbeikamen und machte sich dann auf den Weg in sein Büro. Gerade als er die Tür zu diesem öffnete, begann sein Telefon zu läuten. Am Apparat war Heinz Krause mit den Daten des Toten.
„Hallo Jupp, ich habe schon einiges für dich. Bei dem Toten handelt es sich um Wilhelm Leipholt. Er ist sechsundsechzig Jahre alt und Pensionär. Er ist alter Detmolder, also hier geboren. Früher hat er beim Landesarbeitsamt gearbeitet und ist jetzt, wo er im Ruhestand ist, wieder nach Detmold zurückgezogen. Er wohnte seit einiger Zeit wieder in einer Wohnung seines Hauses in der Hermannstraße. Ist geschieden und lebt anscheinend allein.“
„Prompte Bedienung, Heinz, da kann man nichts sagen. Hat er Angehörige?“
„Jedenfalls nicht in Detmold.“
„Kann ich in seine Wohnung?“
„Den Originalschlüssel kann ich dir nicht geben, an dem ist die Spurensuche noch nicht abgeschlossen. Ist aber ein Allerweltsfabrikat, ich kann dir die Tür in einer Sekunde aufmachen lassen.“
„Wäre nicht schlecht, dann kann dein Kollege gleich dabeibleiben. Ich habe Braunert nämlich wieder in seinen Baumarkt entlassen.“
„Lass mal, Jupp, ich komme am Besten selber mit, bevor du wie ein Elefant im Porzellanladen durch die Wohnung tobst und mir alle Spuren verwischst. Bin lieber dabei und sage dir, wo du hinzutreten hast.“
„Danke für dein Vertrauen. Wir treffen uns in fünf Minuten auf dem Parkplatz. Du kannst bei mir mitfahren.“
„In deinem Leichenwagen? Nee danke, Jupp, ich fahre selber, sonst mache ich mich noch zum Gespött der Leute. Außerdem, in Detmold kennen mich zu viele. Wenn ich aus deiner Karre aussteige, weiß das in einer halben Stunde meine Frau, die kriegt womöglich noch einen Herzinfarkt, weil sie denkt, dass jemand aus der Familie gestorben ist.“
Schulte sah auf die Uhr. Gleich halb drei. Diesmal ließ er seine Lederjacke auf der Stuhllehne hängen. Er schwitzte.
Als Schulte einen Parkplatz in der Hermannstraße suchte, sah er Krause schon vor einem Schaukasten der LBS stehen, die dort angebotenen Immobilienangebote studierend. Schulte fuhr rechts in eine Parklücke und stand zwei Minuten später neben seinem Kollegen.
„Na, Heinz, willst du ein Haus kaufen?“
„Nee, aber wenn ich an so einem Schaukasten vorbeikomme, muss ich immer mal gucken. Mache ich, glaube ich, aus alter Gewohnheit.“
Während sie sich unterhielten, hatten sie die Elisabethstraße überquert und standen kurze Zeit später vor der Wohnungstür von Leipholt.
Wie versprochen hatte Krause die Tür innerhalb einer Sekunde auf, doch dann erschraken die beiden Polizisten durch den ohrenbetäubenden Lärm, den die ausgelöste Alarmanlage machte.
„Scheiße!“, sagte Krause und zückte sein Handy, um bei seinen Kollegen auf der Wache Entwarnung zu geben. Dann suchte er den Türrahmen ab und knipste mit einem kleinen Seitenschneider, den er aus irgendeiner Tasche gezaubert hatte, einen fast nicht zu sehenden Draht durch. Es trat Stille ein.
Die beiden Polizisten betraten eine geräumige, helle Wohnung mit hohen Räumen. Sie war nicht voll gestopft mit Möbeln. Doch die, welche die Räume schmückten, waren erlesene Antiquitäten. Auch die Bilder, die an den Wänden hingen, hatten ihren Wert. Sogar ein echter Reitemeier war dabei. Krause pfiff durch die Zähne.
„Nicht schlecht für einen kleinen Beamten. Unser Toter muss noch andere Einnahmequellen gehabt haben. Na, wir werden ja sehen.“
Krause zog zwei Paar Gummihandschuhe aus der Tasche und drückte ein Paar davon dem Kommissar in die Hand. Doch bevor der Spurensicherer begann die Wohnung zu durchsuchen, fasste ihn Schulte auf den Arm.
„Lass mir einen Augenblick. Ich möchte mir die Wohnung einprägen und die Atmosphäre auf mich wirken lassen.“
Krause war sprachlos. Ein solches Verhalten hätte er von seinem Kollegen nicht erwartet. Um Schulte nicht weiter zu stören, ging er noch einmal in den Hausflur, um den Briefkasten zu kontrollieren.
Schulte stand mitten in dem großen Wohnzimmer und sah sich um. Einen solchen Zustand würden Räume, in denen er wohnen würde, niemals erreichen. Nirgendwo lag etwas herum. Nirgendwo war Staub zu sehen. Er ging ins Schlafzimmer, auch hier eine Ordnung, wie sie der Kommissar nie zuvor gesehen hatte.
Er konnte sich nicht vorstellen, dass diese Räume jemals ein lebendes Wesen betreten hatte, außer zum Putzen. Gerade hatte er diesen Gedanken zu Ende gedacht, da kam Krause wieder herein.
„Was fällt dir an der Wohnung auf, Heinz?“
Krause zuckte mit den Schultern.
„Zu feudal eingerichtet für einen ehemaligen Beamten des Arbeitsamtes.“
„Und, was noch?“
„Leipholt war ziemlich ordentlich.“
„Ziemlich ordentlich? Ich sehe hier nicht das kleinste Zeichen von Unordnung. Das ist ja schon fast gespenstisch.“
„Dass eine aufgeräumte Wohnung solche Gefühle in dir auslöst, kann ich mir denken. Ich war zwar erst einmal bei dir zu Hause, aber da hätte mich beinah der Schlag getroffen. Ich habe mich damals gefragt, wie man nur so leben kann?“
Schulte machte keine Anzeichen, das Thema weiter zu vertiefen. Also fingen die beiden Polizisten an, die Schränke systematisch zu durchsuchen. In allen Fächern und Schubladen herrschte ähnliche Ordnung wie in den Räumen. Daher konnten sich die beiden Männer schon nach zwei Stunden ein ungefähres Bild vom Verlauf des Lebens Leipholts machen.
Leipholt hatte 1954 die Realschule abgeschlossen und war dann zum Arbeitsamt gegangen, wo er die Beamtenlaufbahn des mittleren Dienstes eingeschlagen hatte. Sein Leben verlief auf den ersten Blick unspektakulär. 1966 hatte er eine Marita Konze geheiratet. In diesem Jahr war das Paar dann auch nach Düsseldorf gezogen und Leipholt hatte beim Landesarbeitsamt angefangen, seinen Dienst zu verrichten.
Die Ehe blieb kinderlos. 1991 wurde sie geschieden. Der Grund war auf den ersten Blick nicht ersichtlich.
Waren ziemlich lange verheiratet, die beiden. Wieso man sich nach einer solch langen Zeit noch scheiden lässt?, dachte Schulte. Andere feiern dann Silberne Hochzeit.
Leipholt war 1990 gleich in die ehemalige DDR gegangen und hatte mitgeholfen, dort ein Arbeitsamt aufzubauen. Er kam 1994 zurück nach Düsseldorf.
„Irgendetwas stimmt da nicht, Heinz. Wir haben noch nicht alles gefunden. In dieser Wohnung ist noch etwas versteckt, das ganz wichtig für uns ist.“
„Jupp, ich entdecke ja immer neue Züge an dir. Erst willst du die Wohnung auf dich wirken lassen und dann kommst du mit so etwas wie Intuition. Dass du ein ziemlich spontaner Mensch bist, ist ja hinreichend bekannt. Das wissen ja sogar die Handballer des TBV Lemgo. Doch dies sind ganz neue Verhaltensweisen.“
Schulte winkte ab.
„Das hat mit Intuition überhaupt nichts zu tun. Wer so ordentlich ist wie dieser Leipholt, der hat auch Belege darüber, wo er seine teueren Möbel gekauft hat. Der hat Aufzeichnungen über seine Geldgeschäfte und der hat Unterlagen über Bankkonten. Hast du irgendetwas dergleichen gefunden.“
Krause kratzte sich am Kopf. Schulte hatte recht.
„Vielleicht hat er die Unterlagen ja in einem Bankschließfach?“
„Dann hätten wir so etwas wie einen Schlüssel finden müssen. Außerdem finde ich die Wohnungssicherung durch eine Alarmanlage trotz der nicht ganz billigen Möbel schon etwas übertrieben. Nee, nee, Heinz, da gibt es noch was, was wir übersehen haben.“
Krause fand Schultes Argumente durchaus einleuchtend.
„Wenn es in dieser Wohnung noch ein Geheimnis gibt, dann finden wir das auch, darauf kannst du dich verlassen. Nur jetzt will ich die Suche nicht intensivieren. Ich beginne gleich erst mal mit der Spurensicherung. In diesem Zusammenhang drehe ich hier jeden Quadratzentimeter um, das verspreche ich dir. Ich rufe gleich meine Mannschaft an und dann legen wir los. Sobald ich etwas entdeckt habe, rufe ich dich sofort an.
Krause griff zum Handy. Für Schulte war dies das Zeichen, dass Krause jetzt allein gelassen werden wollte. Es war jetzt siebzehn Uhr fünfzig. An sich hatte er keine Lust mehr, noch einmal ins Büro zu fahren. Doch es blieb ihm nichts anderes übrig. Spätestens morgen früh um neun stand Erpentrup, sein Chef, bei ihm auf der Matte und wollte einen ersten Bericht haben. Es wunderte ihn sowieso, dass er bis jetzt weder von jemandem von der Presse noch vom Polizeidirektor angerufen worden war. Als er einen Blick auf sein Handy warf, stellte er fest, dass er es ausgestellt hatte.
Eigentlich gar kein schlechter Trick, dachte Schulte. Steckte das Telefon wieder in die Tasche und machte sich auf den Weg zu seinem Auto.
7
Schlecht gelaunt kam Schulte an diesem Morgen ins Büro. Als er seinen ersten Bericht über den Schachbrettmord gestern Abend beendet hatte, war es fast einundzwanzig Uhr gewesen. Er hatte Lust auf ein Bier bekommen, wollte es jedoch nicht alleine trinken, also war er zu seinem Freund Detlev Dirkes gefahren. Dieser war Tierarzt und wohnte mit seiner Frau Lisa und den beiden Kindern auf einem Bauernhof in der Nähe von Brüntrup.
Bier und Schnaps gab es bei Dirkes immer reichlich. Die beiden Männer waren ins Reden gekommen und hatten so mehr als eine Flasche geleert. Schulte war, wie so oft, nicht mehr nach Hause gefahren, sondern hatte bei seinem Freund auf dem Sofa übernachtet. Jetzt taten ihm, zusätzlich zu den Kopfschmerzen, die ihn plagten, auch noch sämtliche Knochen weh. Kaum hatte er sich auf seinen Schreibtischstuhl gesetzt, da klingelte das Telefon. Erpentrup war am Apparat, der, wie erwartet, den Bericht verlangte.
„Habe ich Ihnen doch gestern Abend schon gemailt“, sagte Schulte mit vorwurfsvollem Unterton.
„Wie, gemailt? Entschuldigen Sie bitte, Herr Hauptkommissar, ich habe heute Morgen meine Mails noch gar nicht abgerufen“, entgegnete Erpentrup. Seine Verlegenheit und seinen Ärger über sich selbst waren nicht zu überhören.
„Ich sehe gleich mal nach, ob die Nachricht schon da ist. Falls ich noch Fragen habe, melde ich mich wieder“, beendete der Polizeidirektor das Gespräch.
Eigentlich wollte er Schulte noch einen Vorwurf dafür machen, dass er gestern den ganzen Nachmittag sein Diensthandy abgeschaltet hatte. Doch er war von Schultes prompter Berichterstellung so überrascht worden, dass er diesen Vorwurf plötzlich für völlig unangebracht hielt.
Vielleicht ist der Tag doch gar nicht so schlecht, dachte Schulte, drückte sich ächzend aus seinem Stuhl, hielt sich mit der rechten Hand seinen Rücken und machte sich auf den Weg zu Braunerts Büro. Dieser saß mit einer Tasse Kaffee an seinem Schreibtisch und studierte ein Einrichtungsmagazin.
Schulte hätte nicht einmal im Sprechzimmer seines Hausarztes in eine solche Zeitung gesehen, selbst wenn es die einzige gewesen wäre, die er hätte lesen können. Wenn bei ihm ein Umzug anstand, hatte er seine Möbel in der alten Wohnung zusammengepackt und in der neuen wieder hingestellt, wie es gerade passte. Sollte das eine oder andere gute Stück den Umzug nicht überlebt haben, wurde es kurzerhand entsorgt. Aber noch eine Zeitung darüber lesen, wie was zusammenpasst und wie man ein Zimmer farblich auf die Möbel abstimmt, das wäre ihm nicht in den Sinn gekommen.
Braunert kannte Schultes Sichtweise in punkto Einrichtungsfragen und so ließ er seine Zeitung kommentarlos in seinem Schreibtisch verschwinden.
„Ich habe deinen Bericht schon gelesen, Jupp. Wie machen wir denn weiter?“
Schulte zuckte mit den Schultern und nahm sich auch einen Kaffee. Er setzte sich auf einen Besucherstuhl, legte die Beine übereinander und zog die Stirn in Falten.
„Dieser Mord ist schon eine komische Sache. Krause geht davon aus, dass die Tötung nicht in dem Hiddeser Park stattgefunden hat. Die Leiche ist später dort abgeladen worden, dann hat man ihr noch einmal was mit der Schachfigur über den Schädel gezogen. Entweder ist der Mörder ein Verrückter oder er will irgendjemandem etwas mitteilen. Jedenfalls muss diese Schachbrettnummer irgendeinen Sinn oder eine Bedeutung haben. Hast du eine Vorstellung, warum Schach?“
„Na ja, Schach ist ein Spiel, das logisches Denken voraussetzt. Das Spiel als solches besteht aus mehreren Zügen. Der Schäferzug ist die Eröffnung, die den Gegner am schnellsten schachmatt setzt. Leider kennen diese Eröffnung alle, die öfter Schach spielen. So dass man mit dieser Variante fast nie ein Spiel gewinnen kann. Also ziehen sich die meisten Spiele hin.
Wenn das Handeln des Täters wirklich etwas mit Schach zu tun hat, dann ist jetzt der Gegner am Zug. Es könnte natürlich auch sein, dass mit dem Mord das Spiel zu Ende gegangen ist. Es war die Dame, mit der auf den Toten eingedroschen wurde. Aber erst wenn der König fällt, ist das Spiel zu Ende. Schwer zu sagen, welche Botschaft sich hinter der Tatsache verbirgt, dass ein Schachspiel in den Tötungsvorgang einbezogen wurde.“
„Mit anderen Worten, der König steht noch, das Spiel ist noch nicht zu Ende. Also können wir davon ausgehen, dieser Mord war nicht das letzte Glied einer Ereigniskette, bei der es jetzt gilt, nur noch den Mörder zu finden, der sich ab sofort gut versteckt. Vielmehr ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass der Täter wieder in irgendeiner Form in Erscheinung tritt. Wir können sogar noch weiter gehen. Was immer passiert ist, er hat sich keine Mühe gemacht, seine Tat zu verheimlichen. Es ist sogar denkbar, dass er sie an die große Glocke hängen wird. Das Ergebnis könnte durchaus wieder ein Mord sein.“
„Stellt sich die Frage, warum unser Täter die Leiche auf diese Weise präsentiert. Wem will er etwas damit sagen?“
Schulte und Braunert schwiegen. Plötzlich stand Schulte auf und griff sich Braunerts Telefon.
„Ich rufe den Chef an. In dieser Angelegenheit soll der selbst entscheiden. Ich darf gar nicht dran denken was passiert, wenn wir morgen wieder eine Leiche da liegen haben, die eindeutig von dem Täter umgebracht wurde, der auch Leipholt auf dem Gewissen hat.“
Axel Braunert nickte zustimmend und so hämmerte Schulte die Nummer des Polizeidirektors in die Tastatur.
Schon nach dem zweiten Signalton meldete sich Erpentrup. Schulte redete nicht lange um den heißen Brei herum.
„Hier Schulte, Herr Erpentrup, ich sitze gerade mit dem Kollegen Braunert zusammen. Wir sind noch einmal den Mordfall durchgegangen und würden uns in einigen Fragen ganz gerne mit Ihnen abstimmen.“
Wieder wunderte sich der Polizeidirektor: Ständig hatte er mit Schulte Auseinandersetzungen wegen dessen anarchischer Arbeitsweise und plötzlich fing er an, in jeder Hinsicht kooperativ zu werden. Erpentrup schwor sich, misstrauisch zu bleiben.
Zu Schulte sagte er:
„Gut, Herr Hauptkommissar, kommen Sie und der Kollege Braunert doch kurz in mein Büro. Dann können wir auch gleich über die Pressekonferenz sprechen. Die Journalisten lassen sich nicht mehr lange vertrösten.“
Nachdem Schulte und Braunert dem Polizeidirektor den Fall mit allen Facetten geschildert hatten, saßen die drei Männer schweigend da. Dann ergriff Erpentrup das Wort: „Wir werden die Öffentlichkeit auf keinen Fall so informieren, dass irgendjemand zum jetzigen Zeitpunkt auf die Idee kommen könnte, es handele sich bei dem Fall um einen Ritualmord oder Ähnliches.
Die Sprachregelung muss lauten, dass der Leipholt vermutlich bei einer Auseinandersetzung zu Tode gekommen ist. Wir müssen Zeit gewinnen. Die Pressekonferenz werde ich selber abhalten. Es reicht, wenn einer von Ihnen als ermittelnder Beamter dabei ist.“
Schulte und Braunert waren erleichtert.
„Gibt es seit der Erstellung Ihres Berichtes schon neue Erkenntnisse?“
Schulte schüttelte den Kopf.
„Von der Pathologie haben wir noch nichts gehört. Krause arbeitet auf Hochtouren. Der wollte mir gegen Mittag die aktuellen Ergebnisse reinreichen.“
Erpentrup erhob sich. Dies war für die beiden anderen Polizisten der Hinweis, dass die Besprechung beendet war. Sie verabschiedeten sich und verließen den Raum.
8
Er hatte schlecht geschlafen. Depressive Gedanken begannen seinen Kopf wieder zu erobern. Die erste Befreiungstat hatte ihm zwar die Richtung gewiesen, doch das freie Gefühl hatte nicht lange angehalten. Ihm wurde klar, dass er bald handeln musste, um das Jammertal endgültig zu verlassen. Der Plan fehlte noch, doch das Finden der richtigen Strategie war nur eine Frage der Zeit.