
„Im Bann der Lilie, Teil 1“ von Carol Grayson
herausgegeben von: Club der Sinne®, Allee der Kosmonauten, 12681 Berlin, November 2010
zitiert: Grayson, Carol: Im Bann der Lilie, Teil 1, 2. Auflage
© 2010
Club der Sinne®
Inh. Katrin Graßmann
Allee der Kosmonauten 28a
12681 Berlin
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Stand: 01. März 2012
Gestaltung und Satz: Club der Sinne®, 12681 Berlin
Cover: Hintergrund - © Andrew Beierle, www.sxc.hu
Fleur de lis – Quelle: Wikipedia
Covergestaltung: Club der Sinne®
ISBN 978-3-95527-189-3
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Carol Grayson
Im Bann der Lilie
Teil I
„Träum süß, meine Prinzessin, bevor das Vergessen dich ereilt.“
Er hatte Fabienne auf die Chaiselongue gebettet, kniete vor ihr und ließ ihren Kopf, der nun wie in Zeitlupe zur Seite glitt, in seiner Armbeuge ruhen. Behutsam strich der junge Mann über die zitternden Augenlider der zierlichen Frau in seinen Armen. Ihre Haut war so bleich und zart wie Porzellan. Genüsslich sog er den Duft ihres süßen Rosenparfüms ein. Seine Nasenflügel bebten. Er konnte den nahenden Tod bereits riechen. Das war jener kostbare Augenblick, wenn die süße Wärme der Haut ein letztes Mal aufglühte, bevor sie für immer erlosch. Bei dieser entzückenden, jungen Baronesse war er sehr vorsichtig vorgegangen. Er wollte nichts zerstören. Schließlich war er ein Ästhet, er liebte und achtete die Schönheit. Vergänglichkeit war ihm hingegen ein Gräuel. Seine rechte Hand folgte der Wange bis hinunter zu dem Gazellen gleichen Hals, der das Siegel seines Kusses trug. Den letzten winzigen Blutstropfen fing er mit seinem Zeigefinger auf und leckte ihn ab. Sie war so ahnungslos in seine charmanten Fallstricke geraten. Es hatte nicht einmal lange gedauert. Fabienne Conechet hatte seinem Auftraggeber im Wege gestanden, ohne es zu wissen. Es ging um ein reiches Erbe. Durch das frühzeitige Ableben der jungen Dame stieg sein Auftraggeber in der Erbfolge an die nächste Stelle. Marcel zog seinen Arm unter dem Kopf seines Opfers hervor und erhob sich. Es war dunkel in dem kleinen, weiß gestrichenen Gartenpavillon, nicht einmal eine einzelne Kerze brannte. Aber das störte ihn nicht. Er konnte im Dunkeln ausgezeichnet sehen. Eine Zeitlang blieb er auf der kleinen Terrasse stehen, genoss den Duft einer lauen Sommernacht und lauschte dem Zirpen der Grillen.
Marcel war von akribischer Sorgfalt, wenn er einen Auftrag erfüllte, und er genoss jeden einzelnen auf seine ganz besondere Weise. Im Laufe der Jahre waren seine Macht und sein Einfluss gewachsen. Der Adel schätzte ihn nicht, er respektierte, ja, fürchtete ihn. Man konsultierte ihn, wenn man unliebsame Gegenspieler oder verflossene Liebhaber, die zuviel wussten, loswerden wollte. Die feinen Damen verbargen ihr Antlitz hinter den bunten Seidenfächern, wenn er sich näherte, zumeist in schwarz gewandet. Nur das Weiß seines Jabots, der Spitzenmanschetten und der Kniestrümpfe bildete einen farblichen Kontrast zu dem schimmernden Stoff seines Gehrocks, der bestickten Weste und seiner Beinkleider. Zu feierlichen Anlässen trug er manchmal ein tiefdunkles Rot. In anderen Farben sah man ihn nie gekleidet. Marcel Saint-Jacques war ein wandelndes Geheimnis. Man flüsterte hinter seinem Rücken von schwarzer Magie und geheimen Riten, nicht ahnend, dass dieser hagere junge Mann jedes Wort selbst auf weite Entfernung hin verstehen konnte. Er war froh, dass man seine Dienste zu schätzen wusste – und fürstlich entlohnte. So war er vor Verfolgung sicher. Der Adel war zu dieser Zeit fasziniert von allem Okkulten und so wie er, Marcel Saint-Jacques, sein Geschäft verstand, gab es für alle Probleme eine todsichere Lösung. Er war ein Auftragskiller par excellence. Er benötigte weder Gift noch eine Waffe. Er selbst war die Waffe. Man nannte ihn hinter vorgehaltener Hand „Le Rédempteur“ – den Erlöser. Er hatte sich seine „Berufung“ nicht ausgesucht, das Schicksal hatte ihn dazu bestimmt. Und er hatte diesem Schicksal zugestimmt. Marcel schloss leise die verglaste Verandatür hinter sich, so. als würde er Rücksicht auf die ewig Schlafende nehmen, und ging langsamen Schrittes davon. Diese Nacht erinnerte ihn an jenen herrlichen Sommer 1667, in dem alles begann:
Marcel Saint-Jacques hatte es nie leicht gehabt als adeliger Bastard. Sein Vater, der Comte Saint-Jacques, hatte sich in mit einer bezaubernden, aus Martinique stammenden Dienerin namens Alina eingelassen, nachdem seine Frau bei der Geburt seines ersten Kindes verstarb, das zudem noch ein Mädchen war. Alina war ausgerechnet die Zofe seiner Frau gewesen! Seiner Tochter Elise schenkte er immer weniger Aufmerksamkeit, nachdem Alina ihm den lang ersehnten Sohn geschenkt hatte.
Der Comte selbst war Marcel gegenüber ein fürsorglicher Vater, der es dennoch nicht wagte, sich öffentlich zu seinem unehelichen Sprössling zu bekennen oder ihn gar in die Gesellschaft bei Hofe einzuführen. Marcel musste im Dienstbotentrakt aufwachsen und wurde für leichte Stall- und Gartenarbeit herangezogen. Dennoch gestattete der Graf ihm, den Namen Saint-Jacques zu tragen und lehrte den aufgeweckten Jungen schon frühzeitig das Reiten und Fechten. In beiden Disziplinen brachte es der Knabe schon im Alter von zwölf Jahren zu wahrer Meisterschaft. Elise dagegen wurde von Privatlehrern unterrichtet und in alle Tugenden und Pflichten einer jungen Dame aus gutem Hause eingeweiht. Das heranwachsende Mädchen zog sich immer mehr zurück, würdigte den Halbbruder keines Blickes, wenn sie sich zufällig im Garten begegneten, oder der Graf und seine Dienerschaft in getrennten Kutschen zur Kirche fuhren. Der Comte und seine Familie saßen immer auf der ersten Bank, während Marcel und seine Mutter sich unter das gemeine Volk mischten. Das war eine sonntägliche Genugtuung für Elise, wenn sie ihren Stand so deutlich hervorheben konnte. Jahr um Jahr keimte der Hass auf Vater und Bruder wie eine dunkle Saat in ihrem Herzen. Sie weigerte sich, mit Marcel ein Wort zu wechseln, galt ihm doch scheinbar der ganze Stolz des Vaters. Als dieser einmal von ihr verlangte, den verhassten Halbbruder als Tanzpartner für ihren Unterricht zu wählen, war sie empört aus dem Zimmer gelaufen. Dennoch lehrte Saint-Jacques seinem Sohn alle höfischen Umgangsformen und einige Fremdsprachen, was Marcel nach dem Tode des Vaters zugute kam.
Es war ein tragischer Jagdunfall, der das Leben des erst Fünfundvierzigjährigen beendete. Vater und Tochter waren bei einer Fuchsjagd von den übrigen Teilnehmern getrennt worden und eine Zeit lang allein unterwegs gewesen. Das Pferd des Comte, ein noch recht unerfahrener Vollbluthengst, den der Graf erst kurz zuvor aus England importiert hatte, hatte sich wohl vor einem plötzlich auffliegenden Fasan erschrocken, war durchgegangen und hatte den Comte in einem Waldstück abgeworfen. Eine tödliche Kopfverletzung war die Folge. Elise war völlig aufgelöst zum Gut zurück galoppiert, um Hilfe zu holen. Aber diese kam zu spät. Das Haus Saint-Jacques trug einige Monate Trauer, danach lud der Advokat des Grafen zur Testamentseröffnung.
Ein kleines, jährliches Einkommen hatte der Comte dem Jüngling hinterlassen, doch das restliche Vermögen, allen Grundbesitz und das weitläufige Herrenhaus erbte die Tochter, so wie es das Gesetz vorschrieb. Elise hatte nach Antritt ihres Erbes nichts Besseres zu tun, als ihren Halbbruder auf die Straße zu setzen. Die wenig aparte, eher etwas farblose Comtesse konnte ihrer in der Vergangenheit angestauten unbändigen Eifersucht auf den hübschen und exotisch anmutenden Marcel endlich Luft machen. Nun brauchte sie nicht mehr um die Gunst ihres Vaters zu buhlen, der sie am liebsten schnell losgeworden wäre und gut verheiraten wollte. Dabei gab es unter ihren bisherigen Verehrern niemanden, dem sie Hand und Herz hätte schenken wollen. Die Wahrheit war, dass ihre hochnäsige und jähzornige Natur jeden abschreckte, der nicht unbedingt auf das recht beachtliche Erbe angewiesen war. Und das waren in ihren Kreisen die wenigsten. Mit ihren gerade mal zwanzig Jahren war das Herz der jungen Comtesse bereits versteinert.
In einem Anflug von Wohlwollen übergab sie Marcel eines der Pferde ihres Vaters als Abschiedsgeschenk. Es war der kupferrote Hengst, mit dem ihr beider Vater zu Tode gekommen war. Welch ein Zynismus! Sie legte ihm mit kühler Stimme nahe, sich nie wieder hier auf dem Gut blicken zu lassen. Seine wenigen Habseligkeiten konnte er in einer Tasche aus Segeltuch verstauen und hinter dem Sattel festbinden. Bei seinem Weggang standen seiner Halbschwester Verachtung und Genugtuung ins Gesicht geschrieben. Marcel würde ihren triumphierenden, kaltherzigen Blick niemals vergessen. Wie sie da stand, in ihrem hoch geschlossenen, schwarzen Trauerkleid unter dem weißen Säulengang vor der großen Freitreppe. Hoch aufgerichtet wie eine böse Königin, die ihn ihres Reiches verwies. Aber Elise hatte noch mehr vor, um ihre Rache an dem ungeliebten Bastard ihres Vaters zu vollenden.
An einem herrlichen Sommermorgen machte sich Marcel im Alter von siebzehn Jahren auf den Weg nach Paris, um dort sein Glück zu machen. Dort hatte Ludwig XIV. vor einiger Zeit Maria Theresia von Spanien zu seiner Königin gemacht. Es hieß, der König förderte Künste und Wissenschaften. Für ein Studium an der Académie würde sein Erbe zwar nicht reichen, doch Marcel hatte sich in den Kopf gesetzt, seine Fechtkünste zu Geld zu machen und später einmal zu unterrichten. Er war kein stattlicher Mann, eher klein, aber flink, ein guter Stratege und behänder Kämpfer. Seine Haut besaß einen leichten Bronzeton, ganz das Gegenteil zu der gewünschten Blässe bei Hofe. Hinzu kamen die schwarzen, leicht katzenhaft geschnittenen Augen in dem schmalen Gesicht und leicht gewellte, tiefschwarze Haare, die offen bis auf die Schultern fielen. Kurz gesagt, Marcel Saint-Jacques war ein hübscher, gebildeter Bursche, der Wert auf Pflege und gute Kleidung legte. Er würde schon einen guten Eindruck bei Hofe hinterlassen, da war er sicher. Vielleicht fand sich ja ein reicher Gönner, der ihn bei seinen Plänen, eine eigene Fechtschule zu gründen, unterstützen würde. Ja, der junge Marcel war voller Pläne und einem unbändigen Optimismus, was seine Zukunft anging. Trotzdem war sein Herz schwer beim Abschied von seiner alten Heimat. Seiner Mutter hatte er versprochen, ihr möglichst oft zu schreiben und Geld zu schicken, sobald es ihm möglich sein würde. Alina war mittlerweile ergraut und ging leicht gebeugt der schweren Dienstbotentätigkeit im Herrenhaus nach. Aber sie war eine stolze Frau. Auch wenn die junge Herrin sie in die Küche verbannt hatte und sie die niedrigsten Arbeiten verrichten ließ. Alina beklagte sich nie.
So eine Reise durch die ländliche Provinz war nicht ungefährlich, vor allen Dingen nachts. Der junge Mann war also gezwungen, in einem der wenig komfortablen Wirtshäuser zu übernachten, die gleichzeitig als Poststationen dienten. Als er wieder einmal kurz nach Sonnenuntergang in einem dieser Gasthäuser Rast machte, bemerkte er eine schwarz lackierte Kutsche mit verhängten Fenstern und einer silbernen Bourbonenlilie als Türwappen vor dessen Pforte stehen. Vier Rappen waren eingespannt, und der Kutscher war gerade dabei, die Pferde zu tränken. Neugierig trat Marcel näher. So hoher Besuch in dieser Kaschemme?
Ein schmutziger Stallbursche in zerrissener Kleidung eilte herbei und nahm ihm den Hengst ab, um ihn im Stall zu versorgen. Marcel zog die ledernen Handschuhe aus und betrat die Schankstube. Es roch nach Schweiß, Bratenfett und abgestandenem Bier. Ein halber Ochse drehte sich auf dem Spieß in der Küche hinter dem Gastraum. Zwei Schankmädchen versorgten die teilweise bereits angetrunkenen und lautstarken Gäste mit Rotwein und Bier aus zinnernen Krügen. Nach einem langen Ritt knurrte auch Marcels Magen, und er setzte sich etwas abseits an einen der Tische aus grobem Holz. Die Bank wackelte bei seinem Hinsetzen. Er bestellte einen Becher Wein, Fleisch und Brot zum Abendessen und fragte die Magd nach einem Zimmer. Dabei war sein Beutel nicht gerade reich gefüllt.
„Ihr habt Glück, Monsieur, ein Gemach ist noch frei. Ich führe Euch nach Eurer Mahlzeit hinauf“, bot die Magd ihm an. Dabei verhießen ihre Augen, dass sie vielleicht auch zu einem Schäferstündchen bereit gewesen wäre. Beim Anschenken ließ sie ihn einen Blick auf ihr pralles Dekollete werfen.
„Ich danke Euch. Die Reise hat mich ermüdet und ich möchte morgen bei Sonnenaufgang weiterreisen“, erwiderte Marcel und drückte dem Mädchen eine Silbermünze in die Hand. „Für mich und mein Pferd“, bemerkte er dabei und wandte sich dem gefüllten Becher zu.
Ein Mann in der gegenüberliegenden Ecke hatte die kurze Szene beobachtet. Er trug edle, maßgeschneiderte Reisekleidung aus dunkelblauem Tuch mit Silberlitzen. Das Silber wiederholte sich in seinen Haaren, die an den Seiten noch dunklere Strähnen aufwiesen. Dennoch wirkte er nicht alt. Die Haut war fest und faltenlos, fast durchscheinend. Tiefblaue Augen prüften die Umgebung mit dem Blick eines Gardehauptmanns. Dieser Mann machte den Eindruck eines wachsamen Raubvogels auf Beutezug. Und sein Opfer hatte er jetzt fest im Visier.
Nachdem er sah, dass Marcel seine Abendmahlzeit beendet hatte, stand er auf und ging hinüber an den Tisch des jungen Mannes, um ihn auf einen weiteren Becher Wein einzuladen. Marcel nahm das Angebot überrascht, aber dankend an und kam mit dem Fremden ins Gespräch.
„Ihr reist allein?“, erkundigte sich der Fremde, als er sich niedersetzte.
Marcel nickte.
„Ein so junger Bursche wie Ihr ist sicher auf der Suche nach einer Anstellung oder gar einer Gefährtin?“
Marcel blickte hoch. Konnte der Fremde Gedanken lesen? Dessen dunkelblaue Augen saugten sich an den seinen fest und zogen ihn wie einen Strudel immer tiefer in eine Art Willenlosigkeit. Es schien, als blätterten eisige Finger durch seine Gedankenbilder aus der Vergangenheit. Der Unbekannte lenkte ein.
„Verzeiht meine Aufdringlichkeit. Ich war unhöflich. Darf ich mich zunächst bekannt machen? Ich bin der Marquis Julien de Montespan. Ich beschäftige mich hauptsächlich mit der Astronomie, doch bin ich auch der Heilkunde und der Magie mächtig.“
„Marcel Saint-Jacques“, stellte sich jetzt auch der Junge vor.
„Wie ich höre, seid auch Ihr von Adel?“
Der Junge schnaubte verächtlich. „Nicht ganz, Monsieur“, gab er sarkastisch zur Antwort.
De Montespan schien zu verstehen. „Nun, ich will nicht weiter in Euch dringen. Das Schicksal hat uns hier an diesem Ort zusammen geführt. Vielleicht bin ich sogar das Eure.“
„Wie meint Ihr das?“, fragte Marcel erstaunt.
Er verspürte einen leichten Schwindel in seinem Kopf und schrieb das dem kräftigen Rotwein zu. Der Edelmann lächelte vielsagend.
„Wenn Ihr es wagen wollt, mich auf mein Schloss zu begleiten, so werdet Ihr mehr als eines meiner Geheimnisse erfahren. Es soll Euer Schaden nicht sein.“
„Ich interessiere mich nicht für die Sterne“, meinte Marcel wenig interessiert.
„Das ist bedauerlich, denn ich könnte Euch eine viel versprechende Zukunft offerieren. Eine Zukunft, die unendlich weit offen ist.“
Bei diesem letzten Satz zogen sich die Augen des Fremden zu schmalen Schlitzen zusammen und sein Ausdruck wurde noch lauernder.
Marcel wurde aus dem Geschwätz nicht klug, aber was hatte er schließlich zu verlieren? Paris konnte auch noch einige Wochen warten.
„Wollt Ihr mich nun begleiten?“
Fast herausfordernd klang nun die Stimme des fremden Mannes.
„Jetzt, um diese Zeit?“
Es war ungewöhnlich, mitten in der Nacht auf die Reise zu gehen, außer in Notfällen, doch der seltsame Gast schien es ernst zu meinen.
„Ja, ich reise gerne in der Dunkelheit. Das ist so eine Angewohnheit von mir.“
Er lächelte wieder, setzte seinen Dreispitz auf und erhob sich. Die Schankmagd eilte herbei. Er gab ihr eine Münze in die hingehaltene Hand.
„Macht das Pferd dieses Jungen fertig und bindet es an meine Kutsche. Wir machen uns unverzüglich auf den Weg.“
Seine Stimme duldete keinen Widerspruch. Aber ihr sollte es recht sein, hatte der Wirt doch wieder ein Zimmer zu vergeben, das der Junge schon bezahlt hatte. Marcel wurde so überrumpelt, dass er nur noch wortlos aufstand und sein Gepäck aufnahm. Er folgte dem hoch gewachsenen Fremden hinaus in die Nacht. Leichte Nebelfelder hatten sich dicht über dem Boden gebildet. Nächtliche Kühle löste die Hitze des Tages ab. Die Pferde standen wieder – oder immer noch? – in dem prachtvollen Geschirr aus schwarzem Leder mit lackierten Scheuklappen. Sie schnaubten ungeduldig, schienen genau zu wissen, dass es bald losgehen würde. Der Kutscher saß in seinem Umhang mit hochgezogenem Kragen wie ein Scherenschnitt auf dem Bock, hielt die Zügel in der linken und die Peitsche in der rechten Hand. Der verschlafene Stallbusche des Schankhauses band gerade den roten Hengst an der Rückseite der Kutsche mit einem Stück Seil an. Die beiden Männer stiegen ein. Kaum war der Kutschenschlag zugefallen, knallte die Peitsche und die Pferde zogen mit einem Ruck an, dass Marcel in die weichen Polster gedrückt wurde. Die holprige Fahrt ging über flaches Land und durch vereinzelte Wälder. Nur das Geräusch der Räder und der trabenden Hufe machte den Unterschied zwischen den oft befahrenen Wegen mit den eingefrästen Spuren unzähliger Wagen und dem weichen, torfigen Waldboden. Der Nebel schien draußen immer höher zu steigen. Marcel konnte kaum noch die Landschaft erkennen. Wo, zum Teufel, befanden sie sich überhaupt? Manchmal konnte er in der Ferne das Licht eines Hauses erkennen, ansonsten war alles in Schwarz und Grau getaucht. Das gute Essen zuvor und das nun eintönige Rumpeln der Kutsche wirkten einschläfernd nach dem langen Ritt am Tage zuvor. So kam es, das Marcels Kopf zur Seite fiel und er in einen traumlosen Schlaf hinüber glitt.