Einleitung
Ein Köpfchen für Zahlen
Nulltes Kapitel, in dem der Autor versucht herauszufinden, woher die Zahlen kommen, da sie noch gar nicht so lange vorhanden sind. Er begegnet einem Mann, der im Urwald gelebt hat, und einer Schimpansin, die ihr gesamtes Leben in der Zivilisation verbracht hat.
Lust und Last des Zählens
Erstes Kapitel, in dem der Autor von der Tyrannei der Zehn erfährt und von den Revolutionären, die sich zu deren Sturz verschworen haben. In Tokio besucht er einen Club, in dem Schüler nach der Schule rechnen lernen, indem sie Holzkugeln hin- und herschieben.
Siehe da!
Zweites Kapitel, in dem der Autor um ein Haar seinen Namen ändert, weil ein Jünger eines griechischen Sektenführers behauptet, dass er das tun solle. Stattdessen befolgt er die Anweisungen eines anderen griechischen Denkers, holt seinen Zirkel aus der Schublade und faltet zwei Visitenkarten zu einem Tetraeder.
Etwas über das Nichts
Drittes Kapitel, in dem der Autor zu einer Audienz bei einem weisen Mann gen Indien reist. Dort entdeckt er einige sehr langsame und einige sehr schnelle Methoden zu rechnen.
Das Ringen um Pi
Viertes Kapitel, in dem der Autor sich nach Deutschland begibt, um die schnellsten Kopfrechner der Welt zu beobachten. Dies dient ihm als Einstieg in die Geschichte der Kreise, ein transzendentes Thema, das ihn bis zu einem Sofa in New York führt.
Der Faktor X
Fünftes Kapitel, in dem der Autor erklärt, weshalb Zahlen gut, Buchstaben aber besser sind. In Braintree besucht er einen Mann, der Rechenschieber sammelt, und vernimmt die tragische Geschichte von deren Verschwinden. Des Weiteren geht es um Logarithmen und Taschenrechner, und man lernt, ein Superei zu machen.
Rätsel und ihre Erfinder
Sechstes Kapitel, in dem der Autor sich auf eine mathematische Rätselsuche begibt. Er erforscht das Vermächtnis verschiedener Chinesen – der eine war ein tumber Einsiedler, die anderen fielen um ein Haar vom Erdball – und fliegt sodann nach Oklahoma, um sich mit einem alten Magier zu treffen.
Wer 1 sagt, muss auch 2 sagen
Siebtes Kapitel, in dem der Autor mit der Unendlichkeit konfrontiert wird. Er trifft auf eine unaufhaltsame Schnecke und auf eine wahrhaft teuflische Ziffernfolge.
Goldfinger
Achtes Kapitel, in dem der Autor einem Londoner mit einer Klaue begegnet, der behauptet, er habe das Geheimnis schöner Zähne entdeckt.
Glück ist kein Zufall – oder doch?
Neuntes Kapitel, in dem der Autor sein Glück beim Schopfe packt und sich in Reno ins Kasino wagt. Er spaziert durch das Reich des Zufalls und landet in einem kalifornischen Bürogebäude, von wo aus er über den Pazifik blickt, bis hin zu einer fernen Südseeinsel, auf der ein Lotteriegewinner sein sorgloses Dasein genießt.
Eine Frage der Normalität
Zehntes Kapitel, in dem des Autors Hang zu leckeren Backwaren dazu dient, die Entstehung der Statistik zu erforschen.
Kein Zimmer frei
Elftes Kapitel, in dem der Autor sich im Häkeln versucht. Er beendet seine Reise in einem Hotel mit unendlich vielen Zimmern, wo man dennoch nicht mit einem plötzlichen Ansturm von Gästen zurechtkommt.
Glossar
Anhänge
Anmerkungen und Literaturhinweise
Danksagung
Im Sommer 1992 arbeitete ich als aufstrebender Reporter beim Evening Argus in Brighton. Mein Job bestand hauptsächlich darin, jugendliche Wiederholungstäter beim Auftritt vor dem Amtsgericht zu beobachten, Ladenbesitzer zum Thema Konjunkturschwäche zu interviewen und für die Infoseite der Zeitung zweimal wöchentlich die Betriebszeiten der Bluebell Railway, unserer örtlichen Museumsbahn, zu aktualisieren. Es waren keine tollen Monate, wenn man ein kleiner Dieb oder ein Ladenbesitzer war, aber für mich war es ein glücklicher Lebensabschnitt.
Kurz vorher war John Major als Premierminister wiedergewählt worden, und im Hochgefühl seines Sieges lancierte er eine seiner denkwürdigsten – und am meisten verspotteten – politischen Initiativen. Mit präsidialem Ernst verkündete er die Einrichtung einer Telefonhotline für Informationen über Straßenabschnitte, auf denen man durch Verkehrskegel behindert wurde. Diese banale Idee wurde von Major verkündet, als hinge mindestens die Zukunft der Welt davon ab.
In Brighton allerdings waren solche Kegel tatsächlich ein brisantes Thema. Man konnte nicht in die Stadt fahren, ohne wegen einer Baustelle im Stau stecken zu bleiben. Die Haupteinfallstraße von London her, die A23, war von Crawley bis Preston Park ein einziger Korridor aus orange-weiß gestreiften Kegeln. Mit deutlich ironischem Unterton forderte der Argus seine Leser auf, die Zahl der Kegel zu erraten, mit denen die A23 kilometerweit gesäumt war. Die leitenden Redakteure waren ausgesprochen stolz auf diese fantastische Idee. Im Stil eines Ansagers auf der Kirmes präsentierten sie den Lesern die gestellte Aufgabe, nicht ohne der britischen Regierung den ein oder anderen Seitenhieb zu verpassen. Es war eine typische Lokalzeitungsaktion.
Wenige Stunden nachdem der Wettbewerb ausgerufen worden war, meldete sich bereits der erste Teilnehmer. Dem Anrufer war es tatsächlich gelungen, die richtige Anzahl von Kegeln zu erraten. Ich erinnere mich noch gut daran, wie meine Kollegen betreten schweigend in der Nachrichtenredaktion saßen, als sei gerade ein bedeutender Lokalpolitiker gestorben. Da hatten sie versucht, den Premierminister zu veralbern, und nun waren sie selbst zum Narren gemacht worden.
Meine Kollegen hatten angenommen, es sei unmöglich zu erraten, wie viele Verkehrskegel entlang einer Strecke von etwa 30 Kilometer aufgestellt waren. Offenkundig war das nicht der Fall, und ich glaube, ich war der Einzige in der Redaktion, dem klar wurde, warum. Geht man davon aus, dass die Kegel in identischem Abstand voneinander stehen, muss man nur eine simple Rechnung durchführen:
Zahl an Kegeln = (Länge der Strecke ÷ Abstand zwischen 2 Kegeln) + 1
Die Strecke kann man messen, indem man sie abfährt oder sich einer Straßenkarte bedient. Um den Abstand zwischen zwei Kegeln zu berechnen, braucht man lediglich ein Maßband. Zwar wird der Abstand zwischen den Kegeln ein wenig variieren, und auch beim Schätzen der Strecke könnte man sich etwas vertun, aber wenn es sich um eine einigermaßen große Entfernung handelt, reicht die obige Rechnung in Normalfall aus, um einen Wettbewerb in der Lokalzeitung zu gewinnen. Und wahrscheinlich war genau so auch die Verkehrspolizei vorgegangen, als sie die Kegel gezählt hatte, um dem Argus die richtige Antwort mitzuteilen.
An diese Geschichte erinnere ich mich so gut, weil ich damals zum ersten Mal in meiner journalistischen Laufbahn erkannte, wie wertvoll es ist, einen Sinn für Mathematik zu besitzen. Außerdem fand ich es ziemlich beunruhigend, dass die meisten Journalisten offenbar nicht rechnen können. Eigentlich war es nicht sonderlich kompliziert, herauszufinden, wie viele Verkehrskegel an einer Straße aufgereiht waren, doch für meine Kollegen stellte das eine unüberwindliche Hürde dar.
Zwei Jahre zuvor hatte ich mein Studium in Mathematik und Philosophie abgeschlossen, wodurch ich mit einem Bein in den Natur- und mit dem anderen in den Geisteswissenschaften stand. Journalist zu werden, war eine Entscheidung für das Letztere, zumindest oberflächlich gesehen. Kurz nach dem Kegeldesaster verließ ich den Argus, um für verschiedene Londoner Zeitungen zu arbeiten. Und schließlich ging ich als Auslandskorrespondent nach Rio de Janeiro. Meine Begabung für Zahlen war gelegentlich recht nützlich, zum Beispiel, wenn ich herausbekommen musste, welches europäische Land in etwa dieselbe Fläche hatte wie der im letzten Jahr abgeholzte Teil des brasilianischen Regenwalds, oder wenn es in irgendeiner Währungskrise darum ging, die neuesten Wechselkurse zu berechnen. Aber im Großen und Ganzen hatte ich den Eindruck, die Mathematik hinter mir gelassen zu haben.
Dann kam ich vor einigen Jahren nach Großbritannien zurück, ohne mir im Klaren darüber zu sein, was ich in Zukunft machen sollte. Ich verkaufte T-Shirts mit den Namen brasilianischer Fußballer, ich fing an einen Blog zu schreiben, ich spielte mit dem Gedanken, tropische Früchte zu importieren. Nichts davon funktionierte. Während dieser Phase der Neuorientierung kam ich auch wieder in Kontakt mit dem Fach, das mich so viele Jahre beschäftigt hatte, und plötzlich wollte ich unbedingt dieses Buch schreiben.
Im Erwachsenenalter die Welt der Mathematik zu betreten war etwas ganz anderes als in der Kindheit. Damals hatte der leidige Notendruck oft dazu geführt, dass ich die wirklich faszinierenden Aspekte übersah. Nun stand es mir frei, mich mit Dingen nur deshalb zu beschäftigen, weil sie mich neugierig machten und mir interessant erschienen. Ich stieß auf eine Fachrichtung namens »Ethnomathematik«, die untersucht, wie unterschiedlich verschiedene Kulturen mit Mathematik umgehen, und ich erfuhr, welchen Einfluss Religion auf die mathematische Forschung hatte. Neugierig machten mich auch neuere Studien der Verhaltenspsychologie und der Neurowissenschaft, in denen genau analysiert wird, wie und warum das Gehirn sich mit Zahlen beschäftigt.
Nach einer Weile merkte ich, dass ich mich genauso verhielt wie früher als Auslandskorrespondent, nur dass ich diesmal ein abstraktes Land aufsuchte – das Wunderland der Zahlen.
Aber meine Reise nahm bald auch konkrete Formen an, da ich erfahren wollte, wie die Mathematik in der realen Welt funktioniert. Ich flog nach Indien, um herauszubekommen, wie man dort die Zahl Null erfunden hat, denn das stellt einen der größten intellektuellen Durchbrüche der Menschheitsgeschichte dar. Ich buchte ein Zimmer in einem der riesigen Casino-Hotels von Reno, um die Wahrscheinlichkeitstheorie am Roulettetisch in der Praxis zu erproben. Und in Japan lernte ich den rechenkundigsten Schimpansen der Welt kennen.
Im Lauf meiner Recherchen fand ich mich in der merkwürdigen Lage wieder, gleichzeitig Fachmann und Dilettant zu sein. Die Schulmathematik wiederzuerlernen war wie ein Wiedersehen mit alten Freunden, aber die hatten nun viele andere Freunde, denen ich nie zuvor begegnet war. Bevor ich dieses Buch schrieb, hatte ich zum Beispiel keine Ahnung, dass es jahrhundertelang Bestrebungen gab, zwei neue Zahlen in unser Zehnersystem einzubauen. Mir war nicht klar, dass Origami eine ernst zu nehmende Wissenschaft ist. Und über die mathematischen Grundlagen von Sudoku konnte ich schon deshalb nicht Bescheid wissen, weil es in meiner Kindheit noch nicht erfunden worden war.
Mitunter gelangte ich an abseitige Orte – wie etwa Braintree in Essex und Scottsdale in Arizona – und stand in der Bibliothek vor abseitigen Regalen. Einen unvergesslichen Tag verbrachte ich damit, ein Buch über den rituellen Gebrauch von Pflanzen zu studieren, um herauszufinden, weshalb Pythagoras ein derart heikler Esser war.
Dieses Buch beginnt mit einem nullten Kapitel, was ausdrücken soll, dass es darin um ein prämathematisches Thema geht, nämlich darum, wie die Zahlen entstanden sind. Am Anfang des ersten Kapitels können wir dann zur Sache kommen. Von da an bis zum Ende des elften Kapitels beschäftigt das Buch sich mit Arithmetik, Algebra, Geometrie, Statistik und allen weiteren Gebieten, die ich auf gut 400 Seiten unterbringen konnte. Ich habe versucht, die technischen Aspekte auf ein Minimum zu beschränken, kam jedoch gelegentlich nicht darum herum, ein paar Gleichungen und Beweise zu notieren. Falls Ihnen beim Lesen mal der Kopf schwirren sollte, lesen Sie einfach beim nächsten Abschnitt weiter, da wird es wieder leichter. Jedes Kapitel funktioniert eigenständig: Man muss die vorhergehenden Kapitel also nicht gelesen haben, um es zu verstehen. Daher kann man sich die Kapitel in jeder beliebigen Reihenfolge zu Gemüte führen. Ich hoffe allerdings, dass Sie das Buch von vorne nach hinten lesen, da die darin enthaltenen Ideen einer gewissen Chronologie folgen und ich gelegentlich auf vorher erwähnte Punkte zurückkomme. Ich habe auch allerhand historisches Material aufgenommen, da Mathematik ein ausgesprochen geschichtsträchtiges Fach ist. Anders als die Geisteswissenschaften, die sich ständig neu erfinden, indem die nächste Idee oder Mode die alte ersetzt, und anders als die angewandten Wissenschaften, deren Theorien ständig verfeinert werden, altert die Mathematik nicht. Die Lehrsätze von Pythagoras und Euklid sind heute so gültig wie eh und je, weshalb diese beiden Denker die ältesten sind, mit denen wir uns überhaupt in der Schule beschäftigen. Der Lehrplan für die mittlere Reife enthält praktisch keine mathematischen Aspekte, die nicht schon Mitte des 17. Jahrhunderts bekannt gewesen wären, und bis zum Abitur dringt man nur bis etwa zur Mitte des 18. Jahrhunderts vor. Die fortgeschrittensten Theorien, mit denen man mich am College konfrontierte, stammten aus den 1920er Jahren.
Bei meiner Arbeit an diesem Buch war ich immer darauf bedacht zu vermitteln, wie viel Spaß es machen kann, sich mit Mathematik zu beschäftigen und dabei immer wieder Neues zu entdecken. Nebenbei wollte ich auch demonstrieren, dass Mathematiker eine Menge Humor haben. Wir sind Meister der Logik, was uns einen sehr feinen Sinn für das Unlogische verleiht. Die Mathematik leidet an dem Ruf, sie sei trocken und schwierig. Das ist sie auch oft. Allerdings kann sie auch begeisternd, zugänglich und vor allem wundervoll kreativ sein. Das abstrakte mathematische Denken ist eine der großen Errungenschaften der Menschheit und vielleicht sogar die Grundlage allen menschlichen Fortschritts.
Das Wunderland der Zahlen ist ein bemerkenswerter Ort. Ich kann einen Besuch nur empfehlen.
Als ich die enge, vollgestellte Wohnung von Pierre Pica in Paris betrat, stach mir der Gestank von Insektenschutzmittel in die Nase. Pica war gerade erst von einem fünfmonatigen Aufenthalt bei einem Indianerstamm im Regenwald des Amazonas zurückgekehrt und damit beschäftigt, die Geschenke zu desinfizieren, die er mitgebracht hatte. Die Wände seines Arbeitszimmers waren mit Holzmasken, gefiedertem Kopfschmuck und geflochtenen Körben geschmückt. In den Bücherregalen stapelten sich wissenschaftliche Werke. Ein einsamer Zauberwürfel lag ungelöst auf dem Fensterbrett.
Ich fragte Pica, wie die Reise gewesen sei.
»Schwierig«, antwortete er.
Pica ist Linguist und vielleicht spricht er deshalb langsam und achtet genau auf jedes einzelne Wort. Er ist bald 60 Jahre alt, macht mit seinen strahlend blauen Augen, seinem rötlichen Teint und seinem zerzausten silbernen Haarschopf jedoch einen eher jungenhaften Eindruck. Seine Stimme klingt ruhig, und er wirkt stets äußerst konzentriert.
Früher ein Schüler des großen amerikanischen Linguisten Noam Chomsky, arbeitet Pica heute am Centre National de la Recherche Scientifique, einer dem französischen Forschungsministerium unterstellten Organisation. In den vergangenen zehn Jahren hat er sich hauptsächlich mit den Munduruku beschäftigt, einem indigenen Volk, dem etwa 7000 Menschen angehören. Sie leben als Jäger und Sammler im brasilianischen Amazonas-Gebiet, wobei ihre Dörfer über ein Areal verstreut sind, das etwa so groß ist wie die Toskana. Was Pica an ihnen interessiert, ist ihre Sprache, die keine Zeitformen, keinen Plural und keine Zahlwörter über fünf hinaus aufweist.
Um seine Feldforschung durchzuführen, begibt sich Pica auf Reisen, die denen der großen Abenteurer aus vergangenen Zeiten in nichts nachstehen. Der nächste größere Flughafen befindet sich in Santarém, einer rund 800 Kilometer von der Mündung des Amazonas entfernten Stadt im Norden Brasiliens. Dort besteigt Pica ein Fährboot, das fünfzehn Stunden lang den Rio Tapajós entlangtuckert. Dann ist Itaituba erreicht, eine frühere Goldgräberstadt und die letzte Gelegenheit, sich mit Proviant und Brennstoff zu versorgen. Bei seiner letzten Reise hat Pica dort einen Jeep gemietet, um seine Ausrüstung zu transportieren, darunter mehrere Computer, Solarkollektoren, Batterien, Bücher und 500 Liter Diesel. Damit ging es auf die Transamazônica, ein wahnwitziges nationalistisches Straßenbauprojekt aus den 1970er Jahren, dessen fertiggestellte Teile sich bereits wieder in eine holprige und oft unbefahrbare Lehmpiste verwandelt haben.
Picas Ziel war Jacareacanga, eine kleine Siedlung, weitere 300 Kilometer südwestlich von Itaituba gelegen. Ich fragte ihn, wie lange man dorthin brauche. »Kommt darauf an«, erwiderte er achselzuckend. »Manchmal eine halbe Ewigkeit und manchmal bloß zwei Tage.«
»Und diesmal?«, präzisierte ich.
»Wissen Sie, man weiß nie, wie lange man brauchen wird, weil die Fahrtzeit nie dieselbe ist. In der Regenzeit braucht man zehn bis zwölf Stunden – falls alles gut läuft.«
Jacareacanga liegt am Rand des Territoriums, das man den Munduruku zugestanden hat. Um in das Gebiet zu gelangen, musste Pica warten, bis irgendwann ein Kanu anlegte, mit dessen Besitzern er aushandeln konnte, ihn mitzunehmen.
»Wie lange haben Sie gewartet?«, erkundigte ich mich.
»Ziemlich lange. Aber bitte fragen Sie mich nicht wieder, wie viele Tage es waren.«
»Das heißt, es waren mehrere?«, bohrte ich nach.
Pica runzelte die Stirn. Einige Sekunden vergingen. »Es waren etwa zwei Wochen«, sagte er schließlich.
Über einen Monat nachdem er Paris verlassen hatte, näherte Pica sich endlich seinem Ziel. Natürlich wollte ich wieder wissen, wie lange man von Jacareacanga zu den Dörfern der Indianer brauchte.
Inzwischen reagierte mein Gesprächspartner ausgesprochen ungeduldig auf meine Interviewstrategie. »Die Antwort ist immer dieselbe – es kommt drauf an!«
Ich ließ nicht locker. Wie lange hatte es diesmal gedauert?
»Weiß nicht mehr recht«, sagte Pica stockend. »Ich glaube … so in etwa … zwei Tage … oder … einen Tag und eine Nacht …«
Je mehr ich ihn drängte, Fakten und Zahlen herauszurücken, desto zögerlicher reagierte er. Ich war allmählich selbst ganz entnervt. Mir war nicht klar, ob Picas Reaktion auf französische Renitenz, akademische Pedanterie oder einfach auf einen anständigen Dickschädel zurückzuführen war. Deshalb ließ ich es gut sein und kam auf andere Themen zu sprechen. Erst als wir einige Stunden später darüber sprachen, wie es war, nach so langer Zeit am Ende der Welt wieder nach Hause zurückzukehren, wurde Pica zugänglicher. »Wenn ich vom Amazonas zurückkomme, habe ich mein Gefühl für Zeit und für Zahlen verloren«, sagte er. »Vielleicht sogar mein Gefühl für Raum.« Er neige dazu, Termine zu vergessen, und reagiere selbst auf einfache Wegbeschreibungen desorientiert. »Ich habe extreme Schwierigkeiten, mich wieder an Paris zu gewöhnen, an diese ganzen rechten Winkel und geraden Linien.« Das hieß, seine Unfähigkeit, mir quantitative Daten zu nennen, war Ausdruck eines Kulturschocks. Er hatte so viel Zeit bei Menschen verbracht, die kaum zählen können, dass er die Fähigkeit verloren hatte, die Welt verbal in Zahlen zu fassen.
Genau weiß man es nicht, aber Zahlen sind wahrscheinlich nicht älter als 10 000 Jahre. Mit »Zahlen« meine ich ein praktikables System aus Wörtern und Symbolen für Zahlen. Laut einer Theorie sind solche Systeme gemeinsam mit der Landwirtschaft und dem Handel entstanden, da Zahlen ein unerlässliches Mittel darstellten, um die Lagerbestände im Blick zu halten und dafür zu sorgen, dass man nicht übers Ohr gehauen wurde. Die Munduruku hingegen betreiben nur Subsistenzlandwirtschaft, und Geld wird in ihren Dörfern erst seit kurzem verwendet, weshalb sich die Fertigkeit zu zählen bei ihnen bis heute nicht herausgebildet hat. Die indigenen Völker von Papua-Neuguinea hingegen, so vermutet man, hatten Zahlen erfunden, als sich der Austausch von Geschenken zu einem komplexen Ritual entwickelte. Am Amazonas gibt es solche Bräuche nicht.
Unsere Vorfahren müssen allerdings schon lange vor dem Auftreten von Zahlen eine gewisse Vorstellung von Mengen gehabt haben. Zum Beispiel sind sie bestimmt in der Lage gewesen, ein Mammut von zwei Mammuts zu unterscheiden und zu erkennen, dass eine Nacht etwas anderes ist als zwei Nächte. Der intellektuelle Sprung von der konkreten Vorstellung zweier Dinge hin zur Erfindung eines Symbols oder Worts für das abstrakte Konstrukt »zwei« dürfte jedoch viele Zeitalter gedauert haben. Genau ab diesem Punkt haben sich einige Völker am Amazonas nicht weiterentwickelt. Sie kennen bis heute nur die Zahlwörter »eins«, »zwei« und »viele«. Die Munduruku, die bis fünf zählen können, sind da schon relativ fortschrittlich.
In unserem Alltag spielen Zahlen eine so große Rolle, dass wir uns kaum vorstellen können, wie man ohne sie überleben kann. Dennoch fiel es Pierre Pica während seines Aufenthalts bei den Munduruku leicht, in eine zahlenlose Existenz hineinzugleiten. Er schlief in einer Hängematte; er ging auf die Jagd und aß Tapir, Gürteltier und Wildschwein. Die Zeit las er vom Stand der Sonne ab. Wenn es regnete, blieb er in seiner Hütte, schien die Sonne, ging er nach draußen. Es bestand nie irgendeine Notwendigkeit, etwas zu zählen.
Dennoch fand ich es merkwürdig, dass am Amazonas nie Zahlen auftauchten, die größer als fünf waren. Ich fragte Pica, wie sich seine Gastgeber ausdrückten, wenn sie »sechs Fische« sagen wollten, zum Beispiel, wenn sie für sechs Personen eine Mahlzeit zubereiteten und jeder einen Fisch bekommen sollte.
»Das ist unmöglich«, sagte Pica. »Der Satz ›Ich brauche Fisch für sechs Personen‹ existiert nicht.«
»Und wenn man einen Munduruku mit sechs Kindern fragt: ›Wie viele Kinder hast du?‹«
Pica schüttelte den Kopf. »Dann sagt er einfach: ›Das weiß ich nicht.‹ So etwas kann man dort nicht ausdrücken.«
Es handle sich allerdings nicht um ein intellektuelles, sondern ein kulturelles Problem, denn als Munduruku komme man nicht auf die Idee, sein erstes, zweites, drittes, viertes und fünftes Kind zu zählen, um sich anschließend am Kopf zu kratzen, weil man nicht weiter zählen kann. Aus Sicht der Munduruku sei allein schon die Vorstellung, Kinder zu zählen, einfach lächerlich. Genauer gesagt gelte das für die Vorstellung, überhaupt etwas zu zählen.
»Wieso sollte ein erwachsener Munduruku seine Kinder überhaupt zählen wollen?«, fragte Pica rhetorisch. Schließlich würden die Kinder von allen Erwachsenen im Dorf betreut, und niemand würde sich dafür interessieren, welche Kinder zu welchen Eltern gehörten. Vergleichbar sei diese Situation mit dem in Europa gebräuchlichen Satz: »Ich habe eine große Familie.« Damit drücke man aus: »Wenn ich von einer großen Familie spreche, so sage ich damit, dass ich nicht weiß, wie viele Mitglieder sie hat. Wo hört meine Familie auf und wo beginnt die Familie eines anderen? Das weiß ich nicht, weil mir das nie jemand gesagt hat.« Würde man also einen erwachsenen Munduruku fragen, für wie viele Kinder er verantwortlich sei, so gebe es keine korrekte Antwort. »Deshalb«, so Pica, »antwortet er: ›Ich weiß nicht‹, denn das entspricht den Tatsachen.«
Die Munduruku sind nicht das einzige bekannte Volk, das darauf verzichtet, seine Mitglieder zu zählen. Als der biblische König David eine Volkszählung anordnete, bestrafte Gott ihn mit drei Tagen Pestilenz und 70 000 Toten. Und noch heute sollen Juden andere Juden nur indirekt zählen, weshalb es in der Synagoge eine spezielle Methode gibt, um sicherzustellen, dass zehn Personen – das für einen Gottesdienst nötige Quorum namens Minjan – anwesend sind. Dazu spricht man ein zehn Worte umfassendes Gebet und zeigt bei jedem Wort auf eine andere Person. Denn werden Menschen mit Zahlen bezeichnet, werden sie aus der Gruppe herausgehoben, wodurch sie der jüdischen Überlieferung gemäß anfälliger für unheilvolle Einflüsse sind. Fordert man einen orthodoxen Rabbi auf, seine Kinder zu zählen, so wird man deshalb in den meisten Fällen genauso wenig Erfolg haben wie bei einem Munduruku.
Der erste schriftliche Bericht über die Munduruku stammt aus dem Jahr 1768, als ein Siedler einige von ihnen an einem Flussufer beobachtete. Ein Jahrhundert später errichteten die Franziskaner in der Region eine Missionsstation, und während des Kautschukbooms im späten 19. Jahrhundert zogen scharenweise Kautschuksammler durch den Urwald. Die meisten Munduruku leben noch immer relativ isoliert, aber wie viele andere Indianervölker, die schon lange Kontakt mit der Außenwelt haben, tragen sie normalerweise westliche Kleidung wie T-Shirts und Shorts. Zwangsläufig werden mit der Zeit auch andere Aspekte des modernen Lebens in ihre Welt gelangen, zum Beispiel Elektrizität und damit das Fernsehen. Und die Zahlen dann natürlich ebenfalls. Einige Munduruku, die am Rand ihres Gebiets leben, haben inzwischen bereits Portugiesisch gelernt und können in dieser Sprache auch zählen. »Sie zählen problemlos um, dois, três bis hundert und weiter«, sagte Pica. »Aber wenn man sie fragt: ›Übrigens, wie viel ist fünf minus drei?‹« Er zuckte theatralisch die Schultern. Sie hatten nicht die leiseste Ahnung.
Um seine Forschungen im Regenwald durchführen zu können, verwendet Pica Laptops, deren Akkus mittels Solarkollektoren aufgeladen werden. Wegen der Hitze und der Feuchtigkeit ist es ein logistischer Albtraum, die Hardware in Schuss zu halten, aber noch schwieriger ist es oft, die Teilnehmer für seine Studien zu rekrutieren. So verlangte der Vorsteher eines Dorfes einmal, dass Pica eine große rote Blattschneiderameise verzehrte, bevor er die Erlaubnis erhielt, ein Kind zu befragen. Der Linguist zog eine Grimasse, biss auf das Insekt und schluckte es pflichtschuldig herunter.
Die mathematischen Fähigkeiten von Menschen zu studieren, die nur mit einer Hand zählen können, dient einem bestimmten Ziel. Es geht Pica darum, das Wesen unserer numerischen Intuition zu entdecken. Er will erfahren, was universell – also für alle Menschen – gültig und was durch kulturelle Einflüsse geprägt ist. Bei einem seiner faszinierendsten Experimente hat er das räumliche Zahlenverständnis der Munduruku erforscht. Wie, lautete die Fragestellung, nehmen sie Zahlen visuell wahr, wenn diese entlang einer Linie angeordnet sind? In der modernen Welt sind wir an eine solche Reihung gewöhnt, sei es auf einem Maßband, einem Lineal, einer Grafik oder bei den Hausnummern einer Straße. Da die Munduruku keine Zahlen kennen, verwendete Pica Punkte. Die Teilnehmer bekamen auf einem Computerbildschirm eine unmarkierte Linie gezeigt. Am linken Ende der Linie befand sich ein Punkt, am rechten Ende sah man zehn Punkte. Anschließend bekam der jeweilige Teilnehmer nach dem Zufallsprinzip Karten mit ein bis zehn Punkten gezeigt und wurde aufgefordert, auf die Stelle zu zeigen, wo auf der Linie die betreffende Anzahl von Punkten angeordnet werden sollte. Pica bewegte den Cursor an die genannte Stelle und klickte. Am Ende des Versuchs war genau erkennbar, wo die Munduruku die Zahlen von eins bis zehn platzierten.
Als eine Vergleichsgruppe amerikanische Erwachsene dieselbe Aufgabe erhielt, ordneten die Teilnehmer die Zahlen in gleichmäßigem Abstand entlang der Linie an. Damit folgten sie dem, was man bei uns in der Schule lernt, wo die benachbarten Zahlen auf dem Lineal immer gleich weit voneinander entfernt sind. Die Munduruku hingegen reagierten ganz anders. Sie meinten, die Abstände zwischen den niedrigeren Zahlen müssten größer sein als jene zwischen den höheren Zahlen. Zum Beispiel war die Distanz zwischen einem und zwei Punkten oder zwischen zwei und drei Punkten bei ihnen deutlich größer als jene zwischen acht und neun Punkten.
Dieses Ergebnis ist verblüffend. Schließlich halten wir es für selbstverständlich, dass Zahlen in gleichmäßigem Abstand angeordnet sind. Das bringt man uns in der Schule bei, und wir akzeptieren es ohne Widerspruch. Es bildet die Grundlage aller Messverfahren und damit der Naturwissenschaften. Dennoch sehen die Munduruku die Welt nicht auf diese Weise. Da ihre Sprache kein Zählen und nur eine kleine Menge an Zahlwörtern kennt, ist ihre visuelle Wahrnehmung von Mengen völlig anders als unsere.
Werden Zahlen gleichmäßig wie auf einem Lineal angeordnet, so spricht man von einer »linearen Skala«. Treten sie näher zusammen, während sie größer werden, nennt man die Skala »logarithmisch«.* Es sind keineswegs nur Indianer am Amazonas, die einen logarithmischen Ansatz verwenden, sondern alle Menschen nehmen Zahlen in der frühen Kindheit so wahr. Das haben Robert Siegler und Julie Booth von der Carnegie Mellon University in Pennsylvania 2004 mit einem Versuch gezeigt, der ganz ähnlich aufgebaut war wie jener von Pica. Ihre Probanden waren in drei Gruppen unterteilt: Kindergartenkinder mit einem Durchschnittsalter von 5,8 Jahren sowie Erstklässler und Zweitklässler (Durchschnittsalter 6,9 beziehungsweise 7,8 Jahre). Die Ergebnisse demonstrierten, wie unsere Wahrnehmung geprägt wird, indem wir zählen lernen. Kindergartenkinder, die noch keinen Mathematikunterricht haben, ordnen Zahlen logarithmisch an. Im ersten Schuljahr, wenn die Schüler mit den Zahlwörtern und den damit verbundenen Symbolen vertraut gemacht werden, wird die Kurve bereits gerader. Im zweiten Schuljahr schließlich werden die Zahlen gleichmäßig entlang der Linie angeordnet.
Wieso meinen die Angehörigen mancher Indianervölker ebenso wie kleine Kinder, dass höhere Zahlen näher beieinanderliegen als niedrigere Zahlen? Dafür gibt es eine einfache Erklärung. In den Experimenten wurden die Teilnehmer mit einer bestimmten Anzahl von Punkten konfrontiert und gefragt, wo die jeweilige Gruppe entlang einer Linie platziert werden sollte, an der sich links ein einzelner Punkt und rechts zehn – bei den Kindern hundert – Punkte befanden. Nehmen wir einmal an, ein Munduruku bekommt eine Karte mit fünf Punkten vorgelegt. Er betrachtet sie genau und sieht, dass fünf Punkte fünfmal größer sind als ein Punkt, während zehn Punkte nur zweimal größer als fünf Punkte sind. Offenbar treffen Munduruku (und Kinder) ihre Entscheidung über die passende Einordnung einer Zahl, indem sie das Verhältnis zwischen den vorliegenden Mengen schätzen. Auf dieser Grundlage ist es völlig logisch, dass der Abstand zwischen fünf und eins größer ist als der Abstand zwischen zehn und fünf. Sobald man also Mengen mithilfe von Verhältnissen einschätzt, kann sich nur eine logarithmische Skala ergeben.
Pierre Pica ist der Meinung, dass es sich um eine universelle menschliche Intuition handelt, Mengen näherungsweise zu erfassen, indem man Verhältnisse schätzt. Menschen, die keine Zahlen kennen – wie Kinder und manche Indianer –, haben keine Alternative dazu, die Welt auf diese Weise zu ordnen. Hingegen ist es offenbar keine universelle Intuition, sondern ein kulturelles Merkmal, Mengen in exakte Zahlen zu fassen. Näherungswerte und Verhältnismäßigkeiten gehen laut Pica deshalb exakten Zahlen voraus, weil es für das Überleben in der Wildnis von wesentlich größerer Bedeutung ist, Verhältnisse zu erfassen, als etwas zählen zu können. Stand eine Gruppe Urmenschen einer Schar Keulen schwingender Gegner gegenüber, so mussten sie sofort erkennen, wer in der Mehrzahl war. Sahen sie zwei Bäume, mussten sie sofort beurteilen können, an welchem mehr Früchte hingen. In keinem der beiden Fälle bestand die Notwendigkeit, jeden einzelnen Feind oder jede einzelne Frucht zu zählen. Es ging ausschließlich darum, die relevanten Mengen rasch einzuschätzen und sie zu vergleichen. Anders gesagt, man bestimmte die jeweiligen Näherungswerte und beurteilte deren Verhältnis.
Die logarithmische Skala entspricht auch der Art und Weise, wie wir räumliche Entfernung wahrnehmen, und vielleicht ist sie deshalb so intuitiv. Wenn wir zum Beispiel einen 100 Meter entfernten Baum sehen und weitere 100 Meter dahinter einen zweiten Baum, so sieht dieser kleiner aus. Für einen Munduruku passt die Vorstellung, dass 100 Meter immer denselben Abstand darstellen, einfach nicht zu dem, wie er seine Umwelt wahrnimmt. Die logarithmische Skala berücksichtigt das perspektivische Sehen.
Exakte Zahlen verschaffen uns also ein lineares Gerüst, das unserer logarithmischen Intuition widerspricht. Unsere Beherrschung dieser Zahlen bedeutet sogar, dass diese Intuition in den meisten Situationen zurückgestellt wird. Dennoch wird sie nie vollständig eliminiert, denn wir besitzen sowohl ein lineares als auch ein logarithmisches Verständnis von Mengen. Zum Beispiel empfinden wir den Lauf der Zeit eher logarithmisch: wir haben oft das Gefühl, je älter wir werden, desto schneller vergehe die Zeit. Andersherum gilt das ebenso – der gestrige Tag erscheint uns wesentlich länger als die gesamte letzte Woche. Am deutlichsten tritt unser tief sitzender logarithmischer Instinkt zutage, wenn es darum geht, uns sehr große Zahlen vorzustellen. Den Unterschied zwischen eins und zehn können wir alle problemlos begreifen. Es ist unwahrscheinlich, dass wir ein Glas Bier mit zehn Gläsern Bier verwechseln. Aber wie steht es mit dem Unterschied zwischen einer Milliarde Liter Wasser und zehn Milliarden Liter Wasser? Obwohl dieser Unterschied gewaltig ist, neigen wir dazu, die beiden Mengen ziemlich ähnlich zu betrachten, nämlich als sehr große Mengen Wasser. Auch die Begriffe »Millionär« und »Milliardär« werden oft praktisch synonym verwendet, als machte es keinen großen Unterschied, ob man einfach bloß reich oder unverschämt reich ist. Ein Milliardär ist zwar tausendmal reicher als ein Millionär, aber je größer Zahlen sind, desto näher liegen sie für uns beieinander.
Wenn Pierre Pica schon nach wenigen Monaten im Urwald vorübergehend vergaß, wie man Zahlen benutzt, so ist das ein Hinweis darauf, dass unser lineares Verständnis von Zahlen nicht so tief in unserem Gehirn verwurzelt ist wie das logarithmische. Unser Zahlenverständnis ist sogar erstaunlich anfällig. Verwenden wir es nicht regelmäßig, so verlieren wir die Fähigkeit, mit exakten Zahlen umzugehen, und kehren automatisch zu unserem intuitiven Verhalten zurück, Mengen mithilfe von Näherungswerten und Verhältnismäßigkeiten einzuschätzen.
Die Ergebnisse von Forschungen zur mathematischen Intuition, wie Pierre Pica und andere sie durchführen, könnten nach Picas Ansicht erhebliche Auswirkungen auf den Mathematikunterricht haben, nicht nur am Amazonas, sondern auch bei uns. In der modernen Gesellschaft brauchen wir ein lineares Zahlenverständnis, um unseren Alltag zu meistern, denn mit diesem Verständnis können wir Dinge messen und berechnen. Vielleicht sind wir in unserer Abhängigkeit von der Linearität jedoch ein wenig zu weit gegangen und haben unsere logarithmische Intuition zu kategorisch unterdrückt. Das könnte laut Pica ein Grund dafür sein, dass sich viele Menschen mit Mathematik so schwertun. Sollten wir also möglicherweise mehr Aufmerksamkeit darauf verwenden, Verhältnisse einzuschätzen, als mit exakten Zahlen zu operieren? Und womöglich wäre es sogar falsch, den Munduruku beizubringen, so zu zählen, wie wir es tun, denn das könnte sie der mathematischen Intuition berauben, die sie zum Überleben in ihrer Umgebung brauchen.
Gemeinhin hat sich das Interesse an den mathematischen Fähigkeiten von Lebewesen, die keine Worte oder Symbole für Zahlen kennen, bisher auf Tiere gerichtet. Eines der bekanntesten Forschungsobjekte war ein deutscher Traberhengst, den man den Klugen Hans nannte. Er lebte Anfang des 20. Jahrhunderts in Berlin bei einem pensionierten Schulmeister und Mathematiklehrer namens Wilhelm von Osten, in dessen Hof sich regelmäßig eine begeisterte Menschenmenge versammelte, um Hans beim Rechnen zuzusehen. Von Osten stellte dem Pferd einfache arithmetische Aufgaben, und Hans nannte die korrekte Zahl, indem er entsprechend oft mit dem Huf klopfte oder mit dem Kopf nickte. Sein Repertoire umfasste nicht nur Addition und Subtraktion, sondern auch Bruchrechnen, Quadratwurzelziehen und Faktorisierung. Die Faszination der Öffentlichkeit und der Verdacht, bei der angeblichen Intelligenz des Pferdes könne es sich um einen Trick handeln, führten dazu, dass eine wissenschaftliche Kommission eingesetzt wurde, um den Fall zu untersuchen. Sie kam zu dem Schluss, Hans könne wirklich rechnen.
Mit diesem Ergebnis gab sich der Psychologe Oskar Pfungst allerdings nicht zufrieden. Er untersuchte Hans erneut und stellte fest, dass dieser auf die Körpersprache seines Besitzers reagierte. Stellte man ihm eine Aufgabe, so fing er an, mit dem Huf auf den Boden zu klopfen, und hörte erst auf, wenn er an von Osten einen Ausdruck der Erleichterung bemerkte, der auf das Erreichen der korrekten Antwort hinwies. Dabei war Hans empfänglich für die kleinsten visuellen Signale wie beispielsweise eine Neigung des Kopfes, ein Heben der Augenbrauen und sogar ein Weiten der Nasenlöcher. Wilhelm von Osten war sich gar nicht bewusst, dass er diese Gesten machte.
Am Fall des Klugen Hans hat man gelernt, dass man sorgfältig darauf achten muss, Tieren, denen man das Zählen beibringen will, keine unbeabsichtigten Hinweise zu geben. Beim Mathematikunterricht von Ai, einer Schimpansin, die Ende der 1970er Jahre aus Westafrika nach Japan kam, schloss man eine solche Einflussnahme aus, indem man einen Computer mit Touchscreen einsetzte.
Inzwischen ist Ai 31 Jahre alt und lebt im Institut für Primatenforschung in Inuyama, einem kleinen Ausflugsort in Zentraljapan. Ihre hohe Stirn wird langsam kahl, das Haar an ihrem Kinn ist weiß, und sie hat die dunklen, eingesunkenen Augen eines Menschenaffen im mittleren Alter. Am Institut wird sie nicht als Forschungsobjekt, sondern als »Studentin« bezeichnet. Jeden Tag besucht Ai ihren Unterricht, bei dem sie verschiedene Aufgaben erhält. Pünktlich um neun Uhr morgens taucht sie an ihrem Studienplatz auf, nachdem sie die Nacht draußen bei den anderen Schimpansen verbracht hat, in einer riesigen, baumähnlichen Konstruktion aus Holz, Stahl und Seilen. An dem Tag, an dem ich sie beobachten durfte, saß sie an ihrem Computer, den Kopf nah am Bildschirm, und tippte Zahlenfolgen so ein, wie sie auf dem Monitor erschienen. Hatte sie eine Aufgabe richtig gelöst, so fiel durch eine Röhre rechts von ihr ein winziges Apfelstückchen. Ai fing es mit der Hand auf und beförderte es augenblicklich in den Mund. Ihr gleichgültiger Blick, das lässige Tippen auf dem piependen, blinkenden Computer und die Banalität der ständigen Belohnung erinnerten mich an eine alte Dame, die am Spielautomaten sitzt.
In ihrer Kindheit wurde Ai weltweit bekannt, weil sie das erste nichtmenschliche Lebewesen war, das mit arabischen Ziffern zählen konnte. Das sind die Symbole 1, 2, 3 und so weiter, die in fast allen Ländern verwendet werden, nur ausgerechnet in Teilen der arabischen Welt nicht. Damit Ai diese Fähigkeit erlangte, musste Tetsuro Matsuzawa, der Chef des Forschungsinstituts, ihr die beiden Elemente beibringen, aus denen das menschliche Zahlenverständnis besteht: Menge und Ordnung.
Zahlen drücken eine bestimmte Menge aus und kennzeichnen außerdem eine Position innerhalb einer bestimmten Menge. Diese beiden Begriffe stehen zwar miteinander in Verbindung, unterscheiden sich jedoch auch. Spricht man zum Beispiel von »fünf Möhren«, so meint man damit, dass die Menge an Möhren in der erfassten Gruppe fünf beträgt. In der Mathematik bezeichnet man diesen Aspekt der Zahlen als »Kardinalität« oder Anzahl. Zählt man hingegen von 1 bis 20, so bedient man sich der praktischen Tatsache, dass Zahlen nacheinander angeordnet werden können. Das heißt, man bezieht sich nicht auf 20 Gegenstände, sondern sagt einfach eine Abfolge her. Diesen Aspekt von Zahlen bezeichnet man in der Mathematik als »Ordinalität« (und meint den Rangplatz einer Zahl in einer Abfolge). In der Schule lernen wir diese beiden Aspekte – Kardinalität und Ordinalität – gemeinsam und springen problemlos zwischen ihnen hin und her. Für Schimpansen hingegen ist der Zusammenhang überhaupt nicht offensichtlich.
Zuerst bekam Ai also beigebracht, dass ein roter Bleistift sich auf das Symbol »1« bezog und zwei rote Bleistifte auf »2«. Anschließend lernte sie die 3 und dann alle anderen Ziffern bis 9. Zeigte man ihr beispielsweise die Ziffer 5, so tippte sie auf ein Rechteck mit fünf Gegenständen, und wenn man ihr ein Rechteck mit fünf Gegenständen zeigte, tippte sie auf die Ziffer 5. Ihr Training war belohnungsorientiert – immer wenn sie eine Aufgabe korrekt löste, fiel ein Leckerbissen aus der Röhre neben dem Computer.
Sobald Ai die Kardinalität der Ziffern von 1 bis 9 begriffen hatte, konfrontierte Matsuzawa sie mit Aufgaben, die ihr die richtige Anordnung vermitteln sollten. Dabei leuchteten auf dem Bildschirm Ziffern auf, die Ai in aufsteigender Reihenfolge antippen sollte. Erschienen auf dem Bildschirm 4 und 2, so musste sie erst auf die 2 und dann auf die 4 tippen, um sich ihr Apfelstückchen zu verdienen. Das lernte sie ziemlich rasch. Da ihre Kompetenz nun Aufgaben umfasste, bei denen es sowohl um Kardinalität als auch um Ordinalität ging, konnte Matsuzawa mit Fug und Recht behaupten, dass seine Schülerin zählen gelernt hatte. Das machte sie in Japan zu einer Nationalheldin, und Berichte über ihre Leistung gingen um die Welt.
Als Nächstes führte Matsuzawa das Konzept der Null ein. Die Kardinalität des betreffenden Symbols 0 begriff Ai ohne Probleme. Wenn auf dem Bildschirm ein Rechteck ohne Inhalt auftauchte, tippte sie auf die betreffende Ziffer. Nun wollte Matsuzawa feststellen, ob sie in der Lage war, ein Verständnis der Ordinalität von Null zu entwickeln. Auf dem Bildschirm erschienen in zufälliger Abfolge zwei Ziffern wie zu der Zeit, als Ai die Abfolge von 1 bis 9 gelernt hatte, doch diesmal befand sich gelegentlich eine 0 darunter. Wo würde Ai diese Ziffer einordnen?
Beim ersten Versuch platzierte die Schimpansin die 0 zwischen 6 und 7. Matsuzawa berechnete dies, indem er bestimmte, ob sie die Ziffer durchschnittlich eher vor oder nach einer bestimmten Zahl einordnete. An den folgenden Tagen ging Ai dazu über, die 0 unterhalb der 6, dann unterhalb der 5 und der 4 zu platzieren. Nach einigen hundert Sitzungen befand sich die 0 schließlich im Bereich der 1. Ob es sich um eine größere oder kleinere Zahl als 1 handelte, bekam Ai jedoch nicht endgültig heraus. Sie hatte zwar gelernt, perfekt mit Ziffern umzugehen, doch ihr fehlte die Tiefe des menschlichen Zahlenverständnisses.
Stattdessen erwarb sie etwas anderes – die Fähigkeit, sich effektvoll in Szene zu setzen. Als absoluter Profi löst sie die Aufgaben an ihrem Computer inzwischen besser, wenn Besucher zugegen sind, vor allem, wenn es sich dabei um ein Kamerateam handelt.
Auch bei so unterschiedlichen Lebewesen wie Salamandern, Ratten und Delfinen konnte man mit Experimenten eine unerwartet große Fähigkeit zur sogenannten Mengenunterscheidung nachweisen. Zwar haben wir gelernt, dass Pferde nicht in der Lage sind, Quadratwurzeln zu ziehen, aber in wissenschaftlichen Kreisen ist man inzwischen der Ansicht, dass die numerische Begabung von Tieren wesentlich ausgeprägter ist, als man bisher dachte. Offenbar sind nicht nur wir Menschen von Geburt an mit einem Gehirn ausgestattet, das für mathematische Operationen prädestiniert ist.
Das ist nicht weiter erstaunlich, denn eine numerische Kompetenz ist eine entscheidende Voraussetzung dafür, in der Wildnis zu überleben. Ein Schimpanse wird sich wahrscheinlich besser den Bauch vollschlagen können, wenn er beim Blick auf einen Baum in der Lage ist, die Menge der dort hängenden Früchte einzuschätzen. Karen McComb von der University of Sussex hat in der Serengeti ein Löwenrudel beobachtet, um herauszufinden, ob Löwen einen Sinn für Zahlen anwenden, wenn sie entscheiden, ob sie Artgenossen angreifen sollten oder nicht. Bei einem Experiment wurde im Gebüsch ein Lautsprecher versteckt. Als eine Löwin in der Abenddämmerung daran vorbeikam, erscholl aus dem Lautsprecher das Gebrüll einer einzelnen Artgenossin. Die Löwin hörte es zwar, reagierte aber nicht weiter darauf und trottete ungerührt zum Rudel zurück. Als wenige Tage später eine Gruppe von fünf Löwinnen vorbeikam, ließ McComb aus dem verborgenen Lautsprecher das Gebrüll von drei Tieren ertönen. Die fünf hörten das dreistimmige Brüllen und spähten in die Richtung, aus der es kam. Dann erwiderte eine der Löwinnen das Gebrüll, und wenig später stürmten alle fünf zum Angriff ins Gebüsch.
Aus diesem Verhalten zog McComb den Schluss, dass die Tiere unwillkürlich einen Mengenvergleich anstellten. Stand es eins gegen eins, war ein Angriff wenig ratsam, aber mit einem zahlenmäßigen Vorteil von fünf gegen drei konnte man ihn riskieren.
Nicht alle Forschungsprojekte sind so spektakulär wie ein Ausflug in die Sahara und das Computertraining einer Promi-Schimpansin. An der Universität Ulm setzten Wissenschaftler saharische Wüstenameisen an den Anfang eines Tunnels, durch den die Tierchen krabbeln mussten, um Futter zu finden. Sobald sie beim Futter angelangt waren, bekam ein Teil der Ameisen die Beine gestutzt, während man die anderen mit Stelzen aus Schweineborsten ausstattete. So grausam, wie sich das anhört, war es offenbar nicht, da die Beine von Wüstenameisen ständig von der Sonne verkohlt werden. Auf dem Heimweg krochen die Tierchen mit den kürzeren Beinen zu früh aus dem Tunnel, während die mit den verlängerten Beinen ein Stück zu weit liefen. Das ließ darauf schließen, dass die Ameisen sich nicht auf ihre Augen verließen, sondern die Entfernung mithilfe eines inneren Pedometers abschätzten. Womöglich ist die erstaunliche Fähigkeit der Ameisen, nach stundenlangen Wanderungen immer wieder zum Bau zurückzufinden, einfach darauf zurückzuführen, dass sie ihre Schritte zählen können.
Nicht selten ist man bei Experimenten dieser Art auf unerwartete Erkenntnisse gestoßen. Zum Beispiel haben Schimpansen zwar ein recht begrenztes mathematisches Verständnis, aber bei dessen Erforschung hat Tetsuro Matsuzawa entdeckt, dass sie andere kognitive Fähigkeiten besitzen, die den unseren weit überlegen sind.
Im Jahr 2000 bekam Ai einen Sohn, dem man den Namen Ayumu gab. Bei meinem Besuch im Institut saß er direkt neben seiner Mutter. Er war kleiner, seine Gesichtshaut war rosa und seine Haare waren schwärzer als ihre. Vor ihm stand sein eigener Computer, auf dessen Bildschirm er tippte, wenn darauf Zahlen aufleuchteten. Zwischendurch schob er sich eifrig die Apfelstückchen in den Mund, die er sich verdient hatte. Er war ein selbstbewusster Kerl – kein Wunder, denn als Sohn des dominanten Weibchens der Schimpansengruppe besaß er einen privilegierten Status.
Niemand hat Ayumu je beigebracht, wie man mit einem Touchscreen umgeht, doch er hat schon als Baby bei seiner Mutter gesessen, wenn sie täglich zum Unterricht kam. Eines Tages öffnete Matsuzawa die Tür des Arbeitszimmers nur so weit, dass Ayumu hindurchschlüpfen konnte, während die größere Ai nicht hindurchpasste. Ayumu ging direkt zum Computerbildschirm, während das Forschungsteam gespannt darauf wartete, was er gelernt hatte. Sobald er den Bildschirm eingeschaltet hatte, tauchten die Ziffern 1 und 2 auf. Es handelte sich um eine einfache Ordnungsaufgabe. Ayumu tippte auf die 2. Falsch. Er tippte noch einmal auf die 2. Wieder falsch. Dann versuchte er, gleichzeitig auf die 1 und die 2 zu tippen. Falsch. Schließlich jedoch hatte er verstanden und drückte die 1 und dann die 2, worauf ein Apfelstückchen in seine Hand sauste. Von da an dauerte es nicht lange, bis er sämtliche Computeraufgaben sogar besser erledigte als seine Mutter.
Vor einigen Jahren führte Matsuzawa einen neuen Aufgabentyp ein. Wurde die Starttaste gedrückt, so erschienen auf dem Bildschirm die Ziffern 1 bis 5 in zufälliger Anordnung. Nach 0,65 Sekunden verwandelten sie sich dann in kleine weiße Quadrate. Die Aufgabe bestand darin, in der richtigen Reihenfolge auf diese Quadrate zu tippen. Dazu musste man sich daran erinnern, welche Ziffern sich vorher an den entsprechenden Stellen befunden hatten.
Ayumu erledigte diese Aufgabe zu etwa 80 Prozent erfolgreich, womit er dieselbe Leistung erbrachte wie eine Vergleichsgruppe japanischer Kinder. Anschließend reduzierte Matsuzawa den Zeitraum, in dem die Ziffern sichtbar waren, auf 0,43 Sekunden. Während Ayumu den Unterschied kaum wahrnahm, sank die Leistung der Kinder erheblich ab, auf eine Quote von etwa 60 Prozent. Als der Zeitraum erneut reduziert wurde, diesmal auf lediglich 0,21 Sekunden, lag Ayumu weiterhin bei 80 Prozent, während die Kinder nur noch zu 40 Prozent erfolgreich waren.