John Niven
MUSIC FROM
BIG PINK
Aus dem Englischen
von Stephan Glietsch
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
MUSIC FROM BIG PINK
bei der Continuum International Publishing Group Inc, New York
Music From Big Pink
ist ein auf wahren Begebenheiten und Personen beruhender Roman. Einige Ereignisse und Gespräche wurden vom Autor jedoch frei erfunden.
Deutsche Erstausgabe 08/2012
Copyright © 2005 by John Niven
Copyright © 2012 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Redaktion: Thomas Brill
Gesetzt aus der 12/12,4 Punkt Kepler Light
bei C. Schaber Datentechnik, Wels
ISBN: 978-3-641-07568-2
www.heyne-hardcore.de
eins
»Don’t you raise the sails anymore …«
Toronto, 1986 • Ich weiß nicht, warum ich so weinen musste. Ich hatte den Kerl seit Jahren nicht mehr gesehen und seit Monaten nicht mehr an ihn gedacht. Und doch stand ich hier, direkt vor dem Mini-Markt, und heulte mir beim Lesen des Star die Augen aus dem Kopf. Meine Einkäufe – Dosensuppe, Toastbrot, Putenwurst, Scheibenkäse – waren aus der braunen Papiertüte gefallen und über den ganzen Bürgersteig verstreut.
Schwerfällig setzte ich mich auf die Bordsteinkante (ich bin Mitte vierzig und bringe fast 140 Kilo auf die Waage – alles, was ich mache, geschieht schwerfällig) und starrte auf das Foto des ausgemergelten, vollbärtigen Richard in der Zeitung. Abermals las ich die Überschrift, in der Hoffnung, die Worte hätten in den letzten Sekunden eine neue Bedeutung gewonnen. Dass aus »TOT« irgendwie »GESUND UND MUNTER« geworden wäre. Oder »QUIETSCHFIDEL«. Was aber nicht der Fall war. Es hieß immer noch:
SÄNGER VON THE BAND
TOT IN HOTELZIMMER AUFGEFUNDEN
Selbstmord, hieß es. Der Arsch hatte sich erhängt. Ich heulte erneut drauflos. Eine beschissene Woche lag hinter mir, und der Artikel hatte mich kalt erwischt. Gerade erst war ich mit diesem Typen vom Lebensmittelladen aneinandergeraten. Er hatte mich beschuldigt, ihm Falschgeld unterzujubeln. Was nicht stimmte, auch wenn ich es zuvor bereits zweimal getan hatte und sogar damit durchgekommen war. Diesmal kriegten wir uns jedenfalls in die Haare. Ich war völlig pleite, zumindest bis nächste Woche der Scheck vom Sozialamt kam, und hatte mir seit dem Frühstück keinen Schuss mehr gesetzt. Es war jetzt später Nachmittag, und ich schlotterte am ganzen Körper. Im böigen Märzwind gefror mir der Schweiß regelrecht auf der Haut.
Nach einiger Zeit blieb eine alte Dame stehen und wollte wissen, ob es mir gut ginge. Ich hob den Blick und betrachtete mein Spiegelbild in ihrer Kassenbrille: die fauligen Zähne, auf meinen fahlgelben Backen die Strahlenkränze geplatzter Blutgefäße. Kein schöner Anblick für uns beide. Wie ein Kind schluckte ich tapfer meine Tränen hinunter und nickte. Sie gab mir einen Dollar und ging weiter. Ich wischte mir mit einem zerlumpten Hemdsärmel das Gesicht, sammelte die billigen Lebensmittel zusammen und eilte nach Hause.
Die Bude war das reinste Dreckloch. Meine Eltern hatten dreißig Jahre gebraucht, bis sie ihnen gehörte, und ich gerade mal drei, um sie in eine Müllkippe zu verwandeln. Ich hätte die Rollläden runtergelassen, aber sie waren bereits unten. Ich griff zu Löffel und Feuerzeug, dem braunen Pulver, Wattebällchen und der alten Spritze – einem Vorkriegsmodell aus Glas und Stahl, das mal meinem Vater gehört hatte.
Die Gitarre jaulte auf wie ein steinalter Penner, der seinen letzten Atemzug keucht, die hölzernen Toms dröhnten tiefer als eine Erdspalte am Boden des Atlantiks. Ich zog mein Hemd aus, fand eine halbwegs brauchbare Vene, band sie ab, schob die Nadel hinein und drückte den Kolben runter. Ich drehte die alte Stereoanlage (ebenfalls von meinem Vater) bis zum Anschlag auf, legte mich auf den Teppich, und während mir der Stoff durch die Adern rauschte, rollte das Intro träge über mich hinweg. Dann der Song: sein Tempo schön langsam, langsam wie die Erinnerung, das Pochen meines Herzens. Und dann endlich Richards Stimme, zitternd vor Schmerz: »We carried you in our arms, on Independence Day.« Er sang die Worte so, wie er alles gesungen hatte: Als ob ihn die in den Zeilen enthaltene Aussage umbringen würde.
Ich starrte in das schwarze, pochende Rund des Lautsprechers, spürte jedes Beben, jeden Puls atemgleich auf meinem Gesicht, fragte mich, ob die Fasern der Membran über all die Jahre wohl durchtränkt worden waren von den Tausenden von Songs und Millionen von Noten, die schaudernd ihr Netz durchdrungen hatten: elektrische Impulse, die zu einem Sound wurden, der sich in Bedeutung und Leid verwandelte. Ich wandte mich ab und blickte nach oben. Es kostete mich fast eine Minute. Über mir in der Decke war ein Riss, und wie durch Zauberei löste sich ein winziges Stück Putz und segelte herab, wie ein besonders trauriges Exemplar einer Schneeflocke oder vielleicht eines Blattes.
Sechzehn Takte, ein Löffel iranisches Heroin, und ich war zwei Dekaden zurück in meiner Vergangenheit, schwebte glückselig durch eine andere Zeit, an einen anderen Ort. Eine Zeit, in der wir alle Geld machten, mit tollen Autos durch die Berge fuhren – immer was im Blut, immer was im Bett. Eine Zeit, in der wir alle lebten, nicht bloß warteten. Das ganze Leben besteht nach einer Weile nur noch aus Warten.
zwei
»It’s for sure …«
New York City, 1967 • Es war einer dieser schier endlosen Freitage gewesen, und ich hatte das Apartment von Fifth Floor Dave erst abends um sieben verlassen. Noch dazu war es verdammt heiß, und es sah ganz so aus, als wollte heute Abend jeder Depp in Manhattan, der an ein Auto kam, raus aus der Stadt und rauf in die Catskills, bevor es mit dem Sommer vorbei war.
Ein paar Meilen vor mir hatte es einen Unfall gegeben, und ich brauchte geschlagene fünfundvierzig frustrierende Minuten, um auf den New York State Thruway nördlich der Insel zu kommen. Um mich herum staute sich der übliche Highway-Trash: verkniffen dreinblickende Geschäftsmänner in Oldsmobile- oder Cadillac-Limousinen, Hippies in Käfern oder VW-Bussen, aus deren Fenstern Gitarrenhälse ragten und aus deren Radios »Lucy In The Sky With Diamonds« schallte. Dann die Kombis voll mit plärrenden Kids samt ihren schwitzenden Eltern, alle redlich bemüht, einander nicht umzubringen. (»Also, wenn wir fünf uns im Haus schon ständig auf die Nerven gehen, warum quetschen wir uns dann nicht einfach stundenlang in eine 40 Grad heiße, zweieinhalb Quadratmeter große Kiste?« Tolle Idee, Vati.)
Über uns allen thronten die Trucker in ihren stinkenden Neunachsern; grimmige Phantombilder von Pädophilen mit verspiegelten Pilotenbrillen und versifften Ripp-Unterhemden in ihren chromglänzenden Porno-Kisten, ihren Wichskabinen. Ich meine, diese Typen, randvoll mit Amphetaminpillen, Koffein und Nikotin, holten sich beim Fahren einen runter. Solche Typen, die lachten und dämliche Bemerkungen über deine Haare machten, wenn man einen Schnellimbiss betrat. (»He du, biste’n Junge oder’n Mädchen?« Lutsch meinen Schwanz und finde es raus, du dämlicher Wichser.)
Als ich die Spur wechseln wollte, machte mich ein Mädchen in einem Camaro blöd von der Seite an, von wegen, ich hätte sie geschnitten. Na klar, geschnitten, mit sechs Meilen die Stunde. Fast wäre ich aus dem Wagen gesprungen und hätte mich mit ihrem Freund angelegt. Aber dann fiel mir der ganze Stoff in meinem Handschuhfach wieder ein, und ich besann mich eines Besseren.
Zwei Stunden später verließ ich bei Saugerties den Highway, hielt kurz an, um das Verdeck runterzuklappen, und nahm dann die Route 212 nach Westen. Ich liebte diesen Teil der Strecke, wenn dich mit einem Mal der Geruch der Catskills umwehte: frische, klare Luft, die nach Ahorn und Pinien duftete. Nächste Woche würde es Oktober sein. In den Bergen setzt der Herbst früher ein, und sein erstes Raunen war bereits sichtbar: Kupfer- und rostfarbene Flecken sprenkelten hier und da die Baumwipfel. In der Ferne ragte der Overlook Mountain auf, und irgendwo an seinem Fuß lag Woodstock.
Ich war im Sommer zuvor hergezogen, dem »Summer of ’66«, in dem Dylan dort auf der Striebel Road sein Motorrad zerlegt hatte. Ich hatte mir unten in der Stadt etwas Ärger eingehandelt, und mein Freund Alex meinte, ich könnte raufkommen und eine Weile bleiben. Ein paar Jahre zuvor hatte ich Toronto verlassen, um an der NYU Jura zu studieren. Das war etwa zur selben Zeit, als The Hawks mit Ronnie Hawkins spielten und auf der Yonge Street richtig abräumten, aber unsere Wege hatten sich nie gekreuzt. Wie auch immer, das College und ich, wir waren nicht füreinander geschaffen. Nach ein paar Jahren war das Thema für mich so gut wie erledigt, und ich verkaufte in ganz Manhattan Speed und Gras für einen Kerl namens Manny.
Manny machte verschiedene Geschäfte. Er vertickte Drogen an viele aus der Factory-Clique und sahnte ganz gut dabei ab. Er hatte ein paar Pferdchen am Laufen. Nichts, was man ein Gestüt nennen konnte, bloß eine Handvoll Bräute, die den Times Square beackerten, die Nüsse der Tagungsbesucher aus dem Mittleren Westen melkten, diese Typen, die man nachts vom Scotch bedröhnt durch Midtown streunen sah, die zu Hause in Minnesota bei ihren Ehefrauen schon seit Trumans Präsidentschaft nicht mehr richtig randurften und nicht allzu sehr aufmuckten, wenn der wilde Ritt, den man ihnen auf der Straße versprochen hatte, sich auf dem Zimmer als dreißigsekündige Handmassage herausstellte. Es war immer dieselbe alte Geschichte: Diese Mädchen – die Töchter und Nichten der scotchbedröhnten Handmassagen-Saubermänner – stiegen Downtown aus dem Bus, träumten vom Broadway und davon, Merv Griffin kennenzulernen, bis die zweihundert Dollar verprasst waren, die sie in ihrem Kuhkaff mit Kellnerjobs zusammengespart hatten. Dann trafen sie jemanden wie Manny. Innerhalb weniger Monate schossen sie Speed und Heroin und nickten zum Surren einer 16mm-Kamera mit dem Köpfchen im Scheinwerferlicht, während ihnen sechs oder sieben Schwänze ins Gesicht spritzten. Ich hab gehört, dass zwei oder drei von Mannys Mädchen später tatsächlich eigene Fernsehshows bekamen, aber die meisten von ihnen wurden bloß immer dürrer und kaputter, bis sie sich schließlich mit vierzig ohne Zähne unten im Meatpacking District wiederfanden, wo sie Dockarbeitern und Taxifahrern für fünf Dollar einen bliesen.
Sechs Monate lang fand ich das alles ganz cool. Nach einer Weile hatte ich aber selbst ein paar Kontakte geknüpft und allmählich genug davon, hier mal zehn, dort mal zwanzig Dollar zu kassieren, während Manny die dicke Knete machte. Immerhin war ich derjenige, der mit zehn Jahren Knast im Nacken quer durch die Stadt gondelte. Also zog ich – ganz wie es das Klischee verlangt – mein eigenes Geschäft auf. Dann tauchte eines Nachts Manny in meiner Bude auf, mit einem Mexikaner, der kaum durch den Türrahmen passte. Sie prügelten mich ein bisschen durch die Gegend, bis Manny mir schließlich eröffnete, dass sein Freund mich, sollte ich jemals wieder versuchen, meinen Scheiß an seine Kunden zu verkaufen, erst nach allen Regeln der Kunst in den Arsch ficken und dann »meine haarigen Eier an den Tisch nageln« würde.
Nun gut, dumm gelaufen. Für ein paar Monate gammelte ich auf Kosten meiner Eltern herum, bis sie über den Freund eines Freundes herausfanden, dass ich den Campus der NYU schon seit fast einem Jahr nicht mehr aus der Nähe gesehen hatte, und mir den Geldhahn zudrehten. Ich steckte also in der Klemme. Ich besaß kein Geld. Ich hatte zwar Leute, von denen ich Drogen kriegen konnte, aber niemanden, dem ich sie verkaufen konnte. Und da rief mich Alex aus Woodstock an.
Er sagte, die Miete sei niedrig, auf der Tinker Street wimmele es von aufgeschlossenen, sommerlich bekleideten Mädchen, und es gebe genug Leute in der Stadt, die gerne was kaufen würden.
Gras war einfach zu kriegen, und Alex hatte einen guten Draht zu einem Apotheker im nahe gelegenen Kingston, der uns verschiedene Diätpillen besorgen konnte. Für die schwereren Geschütze fuhr ich einmal im Monat nach New York, inzwischen sogar eher zweimal im Monat, um mich mit Fifth Floor Dave oder drüben an der 10th Avenue mit ein paar schwarzen Jungs zu treffen, die ich kannte.
Und wisst ihr, was? Scheiß drauf, dachte ich. Scheiß auf Manny und seinen tacofressenden Vergewaltiger. Scheiß auf meine Eltern. Scheiß auf New York City. Meine Bude – dieser fünfzehn Quadratmeter große Backofen – in einer Seitenstraße der Canal Street kostete dreihundert Dollar im Monat. Hier oben bezahlten wir beide zusammen hundertzwanzig Dollar für ein Haus mit drei Zimmern. Das Wohnzimmer hatte vier Meter hohe Decken mit Zedernholzbalken und einen großen Kamin aus blauem Catskill-Stein. In der Küche stand eine alte Anrichte aus Pinienholz. Nach hinten raus hatten wir sogar etwas Land und eine Veranda mit cool-kitschigen Adirondack-Möbeln. Mann, es war ein Paradies, nur zwei Stunden nördlich der Stadt.
Ich hatte den Wagen in der Auffahrt geparkt, den ganzen Stoff unterm Bett verstaut, und machte mir gerade eine kalte Flasche Heineken auf, als das Telefon klingelte. Mit dem Handballen blieb ich am Kronkorken hängen und riss mir ein Stück Haut ab. Müde und genervt nahm ich den Hörer von der Gabel. »Was?«
»Greggy?« Das Krächzen war unverwechselbar.
»Hi, Rick.«
Rick war einer der wenigen, die wussten, was ich unten in Manhattan getrieben hatte. Vermutlich probierte er schon seit Stunden, mich anzurufen. »Hi, Mann. Alles in Ordnung bei dir? Hab versucht, dich zu erreichen.«
»Ja ja, alles okay. Hab mich bloß an der Hand geschnitten.«
»Scheiße. Immer schön vorsichtig. Also, sind wir, ähm, gut drauf?«
»Ja, wir sind gut drauf.«
»Dann komm doch rüber.«
»Ähm, ist schon spät. Bin grad reingekommen. Vielleicht können wir ja …«
»Ach komm, scheiß drauf. Bring deine Gitarre mit. Sind nur ich, Richard und ein paar Mädels.«
Ich überlegte einen Augenblick. Ich musste ohnehin noch was bei Bill Lubinsky vorbeibringen. Der alte Bill war ein prima Kerl, so ein schlitzohriger Schrauber und Bastler, der einem vom M-16 bis zum Thunderbird alles besorgen konnte. Er war auch ein bisschen meschugge, fuhr immer mit ’ner .45er unterm Sitz herum. Ich glaube, er war beim Militär, und in der Stadt erzählte man sich, er sei ein Söldner und in der Schweinebucht dabei gewesen und so ’n Zeug. Was weiß denn ich? Was weiß schon irgendwer? Bill wohnte oben, am Ende der Pine Lane, nicht weit vom Haus der Band.
»Ich sorg auch dafür, dass du einen geblasen bekommst«, versprach Rick heiser kichernd. Im Hintergrund hörte ich weibliches Gelächter, Richard brüllte irgendwas.
* * *
»Greg! Wie läuft’s?« Richard trat die Fliegengittertür auf, und wir umarmten uns – was aufgrund der Tatsache, dass ich einen Gitarrenkoffer und eine Flasche Bourbon trug und er ein volles Glas Irgendwas in der einen und eine Dose Budweiser in der anderen Hand hielt, während ihm ein riesiger, schlecht gedrehter Joint von den Lippen baumelte, gar nicht so einfach war. »Greg ist da!«, rief er, während ich ihm ins Haus folgte.
In der Bude herrschte völliges Chaos. Seit Richard, Rick und Garth letzten Frühling dort eingezogen waren, verwahrloste das hässliche, große pinkfarbene Haus zusehends. Draußen hatte ich bereits über einen frischen Hundehaufen hinwegsteigen müssen, und nun lag der Köter ausgestreckt auf dem Teppich und ließ sich von einer jungen, betrunkenen Blondine den Bauch kraulen. Über ihnen auf dem Kaminsims flackerte die Bier-Neonreklame, die Richard in einer Bar in Downtown geklaut hatte. Im Hintergrund lief leise Musik – ungewöhnlicherweise klang es, als wäre es ihre eigene.
»Greggy!« Rick hüpfte durch den Raum auf mich zu. Auch er schien überglücklich, mich zu sehen. Andererseits freuten sich Drogenkonsumenten (wir waren keine Drogenabhängigen, noch nicht) grundsätzlich, einen zu sehen, wenn man ihnen Stoff brachte.
»Wie war’s in der Stadt?«
»Für’n Arsch. Ich hab ’ne geschlagene Stunde gebraucht, um auf die Interstate zu kommen.«
»So ’n Scheiß. Aber jetzt bist du ja hier. Das sind«, er drehte sich zu den beiden Mädchen um, die sich mit dem Hund auf dem Boden räkelten, »Shirley und … Marla?«
»Carla!«, giggelte die Blondine.
»Carla! Sorry, Baby.«
Sie waren beide verdammt süß. Eins musste man den Jungs lassen: Sie hatten einen Schlag bei den Girls.
»Hi«, sagte ich und setzte mich hin.
»Du, Greg«, grinsend hob Richard eine seiner dicken, buschigen Augenbrauen. »Hast du …«
»Ja, klar.« Ich zog zwei Zellophanbeutelchen aus meiner Jackentasche. Das größere der beiden war voller Gras (diese Jungs hatten einen immensen Bedarf), im zweiten war Koks. Hocherfreut warf Richard sie auf den Tisch.
»Oh, oh, hör dir das mal an!«, sagte Rick und sprang quer durchs Zimmer. »Haben wir letztens aufgenommen.« Er drehte die Lautstärke auf, und die Musik durchschnitt den blauen Dunst mit ungewohnt brillantem Sound. Das klang nicht wie die Songs, die sie den ganzen Sommer über unten im Keller aufgenommen hatten. Ich meine, sie schrieben inzwischen richtig gutes Zeug. Aber die Soundqualität? Heilige Scheiße. Ich war weiß Gott nicht überkritisch, aber die Jungs mussten völlig bekloppt sein, da unten aufzunehmen. Der ganze Raum bestand aus Beton und Metall: Gasbetonmauern, Zementboden, ein riesiger Eisenofen und diese stählernen Fundamentpfeiler. Einen schlimmeren Aufnahmeraum gab’s nicht. Ich hatte sie schon ein- oder zweimal darauf hingewiesen, doch es schien ihnen am Arsch vorbeizugehen.
Das hier war anders. Was ich hier hörte, blies mich – obwohl ich es mir nicht anmerken ließ – förmlich weg. Richard sang einen wunderschönen Song darüber, von einem Mädchen namens Katie verlassen zu werden. Diese Stimme. Mann, er konnte einem das Herz rausreißen, indem er die Lottozahlen sang. Ich sah zu ihm hinüber, und er senkte schüchtern den Blick. »Habt ihr das unten im Keller aufgenommen?«, fragte ich.
»Nee. In New York, vor ein paar Wochen.«
»Wer ist Katie?«, wollte Shirley wissen. Oder Carla.
»Robbies Mutter«, antwortete Richard trocken, ohne von dem Berg Pulver aufzublicken, den er auf der Rückseite eines gerahmten Fotos verteilte. Mit einem kurzen, bellenden Lachen schob sich Rick einen zusammengerollten Zwanziger in die Nase und beugte sich vor.
Stunden später saßen Richard und ich hinterm Haus, killten den letzten Rest Schnaps und blickten in den Himmel. Unten im Keller stümperte Rick auf dem Klavier herum, er spielte dieselbe Akkordfolge wieder und wieder. Gesprächsmittelpunkt dieser Nacht war ihr alter Drummer Levon. Seit er vor fast zwei Jahren während der Dylan-Tour ausgestiegen war, hatten sie ihn nicht mehr gesehen. Und nun dachten sie darüber nach, ihn zurück in die Band zu holen, damit er ihnen bei den neuen Songs half. Sie hatten gehört, er würde im Golf von Mexiko auf einer Bohrinsel arbeiten.
»Das kapier ich nicht«, sagte ich. »Der Typ steigt mitten während einer verdammten Welttournee aus, um als Monteur zu jobben?«
»O ja, Lee hat Eier!«, kicherte Richard. »Um ehrlich zu sein, ich glaube, dass er nicht sonderlich auf Bobs Musik stand.« Was ich nicht nachvollziehen konnte.
»Und ich bin mir ziemlich sicher«, fuhr Richard fort, »dass Levon auch Albert nicht sonderlich mochte.« Das fand ich wiederum völlig nachvollziehbar. Albert Grossman, Dylans Manager, war ein Furcht einflößendes, gefühlskaltes Arschloch.
»Ihr werdet also bei Warner unterschreiben?«
Richard schüttelte den Kopf. »Vermutlich eher bei Capitol.«
»Wie kommt’s?«
Er zuckte mit den Schultern. »Albert hat sich wohl mit ein paar Leuten getroffen. Hat er Robbie zumindest am Telefon gesagt. Scheiße, was interessiert’s mich? Hauptsache, wir kriegen unseren Scheck.«
»Was glaubst du, wie viel für euch rausspringt?«
»Keine Ahnung, Greg. Vielleicht ein paar Hundert?«
»Wow!«
Wir sahen uns an, und er brach in Gelächter aus. Es war einfach zu verrückt. Wir lachten eine Weile, dann blickte er über die Felder, zeigte auf etwas und sagte: »Hey, sieh dir das an.« Ich folgte seinem zitternden Finger. In der Ferne schob sich die aufgehende Sonne über den Overlook Mountain. »O Mann, ist das schön«, sagte Richard.
Den Blick in den Sonnenaufgang gerichtet, hob er die Flasche an die Lippen. Ich sah zu, wie er einen tiefen Schluck nahm: Die Morgensonne glitzerte auf dem smaragdgrünen Glas, während in den Pinien um uns herum die Vögel zwitscherten.
»O Mann«, sagte er, als er mir den Whiskey reichte, »meint es das Leben nicht gut mit uns?«