Man liebt, weil man liebt.
Für die Liebe gibt es keinen Grund.

Paulo Coelho

Liebe Leserinnen, lieber Leser,

 

 

Ein Kind wird geboren. In eine Familie, die es mit Spannung erwartet. Mit einem Vater und einer Mutter, die es mit tief empfundener Liebe empfangen und bereit sind, ihre Zukunft liebevoll mit ihm zu teilen, das Kind zu begleiten und ihm Werte zu vermitteln. »Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel«, wie es bei Goethe heißt. Wurzeln im sicheren Wissen, wo unser Zuhause und unsere Herkunft liegen, Flügel, die uns in die Welt hinaustragen und unseren Horizont erweitern.

Das ist unsere Vorstellung davon, was ein Kind idealerweise auf dieser Welt erwarten sollte. Doch viele Kinder werden in ganz andere Situationen hineingeboren. So ging es auch mir.

Im September 2011 wurde die Bitte an mich herangetragen, ein Buch über meine Kindheit und Jugend zu schreiben. Ich hatte vorher in einer Fernsehsendung zum ersten Mal öffentlich über meine Vergangenheit als Pflegekind gesprochen und – für mich ganz überraschend – eine Flut an positiver Resonanz erhalten. Vielen Betroffenen machte meine Geschichte Mut. Andere erkannten sich in meinen Erzählungen wieder und waren erleichtert, dass jemand öffentlich erzählte, wie sich ein Kind fühlt, das in einer Welt ankommt, die nicht so recht weiß, wohin mit ihm. In einer Welt, die es zunächst nicht liebevoll empfängt.

In den kommenden Tagen folgten viele Gespräche mit meinem Mann und einigen engen Freunden. Schnell war mir klar, dass es mir ein großes Anliegen ist, ein Bewusstsein für Kinder zu schaffen, die wie ich keine idealen Startvoraussetzungen haben. Verständnis für sie und die Familien, in denen sie aufwachsen, zu stiften. Ihnen Mut zu machen. Trotzdem blieben Zweifel. Würden meine Erinnerungen für ein ganzes Buch ausreichen? Konnte ich den Erinnerungen meines neun- oder zehnjährigen Ichs überhaupt trauen?

An Vieles aus meiner Kindheit und Jugend kann ich mich nämlich gar nicht mehr detailliert erinnern. Vielleicht sind diese Lücken das Ergebnis eines Mechanismus, der mich vor schmerzhaften Erinnerungen schützt. Oft sind mir lediglich die Gefühle, die ich in den verschiedenen Situationen empfunden habe im Gedächtnis geblieben. Was genau passiert ist und wer was wann gesagt hat, weiß ich heute nicht mehr. Manchmal könnte ich noch nicht mal mit Sicherheit sagen, wer in welcher Situation anwesend war oder wo sich etwas abgespielt hat. Manchmal vermischen sich mehrere Begebenheiten im Rückblick zu einer einzigen.

Deshalb schlug ich dem Verlag vor, die Mosaiksteine meiner Erinnerung und das, was mir andere später aus meiner Kindheit erzählt haben, zu einer Geschichte zusammenzusetzen, die meinen Empfindungen entspricht, aber nicht den Anspruch erhebt, die alleinige Wahrheit zu sein.

Ich möchte mit diesem Buch niemanden bloßstellen. Ich habe heute ein wunderschönes Leben und eine großartige eigene Familie. Dafür bin ich sehr dankbar. Es gibt für mich keinen Grund, andere zu kritisieren oder zu verletzen. Ich hege keinen Groll, gegen niemanden.

Jeder Mensch denkt, fühlt und handelt anders. Ich lasse Sie teilhaben an einigen ganz persönlichen Gedanken und Begebenheiten aus meiner Vergangenheit.

Außer meinem eigenen Namen habe ich die Namen aller Personen in diesem Buch verändert, weil es mir sehr wichtig ist, die Privatsphäre derer zu wahren, die mir am Herzen liegen. Ebenso wichtig ist es mir, Verständnis für betroffene Kinder und Familien zu wecken und vor allem den Kindern eine Stimme zu geben. Deshalb erzähle ich meine Geschichte.

Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen, mein Buch zu lesen!

 

 

Janine Kunze, im März 2013

Mutter sein

 

 

Der Sommer 2003 war einer der heißesten, an die ich mich erinnern kann. Ich liebte die Sonne, aber musste das ausgerechnet während meiner ersten Schwangerschaft sein? Seit einigen Monaten hatte ich ganz schön was zu schleppen. Jetzt schien es mir, als packte mir die Hitze zusätzlich noch mal zehn Kilo drauf. Trotz der Anstrengung genoss ich jeden Augenblick, ich war glücklich und die Sonne strahlte mir direkt ins Herz.

In der Nacht zum 28. Juli hatten die Schmerzen begonnen und ich wusste sofort, dass es losging und dass das Warten endlich ein Ende hatte. Ich war durch den Garten spaziert und hatte versucht, in der Badewanne zu entspannen. Jetzt saß ich schon seit Stunden auf diesem blöden Pezziball und versuchte, meine Schmerzen »wegzuatmen«. Aber wie zum Teufel sollte das gehen?

»Kann ich irgendetwas für dich tun?«, fragte mein Mann besorgt.

»Was hast du dir denn da so vorgestellt?«, fragte ich zurück.

»Vielleicht möchtest du etwas essen oder so?«

»Isst du etwas, wenn’s dir total elend geht?«, giftete ich genervt.

Jetzt sah er richtig hilflos aus. In den letzten Wochen hatte ich eine völlig neue Seite an ihm kennengelernt: Unsicherheit. Sofort hatte ich ein schlechtes Gewissen. Er wollte mir ja nur beistehen und irgendwie helfen. Wir wollten ja jetzt alles gemeinsam machen. Das hatten wir uns vor gerade mal etwas mehr als einem Jahr versprochen, auf unserer wundervollen Hochzeit. Aber hier musste ich jetzt wirklich alleine durch, daran ließ sich einfach nichts ändern.

So weh mir gerade alles tat, so anstrengend es gerade war und so sehr ich mir auch wünschte, alles hinter mir zu haben, so sehr freute ich mich auch über jede Wehe. Oder redete mir das zumindest ein. Ein bisschen Autosuggestion war ein gut gemeinter Rat von meiner Hebamme gewesen. Aber eigentlich hatte sie recht, denn jede Wehe brachte mir ja das von uns ersehnte neue Leben ein Stück näher.

 

Die letzten Monate waren geprägt gewesen von vielen widersprüchlichen Gefühlen: Angst, Sorgen, Ungewissheit, aber vor allem von einer unbändigen Vorfreude und tiefer Liebe, wie ich sie zuvor noch nie empfunden hatte. Etwas Neues kam auf uns zu. Ich hatte mir mein Leben so hart erarbeitet, und jetzt würde es komplett umgekrempelt werden. Aber ich hatte keine Angst, sondern konnte es kaum noch aushalten vor Spannung und Neugier. Ich war glücklich, voller Tatendrang und vor allem voller Kraft, wie ich das selten erlebt hatte. Die Sonne schien. Ich war bereit für einen Neuanfang. Ich war bereit für ein neues Leben. Ich war bereit für mein Kind! Das ich niemals wieder hergeben würde.

Zwei Welten

Das Schönste im Leben ist, dass unsere Seelen nicht aufhören, an jenen Orten zu verweilen, wo wir einmal glücklich waren.

KHALIL GIBRAN

»Hey, Janine, der Ball ist heiß, gleich treff ich dich!« Markus holte weit aus, als könnte er die Wucht des Aufpralls damit steigern. Gar nicht so einfach mit einem Softball.

Ich grinste.

»Du kriegst mich niemals! Dazu müsstest du ja zielen können«, rief ich und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich wollte gewinnen, auch wenn die Lage im Moment eher aussichtslos war. Ich hatte diesmal die Loser-Mannschaft erwischt und nur noch Claudi und ich standen auf dem Feld. Alle anderen waren »Geister« und mussten außerhalb des Feldes bleiben, das wir mit weißen Kreidesteinen auf den Asphalt gemalt hatten. Markus zielte, warf, und mit einer blitzschnellen Bewegung nach rechts drehte ich mich dem Ball entgegen.

»Gefangen! Gefangen!«, triumphierte ich und hüpfte mit dem Ball in der Hand auf und ab, als wäre ich ein Flummi.

»Blöde Kuh!«, sagte Markus.

Er ärgerte sich schwarz. Ich war zwar gerade erst neun geworden, aber im Völkerball war ich auch für die Älteren kaum zu schlagen. Markus war schon zehn und ging in die vierte Klasse. Ich ging in die dritte. Markus fand es blöd, dass ich ihm immer entwischte, und dachte sich ständig neue Beschimpfungen für mich aus. Aber das war mir egal, solange ich gewann. Meine Mannschaft jubelte. Völkerball war das Beste überhaupt. Mein absolutes Lieblingsspiel.

Seit einer Woche waren Osterferien. »Kaum zu glauben, wie warm es schon ist. Dabei ist doch erst Ende März!«, sagte Mama ungefähr zehn Mal am Tag. In unserer Straße gab es nur noch eins: Völkerball spielen, bis die Laternen angingen und unsere Mütter uns zum Abendessen riefen. Alle Kinder wohnten in einem der Reihenhäuser, die eigentlich alle gleich aussahen: Jägerzaun, Vorgarten, Haustür mit Vordach, zwei Fenster unten, zwei Fenster oben, rote Dachziegel. Bei manchen hatte das Vordach Ziegel, bei anderen war es aus gewelltem Glas. Manche Häuser waren grün, andere braun und wieder andere weiß. Das waren die einzigen Unterschiede. Hinten hatten wir alle noch einen kleinen Garten und eine Terrasse, auf der wir manchmal mit den Nachbarn grillten. Auf der Straße parkten ein paar Autos. Außer unseren Eltern, unseren Verwandten und Bekannten fuhr hier niemand rum. Es gab hier auch keine Läden. Nur jede Menge Reihenhäuser, Gärten und Garagen. Wir konnten die ganze Straße als Spielfeld benutzen.

Mist, Claudi war getroffen und zum Geist geworden! Jetzt hing alles an mir. Vor Spannung kribbelte es in meinen Fingern.

»Ach du Scheiße, schaut euch den Wagen an!«, rief Tobias plötzlich und starrte mit offenem Mund die Straße hinunter. Die anderen Kinder folgten seinem Blick. Langsam näherte sich ein goldbrauner Porsche. Cabrio. Mit offenem Dach, obwohl es doch noch gar nicht Sommer war. Er passte in diese Siedlung wie ein Pfau in einen Ententeich, dachte ich und wandte mich ab. Wie aus einer anderen Welt.

»Getroffen! Getroffen!« Markus jubelte, als der Softball mich am Rücken traf. Aber keiner beachtete ihn. Ich drehte mich um und streckte ihm die Zunge raus. »Blödmann!«, sagte ich.

Alle anderen Kinder beobachteten den Porsche. Er hielt direkt neben unserem Spielfeld. Der Fahrer hatte den Ellenbogen auf den Türrahmen gelehnt. Er hatte braunes Haar, das hinten im Nacken etwas länger war, und trug einen Schnauzbart. Außerdem eine Sonnenbrille mit großen, tropfenförmigen Gläsern, die oben etwas dunkler getönt waren als unten. Neben ihm saß eine wunderschöne blonde Frau. Sie stieg aus dem Wagen. Ihre endlos langen Beine steckten in hochhackigen, spitzen Schuhen und schwarzen Strumpfhosen. Sie trug einen türkisfarbenen Minirock, eine enge Bluse und riesige pinkfarbene Plastikohrringe. Sie sah umwerfend aus.

»Deine Mutter sieht toll aus!«, sagte Claudi.

»Jaaa, na ja, geht so«, murmelte ich. »Können wir jetzt weiterspielen?«

Keiner antwortete. Einerseits fand ich es cool, dass meine Freunde meine Mutter so super fanden. Sie war ganz anders als alle unsere anderen Mütter. Ganz anders als Mama. Andererseits konnten wir jetzt nicht mehr weiterspielen. Ich zumindest nicht. Das ärgerte mich. Ich musste aufhören, das zu tun, was mir Spaß machte. Wozu ich richtig Lust hatte. Was ich am liebsten tat. Um das zu tun, was sie gerne tat. Denn es war mal wieder so weit: Irgendjemand hatte bestimmt, dass ich dieses Wochenende bei meiner Mutter verbringen würde. Letzten Sonntag hatte ich Geburtstag gehabt und war neun Jahre alt geworden. Am Montag hatte mich meine Mutter abgeholt und wir waren zusammen mit ihren beiden Cousinen italienisch Essen gegangen.

Sie hatte mir das Barbie-Pferd geschenkt, das ich mir gewünscht hatte. Und dazu eine Crystal Barbie, die hatte ein weißes, glitzerndes langes Kleid an, Diamantenohrringe und einen Tüllumhang. Und eine Skipper, Barbies jüngere Schwester. Danach hatte sie keine Zeit mehr gehabt, deshalb hatte sie mich wieder nach Hause gefahren. Obwohl ja eigentlich gerade Osterferien waren und ich auch bei ihr hätte schlafen können, weil am nächsten Tag keine Schule war. Das ging aber nicht, deshalb holte sie mich heute am Freitag noch einmal ab.

»Janine, Schätzchen, komm, trödel nicht! Sag schnell Tschüss zu deiner Mama und dann lass uns fahren. Wir müssen um sechs zu Hause sein, später kommen meine Freundinnen zu Besuch. Ach ja, das hier ist übrigens Ralf.« Sie deutete auf den Fahrer des Porsche. Ich lief schnell nach Hause und sagte Mama Bescheid, dass sie da war.

»Vergiss deine Jacke nicht, Maus. Es soll kalt werden morgen.« Mama drückte mich ganz fest und gab mir einen Kuss.

»Ich hab dich lieb«, sagte sie leise an meinem Ohr.

In der Zwischenzeit hatten sich alle Kinder um das Auto geschart. Die Jungs starrten wie gebannt auf den Sportwagen. Die Mädchen auf den Minirock meiner Mutter. Sie lächelte wie in einem Modekatalog. Und auch ich musste jetzt lächeln. Meine Mutter war cool. Voll cool.

Papa kam gerade zurück vom Joggen. Ich sah ihn eine Seitenstraße vor unserer noch einmal abbiegen. Er hatte wohl keine Lust, meine Mutter zu treffen, und lief noch eine Runde länger.

Der Porsche beamte uns von Köln-Frechen in eine andere Welt. Ralf hatte auf der Fahrt fast nichts gesagt und sich vor dem Haus schon wieder von uns verabschiedet. Ich wusste nicht, ob ich ihn überhaupt noch einmal zu Gesicht kriegen würde.

Bei meiner Mutter war alles anders als zu Hause: bunter und glänzender als bei uns. Ihre Wasserhähne waren golden und verschnörkelt. Die Hebel, an denen man drehen musste, damit Wasser herauskam, hatten die Form von kleinen Flügeln. Ich mochte es, mit den Fingern an den Schnörkeln entlangzufahren. Ihre Wohnung war kleiner als unser Haus, aber sie hatte einen sehr großen Kleiderschrank und war die einzige Frau, die ich kannte, die immer Stöckelschuhe trug. Niemand in unserer Siedlung trug Stöckelschuhe. Nicht einmal zu Weihnachten.

In ihrer Wohnung gab es einen großen Raum, der Wohn- und Esszimmer zusammen war. An der Seite, wo es zur Küche ging, stand ein runder Esstisch aus Glas, um den sechs glänzende Metallstühle passten. An der Wand hing ein Foto von einem Sonnenuntergang, vor dem sich die Umrisse eines schwarzen Vogels abzeichneten, der am Himmel kreiste. Gegenüber hingen Bilder, die nur aussahen wie Fotos, in Wahrheit aber gemalt waren. Auf einem war eine knallrote Kirsche, die gerade mit einem großen Platsch in einen rosa Cocktail fiel. Im Wohnzimmer hatte sie noch eine weiße Couch, in die man sich richtig tief reinlümmeln konnte. Und einen Couchtisch aus einem weißen, glatten Stein, der sich immer kühl anfasste.

Sie hatte auch einen Pudel. Er hieß einfach nur »Pudel« und trug meistens ein Halsband mit Strasssteinen. Ich mochte ihn überhaupt nicht.

Etwas unschlüssig folgte ich ihr ins Schlafzimmer und setzte mich auf ihr riesiges, weiches Bett.

»Janine-Schätzchen, soll ich dich schminken?«

»Mhm, gerne«, murmelte ich. Schminken mochte ich.

»Und morgen gehen wir erst mal einkaufen. Dann kauf ich dir ein paar tolle T-Shirts. Pink würde dir sicher besser stehen als dieses Dunkelblau, in dem du da rumläufst. Das ist doch total langweilig und trist!«

»Okay«, sagte ich. Ich liebte mein dunkelblaues T-Shirt. Immerhin hatte es eine gelbe Blume auf der Brusttasche. Mama hatte es mir erst vor ein paar Wochen zu meinem neunten Geburtstag geschenkt.

Sie nahm ein pinkfarbenes Lipgloss von der Frisierkommode und setzte sich vor mich auf einen Hocker. Ganz konzentriert guckte sie auf meine Lippen, während sie sie anmalte. Ich kannte niemanden, der so lange Wimpern hatte wie sie. Heute hatte sie knallblaue Wimperntusche genommen. Ihre Augen sahen immer aus wie Sterne.

Jetzt kam der Kajal – ich musste nach oben schauen und sie schob mit einem Finger leicht das Lid nach unten und malte einen Strich in die Innenseite über die Wimpern. Ich musste blinzeln, aber ich wusste, gleich würde ich wunderschön aussehen.

Sie lehnte sich zurück und sah mich prüfend an: »Wenn du groß bist, siehst du mal genauso aus wie ich. Gefällt dir das? Findest du mich schön?«

»Ja, klar!« Was für eine Frage! Sie war die schönste Frau, die ich kannte. Und die alle anderen Kinder in der Siedlung kannten.

Lächelnd drehte sie sich zur Frisierkommode um und zog die Schmuckschublade heraus.

»Guck mal, was hältst du von der Strasskette? Damit wirst du aussehen wie meine kleine Prinzessin!«

Sie hielt mir eine Kette mit tausend funkelnden Steinen vor die Nase. Ich wusste, sie hatte recht: Damit würde ich aussehen wie eine Prinzessin. Oder wie Crystal Barbie.

»Danke«, sagte ich.

Nach dem Schminken bestellten wir bei einem Lieferservice Spaghetti Bolognese. Sie schmeckten lecker. Nudeln waren mein Lieblingsessen. Bei meiner Mutter gab es eigentlich immer Nudeln. Manchmal auch Pizza. Beim Essen erzählte mir meine Mutter, was wir am nächsten Tag machen würden:

»Morgen fahren wir mit dem Taxi in die Stadt, das machst du doch so gerne! Ich will mir ein paar neue Schuhe kaufen und dazu eine passende Handtasche. Du bekommst etwas Schönes von Esprit oder Benetton, ja?«

»Ja, super!«, sagte ich. Mit dem Taxi fahren war toll, trotzdem musste ich ganz kurz an die anderen Kinder denken, die morgen wieder Völkerball spielen konnten.

Als wir aufgegessen hatten, klingelte es. Ich rannte zur Tür. Davor standen Muttis beste Freundinnen: Petra, Sandra und Renate. Die drei waren oft zu Besuch, manchmal brachte Petra mir irgendein Spielzeug mit.

»Hallo, Janine!«, begrüßte mich Petra und streichelte mir über den Kopf. Ich mochte es nicht so richtig, wenn mir jemand über den Kopf streichelte. Aber ich sagte lieber nichts.

»Sie ist dir wirklich wie aus dem Gesicht geschnitten. Total süß!«, sagte Petra zu meiner Mutter und tat dabei so, als würde sie sie auf beide Wangen küssen.

Die Frauen setzten sich an den großen Esstisch. Meine Mutter goss jeder ein Glas Wein ein und stellte Chips, Erdnussflips und Salzstangen auf den Tisch. Ich wollte mich gerade auf einen der beiden freien Stühle setzen, da sagte sie: »Janine-Schätzchen, schau doch ein bisschen Video! Ich hab viele neue Filme da, such dir was aus!«, und deutete lächelnd auf die Couch und den Fernseher im Wohnzimmer.

Super! Videoschauen fand ich toll. Ich hüpfte zu dem Schränkchen, auf dem der Fernseher stand. In den Fächern darunter waren wie immer die neu ausgeliehenen Videos. Sofort hatte ich den besten Film gefunden. Ich schnappte mir die Kassette und hielt sie in die Höhe.

»Darf ich Rocky gucken?«, fragte ich vorsichtig. Ich wusste genau, dass Rocky ein Film für Erwachsene war. Zu Hause würden sie mir das nie erlauben. Egal, wie sehr ich darum bitten würde. Aber immerhin war ich ja jetzt schon neun.

»Ja, klar! Du weißt doch, du darfst gucken, was du willst!«, rief meine Mutter von der Essecke rüber. »Und jetzt lass uns ein bisschen quatschen, ja?«

Ich legte den Film in den Videorekorder, kuschelte mich auf die Couch und drückte auf die Fernbedienung. Plötzlich berührte mich etwas am Fuß. Ich guckte nach unten. Oh Mann, der Pudel!

»Na komm, hüpf hoch!«, forderte ich ihn auf und tätschelte auf den Platz neben mir. Doch der Pudel schaute nur ratlos aus seinen kleinen Augen und trottete wieder zurück ins Esszimmer.

Pflegekind

Alles, was man vergessen hat,
schreit im Traum um Hilfe.

ELIAS CANETTI

Alles ist nass und kalt. Ich fühle mich so unwohl. So allein. Ich bin so furchtbar traurig. Niemand versteht mich, niemand ist da. Ich bin ganz allein in diesem Zimmer. Ich höre niemanden. Warum bin ich so allein? Ich friere so sehr. Und ich habe Hunger. Ich schreie, aber niemand kommt. Warum hört mich niemand? Ich schreie lauter und noch lauter und so laut ich überhaupt kann …

 

»Janine, wach auf! Was ist denn los? Hast du wieder schlecht geträumt, Maus?«

Ich machte schnell die Augen auf und sah mich um: Um mich herum war die hellblau-weiße Wolkentapete meines Zimmers. Gott sei Dank, ich war zu Hause in meinem Bett! Ich sah in das Gesicht meiner Mama, die sich über mich beugte. Ihre kühle Hand strich über meine Stirn. Zwischen ihren Augenbrauen war eine Falte, die da sonst nicht war.

Ich war so erleichtert, sie zu sehen, aber ich konnte ihr das nicht sagen. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Die Tränen liefen mir von ganz alleine aus den Augen und ich musste dauernd nach Luft schnappen. Ich konnte gar nichts dagegen tun.

Sie nahm mich in die Arme, drückte mich und sagte: »Ach Schatz, es ist doch alles gut. Beruhige dich doch.«

»Ja, ich weiß, Mama«, schluchzte ich mühsam und setzte mich langsam auf. Es war sicher nur, weil ich wieder krank geworden war nach dem Wochenende bei Mutti. Ich hatte die ganze Zeit gefroren und geschwitzt gleichzeitig. Zwei Tage lang. Heute war es mir eigentlich schon wieder besser gegangen. Es waren doch Ferien. Und morgen wollte ich zu Oma. Ich hatte keine Lust mehr, krank zu sein und blöde Sachen zu träumen!

Wir setzten uns nebeneinander auf den Bettrand, sie legte den Arm um meine Schulter und wiegte uns beide sanft hin und her. Hin und her. Langsam hörte mein Herz auf, so laut zu pochen, und ich konnte wieder normal atmen.

»Mama, warum träume ich das immer? Ich will das nicht mehr träumen! Woher kommt das denn? Kannst du nicht machen, dass das aufhört?« Mama wusste doch alles, konnte sie denn nichts gegen diesen schrecklichen Traum tun?

»Ach Mäuschen, ich weiß es doch auch nicht. Das ist alles eine lange und schwierige Geschichte«, sagte sie leise.

»Was meinst du damit?«, fragte ich vorsichtig. Warum war sie plötzlich so komisch?

Mama antwortete nicht.

Nach einer langen Pause sagte sie: »Vielleicht erinnerst du dich in deinen Träumen manchmal daran, wie es war, bevor du zu uns gekommen bist.« Sie guckte an die Decke.

»Wieso bevor ich zu euch gekommen bin? Ich war doch immer bei euch!«, rief ich. Klar, ich wusste, dass ich nicht in Mamas Bauch gewesen war, so wie Kerstin und Anne, meine beiden großen Schwestern, und Stefan, mein kleiner Bruder. Ich kam aus dem Bauch meiner Mutter, die mich manchmal am Wochenende abholte. Aber sonst war ich immer bei Mama, Papa, Anne und Kerstin gewesen. Zumindest konnte ich mich an nichts anderes erinnern. Als ich zwei Jahre alt war, kam noch Stefan dazu, mein kleiner Bruder, den Mama geboren hatte, genauso wie Kerstin und Anne. Aber das war doch alles ganz normal, was hatte das mit diesem blöden Traum zu tun?

»Du weißt doch, dass nicht ich dich geboren habe, sondern deine Mutter, oder? Und dass du gleich danach zu uns gekommen bist?«

Ich nickte. »Klar.«

Sie lächelte. »Weißt du, wann wir uns das erste Mal gesehen haben?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Da warst du sechs Tage alt. Ein ganz kleines, süßes Baby. Du warst bei einer anderen Familie, aber dort ging es dir nicht so gut. Die Leute vom Jugendamt hatten Papa und mich angerufen und gefragt, ob wir uns vorstellen könnten, diesmal ein Kind für länger zu nehmen. Sie sagten: ›Wir haben hier ein Kind, für das wir dringend eine Familie suchen. Die Mutter will es aber nicht zur Adoption freigeben, sondern nur auf unbestimmte Zeit in eine Pflegefamilie.‹ Wir hatten vorher ja schon manchmal Pflegekinder auf Zeit gehabt.« Mama sah mich nicht an, als sie das erzählte.

»Warum sind die denn nicht auch für immer bei euch geblieben?«, fragte ich, um ihre Gedanken zu unterbrechen. Dass es vor mir schon andere Pflegekinder bei Mama und Papa gegeben hatte, war irgendwie komisch.

»Wir haben nur in Notfällen ausgeholfen«, sagte sie und sah mich wieder an, »wenn die Mutter auf Kur war oder im Krankenhaus und sie nicht wusste, wo das Kind in dieser Zeit bleiben sollte.«

»Die Kinder mussten dann wieder zurück zu ihrer anderen Mutter?«

»Ja, so war das ja von Anfang an abgemacht.«

Mir kam plötzlich ein schrecklicher Verdacht. Obwohl ich mich fast so sehr vor der Antwort fürchtete wie vor dem bösen Traum, fragte ich: »Und was habt ihr für mich abgemacht?«

Meine Mama antwortete lange nichts. Dann erzählte sie einfach weiter: »Als wir dich bei der anderen Familie besucht haben, war ich sehr traurig. Im Flur habe ich angefangen zu weinen und zu Papa gesagt: ›Wir können sie doch nicht hierlassen, wir müssen sie doch mitnehmen!‹ Aber das ging natürlich nicht so schnell. Deine Mutter wollte sich noch von dir verabschieden. Trotzdem war ich mir in dem Moment ganz sicher, dass du zu uns gehörst und wir dich zu uns nehmen werden. Abends haben wir lange darüber diskutiert. Auch mit Oma Anna.«

»Warum habt ihr denn so lange diskutiert? Wenn ihr mich doch eigentlich gleich mitnehmen wolltet?« Hatte ich irgendetwas verpasst? Oder nicht verstanden?

Meine Mama sah mich lange schweigend an. Wieder war da diese Falte zwischen ihren Augenbrauen.

»Das erzähl ich dir, wenn du größer bist, mein Schatz. Schlaf jetzt wieder. Ich bleibe noch hier sitzen, bis du eingeschlafen bist, dann kommt der böse Traum nicht wieder, ja?«

Ich legte mich wieder unter die Decke, nahm Cheeta, das kleine Steiff-Äffchen, das mir meine Oma geschenkt hatte, in den Arm und machte die Augen zu. Plötzlich kam mir ein Gedanke und ich setzte mich wieder auf:

»Mama, musste meine Mutter eigentlich auch ins Krankenhaus? Oder auf Kur?«

Sie streichelte mir über den Kopf und sagte nur: »Schlaf jetzt, Mäuschen, morgen willst du doch mit Oma in den Zoo gehen. Da kriegst du ja kein Auge auf, wenn wir heute die ganze Nacht verquatschen. Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Mama.«

Oma

Die Liebe allein versteht das Geheimnis,
andere zu beschenken und dabei selbst reich zu werden.

CLEMENS BRENTANO

Mickymaus reckte beide Arme nach oben. Die Hände mit den weißen Handschuhen zeigten auf die Zehn und auf die Zwölf. Mama und Papa hatten mir die Armbanduhr zusammen mit dem dunkelblauen T-Shirt mit der gelben Blume vor eineinhalb Wochen zu meinem neunten Geburtstag geschenkt. Die Uhr konnte ich natürlich schon längst lesen. Kerstin hatte es mir gezeigt, als ich in die Schule gekommen war. Zum Glück ging es mir heute wieder gut. Ich war gestern Nacht schnell wieder eingeschlafen und hatte heute Morgen bis acht Uhr geschlafen. Richtig lange. Den ganzen Vormittag hatte ich mit Mama und Stefan Ostereier bemalt. Am Wochenende war Ostern und Mama wollte heute das Haus dekorieren. Aber schon seit zehn Minuten rührte ich nur noch mit dem Pinsel in den Farben rum und wartete, bis es endlich zwölf war.

Fünf Minuten vor zwölf. Ich konnte es kaum erwarten. Oma wollte mich abholen, das hatten wir Anfang der Woche am Telefon so verabredet. Und sie war immer ganz genau pünktlich. Wir wollten zusammen mit dem Bus zu ihrer Wohnung fahren und nach dem Mittagessen in den Zoo gehen. Ich wusste gar nicht, worauf ich mich am meisten freute: auf das gemeinsame Essen mit Oma, auf ihre Steifftiersammlung, auf den Zoo oder auf das Busfahren. Ich liebte Busfahren! Ich liebte den Zoo! Ich liebte Oma!

Endlich klingelte es. Ich ließ den Pinsel fallen und rief »Tschüss Mama, Oma ist da!«, rannte in den Flur, schlüpfte in meine Schuhe, schnappte mir meine Jacke von der Garderobe und riss die Haustür auf.

»Oma!«, rief ich. Sie stand noch am Gartentürchen und bückte sich gerade, um die Klinke runterzudrücken.

Oma strahlte über das ganze Gesicht und in den dunklen Locken, die ihr Gesicht umrahmten, blitzten ihre großen, runden, goldenen Ohrringe. Sie hießen »Creolen«, hatte sie mir erklärt. Sie ging durch das Türchen, breitete die Arme aus und rief: »Janine, mein Sonnenschein! Hallo!«

Wie immer fand ich sie sehr elegant: Sie trug ein kariertes Jackett, eine weiße Bluse mit einem großen Kragen, einen beigefarbenen Rock mit kleinem Schlitz, Schuhe mit goldener Schnalle und einem kleinen Absatz. Ihre Handtasche passte perfekt zu den Schuhen. Am Handgelenk trug sie ihr goldenes Armband mit den grünen Steinen.

Ich lief auf sie zu und wir umarmten uns. Sie fühlte sich an wie ein Kissen, denn Oma war ein bisschen pummelig. Und nicht besonders groß. Sie war die kleinste Erwachsene, die ich kannte, und nur noch fünfzehn Zentimeter größer als ich. Das hatten wir das letzte Mal ausgemessen. »Bald hast du mich eingeholt! Wenn du mich überholt hast, musst du mir sagen, wie die Luft da oben ist«, hatte sie gesagt. Oma redete immer viel Quatsch und ich musste oft über sie lachen.

Meine Nase landete an ihrem Hals. Ich hatte sie mal gefragt, warum sie so besonders roch. Sie hatte mir erklärt, das wäre ihr Parfüm. Auf ihrer Kommode stand immer eine Flasche davon. Eigentlich hieß es nicht Flasche, sondern »Flakooo«, hatte Oma mich verbessert.

»O-P-I-U-M-D-I-O-R«, hatte ich gelesen. »Was soll das denn heißen?«

»Das ist der Name von dem Parfüm. Es kommt aus Frankreich. Es heißt ›Opium‹ und die Firma, die es herstellt, heißt ›Dior‹.«

Zu dem Duft des Parfüms mischte sich noch der Geruch von frischem Kaffee. In ihrer Wohnung roch es immer danach. Aber sie konnte den Geruch auch mit nach draußen nehmen. Sie roch super und ihr ganzes Gesicht war voller Sommersprossen.

»Ach Janine, wenn ich dich sehe, geht die Sonne auf. Los, komm, der Bus fährt gleich!«, sagte sie lachend. Sie winkte Mama zu, die uns von der Tür aus lächelnd beobachtete, und zog mich in Richtung Bushaltestelle.

»Wenn ich sie wiederbringe, habe ich mehr Zeit, aber jetzt müssen wir schnell machen, damit wir den Bus noch kriegen«, rief sie Mama zu.

»Schon gut, bis heute Abend!«, sagte Mama, winkte noch mal und schloss die Tür.

»Hast du Lust auf Kotelett? Ich hab dir Kotelett mit Rahmerbsen und -möhrchen und Kartoffeln gemacht«, quatschte Oma fröhlich weiter, als wir im Bus saßen. Wie immer durfte ich am Fenster sitzen.

»Mhm, ja, lecker!«, sagte ich und nickte. Das war ein bisschen gelogen. Ehrlich gesagt, Kotelett war okay, aber so richtig gut schmeckte es mir nicht, selbst wenn Oma es kochte.

Oma grinste mich an und sagte: »Es ist schön, dass du so höflich bist. Höflichkeit schmückt, das weißt du ja. Trotzdem – gib dir keine Mühe, ich weiß schon, dass du lieber Nudeln essen würdest, aber immer nur Nudeln, das ist doch nichts. So ein schönes Kotelett ist gut für die Knochen!« Sie tätschelte mein Bein.

Oma konnte man einfach nichts vorlügen! Aber das Gute war: Man musste ihr auch nichts vorlügen. Weil sie nie sauer war und mich immer verstand.

»Und danach gibt’s noch einen Mohrenkopf, der ist auch sehr gut für die Knochen, glaube ich.«

»Echt?«, fragte ich und grinste.

»Ganz bestimmt!«

Ihre Straße hieß »Gottesweg«. Sie schloss die Wohnung auf und wir betraten den großen, runden Flur, von dem die anderen Zimmer abgingen. Die Decke war viel weiter oben als zu Hause und an den Wänden waren gelbe Tapeten mit einem feinen Blümchenmuster. Die Türen waren weiß und hatten alte goldene Griffe. Auf einem kleinen Tischchen stand eine Lampe mit einem verschnörkelten Fuß und kleinen Troddeln am Schirm.

Sie zog ihr Jackett aus und hängte es an die Garderobe. Ihre Schuhe zog sie auch zu Hause nie aus.

Wir setzten uns an den großen Esstisch aus dunklem Holz im Wohnzimmer und aßen zu Mittag. Zum Nachtisch gab es den Mohrenkopf und als ich behauptete, dass sich meine Knochen immer noch ganz labberig anfühlten, bekam ich noch einen. Wie immer lachten wir die ganze Zeit. Mit Oma konnte man einfach am besten Quatsch machen!

Trotzdem war es heute nicht ganz so wie sonst. Der Traum von gestern Nacht und das Gespräch mit Mama spukten immer noch in meinem Kopf herum und ich konnte nicht aufhören, daran zu denken, auch wenn ich mich noch so anstrengte und noch so viel Quatsch mit Oma machte. Mama sagte immer, dass es toll war, dass ich zwei Mütter und zwei Omas hatte. Das war etwas Besonderes und mehr, als die meisten anderen Kinder hatten. Ich fand es super, etwas Besonderes zu sein, aber manchmal wünschte ich mir auch, ich wäre genauso wie alle anderen.

Nach dem Essen spielten wir noch ein bisschen mit meinem Äffchen Cheeta und Omas Steiff-Tieren und dann brachen wir auf in den Zoo. Diesmal fuhren wir mit der Bahn.

Unsere erste Station waren wie immer die Giraffen, die ganz nah am Eingang des Zoos ihr Gehege hatten. Oma mochte sie besonders gerne, weil sie so elegant waren und weil sie das Muster ihres Fells so schön fand.

»Oma, magst du die Giraffen so gerne, weil sie so groß sind und du so klein?«, fragte ich.

»Du freches Stück! Dir muss man wohl mal die Ohren langziehen!«, rief sie und tat so, als wollte sie einen Angriff auf meine Ohren starten.

»Schau mal, sogar die ist schon viel größer als du!«, sagte ich, um sie noch ein bisschen zu ärgern, und deutete auf eine ganz junge Baby-Giraffe, die gerade aus dem Giraffenhaus kam.

»Na guck mal! Das muss Juvi sein, die ist erst vor ein paar Wochen geboren. Das hab ich neulich in der Zeitung gelesen.«

Juvi war zwar größer als Oma und ich, aber neben ihrer Mutter sah sie trotzdem aus wie ein Winzling. Sie schaffte es gerade, sich bis zu dem Euter der Mutter zu strecken.

»Kann ich dich mal was fragen, Oma?«

»Ja, klar, spuck’s aus!«

Ich gab mir einen Ruck und fragte: »Muss ich irgendwann zu meiner Mutter zurück?«

Oma wurde plötzlich ganz ernst. Dann schaute sie wieder zu den Giraffen hinüber. Von der Seite sah ich, dass sie das Gesicht verzog, so als würde ihr etwas wehtun.

»Es macht mich immer unglücklich, wenn ich daran denke, dass deine Mutter dich weggegeben hat«, hatte sie mir mal erklärt. Deshalb sprachen wir nicht so oft darüber. Eigentlich nie. Meine Mutter, die ich manchmal am Wochenende besuchte, war ihre Tochter. Obwohl sie sich wirklich gar nicht ähnlich sahen und auch gar nicht ähnlich waren.

Oma wusste, dass ich zu Hause glücklich war, und mochte auch Mama sehr gerne. Trotzdem wurde sie immer sehr traurig, wenn wir über meine leibliche Mutter sprachen.

»Deine Mutter hat viele Entscheidungen getroffen, die ich bis heute überhaupt nicht nachvollziehen kann und die mich sehr traurig machen.« Oma sah immer noch zu den Giraffen rüber und redete sehr leise. »Ich habe deiner Mutter viele Türen aufgemacht und sie hat sie alle einfach wieder zugemacht. Sie hätte all die Fehlentscheidungen, die sie für ihr Leben getroffen hat, nie treffen müssen.«

Sie klang fast ein bisschen böse, als sie das sagte. Es tat mir leid, dass ich mit dem Thema angefangen hatte. Was meinte Oma damit? Welche Entscheidungen?

Sie klemmte sich eine ihrer schwarzen Locken hinter das rechte Ohr und sagte: »Nina, man muss Entscheidungen für sich treffen, nicht für die anderen, aber man sollte trotzdem Rücksicht nehmen. Und nur um jemandem wehzutun, sein eigenes Leben kaputtzumachen … das macht keinen Sinn.«

Ich wollte nicht, dass sie traurig war. Ich nahm ihre Hand. Oma sah mich an. Sie verzog immer noch das Gesicht und ihr Doppelkinn wackelte.

»Glaub mir, deine Mutter liebt dich, aber ein Kind würde nicht in ihr Leben passen. Ich finde das nicht gut und ich kann es nicht nachvollziehen, aber ich kann es auch nicht ändern. Sie kommt wohl mehr nach deinem Großvater, der ist auch so unstet. Sie ist ihm sehr ähnlich. Mir war die Freiheit nie so wichtig wie ihm und wie ihr. Ich bin so froh, dass du ein schönes Zuhause hast, eine nette Familie und eine Mama, die dich liebt!«

Oma hatte viel Pech im Leben gehabt, hatte Mama mal gesagt. Ihren Mann, meinen Großvater, hatte ich nur einmal gesehen. Ich hatte ihn zwar kaum kennengelernt, aber ich wusste trotzdem sofort, dass ich ihn überhaupt nicht leiden konnte, egal ob er mein Opa war oder nicht. Er hatte so laut geredet und dauernd so angeberisch getan, als wäre er ein Hollywoodstar. Alles musste sich um ihn drehen, für die anderen hatte er sich gar nicht interessiert. Ich glaube, er hat Oma sehr wehgetan, deshalb hat sie sich damals von ihm getrennt.

Plötzlich lächelte Oma wieder, drückte meine Hand und sagte: »Nina, du bist mein Sonnenschein. Du bist das Allerbeste in meinem Leben. Du machst mich so glücklich. Wenn ich an dich denke, freue ich mich immer. Lass uns den Nachmittag genießen und nicht über so traurige Dinge sprechen, ja? Mach dir keine Sorgen, niemand wird dich von deiner Mama wegholen, da bin ich mir ganz sicher.«

Sie strich mir über den Kopf. Ich sah das goldene Armband an ihrem Handgelenk baumeln. Ich hatte sie noch nie ohne dieses Armband gesehen. Es klebte an Oma wie ihr Geruch nach Kaffee und Opium. Es hatte längliche Glieder, die ein bisschen verschnörkelt waren. In jedem Glied saß ein grüner Stein. Die Steine waren gewölbt und wenn man darüberfuhr, fühlten sie sich an wie flache, kühle Beulen. Ich beruhigte mich. Oma hatte sicher recht: Alles war gut.

Plötzlich rauschte und platschte es im Gehege. Die junge Giraffe pinkelte. Aber es war, als würde jemand einen Eimer hinter ihr ausschütten, wie ein Wasserfall! Oma und ich mussten laut lachen und konnten fast nicht mehr aufhören. Als wir uns wieder beruhigt hatten, fragte Oma:

»Was hältst du davon, wenn wir Juvi am Sonntag nach Ostern noch mal besuchen und nachsehen, wie viel sie bis dahin gewachsen ist?«

Ich rechnete nach und zählte die Tage an den Fingern ab. Übernächsten Sonntag?

»Aber da ist doch meine heilige Erstkommunion!«, rief ich. Wie konnte sie das denn vergessen?

Sie grinste: »Ach sag bloß! Da ist deine heilige Erstkommunion? Was wünschst du dir denn zu deiner heiligen Erstkommunion?«

An ihrem Grinsen sah ich, dass sie mich bloß veräppeln wollte. Sie hatte die Kommunion gar nicht vergessen und ich war mir sicher, dass sie schon längst ein Geschenk für mich hatte. Es waren schließlich bloß noch zehn Tage bis zu meinem großen Fest. Und ich hatte mir schon lange ein Barbie-Schaumbad von Oma gewünscht. Aber ich wollte keine Spielverderberin sein und sagte: »Eine Giraffe!«

»Na, aber ob deine kleine Oma dir so etwas Großes schenken kann, ich weiß nicht«, sie zog die Augenbrauen hoch und schüttelte den Kopf.

»Ich meine doch eine aus Stoff!«, sagte ich und lachte.

»Ach so, alles klar. Das ist eventuell möglich. Die kann deine winzige Oma ja vielleicht gerade noch so tragen«, sagte sie und lachte auch.

Kommunion

Lass dich durch nichts erschrecken und verliere nie den Mut; denn ich dein Gott bin bei dir, wohin du auch gehst.

JOSUA 1,9

Ich sah als Einzige nicht aus wie eine Sahnetorte. Alle anderen Mädchen hatten Kleider, die verziert waren mit Rüschen, Spitzen und Bändern, manche sogar mit Reifrock oder mit ganz bauschigen Puffärmeln. Sie hatten Kränze oder Krönchen im Haar. Mama hatte gesagt, dass solche Kommunionskleider eher aussehen wie Karnevalskostüme, sie fand das nicht gut. Mein Kleid war bodenlang, weiß und schlicht. Es gefiel mir sehr. Ich war neun, schon fast erwachsen, dachte ich, als ich mit meiner weißen Kerze mit dem roten Kreuz darauf in der Reihe mit den anderen Kindern stand und darauf wartete, dass der Gottesdienst begann. Viele der Kinder kannte ich aus der Schule oder aus dem Kindergottesdienst. Die meisten waren wie ich in der dritten Klasse, manche aber auch schon in der vierten.

Noch nie hatte ich mich so auf Ostern gefreut wie dieses Jahr. Weil eine Woche später »Weißer Sonntag« war und das hieß: meine heilige Erstkommunion. An Ostern letztes Wochenende waren wir auch viel in der Kirche gewesen: An Karfreitag, in der Osternacht und am Ostersonntag. Aber das war trotzdem etwas ganz anderes als heute. Denn heute ging es um mich.

Mama und ich hatten beschlossen, dass es besser war, wenn ich nicht in ihre Kommunionsgruppe ging, sondern in die ihrer Freundin. Sonst würde vielleicht jemand denken, ich würde bevorzugt oder sie müsste besonders streng mit mir sein. Auch wenn sie nicht beide Gruppen selber leiten konnte, war Mama diejenige, die bei den Kommunionsvorbereitungskursen alles in der Hand hatte. Sie dachte sich die meisten Ausflüge aus, organisierte alles und hatte immer neue Ideen. Am besten hatte mir das Brotbacken mit den Zigeunern gefallen. Auch Papa hatte mitgemacht. Hinter unserer Kirche gab es einen freien Platz, auf dem eine Gruppe von Sinti und Roma, wie die Zigeuner eigentlich hießen, wohnen durften, wenn sie wollten und in der Gegend waren. Obwohl sie anders lebten und auch ein bisschen anders aussahen, waren sie genauso wie wir. Alle Menschen waren eine Gemeinschaft. Damit wir das spürten und verstanden, hatten Mama und ihre Freundinnen aus der Kirchengemeinde ein gemeinsames Brotbacken organisiert. Auf großen Tischen kneteten wir die Teiglaibe nach der Anleitung der Sinti-und-Roma-Frauen und schoben sie anschließend in den selbstgebauten Ofen. Zum Schluss spielten ein paar der Sinti-und-Roma-Männer Geige und sangen dazu.

Am zweitbesten fand ich den Ausflug nach Maria Laach, den wir alle zusammen im Februar, direkt nach Karneval, gemacht hatten. Meine Schwestern waren beide Jahre vorher schon in Maria Laach zur Kommunionsfreizeit gewesen. Kerstin hatte mir die besten Tipps gegeben. Z. B., dass ich eine Taschenlampe mitnehmen sollte, damit wir nachts heimlich über die Gänge des alten Klosters schleichen konnten.

Mama kochte und backte schon die ganze Woche. Wir hatten ein ganzes Menü geplant, auf das ich mich jetzt schon freute: Zuerst würde es Mamas Hühnersuppe geben. Dafür kochte sie selbst die Hühner aus und machte Nudeln aus großen Teigplatten, die einen Tag über der Lehne des Küchenstuhls trockneten. Danach gab es gemischten Salat mit Lachs, das hatte ich mir gewünscht. Als Hauptgericht würde es Rouladen mit selbstgemachten Knödeln geben. Und als Nachtisch Eis mit heißen Himbeeren.

Wir waren heute sehr früh aufgestanden und hatten das komplette Wohn- und Esszimmer ausgeräumt. Mama und Papa hatten eine Riesentafel gebaut, auf die wir alle weißen Tischdecken legten, die wir finden konnten. Dann verteilte ich die Tulpen, die wir gekauft hatten, in kleinen Vasen auf den Tischen. Weil ein besonderer Tag war, deckten wir das Goldrandgeschirr und ich durfte die Tafel dekorieren. Mama gab mir ein paar Tipps und zeigte mir, wie man Servietten faltete, damit sie aussahen wie Lilien.

Anne war schon gestern gekommen. Sie war zehn Jahre älter als ich und studierte in einer anderen Stadt. Sie war extra zu meiner Kommunion angereist. Um neun Uhr klingelte es zum ersten Mal an der Haustür. Es waren mein Onkel und meine Tante, die Schwester meiner Mama und meine beiden Cousins. So ging es die nächste halbe Stunde weiter, bis alle da waren: Oma Anna, das war Mamas Mutter, nach der Anne benannt war, alle Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins und natürlich Mama, Papa, Stefan, Kerstin, Anne und ich.

Jetzt waren sie alle in der Kirche und schauten mir zu, wie ich zusammen mit den anderen Kindern langsam den Mittelgang der Kirche entlangschritt. Immer zwei Kinder gingen nebeneinander. Unsere Kerzen waren noch aus. Vorne im Altarraum sollten sie mit dem Osterfeuer angezündet werden. Ich versuchte, mich in der Kirche umzusehen, ohne den Kopf zu bewegen. Vermutlich sah das ein bisschen dämlich aus, aber das war mir egal, denn ich musste wissen, wer alles da war. Ich sah Onkel Jochen und Tante Ingrid mit meinen beiden Cousins zwei Reihen weiter vorne. Die meisten Eltern und Verwandten waren aufgestanden und hatten sich umgedreht, damit sie uns besser sehen konnten. Mama stand vorne im Altarraum, sie half dem Pfarrer und den Messdienern. Papa, Anne, Kerstin und mein kleiner Bruder Stefan standen vorne in der zweiten Reihe, Papa hatte wie viele andere auch seine Kamera vor der Nase und es blitzte.

Ich konnte sie nirgendwo entdecken. Ob sie da war?

Mama und ich hatten lange überlegt, ob wir meine Mutter einladen sollen. Mama hatte schließlich darauf bestanden, ihr anzubieten, zu kommen.

»Du bist schließlich ihr Kind. Das ist ein wichtiger Tag in deinem Leben, da dürfen wir sie nicht ausschließen«, hatte sie mir erklärt. »Außerdem wollen wir sie doch nicht verärgern, oder?«, hatte sie noch hinzugefügt.