Inhalt

Die Schule des Lebens – Anstelle eines Vorworts
1.Ein Lied in der Nacht
2.Eine große Entdeckung
3.Der Traum
4.Die Botschaft
5.Ein Lied auf gebrochenen Saiten
6.Liebet eure Feinde
7.In der Kraft des Geistes
8.Conny
9.Macht über Dämonen
10.Licht aus dem dunkelsten Afrika
11.Gott wird für alles Nötige sorgen
12.Gehorsam
13.Die wirkliche Corrie ten Boom
14.Checkpoint Charlie
15.Im Angesicht des Todes
16.Gerettet durch ein neugeborenes Kind
17.Jeden Tag ein Wunder
18.Gottes Wort, das Schwert – Gottes vollkommene Waffe
19.Wo ist der Himmel?
20.Von der Versuchung, aufzugeben
21.Ich will hingehen, wo ich hingehen soll, lieber Herr – aber nicht diese zehn Treppen
22.Für alle Welt – es fängt mit einem an
23.Gott fragt nach meiner ersten Liebe
24.Im Licht leben
25.Sicher in Jesus
26.Ich habe ein großes Volk in dieser Stadt
27.Die Segensbüchse
28.Der Kreis schließt sich
29.Ein Finger zu seiner Ehre
30.Das Bim-bam-Prinzip
31.Schwarz auf weiß und die Vergebung
32.Bereit sein
33.»Weißt du noch?«
34.Kleines Zeugnis für Christus
Die Lumpenpredigt

Die Schule des Lebens

Anstelle eines Vorworts

Die Schule des Lebens bietet einige schwierige Kurse an, aber gerade in diesen Kursen lernt man am meisten – besonders dann, wenn Jesus selbst der Lehrer ist.

Am schwersten war es für mich, als ich Einzelunterricht hatte. Mein Klassenzimmer war damals sechs Schritte lang, zwei Schritte breit und hatte eine Tür, die nur von außen zu öffnen war. Nachher waren es vier elektrisch geladene Stacheldrahtzäune und ein Tor, das Männer mit Maschinenpistolen bewachten. Dann wurde die weite Welt mein Klassenzimmer. Ich bin mehrmals um die Erde gereist und habe in mehr als 60 Ländern und in allen fünf Kontinenten gearbeitet. Während dieser 30 Jahre lernte ich die verschiedensten Flughäfen kennen, Busstationen und Passämter. Und unter mir waren Räder: Autoräder, Zugräder, die Räder von Rikschas und Pferdewagen, die Fahrgestelle von Flugzeugen. Räder, Räder, Räder. Sogar die Räder von Rollstühlen.

Ich habe die Gastfreundschaft vieler Häuser genossen und in mehr als tausend Betten geschlafen: in komfortablen Betten mit Schaumgummi-Matratzen und auf einfachen Matten. Ich habe in sauberen Räumen gewohnt und in schmutzigen. In Hollywood benutzte ich Badezimmer mit herrlichen Blumenfenstern, in Borneo bestand mein Baderaum aus einer Lehmhütte, in der eine Schale mit kaltem Wasser stand. In Israel, wo ich mit einer Gruppe von jungen Jüdinnen war, musste ich über Berge von Schutt steigen, um zu meiner Erdhöhle zu gelangen, in der ich dann tief und ruhig schlief.

Immer, auch jetzt, im neunten Jahrzehnt meines Lebens, trug ich in meiner Hand die Bibel, dieses wunderbare Buch voll guter Nachrichten. Die Bibel – das ist Überfluss für jedermann, und es fällt mir gar nicht schwer, mich in die Lage der Jünger zu versetzen, als sie 5000 und mehr Menschen mit fünf Broten und zwei Fischen speisten. Was sie aus den segnenden Händen unseres Herrn empfingen, war genug für alle; und sie hatten noch Überfluss: sieben Körbe voll! (Markus 8,8)

Diesen Überfluss fanden die Sterbenden in den Konzentrationslagern genauso wie die Aktiven und dem Leben Zugewandten in Theatersälen, in Stadthallen und Kirchen, in den vielen Teilen der Welt, wo ich später zu sprechen hatte. Manchmal waren es auch nur wenige Männer in einem Gefängnis, die hinter ihren Gittern standen und mit großem inneren Hunger zuhörten.

Einmal war es eine Gruppe von sechs Missionaren in Japan. Sie gewährten mir während eines furchtbaren Unwetters, das 28 Stunden lang über uns hinwegbrauste, Gastfreundschaft. Damals kamen mehr als tausend Menschen um. Dann wieder saßen Hunderte oder auch Tausende vor mir: in Indien unter dem Riesendach des Pandal, in Südamerika in Theatern, im Dom einer osteuropäischen Stadt.

»So sehr hat Gott die Welt geliebt …«, sagt Jesus, und darum gehen wir und bringen den Völkern die Botschaft vom Licht und von der Liebe, die alte und doch immer wieder neue Botschaft von Jesus. Und ich gehe auch jetzt noch in meinem 84. Jahr.

Gott hat Pläne für unser Leben, keine Probleme. Bevor meine Schwester Betsie in Ravensbrück starb, sagte sie zu mir: »Dein ganzes Leben ist eine Vorbereitung für das Werk gewesen, das du hier in der Gefangenschaft tust, und auch für die Arbeit, die du später tun wirst.«

Sie hatte Recht: Das Leben des Christen ist immer Zurüstung zu einem höheren Dienst. Ein Sportler wird sich nicht darüber beklagen, dass sein Training hart ist. Er denkt an den Wettkampf und hofft auf Sieg. Paulus sagt das im 8. Kapitel des Römerbriefes:

›Ich bin aber davon überzeugt, dass unsere jetzigen Leiden bedeutungslos sind im Vergleich zu der Herrlichkeit, die er uns später schenken wird. Denn die ganze Schöpfung wartet sehnsüchtig auf jenen Tag, an dem Gott offenbar machen wird, wer wirklich zu seinen Kindern gehört. Alles auf Erden wurde der Vergänglichkeit unterworfen. Dies geschah gegen ihren Willen durch den, der sie unterworfen hat. Aber die ganze Schöpfung hofft auf den Tag, an dem sie von Tod und Vergänglichkeit befreit wird zur herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt, wie unter den Schmerzen einer Geburt. Und selbst wir, obwohl wir im Heiligen Geist einen Vorgeschmack der kommenden Herrlichkeit erhalten haben, seufzen und erwarten sehnsüchtig den Tag, an dem Gott uns in unsere vollen Rechte als seine Kinder einsetzen und uns den neuen Körper geben wird, den er uns versprochen hat.‹

Wenn ich auf die Jahre meines Lebens zurückblicke, kann ich sehen, wie sich die Wege Gottes mit seinen Kindern zu einem göttlichen Muster zusammenfinden. Da betete ich doch während meiner Haft in Holland oft: »Herr, lass doch nicht zu, dass mich die Feinde in ein deutsches Konzentrationslager bringen.«

Auf dieses Gebet antwortete Gott mit einem glatten Nein. Als ich dann dort war, wo ich nicht hingewollt hatte, fand ich im KZ mit all seinen Schrecken viele Gefangene, die noch nie etwas von Jesus Christus gehört hatten. Wenn Gott meine Schwester und mich nicht zu ihnen gebracht hätte, würden sie nie von ihm gehört haben. Viele starben oder wurden umgebracht, aber viele starben mit dem Namen Jesus auf ihren Lippen. Das war dann alle unsere Leiden wert. Glaube ist wie ein Radargerät, das durch den Nebel sieht – die Wirklichkeit der Dinge, wie sie das menschliche Auge nicht wahrnehmen kann.

Dann sehen wir voll Preis und Dank
die Schickung im Zusammenhang.

Obwohl die Fäden meines Lebens oft durcheinander liefen und verknotet zu sein schienen, weiß ich im Glauben, dass auf der anderen Seite der Stickerei die Krone ist. – Als ich durch die Welt zog – als eine Reisende in Sachen Gottes –, habe ich in Gottes Lebensschule ein paar Lektionen gelernt. Und was ich gelernt habe, möchte ich mit denen, die dieses Buch nun lesen, teilen, und ich bitte darum, dass der Heilige Geist einiges von Gottes Plänen auch für dein Leben sichtbar werden lässt.

Siehe, Gott ist meine Rettung. Ich vertraue ihm und habe keine Angst. Gott, der Herr, ist meine Stärke und ich lobe ihn; er wurde mein Retter.

Jesaja 12,2

1 | Ein Lied in der Nacht

Der Krieg war vorüber. Noch bevor sich das große Lagertor hinter mir geschlossen hatte, als ich noch innerhalb des Stacheldrahtzauns war, wusste ich, was ich danach tun würde. Nun war ich dabei, den Plan in die Praxis umzusetzen. In Blumendahl hatte ich ein Haus gefunden – jenes Traumhaus, das so genau der Vision meiner Schwester Betsie entsprach, dass es mir den Atem verschlug. Es sollte mehr sein als ein Haus für Heimatlose. Ich war so vielen begegnet, die geistig und körperlich nicht mehr zurechtkamen, und einigen hoffte ich helfen zu können.

Aber ich war dem Tode zu nahe gewesen, hatte ihm Tag für Tag ins Auge gesehen. Nun fühlte ich mich als Fremde unter meinen eigenen Landsleuten. Viele von ihnen sahen auf Geld, Prestige und Erfolg, als wären das die wichtigsten Dinge im Leben. Ich hatte zu lange auf ein Krematorium gesehen und wusste, dass jeder neue Tag mein Tag sein konnte. Das gibt dem Leben eine andere Perspektive. »Sic transit gloria mundi. – So vergeht die Herrlichkeit der Welt.« Wie gut verstand ich nun den Maler, der dieses Wort über das Bild vom toten reichen Mann gesetzt hatte! Die materiellen Dinge dieser Welt bedeuteten mir nichts mehr. Sie würden mir nie mehr etwas bedeuten können.

Damals war ich zum ersten Mal nach dem Krieg wieder in Haarlem, der Stadt, wo ich mehr als fünfzig Jahre meines Lebens verbracht hatte. Es war schon spät, als ich durch die Straßen der Altstadt ging. Vor einer Verkehrsampel musste ich warten. Da fühlte ich wieder jenen seltsamen Zwang, mich nach den Leuten rechts und links auszurichten. In Fünfer-Reihen hatten wir uns immer aufstellen müssen. Aber das war ja vorbei! Endgültig vorbei! Mir fiel auf, dass die Leute redeten. Sie schwatzten über die alltäglichsten Dinge. Und als die Ampel grün wurde, gingen sie hinüber; jeder ging seinen Weg, und niemand hinderte ihn daran.

Aber auf ihren Gesichtern lag eine merkwürdige Spannung. Etwas Gehetztes, Unfreies. Als ich so hinter ihnen herging, wuchs in mir das unbändige Verlangen, all diesen Menschen von dem Einen zu erzählen, der uns aus jeder Art Gefangenschaft befreien kann und will.

Es war schon Mitternacht, als ich endlich in der Barteljorisstraat ankam. Es brannten nur wenige Straßenlaternen, aber der Mond und viele Sterne standen über den Giebeln der alten, vertrauten Häuser. Vor der Beje blieb ich stehen, dort an der Ecke, wo die kleine Gasse in die Barteljorisstraat einmündet. Meine Finger betasteten die alte Ladentür. Die Beje war nicht mehr mein Heim, aber sie war noch Teil meines Herzens.

Ich stand allein in der dunklen Gasse und erlaubte mir den süßen Luxus der Erinnerung. Wie oft hatte ich die Läden vor den Schaufenstern heruntergelassen. Durch diese Tür trat ich meinen ersten Schulweg an, das war vor etwa fünfzig Jahren. Ich war eine unwillige Schülerin gewesen und hatte vor Furcht geschrien, als ich das liebe alte Haus verlassen musste, dessen Wärme mich im Winter umgab, dessen Fenster Regen und Nebel nach draußen verbannten, um dessen freundliches Feuer sich die Familie abends, nachdem wir den Tisch abgeräumt hatten, versammelte. Ich dachte an Vater, der meine Furcht verstand und mich bei der Hand nahm und durch diese Tür hinaus in die Welt des Lernens führte, in eine unbekannte Welt der Lehrer und der Klassenzimmer.

Vater war tot. Nur der himmlische Vater war mir geblieben. Ich ließ meine Finger an den Rissen im Holz entlanggleiten. Das hier war nicht mehr mein Schutzraum. Hier lebten nun andere Menschen. Gott hatte mich an die Hand genommen und in die weite Welt geführt. Ich lernte nun in fremden Ländern und bei fremden Völkern, und meine einzige Sicherheit waren unter mir die ewigen Arme. Eine Welle der Freude und des Dankes durchströmte mich. Die starke Hand meines himmlischen Vaters hielt mich umschlossen. Es war stockdunkel in der kleinen Gasse. Ich hörte angestrengt hinein, und irgendwo in einem Winkel meines Herzens hörte ich sie: die Tanten, Christoffels, Mutter, Betsie und all die anderen. War das alles erst ein Jahr her? Mir schienen es Jahrhunderte. »Es ist doch eine große Ehre, dass ich mein Leben für Gottes auserwähltes Volk hingeben kann. Für die Juden.«, hörte ich Vater sagen.

Ich presste mein Gesicht gegen die kalten Steine. Nein, ich träumte nicht. Es war Wirklichkeit. Aber Ravensbrück hatte alles verändert, auch die Stadt, durch deren mitternächtliche Straßen ich wanderte und die mir einmal Heimat gewesen war. Sie war jetzt nur noch eine Stadt.

Vom Turm der Kathedrale kamen die ersten Töne des alten Glockenspiels. Mein Leben lang hatte ich Tag und Nacht die Glocken der Groote Kerk gehört. Diesmal war es kein Traum, wie ich ihn oft im Lager geträumt hatte. Das war Wirklichkeit. Ich trat aus dem Schatten der Gasse und ging hinunter zum Groote Markt. Da reckten sich die Türme der Kathedrale in den nächtlichen Himmel, umrahmt von Millionen blinkender Sterne.

»Danke, Jesus, dass ich lebe«, sagte ich, und im Herzen hörte ich seine Antwort: »Ich bin bei dir alle Tage – bis ans Ende der Welt.«

Ich lehnte mich gegen die Mauer eines Hauses und ließ den Zeiger der großen Uhr sich drehen, bis das nächste Glockenspiel kam, diesmal mit dem Lutherlied »Ein feste Burg ist unser Gott«. Ich stand und hörte zu, und am Ende sang ich das Lied mit, nicht in Holländisch, sondern in Deutsch.

»Das sieht dir ähnlich, Herr«, schmunzelte ich, »dass du mich durch einen deutschen Choral an deine Gnade erinnerst!«

Ein Schutzmann kam vorbei. Er sah mich an und sagte ein freundliches Wort. Ich sagte nur: »Gute Nacht, Herr Schutzmann. Ein feste Burg ist unser Gott …«

Ich war frei.

Am nächsten Tag ging ich in die Groote Kerk hinein. Sie war so dicht bei der Beje, wo ich aufgewachsen war, dass ich sogar das Pflaster, das zum Portal führte, wiedererkannte.

»Soll ich Ihnen die Kathedrale zeigen?«, fragte der alte Küster, als er mich am Portal traf.

»Danke«, sagte ich. »Ich würde gern allein sein.«

Er verstand, nickte und verschwand im Innern der Kirche.

Ich ging über die Grabplatten, die in den Boden eingelassen waren. Meinen Schritten antwortete ein dunkles Echo aus dem Gewölbe der leeren Kirche. Ich musste an Dot denken, mit der ich hier als Kind so oft gespielt hatte.

Dot war meine Kusine, die jüngste Tochter meines Onkels, der Küster hier an der Groote Kerk gewesen ist. Sie war meine beste Freundin, und unsere aufregendsten Spiele waren die Versteckspiele in der Groote Kerk. Ich erinnere mich noch an den Geruch von Staub und Feuchtigkeit, der einem in die Nase zog, wenn man sich in einer der alten, abgestellten Kirchenbänke versteckte. Für eine Stelle galt unbedingt »Zutritt verboten«. Das war die alte Kanzel. Aber alles andere gehörte uns, und wenn wir einander zum Suchen riefen, dann hallte das Echo von Querschiff zu Querschiff.

Einmal spielten wir am späten Nachmittag noch in der Kirche, und ehe wir es recht bemerkt hatten, war es dunkel geworden. Wir brauchten uns nur zehn oder zwanzig Schritte voneinander zu entfernen, da mussten wir schon rufen und suchen. Damals erlebte ich das Geheimnis der Kathedrale. Ich blieb stehen und schaute mich um. Durch die farbigen Glasfenster fiel das Licht der Laternen draußen und der erleuchteten Fenster der Häuser. Tagsüber war die Groote Kerk eine Symphonie aus Grautönen, innen und außen. Jetzt erschien sie mir wie ein großes Geheimnis. Die gotischen Pfeiler wuchsen ins Unsichtbare hinauf. Der Raum weitete sich ins Unendliche.

»Lass uns nach Hause gehen«, flüsterte Dot damals, »ich fürchte mich.«

Langsam tasteten wir uns zur Küstertür hinüber. Ich fürchtete mich nicht. Ich spürte eine Gegenwart, von der Frieden ausging.

Das »Licht der Welt« hatte die Dunkelheit, den Staub und die dumpfe Feuchtigkeit des alten Gemäuers aus meinem Bewusstsein verdrängt. Ich fühlte mich geborgen.

Es war ungefähr 45 Jahre später. Betsie und ich gingen über den Appellplatz des Lagers. Die Aufseherin hatte uns eine ganze Stunde zu früh in die Kälte hinausgejagt. Wir drängten uns aneinander, um uns zu wärmen, und hielten uns etwas abseits von den anderen Häftlingen. Denn wir hatten ein Gespräch zu dritt. Erst sagte Betsie etwas, dann sprach ich und dann sprach der Herr. Wie das geschah? Ich weiß es nicht, aber wir verstanden ihn beide.

Die Sterne waren das einzige Licht, das wir sehen konnten. Die Silhouetten der Baracken und der Türme, auf denen die Wachtposten mit Maschinengewehren standen, waren kaum erkennbar.

»Ist dies nicht schon ein Stück vom Himmel?«, sagte Betsie zum Herrn. »Und es ist doch nur ein kleiner Vorgeschmack. Einmal werden wir dich von Angesicht zu Angesicht sehen. Aber wir danken dir, dass du uns jetzt schon diese Freude schenkst, dass wir bei dir sein und mit dir sprechen dürfen.«

Himmel mitten in der Hölle. Licht mitten in der Finsternis.

Welch eine Geborgenheit!

Durch den Glauben gehorchte Abraham, als Gott ihn aufforderte, seine Heimat zu verlassen und in ein anderes Land zu ziehen, das Gott ihm als Erbe geben würde. Er ging, ohne zu wissen, wohin ihn sein Weg führen würde.

Hebräer 11,8

2 | Eine große Entdeckung

Als meine Eltern heirateten – das ist lange Jahre her –, wählten sie als Trauspruch einen Vers aus dem 32. Psalm; Gottes Zusage in diesem Vers bezogen sie auf sich: »Ich will dich unterweisen und dir den Weg zeigen, den du gehen sollst; ich will dich mit meinen Augen leiten.«

Nun, da Vater und Mutter am Ziel waren, bekam diese Verheißung auch für mich eine ganz besondere Bedeutung. Gottes Zusage, mich auf allen meinen Wegen (und Reisen) zu führen, brauchte ich dringend, und ich brauchte sie besonders für die Vorbereitungen zu meiner ersten Reise nach Amerika.

Damals, kurz nach dem Kriege, wollten viele Europäer nach Amerika gehen, freilich nur wenige – wenn überhaupt einer – aus dem gleichen Grunde wie ich: als Missionarin, um den Amerikanern das Evangelium zu bringen. Trotzdem bekamen wir alle unterschiedslos auf sämtlichen Dienststellen, die wir wegen der vielen erforderlichen Papiere besuchen mussten, die gleiche Antwort. Immer hieß es: »Nein, für Amerika gibt es keine Papiere.«

Ich betete: »Herr, wenn es dein Wille ist, dass ich gehe, dann wirst du mir diese Papiere besorgen müssen.«

Ich entdeckte bald, dass unsere Verlegenheiten Gottes Gelegenheiten sind. Er benutzt unsere Probleme als Material für seine Wunder, und mir ging auf: Dies war die erste Lektion seiner Unterweisung in dem Fach »Volles Vertrauen«. Dies waren meine ersten Schritte auf dem Weg zu völliger Abhängigkeit, zum Gehorsam gegenüber seiner Führung. Aber wie viel musste ich da noch lernen! Am Ende hatte ich meine Papiere. Nur eines fehlte mir noch; es war das wichtigste. Um es zu beantragen, saß ich auf einer der harten Holzbänke im Warteraum des Auswandereramtes in Den Haag. Ich sah die Leute, die das gleiche wichtige Papier brauchten, den Schicksalsraum betreten und verlassen. Sie kamen alle niedergeschlagen heraus, einer wie der andere.

»Er gibt keinem einen Sichtvermerk«, sagten sie. »Er ist hart wie Stein.«

»Herr«, betete ich, »ich bin bereit, zu gehen und zu bleiben. Das ist jetzt deine Sache.«

Als ich wieder aufblickte, sah ich drei Damen und einen Herrn an mir vorübergehen.

»Hallo, wir kennen uns doch!« Die eine der Damen blieb vor mir stehen und sah mich prüfend an. Ich machte verzweifelte Anstrengungen, herauszubekommen, ob ich sie kannte, aber ich fand keinen Anhaltspunkt.

»Du bist doch Corrie ten Boom«, lachte sie. »Ich bin deine Kusine, und das ist Jan, mein Mann.«

Wir hatten uns ganz aus den Augen verloren, und inzwischen war so viel geschehen!

»Wollt ihr auch nach Amerika?«, fragte ich.

»Aber nein«, lachte sie wieder. »Ich war gerade bei Jan. Er arbeitet hier.«

»Ach, vielleicht könnt ihr mir helfen«, sagte ich und schüttelte beiden die Hand und erzählte meine Geschichte.

»Helfen kann ich nicht«, sagte der Vetter freundlich. »Es tut mir wirklich Leid, ich würde meiner neuen Kusine gerne einen Gefallen tun. Aber dies hier ist nicht meine Abteilung. Nur – wenn du Schwierigkeiten bekommst, dann rufe mich doch bitte an!« Er gab mir seine Telefonnummer, und wir schüttelten uns noch einmal die Hand.

Ich wartete weiter. Der Mann mit dem Herzen aus Stein ging Kaffee trinken. An seinem Platz saß ein junger Sekretär. Als ich an die Reihe kam, sagte er: »Sie werden wahrscheinlich warten müssen, bis der Chef zurückkommt.«

Ich hielt ihm die Nummer hin, die mir Vetter Jan gerade eben in die Hand gedrückt hatte.

»Ich kann aber unmöglich warten«, drängte ich. »Rufen Sie bitte diese Nummer an.«

Kurz darauf legte er den Hörer auf und sagte: »Ja, ich soll Ihnen die Papiere aushändigen.«

Das Wunder war geschehen.

Ich fuhr daraufhin nach Amsterdam, um die Überfahrt auf einem Schiff der Holland-Amerika-Linie zu buchen. Wieder stand ich vor einem Berg. Mein Name sollte auf eine Warteliste gesetzt werden. »Sie bekommen dann sofort Bescheid, wenn ein Platz frei ist. Sie können mit zehn bis zwölf Monaten rechnen.«

Ein Jahr also, und ich wusste doch ganz sicher, dass ich jetzt gehen sollte! Gott hatte es gesagt, und ich wollte gehorchen. Alle meine Papiere waren in Ordnung. Und nun das!

Ich stand auf dem Dam, einem der großen Plätze von Amsterdam, und dachte nach. Als ich meinen Blick über die Häuser schweifen ließ, fiel mir das Schild eines Frachtschiff-Unternehmens auf, der American Express Company.

»Gibt es auf Ihrem Schiff auch Platz für Passagiere?«, fragte ich den Mann im Büro.

»Gewiss, wenn Sie wollen, schon morgen. Sind Ihre Papiere in Ordnung?«

»Oh, morgen! Das geht aber schnell. Könnte ich auch nächste Woche mitfahren?«

Es ging! »Wir haben zwar selten Damen Ihres Alters auf unseren Frachtern. Aber wenn Sie wollen …«

Einige Wochen vorher hatte ich einen Amerikaner kennen gelernt, der seine Verwandten in Holland besuchte, und hatte ihm von meinen Plänen erzählt. Kopfschüttelnd hatte er mir zugehört.

»Denken Sie nur ja nicht, es sei leicht, in Amerika Fuß zu fassen. Sie ahnen nicht, welche Schwierigkeiten da auf Sie zukommen!«

»Ja«, konnte ich nur antworten, »ich ahne es schon. Aber Gott will, dass ich gehe, und ich will gehorchen.«

Er schrieb mir zwei Schecks aus, einen über einen sehr hohen Betrag und einen über einen geringeren.

»Sollten Sie das Geld brauchen, so lassen Sie es sich auszahlen. Sie können es mir ja später zurückgeben.«

So erreichte ich Amerika als eine Missionarin für Amerikaner.

Ich durfte nur fünfzig Dollar einführen und kannte keinen Menschen. Aber ich fand den Christlichen Verein junger Frauen, und dort bekam ich ein Zimmer und Platz für mein Gepäck.

Jemand hatte mir die Adresse einer Gruppe judenchristlicher Einwanderer gegeben, die in New York Versammlungen hatten. Ich rief die Leute an, und sie luden mich ein, in ihrem Kreis zu sprechen. Es waren Deutsche, und das war sicher gut so, denn obwohl ich mir auf dem Schiff englische Vorträge ausgearbeitet hatte, stellte ich doch hier in New York fest, dass mein Englisch noch ziemlich schwerfällig war.

New York versetzte mich in hilflose Verwirrung.

Am Ende der ersten Woche, nachdem ich wieder einmal ziellos durch die Straßen der Stadt gelaufen war, ging ich ins Büro, um meine Miete zu bezahlen. Die Angestellte sah mich freundlich an.

»Es tut mir Leid«, sagte sie, »aber nach unseren Statuten dürfen wir Sie hier nicht länger als eine Woche unterbringen. Eine Woche ist unser Limit. Haben Sie eine Adresse für Ihr Gepäck?«

»Ja, nur – ich weiß noch nicht, wo sie ist.«

»Wie soll ich das verstehen?«, fragte sie erstaunt.

»Gott hat ein anderes Zimmer für mich«, erklärte ich ihr. »Aber ich habe noch nicht die Adresse. Aber das ist nicht schlimm. Der Herr führte mich in Ravensbrück, und so wird er mich sicher auch in Amerika führen.«

Plötzlich erinnerte sich die Angestellte. »Richtig! Beinahe hätte ich es vergessen. Es ist ein Brief für Sie angekommen.«

Für mich? Ein Brief? Wo niemand wusste, dass ich hier war? Wie seltsam!

Ich überflog den Brief und hielt ihn der Frau hin.

»Das ist meine Adresse: 190. Straße.«

»Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt?«

»Weil ich den Brief doch eben erst bekommen habe!«

Eine mir völlig unbekannte Frau schrieb: » … Ich hörte Sie bei den deutschen jüdischen Auswanderern sprechen. Ich denke, es ist nicht ganz leicht, in New York City ein Zimmer zu bekommen. Seit ein paar Tagen ist unser Sohn in Europa, und Sie wären uns sehr will kommen. Sie können sein Zimmer benutzen, solange Sie hier in New York sind.«

Nun war die Frau im Büro noch erstaunter als ich. Sie hat wahrscheinlich noch nie ein Wunder erlebt, dachte ich.

Mit der Untergrundbahn fuhr ich zur 190. Straße. Es war ein großes vierstöckiges Gebäude, in dem viele Familien wohnten. Ich fand auch das Appartement, aber es war niemand zu Hause. Sicher hat sie nicht geahnt, was ihre Einladung für mich bedeutet hatte und dass ich ihr so prompt Folge leisten würde. So gut es ging, machte ich es mir vor der Tür zwischen meinen Koffern bequem und schlief denn auch bald ein.

Und in dieser Hoffnung werden wir nicht enttäuscht werden. Denn wir wissen, wie sehr Gott uns liebt, weil er uns den Heiligen Geist geschenkt hat, der unsere Herzen mit seiner Liebe erfüllt.

Römer 5,5

3 | Der Traum

Da muss mich eine Erinnerung gestreift haben. Denn ich fühle plötzlich, wie Betsies magere Hand über mein Gesicht streicht. »Bist du wach, Corrie?« Ihre Stimme klingt, als wäre sie weit weg.

»Ja, du hast mich geweckt …«

»Ich muss dir erzählen, was Gott zu mir gesagt hat …«

»Pst, die werden hier wach.«

Ich drehe mich um, damit wir einander zuflüstern können. Wir liegen dicht an dicht wie die Löffel im Besteckkasten. Unsere Knie stoßen aneinander. Weil die schwarzen Decken so dünn sind, haben wir unsere beiden Mäntel über uns gelegt. Ich ziehe den einen über unsere Köpfe, sodass wir miteinander flüstern können, ohne dass es jemand hört.

»Gott zeigte mir«, sagte Betsie, »dass wir den Deutschen nach dem Kriege das geben müssen, was sie uns jetzt zu nehmen suchen: unsere Liebe zu Jesus.«

Betsies Atem kommt in kurzen Stößen. Sie ist nur noch Haut und Knochen. Ich kann ihre Rippen fühlen.

»Betsie«, stöhne ich, »du meinst, wir würden, wenn wir hier lebendig herauskommen, nach Deutschland zurückkehren müssen?«

Betsie streichelt meine Hand. »Corrie, es gibt so viel Bitterkeit. Wir müssen ihnen sagen, dass der Heilige Geist ihre Herzen mit Gottes Liebe erfüllen will.«

Ich muss an das fünfte Kapitel im Römerbrief denken. Gerade heute Morgen hatten sich einige Frauen um uns gedrängt, als ich aus unserer geretteten Bibel las. Aber es schüttelt mich. Deutschland! Wenn ich je von diesem schrecklichen Ort hier befreit würde – könnte ich jemals nach Deutschland zurückkehren? Ich höre Betsies schwache Stimme weiterflüstern. »Du weißt, Corrie, wie bitter viele hier sind, wie dieses Lager viele, viele Menschenleben zerbrochen hat. Und dies ist nicht das Einzige. Es gibt viele Lager. Nach dem Krieg werden sie so etwas nicht mehr brauchen. Wir sollten versuchen, eines zu bekommen, um heimatlosen Menschen, Flüchtlingen, zu helfen. Einige werden dann wieder den Weg ins Leben zurückfinden.«

Nein, denke ich, ich werde in meinen alten Beruf als Uhrmacherin zurückgehen und niemals mehr meinen Fuß über diese Grenze setzen. Ich konnte Betsies Flüstern kaum noch verstehen.

»Von allen Menschen in der Welt sind die Deutschen jetzt am schwersten verwundet.«

Das junge Mädchen von gestern – eine Wärterin von siebzehn oder achtzehn Jahren – hatte eine arme alte Frau mit einer Peitsche geschlagen!

»– eine große Aufgabe – nach dem Kriege …«

Ich finde nun Platz, wo ich meine Hand lassen kann. Es ist tatsächlich ein Problem, denn die Pritschen sind so schmal, dass einem die Arme oft herunterfallen. Nun liegt meine Hand auf Betsies linker Seite, genau über ihrem Herzen. Ich fühlte ihre Rippen – wie lange wird sie es noch schaffen? Ihr Herz flattert wie ein sterbender Vogel. Ich ruhe und denke nach. Wie nahe ist Betsie Gottes Herzen! Nur Gott kann unter diesen Umständen die Möglichkeiten eines späteren Dienstes überschauen – eines Dienstes an solchen, die es jetzt für ihre Aufgabe halten, uns umzubringen. Und an einem solchen Platz eine Gelegenheit zu sehen, unsere Feinde zu segnen und ihnen zu einem neuen Leben zu verhelfen – eine solche Vision kann Betsie nur von Jesus selber, unserem Herrn, empfangen haben. Aber …

»Nach Deutschland, Betsie, meinst du das wirklich?«, flüstere ich.

»Ja, aber wir brauchen dort nicht zu bleiben. Danach reisen wir durch die ganze Welt … Freunden und Feinden das Evangelium …«

»… die ganze Welt – das kostet aber Geld!«