Robert Thurston

Clankrieger

Erster Roman der Jade-Phönix-Trilogie

Impressum

Ulisses Spiele
Legenden-Band 13

Titelbild: Catalyst Game Labs
Redaktion: Mirko Bader
Korrektorat: Sina-Christin Wilk

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Produkt-Nr.: US42113
E-Book-ISBN: 9783957526120


Für Rosemary und Charlotte

PROLOG

Eine Art Schicksal

Zu manchen Gelegenheiten – etwa am Abend vor einer Schlacht oder nachdem eine Liebe in die Brüche gegangen ist – sucht der Commander einen ruhigen Ort. Im Gegensatz zu den meisten Clankriegern verlangt ihn nicht nach Kameradschaft, sondern nach Einsamkeit, wenn ihn seine Gefühle übermannen. Diesmal wählt er dazu weder das Cockpit seines Mechs noch eine dunkle Stelle tief im Wald. Diesmal geht er an den Ausläufer eines stillen Sees, dessen Strand nur vier, fünf Schritte vom Waldrand entfernt liegt. Er setzt sich auf den Boden und lehnt den Rücken an einen Baumstumpf. (Verkohlte Stellen und abgesprengte Rinde deuten darauf hin, dass der Baum genau wie er Opfer eines Gefechtes wurde – aber nur der Commander hat überlebt.) Er sieht dem Mondlicht zu, wie es Glanzlichter auf die wenigen flachen Wellen des Wassers wirft, lauscht der sanften Brise, die fast scheu durch den Wald in seinem Rücken rauscht.

In einem Buch, das im Gefecht verbrannte, einem Buch, das der Commander mit in das Cockpit eines Mechs genommen hatte, dessen Einzelteile über die Oberfläche eines Planeten verstreut worden waren, an dessen Namen er sich nicht mehr erinnert, hat er einmal eine Geschichte gelesen, eine Geschichte, von der er sich jetzt wünscht, er hätte sie sich besser eingeprägt. Sie hatte von einem Mann gehandelt, der den Tod seines Sohnes in der Schlacht beklagte. Es war eine primitive Schlacht gewesen, ein unsinniger Krieg, um den Besitz irgendeines wertvollen Objekts, und der Tod die Art Tragödie, die eigentlich keine war (keine Stürze aus großer Höhe, niemand, der durch einen einzelnen, klar erkennbaren Charakterfehler in den Untergang getrieben wurde). Der Krieg hatte aus tausend Trauerfällen und tausend ehrenhaften Taten bestanden. Es war ein Krieg wie die meisten gewesen. Der Junge war durch den Fehler eines anderen gestorben. Nachdem er jemanden gerettet hatte – einen Freund, eine Geliebte, ein Kind, einen Feind; es gibt so viele Geschichten, denkt der Commander, wie soll man sich an solche Einzelheiten erinnern –, war er vom Projektil irgendeiner Waffe getötet worden. Sein Vater hatte ihn auf einem von Leichen übersäten Schlachtfeld gefunden, bevor der Blutgeruch sich in Verwesungsgestank hatte verwandeln können.

Der Vater betrachtete das schmerzerfüllte Gesicht des Knaben. Seine Augen schienen das Leben noch aufsaugen zu wollen, aber nun starrten sie in eine unbestimmte Ferne, über die Schulter des Vaters, nicht in dessen Augen. Tausend Erinnerungen, tausend Splitter seines jungen Lebens fluteten durch den Geist des Vaters. Es waren Bilder, die von der Wiege und den Streichen der Kindheit bis zu den wichtigen Erfahrungen des Erwachsenwerdens reichten, aber alle Entscheidungen schienen geradewegs hierher zu diesem Leichenhaufen zu führen, eine geradlinige Abfolge von Ereignissen mit einer seltsamen Unvermeidbarkeit, eine Art Schicksal. Und in der Welt des Vaters und des Sohnes war es natürlich Schicksal, das sie dorthin geführt hatte. Dieses Schicksal war die Krux der Geschichte. Es war der letzte Ausdruck in den Augen des Knaben, die der Vater jetzt mit sanftem Druck für immer schloss.

Es war nicht das Ende der Geschichte gewesen. Die Ereignisse hatten den Vater in eine höchst komplizierte Handlung verstrickt, die ihm in mancher Hinsicht gestattet hatte, sich von einem Makel reinzuwaschen, und ihn auf andere Weise mit dem Tod seines Sohnes versöhnt hatte. Ob der Vater überlebt hatte oder nicht, weiß der Commander nicht mehr. Der Commander jedenfalls hat überlebt. Das ist seine spezielle Gabe – das Überleben.

Wegen seiner Clanerziehung hat er diese Geschichte lange Zeit nicht recht verstehen können. Diese Geschichte und viele andere in anderen Büchern, die er vor langer Zeit in einem Brianhort entdeckt hatte, wo er einen furchtbaren, nervtötenden Dienst hatte verrichten müssen. Das Wort Vater wirft Rätsel auf. Was ist ein Vater? Natürlich versteht er die rein funktionelle Bedeutung des Wortes, aber was bedeutet es darüber hinaus? Was bedeutet es für den treusorgenden Vater der Geschichte?

Als Ergebnis genetischer Manipulation, als Nachkomme von Genspenden aus einem heiligen Genfundus besitzt der Commander mehrere Vaterfiguren, aber die einzige Verbindung zu seinem biologischen Vater ist rein intellektueller Natur. Um irgendwelche Konzepte natürlicher Elternschaft in den Büchern zu verstehen, die er gelesen hat, muss er auf seine Fantasie zurückgreifen. Er wurde mit anderen Kindern gleicher genetischer Abstammung in einer Geschwisterkompanie aufgezogen, einer Geschko. Er weiß genau, was Geschwister fühlen, aber wie könnte er die Trauer eines Elternteils über einen verlorenen Sohn oder eine gefallene Tochter nachvollziehen? Zumindest hatte das Konzept ihm damals Mühe bereitet. Jetzt versteht er es besser. Jetzt ist es sogar einfacher nachzuvollziehen. Jetzt ist es sein eigener, privater Schmerz, der vorher nicht nur unbekannt, sondern verboten war.

Die Idee des Schicksals ist leichter zu verstehen. Die Clans haben eine Vorstellung von Schicksal, auch wenn sie sich vom Schicksalsbegriff jener Geschichte unterscheidet. Ein Clanner versucht, sein Schicksal zu beherrschen, indem er es methodisch an den Risiken des Zufalls misst. Alles im Leben verlangt ein Gebot. Weiß er klug zu bieten, hat er sein Schicksal unter Kontrolle. Ein erfolgreiches Gebot im Krieg bedeutet, dass er seine Krieger in die Schlacht führt, die Ausführung ihrer Manöver und die Schlacht selbst plant, auf zufällige Störungen mit dem Können eines Strategen reagiert, den Zufall mit Hilfe seines Verstandes in die Schranken weist, einen Sieg erringt über alles, was das Schicksal ihm entgegenwirft. Für den anderen Krieger, den Piloten in seinem Cockpit, der sein Geschick geradewegs über sich zusammenschlagen sieht, erscheint das Ergebnis des Kampfes, erscheint seine Niederlage ohne Zweifel als Schicksal.

Clanoffiziere treffen sich vor einer Schlacht und bieten um die Ehre des Kampfes. Es ist ein komplexer und verwickelter Vorgang. Der als erster ein Gebot einbringende Offizier zieht eine oder mehrere Einheiten aus den Schlachtreihen ab. Sein Gegner muss diesen Zug nachvollziehen und anschließend den Einsatz erhöhen, indem er seinerseits eine oder mehrere seiner Einheiten abzieht oder eine starke Einheit durch eine schwächere ersetzt. Ein Mech entspricht einem Aerofighter oder fünf Elementaren, den genetisch gezüchteten Claninfanteristen in ihren schweren Kampfanzügen. Die Gebote wechseln sich in schnellem Rhythmus ab, bis ein kommandierender Offizier das niedrigste Gebot erreicht hat, das absolute noch zu verantwortende Minimum an Truppen und Material. Aber der Bieter darf nicht zu lange warten, oder sein Gegner könnte ihm zuvorkommen und seinerseits ebendieses geplante Mindestgebot machen. Das würde bedeuten, dass er an Bord des Landungsschiffs bleiben und zusehen muss, wie sein Rivale seine Truppen in die Schlacht führt. Es gibt keine unangenehmere Position als einen weichen Sessel auf einem Landungsschiff, aus dem man die Siege des Offiziers beobachtet, der das Bieten für sich entscheiden konnte.

Die Männer und Frauen der Clans freuen sich über die Siege der anderen, aber kein Sieg ist so befriedigend wie der eigene. In das Lob für einen anderen mischt sich immer ein Ton des Bedauerns. Dahinter steckt kein Neid und auch kein Gesichtsverlust. Ein Clanner respektiert das taktische Können eines guten Offiziers, und eine Niederlage beim Bieten um eine Schlacht hat keinerlei Stigma. Es ist ein Gesichtsverlust anderer Art, einer Art, die der Commander genau versteht. Es ist ein Gesichtsverlust vor sich selbst: die Erkenntnis, dass man nicht gut genug war. Das ist der wahre Gesichtsverlust, wenn man sich im Spiegel des eigenen Geistes betrachtet und beschämt den Blick abwendet.

Der Commander erinnert sich an einen Kameraden, der seine Ausbildung in allen Stufen mit spektakulärem Erfolg abgeschlossen hat, schnell Karriere machte und einer der jüngsten Sterncaptains in der Geschichte der Jadefalken wurde. Aber im Ritual des Bietens vor einer Schlacht erwies er sich als unfähig. Zu oft verzichtete er auf zu viele Truppen, um nur ja das Gebot nicht zu verlieren. Aus einer zu schwachen Position heraus verlor er zu häufig, erreichte, wenn überhaupt, nur knappe Siege, brachte seine Truppen und sein Material unnötig in Gefahr. Er war einer der wildesten Kämpfer, die je auf einen Gegner losstürmten, aber durch seine Unfähigkeit beim Bieten verlor er sein Kommando, ja sogar seinen Mech. Als er schließlich auf dem Schlachtfeld fiel, war es sein vorhersehbares Geschick. Die Gene des Sterncaptains wurden nicht in den allen Kriegern heiligen Genfundus aufgenommen. Aber wozu sind Leben und Tod eines Kriegers gut, wenn seine Gene nicht würdig erachtet werden, in den Genfonds aufgenommen zu werden?

Der Commander weiß, dass das Schicksal keine Rolle spielt, wenn man die wichtigen Aspekte seines Geschicks unter Kontrolle hat. Die Clans kennen keine Furcht vor dem Schicksal. Er erinnert sich an eine Passage der Clansaga, auch wenn sie ihm der genaue Wortlaut nicht mehr einfällt:

Das Schicksal sitzt im Stuhl des Bietenden, Versucht, den Wolfsclan zu bändigen,

Und versagt;

Versucht, die Geisterbären zu unterbieten, Und versagt;

Versucht, die Jadefalken mit Argumenten zu überzeugen,

Und hört stattdessen zu.

Was ist los mit ihm, dass er überhaupt an Schicksal denkt? Er hat die Neigung, vor einer Schlacht zu nachdenklich zu werden und seinen Geist in die Vergangenheit wandern zu lassen. Zu viele Bücher, zu viele Geschichten über Zweifel, viel zu viele Gedanken. Sein Leben war schwer, zumindest der größte Teil, erfüllt von Niederlagen, Schande, Verlust, hart erkämpftem Erfolg. Aber er hat sich durchgebissen. Er hat überlebt.

Es gibt Leute, die behaupten, sie würden nichts ändern, wenn sie ihr Leben noch einmal leben könnten. Der Commander dagegen würde nicht einen Moment davon wiederholen – na ja, vielleicht einen einzelnen Moment hier und da –, selbst wenn das bedeuten sollte, dass er dadurch seine hohe Position in der Kommandostruktur der Jadefalken aufgeben müsste. Zu sehr haben die Ereignisse seine Gedanken verzerrt, haben ihn zum ewigen Außenseiter gemacht. Ein Clanner, ja, aber gleichzeitig ein Fremder.

Ich habe zu viele Bücher gelesen, denkt er. Ich fange an wie eines dieser Bücher zu denken. Das können wir uns nicht erlauben.

Trotzdem, ich würde gerne zurückreisen durch die Zeit, um mich in dem Augenblick zur Seite zu nehmen, an dem ich mit der Ausbildung begonnen habe und mich vor meinen späteren Fehlern zu warnen. Ich hätte mir ein geordneteres Leben aushandeln können, hätte für die Art Leben bieten können, das mir zugestanden hätte.

Ach ja, die Ausbildung.

Sie waren jung, so jung, noch Kinder. Vielleicht war er zu Beginn der Ausbildung altklug, aber ein Kind war er trotzdem, als sich die groben, derb gekleideten Trainingsoffiziere ihn und die anderen vornahmen. Menschenformer, ja, das waren sie, aber vor allem waren sie Gedankenformer. Sie haben ihn umgeformt, haben ihn und die anderen Stück für Stück aufgebaut, wie die Kuppel einer gewaltigen Kathedrale, haben sie zu Fundamenten ihrer Einheiten, ihrer Sternhaufen gemacht.

In der Erinnerung des Commanders sind auch die anderen jung, aber (zumindest jetzt, in seinen Gedanken) jünger als er selbst. Wo sind sie jetzt? Manche von ihnen sind natürlich tot. Der Clan hält nichts von der Heiligkeit des Lebens, einer dieser terranischen Begriffe der Inner Sphere), von denen er gelesen hat; alle Clankrieger sind Kanonenfutter, wenn es darauf ankommt, und zu Recht, solange ihr Tod den Clan weiterbringt. Der Krieg und die Clans sind füreinander geschaffen, besonders was beider Missachtung menschlichen Lebens angeht. Da gibt es nichts Heiliges, nur Überlebende. Der Mech siegt oder der Mech fällt, und das war es dann auch schon.

Aber wenn ihm jetzt ein Bote mitteilen würde, dass Marthe gefallen ist, wenn er hier an diesem Strand, am Ufer dieses Sees, über ihren Tod brüten sollte, würde er trauern. Auf ganz und gar unclanmäßige Weise würde er trauern.

Der Commander hat überlebt. Das ist das Endergebnis. Der Clan ist ebenso stolz auf seine toten Krieger wie auf die lebenden. Ihrer aller Mut rechtfertigt den Clan. Er hat gelernt, den Clan zu akzeptieren, seine Jadefalken. Er hat ihn sogar lieben gelernt. Es hat Zeit gebraucht, aber es begann an dem Tag, an dem er und die anderen aus dem Schwebebus stiegen und den selbst durch die schweren Stiefel spürbar kalten Boden des Trainingszentrums auf der Jadefalkenwelt Ironhold betraten.