Reitemeier / Tewes · Blechschaden
Sämtliche Personen und Institutionen sind frei erfunden, und eine Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig. Einige Schauplätze im Roman sind real, andere hingegen fiktiv.
Pendragon Verlag
gegründet 1981
www.pendragon.de
Unveränderte Neuausgabe
der Erstausgabe aus dem Jahr 2005
Veröffentlicht im Pendragon Verlag
Günther Butkus, Bielefeld 2020
© by Pendragon Verlag Bielefeld 2020
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagillustration: Alfons Holtgreve
E-Book-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund, www.readbox.net
E-Book ISBN: 978-3-86532-694-2
Blechschaden
PENDRAGON
„Wenn ich mal so richtig einsam sein wollte, dann bin ich immer ins Drachenmuseum gegangen.
Ich vermisse es!“
Michael Tiemann
„Den kenne ich doch!“, werden Sie vielleicht bei der Lektüre dieses Buches das eine oder andere Mal ausrufen. Leider müssen wir Sie enttäuschen. Wir haben uns zwar bemüht, alle Orte so authentisch wie möglich darzustellen, aber die Handlung ist völlig frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit realen Personen ist rein zufällig.
1
Hätte er sich noch länger am Holzgeländer festgehalten, wären vermutlich seine Handschuhe daran festgefroren. Es war kalt wie lange nicht mehr. Die stille Wasseroberfläche des Norderteiches war zu einer dünnen Eisdecke erstarrt. Vereinzelt lagen noch Reste von Schnee am Ufer. Kein Laut war zu hören, kein Vogel zwitscherte, kein Lüftchen rührte sich. Die Natur hielt resigniert den Atem an und wartete auf bessere Zeiten.
Der ältere Mann steckte beide Hände in die Manteltaschen und lächelte stumm in sich hinein. Die beängstigende Stille schreckte ihn nicht. Lärm und Unruhe jeder Art waren ihm zuwider. Stille war für ihn nicht der unangenehme Raum zwischen zwei Ereignissen, sondern ein erstrebenswerter, höchst lebendiger Zustand.
Alles war bestens vorbereitet. Seine Planungen waren ausgereift. Eigentlich konnte nichts mehr schief gehen. Er gratulierte sich immer wieder selbst zu seinem Geschick beim Einkauf der professionellen Hilfe. Ein Profi, der die Sache schon schaukeln würde! Lange hatte er darüber nachgedacht, ob er nicht besser alles selber machen sollte. Jetzt wusste er, dass er damit scheitern würde. Er war einfach nicht der Typ für solche Arbeiten. Aber dieser Mann, den er für viel Geld als Mitarbeiter gewonnen hatte, der machte so etwas nicht zum ersten Mal. Das hatte er gleich gespürt. Nun konnte fast nichts mehr daneben gehen. Sicher, er würde sich zum ersten Mal in seinem Leben strafbar machen, aber es musste sein, und nichts würde ihn jetzt noch davon abhalten.
Die aggressive Kälte spürte er kaum, während er auf die eisige Wasserfläche starrte, die jetzt, um 18 Uhr, bereits im tiefen Dunkel lag. Nur die Mitte des Gewässers spiegelte etwas vom schwachen Mondlicht wider. Links von seinem Standort, etwa zehn Meter entfernt, konnte er schwach die Umrisse eines Schuppens erkennen. Von früheren Besuchen wusste er, dass es sich um ein altes Bootshaus handelte. Aus ganz weiter Ferne war das Geräusch vorbeifahrender Autos mehr zu ahnen als zu hören. Lange hatte er bereits so gestanden, geschaut und gelauscht, als er plötzlich hinter sich das knisternde Geräusch von Schuhsohlen auf gefrorenem Blattwerk hörte. Verärgert über die Störung drehte er sich um, starrte angestrengt ins Dunkel und versuchte zu erkennen, ob der Spaziergänger einfach weitergehen würde oder vielleicht die Absicht hatte, ebenfalls einen ausgiebigen Blick aufs Wasser zu werfen. Es waren feste und schnelle Schritte, die unbeirrt näher kamen. Während der ältere Herr weiterhin völlig im Dunklen stand, ließ in diesem Augenblick eines der wenigen Wolkenlöcher etwas Mondlicht auf den Besucher fallen. War das nicht…? Aber ja, doch! Als er dem anderen Mann freudig entgegengehen wollte, reflektierte ein Stück Metall in der rechten Hand des Wanderers das fade Mondlicht. Eine Pistole mit aufgesetztem Schalldämpfer!
In einem Reflex, den er selbst nicht für möglich gehalten hätte, sprang der grauhaarige Mann nach rechts und drang ohne Rücksicht auf Zweige, die ihm durchs Gesicht peitschten, auf der linken Seite des Bootshauses in den Wald. Der Verfolger konnte ihn nach wie vor nicht sehen, aber hören. Es dauerte keine zwei Sekunden, bis sich der erste Schuss, etwa einen Meter neben ihm, in einen Baumstamm fräste. Er rannte weiter, stolperte, suchte mit rudernden Armen einen Weg durch das dunkle Gestrüpp. Wieder ein Schuss! Und noch einer. Diesmal sehr viel näher.
Dann war es kurze Zeit ruhig. Offenbar war sein Verfolger damit beschäftigt, sich ebenfalls einen Weg durch den dichten Uferbewuchs zu bahnen. Der alte Mann hielt kurz an, drehte sich um und horchte angestrengt. Er konnte aber wegen seines trommelnden Herzschlags kaum etwas orten. Dann tastete er sich panisch weiter vor, immer den Hang bergab. Er war so sehr aufs Vorwärtskommen konzentriert, dass er das Wasser nicht sah! Erst als das eiskalte Wasser des Norderteiches über ihm zusammenschlug, durchdrang ihn wie ein Blitz die Einsicht, dass er verloren hatte. Dann versagte sein Herz den Dienst.
Als der Verfolger am Ufer ankam, betrachtete er den leblos im kniehohen Wasser liegenden Körper. Mit eisiger Ruhe hob er die Pistole wieder an und gab zwei Schüsse ab. Sicherheitshalber.
2
Nur eine Stunde später erhob Hermann Rodehutskors mit ernster Miene sein Sektglas. Heute war sein großer Tag. Einundvierzig Jahre lang war er eine der wichtigsten Stützen der Heimatzeitung gewesen. Direkt nach dem Abitur am Detmolder Leopoldinum war er dort als Redaktions-Lehrling eingestiegen. Die Bundeswehr wollte den damals hageren, fast dürren, jungen Mann nicht, wegen allgemeiner körperlicher Schwäche, was ihn aber gar nicht störte. Rodehutskors machte schnell auf sich aufmerksam und wurde direkt nach der Lehre als jüngster Redakteur der Heimatzeitung übernommen.
Seitdem hatte er nicht nur an Weisheit und Erfahrung, sondern vor allem auch deutlich an Körperfülle zugenommen. Am Ende seiner beruflichen Laufbahn galt Hermann Rodehutskors als die Journalistenkultfigur im Lippischen. Nun hatte er eine stattliche Zahl ehemaliger und aktueller Kollegen, aber auch Freunde, zu einem Abschiedsempfang im Saal der Detmolder Schloßwache um sich versammelt. Als er das Glas hob, wurde die Menge still.
„Liebe Freunde und Kollegen! Normalerweise halten immer die Chefs, die froh sind, einen alten störrischen Kollegen loszuwerden, die Laudatio. Das übernehme ich lieber selber. Ich will nur eine kurze Rede halten, weil ich jetzt als Rentner überhaupt keine Zeit mehr habe.“
Launig gab er einen kurzen Überblick über sein Berufsleben und baute ganz nebenbei kleine Anekdoten, die er mit einigen der Anwesenden erlebt hatte, in seinen Bericht ein. Der Kriminalhauptkommissar Josef Schulte spielte dabei mehrfach eine Rolle. Er hatte erst im vergangenen Sommer zusammen mit Rodehutskors ein wüstes Abenteuer erlebt. Als dieser seine Rede beendet hatte, trugen zwei seiner Kollegen eine große Holzkiste in den Raum. Eine Frau um die Vierzig trat vor, legte eine Hand auf die Kiste und sprach: „Lieber Hermann! Wir wissen, dass du als Rentner wenig Zeit hast. Und wir wissen auch, was du vorhast.“ Damit wandte sie sich um und sprach zu den Gästen. „Unser Kollege Hermann will Heimatforscher werden! Er wird der lippischen Geschichtsschreibung völlig neue Aspekte abringen. Und, wie er mir einmal verraten hat, wird er seinen Schwerpunkt auf das Zeitalter der Römer legen. Nicht dieser Epoche im Allgemeinen, sondern er setzt seinen Schwerpunkt auf den römischen Krieger, der durch die lippischen Wälder zog und zu guter Letzt von Hermann, dem Cherusker, besiegt wurde. Auch um den wird er sich kümmern. Wir haben uns überlegt, was für unseren Hermann wohl als Geschenk angemessen wäre. Ein Denkmal ist ja bereits hier, ganz in der Nähe, nach ihm benannt worden, das kommt also nicht mehr in Frage. Also haben wir uns für diese Kiste entschieden!“
Rodehutskors musste nun vortreten und die Kiste öffnen. Lachend holte er einen nagelneuen Klappspaten, einen Metalldetektor und etliche andere Gegenstände heraus, von denen seine Kollegen annahmen, dass sie für einen Hobby-Archäologen nützlich seien. Den Klappspaten hoch über den Kopf haltend, rief Rodehutskors:
„Jawoll! Ich werde den Teutoburger Wald einmal komplett umgraben. Ihr wisst alle um den skandalösen Stand der Hermannschlachtforschung. Man will sie uns wegnehmen, die Hermannsschlacht! In Kalkriese soll sie stattgefunden haben. Stellt euch diesen Unsinn vor! Man konnte ja damals von den Römern sagen, was man wollte, aber das waren doch kultivierte Menschen. Die kamen von den sanften Hügeln der Toskana und hatten Sinn für schöne Landschaften. Die wären nie und nimmer in dieses karge feuchtkalte Moorgebiet gezogen, sondern hätten immer die Reize der lippischen Natur gesucht. Ich garantiere euch, ich werde den unwiderlegbaren Beweis führen, dass die große Römerschlacht doch im Teutoburger Wald stattgefunden hat. Und zwar hier, ganz in der Nähe von Detmold! Und nicht da oben im traurigen Osnabrücker Land. Wer will da schon hin? Ganz bestimmt nicht unser guter alter Hermann. Ich fordere euch alle auf, mich bei dieser epochalen Forschung mit allen Kräften zu unterstützen. Am Ausgang des Saales findet ihr einen Korb für kleinere und größere Geldspenden. Und jetzt, liebe Freunde und Kollegen, dringen wir nicht ins Erdreich ein, sondern erforschen die Geheimnisse dieses wunderbaren kalten und warmen Büfetts!“
Erst spät am Abend kam Josef Schulte mit dem Taxi nach Hause. Als er seine Haustür aufschließen wollte, tauchte sein Vermieter und Nachbar, Anton Fritzmeier, aus dem Dunkeln auf. „Hallo Jupp! Hab noch ’n kleinen Verdauungsspazierchang chemacht! Ich hab nämlich ’n bisschen viel gechessen heute Abend, und denn kann ich nich so chut schlafen. Wo komms du denn so spät noch her?“
Schulte fröstelte und hatte keine Lust, bei den eisigen Temperaturen draußen zu plaudern. Er bat Fritzmeier ins Haus, machte dort zwei Flaschen Bier auf und setzte sich zu ihm an den Küchentisch. Dann erzählte er von Rodehutskors’ Abschiedsfeier. Auch der Bauer kannte den alten Journalisten sehr gut seit dem letzten Sommer. Plötzlich wurde Fritzmeier nachdenklich.
„Weisse wat mich chrad einfällt? Ende März hab ich doch Cheburtstag. Ich werde ja dann achtzig! Muss ich da eigentlich chroß feiern? Wat meinsse?“
Schulte nahm einen großen Schluck Bier und blickte ihn erstaunt an. „Natürlich! Achtzig wirst du nur einmal im Leben. Klar, das muss ganz groß gefeiert werden!“
Fritzmeier kaute auf seiner Unterlippe herum.
„Wirklich? Aber dat kostet doch’n Heidencheld. Und ich hab doch nur noch meinen Sohn als einzigen Verwandten. Wen soll ich denn da einladen?“
„Na, mich zum Beispiel! Alle deine Nachbarn und Freunde. Das ganze Dorf. Eine richtige Sause muss das werden. Davon werden die Leute in Heidental noch Jahre reden!“
Fritzmeier wurde wieder munterer.
„Meinsse echt? Hört sich chut an. Darf abba nich so teuer werden. Ich chlaube, da muss ich mal ’n bisschen Chehirnschmalz für opfern. Iss ja ers im März. Prost Jupp!“
3
Am Abend war es wieder unangenehm kühl geworden. Seit zwei Stunden pfiff dazu ein scharfer Wind von Osten. Für den Normalbürger kein Grund zur Aufregung. Es war kurz vor acht abends, es war dunkel und ungemütlich. Wen da nicht blanke Not aus dem Haus trieb, der saß behaglich im beheizten Wohnzimmer und sah fern.
Für die kleine Gruppe von Joggern galten andere Regeln. Vier verbissen dem Klima trotzende Läuferinnen, winterlich fest verpackt mit winddichter Laufjacke und Ohrenschützern, hechelten wortlos und konzentriert über eine hart gefrorene Piste, die einmal ein Waldweg war. Sie hatten bereits eine komplette Stunde Laufen in den Knochen und waren entsprechend ausgelaugt, die Füße in den völlig durchgeweichten Schuhen waren zentnerschwer. Der eiskalte Wind biss in die Gesichter und ließ die Läuferinnen trotz der Anstrengung frieren. Ein etwas surreales Bild gaben sie ab, da alle vier mit einer Stirnlampe ausgerüstet waren und in der Finsternis von weitem nichts anderes zu erkennen war als die wippende Lichterkette, die einem Betriebsausflug von Glühwürmchen ähnelte.
An der nächsten Weggabelung verließen sie den eigentlichen Weg, der zum Restaurant Entenkrug führte, bogen nach rechts ab und liefen den Rundweg um den Norderteich weiter. Der Teich, ein etwas irreführender Name für eines der größten Gewässer im ganzen Kreis Lippe, lag vor ihnen. Hier war die einzige offene Uferstelle. Rechts von ihnen eine mehrere Meter breite Zone aus Bäumen und Schilf. Links davon stand ein kleines Holzhaus im Wald. Die Läufergruppe hatte etwa zwei Drittel der Teichrunde hinter sich gebracht, als Nina Appelkamp einen heftigen Druck in der Blase verspürte. Sie tippte ihrer Mitläuferin Christiane Stein auf die Schulter und gab ihr zu verstehen, dass sie mal kurz „hintern Busch“ müsse. Die gab dies an die restlichen weiter und alle verlangsamten ihren Schritt, trotteten noch ein paar Meter und machten dann gymnastische Übungen, um die Mitläuferin nicht im Dunkeln allein zu lassen und um beim Warten nicht völlig auszukühlen. Sportlersolidarität!
Nina Appelkamp fackelte nicht lange und drang unerschrocken in das dichte Gehölz an der Rückseite des Bootshauses ein. Sie musste aufpassen, denn auf dem Pfad sorgten abgestorbene Äste und Löcher für die Gefahr eines Bänderrisses, außerdem gab die Stirnlampe nur sehr stark gebündeltes Licht, so dass sie außerhalb des kleinen Lichtkegels nichts sehen konnte. Die restliche Gruppe tänzelte derweil fröstelnd vor sich hin. Plötzlich verschwand das kleine Licht, welches von ihrer Mitläuferin ausging und eine Sekunde später durchschnitt ein greller Schrei die eisige Luft.
Entsetzt starrten sich die Läufer an. Angelika Elch war die erste, die beherzt zu der Stelle lief, an der Nina Appelkamp gestürzt sein musste. Dort angekommen stieß auch sie einen Schrei aus, fasste sich aber schnell wieder und rief die anderen zu sich.
Nina Appelkamp lag mit angezogenen Knien auf dem Boden und starrte wie hypnotisiert auf eine Stelle unter einem Weißdornbusch, unter dem zwei Männerschuhe hervorschauten. Die Schuhe allein hätten sie kaum so schockiert, hätten da nicht zwei Beine in den Schuhen gesteckt. Was oberhalb der Beine war, konnten die beiden Frauen nicht erkennen da es durch den dichten Busch verborgen blieb. Mittlerweile waren die restlichen Läuferinnen angekommen. Alle standen nach dem ersten Schock stumm im Halbkreis, unfähig, etwas zu unternehmen. Wieder war es Angelika Elch, die die Initiative ergriff.
„Vielleicht lebt er ja noch! Wir müssen nachschauen!“ Mit diesen Worten erfasste sie die Schuhe und versuchte, den schweren Körper unter dem Busch hervor zu ziehen. Erst als dies erkennbar über ihre Kräfte ging, ging auch Claudia Winter in die Knie und half. Hervor zogen sie einen Mann, der zwar groß und schwer, aber ganz offensichtlich nicht mehr lebendig war. Er lag auch nicht erst seit heute dort. Nur der strenge Frost hatte den Körper noch einigermaßen straff erhalten.
4
In der Luft lag Schnee. Über Nacht war es empfindlich kalt geworden. Sollte es jetzt, im Februar, noch einmal Winter werden?
Den Polizeidirektor fröstelte. Er ging, nur mit einem Sakko bekleidet, die paar Meter vom Kreishaus zur Polizeibehörde zurück. Was ihm sein Chef gerade mitgeteilt hatte, veranlasste ihn nicht gerade zu Freudensprüngen. Er fühlte sich angespannt. Die nächsten Wochen würden mit viel Stress und Ärger verbunden sein und viel Arbeit, denn der Bundeskanzler wollte sich mit dem französischen Staatspräsidenten in seiner alten Heimat treffen. Im März planten die beiden Staatsmänner, im Burghotel Blomberg ihren regelmäßigen Gipfel abzuhalten.
Dieses politische Ereignis würde für die Region eine Sensation darstellen. Doch für die Detmolder Polizei und insbesondere für ihn, den Chef, bedeutete dieser Besuch über Wochen den Abschied vom normalen Alltag. Kooperation mit den Polizeibehörden der anderen Landkreise, Zusammenarbeit mit dem Staatsschutz, dem LKA, dem Verfassungsschutz und, und, und.
Erpentrup raufte sich die Haare. Neben dem beruflichen Stress, der auf ihn zukommen würde, sah der Polizeioberrat auch einige private Interessen durch den Staatsbesuch gefährdet. Die größte Befürchtung, die er hatte, war die, dass er sich den Wunsch, in diesem Jahr am Hermannslauf teilzunehmen, nicht erfüllen konnte.
Er war hervorragend im Training. Gut, seine Frau meckerte bereits ob der Tatsache, dass er an jedem Abend seine Laufschuhe anzog und dann für fast zwei Stunden der Familie nicht zur Verfügung stand. Doch eins war für Erpentrup klar: Wenn er schon an dem Lauf teilnahm, dann wollte er nicht von einem Großteil der Polizisten, die in OWL aktive Läufer waren, überholt werden! Zum Gespött der ostwestfälischen Polizei wollte er sich nicht machen. Wenn Hermannslauf, dann musste das Ergebnis stimmen. Die Chefs der anderen Kreispolizeibehörden sollten bewundernd und anerkennend auf ihn schauen.
Der Polizeioberrat zwang sich, wieder an den beruflichen Alltag zu denken.
„Dieses Ereignis wird auch für die Zukunft der Detmolder Polizeibehörde eine große Bedeutung haben“, hatte der Landrat gesagt. „Sie wissen schon, die Polizeireform nimmt langsam Gestalt an. Wenn wir Pech haben, müssen wir uns bald von den Paderborner oder Bielefelder Oberen herumkommandieren lassen. Dann gibt es keine lippische Kreispolizeibehörde mehr. Doch wenn wir den Gipfel polizeilich vernünftig begleiten, werden die Karten eventuell neu gemischt. Danach können wir vielleicht die Bedingungen der Neustruktur doch noch anders gestalten als bisher. Vielleicht können wir die Selbständigkeit der lippischen Polizei weiterhin erhalten. Ich setze auf Sie, Erpentrup!“
Der Landrat hatte ihm jovial auf die Schulter geklopft. Auf diese Bürde konnte der Polizeioberrat gut verzichten. Denn Erpentrup wusste, was das bedeutete. Konkurrenz zwischen den einzelnen, am Einsatz beteiligten Landkreisen, Abgrenzung zu Landes- und Bundesbehörden, wahrscheinlich auch noch zum französischen Geheimdienst. Keiner wollte sich in die Karten sehen lassen.
Und überhaupt, woraus bestand eigentlich genau die Aufgabe der Detmolder Polizei?
„Ich will eine 1a-Motorradstaffel sehen“, hatte der Landrat ihn wissen lassen.
Vor Erpentrups innerem Auge liefen Bilder von Staatsbesuchen ab, die er allabendlich in den Nachrichten sah. Je sieben Motorräder links und rechts hinter den Limousinen der Staatsmänner.
In Reihe und Glied ausgerichtet. Woher sollte er die dafür notwendigen Maschinen nehmen? Und woher die Männer, die sie fahren sollten?
Erpentrup war verzweifelt. Völlig frustriert öffnete er die Tür seines Dienstzimmers. Sein Telefon fiepte. Als er den Hörer abnahm, meldete sich am anderen Ende Lohmann:
„Guten Morgen, Herr Erpentrup, wir haben am Norderteich eine Leiche. Schulte und Köster sind an dem Fall dran. Genaues weiß ich noch nicht. Ich wollte sie aber auf jeden Fall schon vorab informieren.“
„Vielen Dank“, nickte Erpentrup schlapp. Ihm schwante Böses. Wenn es sich bei dem Leichenfund um Mord handeln sollte, fielen ihm schon mal mindestens zwei Leute für den „Blomberger Gipfel“ aus. Es sei denn, der Fall würde in den nächsten Tagen gelöst werden.
Der Polizist ließ sich in seinen Schreibtischstuhl sinken. Er ballte die Fäuste mit aller Kraft. Die Knöchel seiner Faust wurden weiß. Wie sollte er mit der Situation umgehen? Wieder hörte er das Telefon.
Heiner Schmitz, sein Paderborner Kollege, war am Apparat.
„Ich will nicht lange drum herum reden, Herr Erpentrup“, sagte Schmitz nach der Begrüßung und ein paar einleitenden Worten.
„Richten wir uns nach politischen Interessen oder machen wir unsere Polizeiarbeit?“
Der Detmolder schwieg eine Weile, dann antwortete er bedächtig: „Ich bin für Kooperation. Wir dürfen auf keinen Fall zwischen die Räder der Politik kommen.“
„Ist doch mal ne klare Aussage. Wir sollten uns so schnell wie möglich zusammensetzen.“
Ein Termin wurde vereinbart, dann war Erpentrup mit seinen Gedanken wieder allein. Er musste nachdenken. Den Paderborner hatte er hoffentlich erst mal im Sack. Jetzt brauchte er etwas Ruhe.
5
Der Februar war der schrecklichste Monat im Jahr. Zwar wurden die Tage schon länger, aber die wärmende Sonne, die man für sein Wohlergehen brauchte, fehlte einfach noch, dachte Erpentrup. Er wandte sich nach einem langen Blick aus dem Fenster wieder seinem Schreibtisch zu.
Unweigerlich fiel ihm Goethes Osterspaziergang aus dem „Faust“ ein. Diese Passage aus dem berühmten Drama hatte er als Pennäler auswendig lernen müssen. Er, damals Schüler, bezeichnete sie als „Quälerballade“, aber Erpentrup konnte den Text noch heute, dreißig Jahre später, lückenlos zitieren.
„Die Sonne duldet kein Weißes
Überall regt sich Bildung und Streben,
Alles will sie mit Farben beleben;
Doch an Blumen fehlt’s im Revier,
Sie nimmt geputzte Menschen dafür.“
In Lippe duldeten die dicken tief hängenden Wolken, anders als bei Goethe, keine Sonne. Gestern erst hatte der Polizeioberrat mit seiner Frau noch über eine Woche Urlaub auf Lanzarote nachgedacht, um dem Spätwinterfrust zu entgehen. Doch schon heute machten ihm Schröder und Chirac einen Strich durch die Rechnung. Es war zum Kotzen. Er durfte gar nicht an den Feierabend denken. Wenn seine Frau von ihm erfuhr, dass ihr geplanter Kurztrip dem Bundeskanzler geopfert würde, hinge der Haussegen die nächsten Tage schief, das war klar. Was für ein Scheißtag!
Erpentrup setzte sich in seinen Chefsessel. Sein Blick blieb auf einem Organigramm hängen, das er vor sich auf dem Schreibtisch liegen hatte. Wie sollte der Einsatz seiner Leute bei dem anstehenden Staatsbesuch aussehen? Was für Aufgaben gab es für sie überhaupt zu übernehmen? Er hatte keinen blassen Schimmer. Der Frust des Polizisten vergrößerte sich. Er überlegte, welche Möglichkeiten es gab, sich einem Teil der anstehenden Aufgaben zu entziehen. Da klopfte es an der Tür. Lohmann steckte seinen Kopf durch den Spalt.
„Darf ich kurz stören, Herr Oberrat?“
Förmlichkeiten bedeuten schlechte Nachrichten, dachte Erpentrup. Er nickte mürrisch, stand auf und ging zur Besprechungsecke. Lohmann wollte sich jedoch erst gar nicht setzen.
„Es geht ganz schnell“, sagte er zwischen Tür und Angel. „Bei der Leiche vom Norderteich handelt es sich mit ziemlicher Sicherheit um einen Mord. Der Mann wurde erschossen. Wenn Sie nichts dagegen haben, übernehmen Schulte und Maren Köster den Fall. Ich bin für die Aktenführung verantwortlich.“
Aktenführung? Erpentrup durchzuckte ein Geistesblitz. Lohmann, das war ein Teil der Lösung! Der Mann war ein penibler Arbeiter, sorgte für keine Eskapaden und Aufsässigkeiten wie Schulte.
Lohmann stand kurz vor der Pension und übernahm in den letzten Jahren meist die Aufgaben im Innendienst. Der war genau die richtige Person für die Koordination des Staatsbesuchs. Er hatte keinen sonderlichen beruflichen Ehrgeiz. Doch wenn es wirklich hart auf hart käme, würde er Tag und Nacht arbeiten, um seinen Job gut zu machen, das wusste Erpentrup. Der geeignete Mann, der bis zu Selbstausbeutung ging, damit die ihm übertragene Aufgabe als Erfolg verbucht werden konnte!
„Nehmen Sie sich doch bitte einen Augenblick Zeit, Herr Lohmann“, sagte Erpentrup betont freundlich. „Ich brauche ihren umfangreichen Erfahrungsschatz. Setzen Sie sich doch bitte einen Moment.“
Der Polizeioberrat rückte dem Untergebenen den Stuhl hin, der nun keine andere Möglichkeit hatte, als sich zu setzen. Er selber setzte sich Lohmann gegenüber, das Fenster im Rücken. Dann begann er zu berichten, was auf die lippische Polizei zukam. Als er geendet hatte, sagte Erpentrup: „Ich brauche natürlich eine rechte Hand, da habe ich an Sie gedacht. Ich habe noch eine Hauptkommissar-Planstelle zu besetzen. Wenn Blomberg sauber über die Bühne geht, ist das Ihre Stelle. Was meinen Sie, Lohmann, die Aktenführung in der Mordsache, schaffen Sie die nebenbei? Es ist ja noch nicht abzusehen, wie umfangreich die Aufgaben werden, die wir Detmolder bei dem Staatsbesuch übernehmen. Wenn es wirklich zu viel werden sollte, muss Braunert das Tötungsdelikt eben übernehmen.“
Lohmann war nicht unbedingt begeistert. Und der Spruch mit der Beförderungsaussicht ließ Erpentrup in seinem Ansehen nicht gerade steigen. Doch er war nicht der Mann, der einem Vorgesetzten widersprach. Also sagte er nur trocken:
„Wenn Sie meinen, Herr Oberrat, ich kann es ja versuchen.“
„In Ordnung, Herr Lohmann, dann kümmere ich mich jetzt mal um Hintergrundinformationen. Morgen früh setzen wir uns zusammen und machen den ersten Plan.“
Er klopfte dem Kommissar ebenso jovial auf die Schulter, wie der Landrat es bei ihm getan hatte. Für Lohmann war dies das Zeichen, dass er den Raum verlassen konnte.
Wieder auf dem Flur fluchte er:
„Was für ’ne Pest hat man mir da wieder an den Hals gehext? Den Acker bewachen! Hört das denn nie auf?“
Früher hatte er als Libero seine liebe Mühe mit dem als Wühler bekannten Fußballspieler Schröder gehabt, der damals beim TuS Talle spielte. Und jetzt, im hohen Alter, musste er noch einmal auf dem Spielfeld der Polizeiarbeit den Ausputzer übernehmen.
6
„Also, wir beiden sollen zusammenarbeiten? Haben wir schon lange nicht mehr gemacht!“
Kommissarin Maren Köster war nicht uneingeschränkt begeistert von der Aussicht, mit Jupp Schulte Hand in Hand den vermutlichen Mordfall am Norderteich aufklären zu müssen. Nicht, dass sie etwas gegen ihren Kollegen gehabt hätte. Aber die Zusammenarbeit mit Schulte war nicht ohne Besonderheiten. Während andere Männer Ecken und Kanten hatten, bestand Schulte nur aus solchen. Fand Maren Köster jedenfalls. Und das Verhältnis der beiden zueinander war sowieso sehr speziell. Seit Jahren machte Schulte seiner ausnehmend schönen Kollegin den Hof. Seit ebenso vielen Jahren blitzte er immer wieder ab. Nicht nur Schulte fragte sich dann stets, warum dies so war. Auch Maren Köster fand darauf keine Antwort. Irgendwie hatte Schulte nie den richtigen Dreh bei ihr gefunden.
Sie hätte den Job lieber mit ihrem Kollegen Axel Braunert erledigt. Da wäre eine reibungslose Zusammenarbeit garantiert gewesen. Schulte war ohne Frage kompetent, aber auch eigensinnig, eigenmächtig und eigenartig. Doch der Chef hatte entschieden, nun musste sie da durch. Zu allem Überfluss war der höherrangige Schulte automatisch auch der Leiter des kleinen Teams.
Der Hauptkommissar war an diesem Mittwochnachmittag für seine Verhältnisse still und konzentriert bei seiner Arbeit. Am gestrigen Abend hatte es ihn erwischt. Er hatte Spätdienst, und als um etwa 22 Uhr der Anruf der Joggerinnen bei der Kreispolizeibehörde einging, war er es, der sich die dicke, alte Lederjacke überwarf, sich einen warmen Schal von einem Kollegen auslieh und dennoch erbärmlich fror, als er in der Finsternis am Ufer des Norderteiches die mittlerweile tiefgefrorenen Dauerläuferinnen fand. Nur Minuten später traf die Spurensicherung ein, und von da an gab es Licht für Schulte und die anderen Beamten und für die Läufer heißen Kaffee aus der Thermoskanne. Die armen Leute waren völlig durcheinander und Schulte hatte Mühe, einen halbwegs zusammenhängenden Bericht über den Fund des Toten zu bekommen. Auch Schulte war beim Anblick der Leiche zusammengezuckt. Wie oft hatte er in den vergangenen fast achtundzwanzig Dienstjahren eine solche Situation schon miterlebt? Aber immer wieder empfand er diese Mischung aus Hilflosigkeit, Trauer und Wut, wenn er den leblosen Körper eines Menschen vor sich sah, der eines gewaltsamen Todes gestorben war. Und daran gab es in diesem Fall keinen Zweifel. Das Austrittloch eines Projektils war überdeutlich zu erkennen.
Bis Mitternacht hatte es gedauert. Dann waren alle Jogger wieder zu Hause und berichteten ihren schockierten Ehepartnern von dem entsetzlichen Fund. Die Polizisten saßen wieder in ihren gut beheizten Diensträumen an der Bielefelder Straße in Detmold. Nur die Leiche eines älteren Mannes lag ebenso kalt und einsam wie vorher in einem Kühlraum der Pathologie des Detmolder Krankenhauses.
Nach ein paar Stunden Schlaf war Schulte wieder zum Dienst erschienen und hatte erfahren, dass Polizeioberrat Erpentrup ihn zusammen mit Maren Köster auf den Mordfall angesetzt hatte. Sofort hatte er sich mit seiner Kollegin in Verbindung gesetzt, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Mit wenig Begeisterung war Maren Köster seiner Aufforderung gefolgt.
Mittlerweile hatten sie alle bislang bekannten Informationen zusammengetragen.
Wenn der Pathologe mit seiner Bewertung richtig lag, dann musste der Mord vor etwa fünf Tagen geschehen sein. Allerdings, so schwächte er sein Urteil selber ab, konnte es bei dieser Kälte auch sein, dass die Leiche einen Tag länger dort gelegen habe. Die beiden Ermittler gingen trotzdem vom Zeitpunkt Freitag, vierter Februar, aus. Da der Norderteich ein beliebtes Ziel für Spaziergänger ist, und der Mord wohl kaum am helllichten Tag stattgefunden hatte, legten sie die Uhrzeit auf den frühen Abend fest.
Der Tote war ein Mann im Alter zwischen sechzig und siebzig Jahren. Die Identität war noch nicht ermittelt worden. Es hatte in den letzten Tagen auch keine Vermisstenmeldung gegeben. Bekleidet war er mit einer braunen Cordhose, einem bordeauxroten Pullover, darüber einem grauen Wintermantel und einem ebenso grauen Schal. Die Hände steckten in hellbraunen Lederhandschuhen. Ob er einen Hut oder eine Mütze getragen hatte, war nicht mehr festzustellen. Vielleicht war die Kopfbedeckung verloren gegangen. Die Taschen des Mantels und der Hose waren entweder sorgfältig geleert worden, oder es war auch vor dem Mord nichts darin gewesen.
Der Mann war etwa 1,75 Meter groß, sehr schlank, fast hager. Graues, dünnes Haar. Im Gesamteindruck wirkte er jedoch für sein Alter erstaunlich gut trainiert. Die Muskulatur sei ausgezeichnet, meinte der Pathologe. Ein drahtiger Typ. Kein Stubenhocker. Einen Befund des Gebisses würde Schulte noch heute an alle Zahnärzte im Kreis Lippe schicken. Vielleicht erkannte einer von ihnen eine Brücke oder eine Plombe wieder und konnte sie einem Patienten zuordnen.
Die Todesursache war wahrscheinlich ein einzelner Schuss mit einer großkalibrigen Pistolenkugel in den Rücken.
Die Spurensicherer unter der Führung von Heinz Krause hatten auch schon einen ersten Bericht vorgelegt. Demnach musste es vor dem tödlichen Schuss mehrere Fehlschüsse gegeben haben, denn an drei Bäumen waren Schussspuren gefunden worden. Der Tote hatte zwar auf dem festen Ufer gelegen, es gab aber Schleifspuren. Vermutlich war er kopfüber ins Wasser gestürzt und dann wieder an den Füßen etwas herausgezogen worden. Zum Beispiel, um seine Taschen zu untersuchen. Der Täter hatte dann eine Menge loser Zweige über den Toten gelegt, damit er vom Spazierweg aus nicht auf den ersten Blick gesehen werden konnte. Offenbar hatte das ja auch ein paar Tage funktioniert. Wer rechnet bei einer solchen Tat in dieser Jahreszeit schon mit der schwachen Blase einer Joggerin?
7
Vor der ehemaligen Leibzucht des Hofes, einem kleinen, gelb angestrichenen Haus in Heidental, ging eine junge Frau auf und ab. Eine Zeit lang hatte sie sich den verwilderten Garten angesehen. Dann wieder setzte sie sich auf ihren Hartschalenkoffer und zog die dicke Winterjacke fröstelnd dichter um ihren schlanken Körper. Es wurde langsam dunkel. Die junge Frau fluchte leise. Die Kälte ließ sich von ihren Kleidern und den dünnen Schuhen nicht aufhalten. Sie drang langsam in jede Pore ihres Körpers ein. So mit den widrigen Witterungsbedingungen beschäftigt, bemerkte die Frau nicht, dass sie von einem beleuchteten Fenster auf der anderen Straßenseite schon seit einiger Zeit beobachtet wurde.
„Kerl, Kerl, Kerl“, brummelte der alte Mann in der Küche vor sich hin. „Wat hat der denn da wida für eine Frau an ’n langen Arm. Die werden auch imma jünger.“
Er legte Messer, Gabel und ein Holzbrett auf den Tisch. Dann ging er wieder zum Fenster und spähte in Nachbars Garten.
„Mensch, dat Mätken hat aba Sitzfleisch“, brabbelte er und machte sich auf den Weg zum Kühlschrank, um lippische Leberwurst, Schinken, Gurken, Senf und Butter zu holen. Wieder sah er hinaus in die Dunkelheit.
„Den Hintern soll se sich ja nich abfrieren“, sagte der alte Mann wieder zu sich selbst. Er verließ kurz die Küche und kam nach einer Minute wieder herein. In der Hand hielt er ein paar dicke Wanderschuhe. Ächzend setzte er sich in einen Korbstuhl, zog seine Filzpantoffeln von den Füßen und die derben Schuhe an.
Der Bauer griff sich eine alte Wachsjacke und überquerte wenige Augenblicke später die Straße.
„Na, junge Frau, auf wen waten Sie denn?“
Die Angesprochene sah den Bauern verwundert an, musterte ihn von oben bis unten und sagte dann:
„Auf meinen Vater.“
„Wie - auf Ihren Vatter? Soll dat etwa heißen, dat Schulte Ihr Vatter is?“
Die Frau nickte.
„Der kommt heute später. Er hat mich vor ein paar Stunden angerufen, dat ich mich um seinen Hund kümmern soll. Is wohl einer ermordet worden oder sowat.“
Der alte Bauer merkte die Verzweifelung der jungen Frau. Sie fror mittlerweile so sehr, dass ihre Zähne vor Kälte aufeinander schlugen.
„Na, dann kommense ers ma rein. Bei mir inne Küche isset warm. ’N Butterbrot hab ich auch noch für Sie. Ich hab auch die Handynummer von Schulte, den könnense dann ja ma anrufen.“
Kurze Zeit später saß Schultes Tochter vor dem warmen Küchenofen von Fritzmeier, dem Vermieter Schultes, und rieb behaglich die Hände aneinander. Als die Wärme des Ofens die Kälte aus Lena Wiesenhofs Körper getrieben hatte, griff diese sich ihr Handy und ließ sich von dem Bauern Schultes Nummer geben. Nach dem dritten Signalton meldete sich eine tiefe Stimme:
„Ja, Schulte!“
„Vater, hier spricht Lena.“
„Lena“, hörte sie Schultes erfreute, aber doch verwunderte Stimme. „Lange nichts von dir gehört, wo bist du?“
Lena Wiesenhof wunderte sich über diese Frage. Sie antwortete:
„Ich bin, wie angekündigt, heute um sechzehn Uhr dreißig bei dir vor dem Haus gewesen. Doch du warst nicht da. Also habe ich auf dich gewartet, bis dein Nachbar mich vor einer Viertelstunde in seine Küche geholt hat.“
„Nun mal ganz langsam! Was heißt hier, wie angekündigt? Ich höre jetzt zum ersten Mal, dass du mich besuchen willst.“
„Na, ich habe dir doch schon vor einer Woche auf den Anrufbeantworter gesprochen, dass ich in Detmold eine Referendarstelle bekommen habe. Ich habe dich gefragt, ob ich vorübergehend bei dir unterkriechen kann, bis ich eine Wohnung gefunden habe.“
Am anderen Ende blieb es still.
Scheiße, dachte Schulte, warum hörst du auch nie den Anrufbeantworter ab. Bei mir sieht es mal wieder aus wie Kraut und Rüben und ausgerechnet jetzt kommt meine Tochter, die mich sowieso erst drei Mal in ihrem Leben gesehen hat.
„Vater?“
Die Frage riss ihn aus den Gedanken.
„Entschuldige, Lena, so ein einsamer Wolf wie ich hat so seine Eigenheiten. Wahrscheinlich habe ich versäumt meinen Blechkumpel abzuhören. In meiner Wohnung ist es kalt und ungemütlich. Ich war eben nicht auf Besuch eingestellt. Ein paar Häuser weiter gibt es eine nette kleine Pension. Ich werde Anton bitten, dich für heute Nacht dort unterzubringen. Morgen früh hole ich dich zum Frühstück ab, dann können wir alles Weitere besprechen. Nimm es mir bitte nicht übel, aber ich höre jetzt zum ersten Mal von deinem Besuch.“
Etwas enttäuscht nickte Lena Wiesenhof.
„Schon in Ordnung, Vater. Wir sehen uns dann morgen früh.“
Die junge Frau drückte den Polizisten auf ihrem Handy weg und besprach das weitere Vorgehen mit dem alten Bauern.
Schulte raufte sich die Haare. Er wusste, was in den nächsten Stunden auf ihn zukam. Aufräumen! Er wollte nicht, dass seine Tochter den Handgranatenwurfstand, den er seine Wohnung nannte, in dem jetzigen Zustand erlebte.
Also packte er seine Unterlagen auf einen Stapel und verließ sein Büro. Eine halbe Stunde später betrat er seine Wohnung. Um halb drei nachts hatte er die letzten Utensilien in Schränke und Kisten geräumt. Jetzt konnte man jede Tür öffnen, ohne gegen etwas, das auf dem Boden lag zu stoßen. Schultes Zimmer bargen keine Stolperfallen mehr. Er konnte sich frei bewegen. Der Nachteil war, er hatte auch den Überblick darüber verloren, wo was lag. Jupp Schulte beherrschte zwar das Chaos, aber nicht die von ihm geschaffene Ordnung.
Müde legte er sich ins Bett, nicht ohne vorher den Wecker zu stellen und auch den seines Handys zu aktivieren. Nur nicht verschlafen, dachte er und Lena noch einmal versetzen. Was sollte seine Tochter von ihrem Vater halten?
8
Es war gemütlich warm im Bett. Schulte zog sich die Decke bis an die Ohren. Doch er achtete penibel darauf, dass sich unten an den Füßen kein Spalt bildete, durch den kalte Luft eindringen könnte. Im Laufe der Jahre hatte er eine absolut sichere Technik entwickelt, die es ihm ermöglichte, seine Decke fest um seinen Körper zu wickeln, um so jeden Wärmeverlust zu verhindern.
Im nächsten Moment geschah das Unvermeidbare. Sein Wecker gab penetrante Geräusche von sich.
Schulte fluchte. Obwohl er wach war, fühlte er sich hundemüde. Vier Stunden Schlaf steckte er nicht mehr so weg. Normalerweise würde er dem lieben Gott jetzt noch eine halbe Stunde der Zeit stehlen. Doch das Frühstück mit seiner Tochter stand an. Obwohl, oder gerade weil er sie kaum kannte, wollte er sie nicht enttäuschen und sie mit einem opulenten Frühstück willkommen heißen.
Sie war das Produkt einer atemberaubenden Nacht. So vermutete er jedenfalls. Genau erinnern konnte er sich nämlich nicht mehr. Damals war sie jedoch nicht das einzige Resultat. Mit einer anderen Frau hatte er auf besagtem Calenberger Schützenfest nämlich noch eine zweite Tochter gezeugt.
Eine der beiden Frauen, Ina Schultes Mutter, hatte er geheiratet. Darauf bestand damals seine katholische Familie. Die Ehe wurde jedoch fünf Jahre später geschieden. Zu Ina Schulte hatte Jupp regelmäßig, mal mehr, mal weniger Kontakt.
Lena Wiesenhofs Kindheit hatte er nicht miterlebt. Er hatte lediglich seinen Pflichtteil gezahlt. Erst als die Mädchen älter wurden, hatten sie die Angelegenheit selbst in die Hand genommen und sich kennen gelernt. So hatte Schulte dann irgendwann auch einmal Kontakt zu Lena bekommen. Beinahe hätte er sogar einmal mit seinen Töchtern Weihnachten gefeiert. Damals verhinderten es die Freunde der Mädchen, die ihrerseits Anspruch auf ein gemeinsames Fest anmeldeten.
Diese besagte Schützenfestnacht war im Übrigen auch dafür verantwortlich, dass Schulte zur Polizei gegangen war. Eigentlich hatte er Soziologie und Sport studieren wollen. Doch dann galt es, hungrige Mäuler zu stopfen. Er musste Geld verdienen! Vater Staat hatte es ihm ermöglicht.
Schulte sah auf die Uhr, warf die Bettdecke beiseite, stürmte unter die Dusche, zog sich anschließend an und fuhr zum Bäcker, um frische Brötchen zu kaufen.
Dass es noch einmal geschneit hatte, bemerkte er erst, als er mit Hausschuhen in den Garten trat. Fluchend kehrte er um und zog sich etwas Geeigneteres an die Füße. Im Auto wählte er die Handynummer von Lena Wiesenhof und bat sie, in einer halben Stunde bei ihm zu sein.
Schulte hatte den Frühstückstisch reichhaltig gedeckt. Frisch gekochte Eier, Schinken, Wurst, Käse und Marmelade. Alles was das Herz begehrte. Und eine aufgeräumte Wohnung. Er war stolz auf sich! Jetzt konnte Lena langsam kommen.
Der Hauptkommissar schenkte sich schon einmal eine Tasse Kaffee ein, setzte sich in seinen Lieblingssessel und beobachtet das Gartentor. Keine fünf Minuten später ging eine junge Frau den Weg Richtung Haus. Mit ihren High Heels hatte sie alle Mühe, sich auf dem mit Natursteinen gepflasterten Weg sicher bewegen zu können, noch dazu bei diesem Neuschnee.
Schulte war aufgeregt. Er ging zur Tür, um ihr zu öffnen. Vater und Tochter standen sich gegenüber. Unsicher gaben sie sich die Hand.
„Komm doch herein. Ich habe den Frühstückstisch schon gedeckt. Was möchtest du, Kaffee, frische Brötchen?“
„Wenn du hast, etwas Müsli und Kräutertee.“
Schulte musste passen.
„Na, dann nehme ich ein halbes Brötchen mit Butter und Marmelade. Später trinke ich vielleicht noch ein Glas Wasser.“
Schulte zuckte mit den Schultern. Na, wenigstens aufgeräumt ist es, dachte er, als sich seine Tochter in dem Wohn-Esszimmer umsah. Sie jedoch fragte sich, wie kann man nur in einem solchen Chaos leben?
Schulte ergriff wieder das Wort:
„Gestern Abend habe ich den Anrufbeantworter gleich noch abgehört. Ich freue mich darüber, dass du hier in Detmold eine Referendarstelle bekommen hast. Meine Tochter wird Lehrerin, wer hätte das gedacht. Natürlich kannst du hier wohnen, so lange du willst, ich bin eh nicht so oft da. Dann ist auch der Hund nicht so alleine.“
Schulte brabbelte und brabbelte.
„Ich habe Angst vor Hunden“, entgegnete seine Tochter.
„Brauchst du nicht, Monster ist ein Seelchen. Weil ich gestern nicht da war, hat sich Anton Fritzmeier um ihn gekümmert.“
„Was, dies Riesenvieh, was da bei ihm auf der Deele lag?“
Schulte zuckte mit den Schultern. Da meldete sich sein Handy. Er nahm den Anruf entgegen. Es war Lohmann.
„Hallo Jupp! Erpentrup will um elf Uhr eine Dienstbesprechung machen. Wird eine komplizierte Angelegenheit. Ich halte es daher für sinnvoll, wenn wir, das Fußvolk, uns vorher noch zusammensetzen und uns absprechen, damit wir auf der Sitzung mit einer Zunge reden. Wär’ ganz gut, wenn du in einer halben Stunde im Büro sein könntest.“
Schulte war erleichtert. „Du, Lena, tut mir Leid, ich muss dringend zum Dienst. Hier hast du einen Schlüssel. Fühl dich wie zu Hause. Richte dich gemütlich ein. Wir sehen uns eventuell heute Abend. Lass uns telefonieren.“
Schulte griff sich seine speckige Lederjacke und fuhr eine Minute später vom Hof.
Schon dieses gemeinsame Frühstück hatte ihn überfordert. Was sollte er mit seiner Tochter anfangen? Er musste nachdenken. Vater werden ist nicht schwer, Vater sein dagegen sehr, das war ihm heute Morgen wieder einmal sehr klar geworden.
9
War das nicht die Kreuzung in Heidenoldendorf? Schulte sah verblüfft auf die grün werdende Ampel. Wie kam er denn hier hin? So unkonzentriert war er schon lange nicht mehr mit dem Auto durch die Gegend gefahren. Jetzt war Jupp Schulte doch verdammt gedankenverloren an der Kreispolizeibehörde vorbei gefahren. Das Auftauchen seiner Tochter setzte ihm gewaltig zu. Für ihn war sie ein wildfremder Mensch. Wie sollte er nur mit ihr klar kommen? Selbst Leute, die ihn ab und zu besuchten, gute Bekannte, engten ihn nach einigen Tagen ein. Er war nicht mehr dazu gebaut, mit Menschen zusammenzuleben. Und jetzt wollte seine Lena bei ihm wohnen. Konnte das gut gehen? Nach drei Minuten hatte er gemerkt, dass sie so unterschiedlich wie Feuer und Wasser waren. Schulte war ratlos.
Er wendete sein Auto vor dem Zeitungsladen Disse, hielt kurz an und kam mit einer Heimatzeitung unter dem Arm kurze Zeit wieder zum Auto.
Weitere fünf Minuten später parkte er seinen Volvo, einen ehemaligen Leichenwagen, neben Maren Kösters nagelneuem Renault Megané Cabrio. Wenn ich ihr sage, dass diese Kiste wie das Auto einer versnobten Postbotin aussieht, redet sie drei Tage nicht mit mir, dachte Schulte. Den Vergleich sollte ich mir merken und ihn bringen, wenn sie mir mal wieder so richtig auf den Zeiger geht.
Als Schulte sein Büro betrat, waren schon alle Kollegen an Bord. Sie setzten sich zu Lohmann ins Büro, da sein Zimmer mal wieder nicht begehbar war.
Nachdem alle sich mit Kaffee versorgt hatten, ergriff Lohmann das Wort. Er berichtete in aller Knappheit von dem anstehenden Besuch Chiracs und Schröders in Blomberg. Der Chef habe ihn angesprochen und für diese Aufgabe sozusagen schon abgezogen.
„In den Kram passt mir das gar nicht. Jeden Tag bei dem Alten auf dem Schoß. Aber er muss wohl mächtig Druck vom Landrat bekommen haben. Jedenfalls ist er ganz nervös. Wir müssen aufpassen wie die Schießhunde, dass er uns von der Mordkommission nicht zu seiner geplanten Motorradstaffel abzieht.“
Die Diskussion ging noch eine geraume Zeit hin und her, dann stand der Plan. Lohmann würde dem Chef zur Hand gehen, die anderen machten sich in der Mordsache unentbehrlich. Lohmann würde das mittragen und sie rechtzeitig warnen, wenn Erpentup einen Zugriff auf die Mordkommission plante.
Nachdem alles klar war, sah Lohmann auf die Uhr.
„Ouh! Wird höchste Zeit! Um elf Uhr sollen wir beim Boss sein!“
Die Polizisten erhoben sich und marschierten im Gänsemarsch, Lohmann voran, zum Polizeioberrat.
Der ging in seinem Zimmer schon auf und ab. Einige Kollegen aus anderen Abteilungen saßen schon am Besprechungstisch und harrten der Dinge, die da kommen würden.
Kaum saß die Truppe von der Mordkommission da, legte Erpentrup los.
„Wie Sie vielleicht schon im Flurfunk gehört haben, werden uns der Bundeskanzler und der französische Staatspräsident in Lippe besuchen. Sie treffen sich auf der Burg Blomberg. Vielleicht sind Sie jetzt der Meinung, kein Problem, die Spezialisten werden das schon machen. LKA und BKA, und was es da so gibt. Weit gefehlt, wir sind da mit im Boot. Und ich sage nur eins! Höchst unangenehm und höchst brisant. Unser Landrat hat ja schon wie angestochen reagiert, als unsere neuen Dienstwagen nicht mehr mit lippischen Autokennzeichen durch die Gegend fuhren. Das war keine Spinnerei von ihm, wie manche denken. Das war pures Kräftemessen. Vielleicht hat ja der eine oder andere sich schon mal mit den Ergebnissen der Scheukommission auseinander gesetzt. Da wird vorgeschlagen, dass sie die Kreise Warburg-Höxter, Paderborn und Lippe zu einem weiteren Polizeipräsidium zusammenfassen wollen. Die drei Landräte sind natürlich alle am Pokern. Ich glaube, dass keiner diese Lösung will. Jedenfalls rechnet sich der Lippische irgendetwas aus, wenn der Schröderbesuch ein Erfolg wird. Was, weiß ich auch nicht, aber dieser Fuchs erzählt ja nicht alles.“
Im nächsten Moment überkam Erpentrup das Gefühl, gerade ein Wort zuviel gesagt zu haben. Na, jetzt war es auch egal. Er fuhr mit seinem Bericht fort.
„An der Sicherung des Gipfels sind jedenfalls neben den Spezialisten auch die Kreise Höxter, Paderborn und Lippe beteiligt. Da geht es natürlich um den Führungsanspruch. Rein geografisch haben wir Lipper den, aber weiß man’s? Jedenfalls werden Sie alle da voll eingespannt sein. Jede Abteilung muss ihren Teil leisten. Kommissar Lohmann wird in dieser Angelegenheit meine rechte Hand sein. Er teilt Ihnen in den nächsten Tagen mit, wer, aus welcher Abteilung, für was zuständig sein wird.“
Alle Augen starrten auf den Mann von der Mordkommission. Der fühlte sich in seiner Haut gar nicht wohl.