Andreas Buck
Johannes Ehrmann
Turbo
Mein Wettlauf mit dem Fußballgeschäft
TROPEN SACHBUCH
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Printausgabe: ISBN 978-3-608-50469-9
E-Book: ISBN 978-3-608-12013-4
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»A very, very pacy right-sider,
the lad Buck, number 7.
They nickname him Turbo,
and he’s a bit of a flying machine.«
Stuttgart vs Leeds,
ITV Central (England), 1992
»Warum soll ich den Jungen zum
Probetraining einladen?«
»Er ist wahnsinnig schnell.«
»Wie schnell kann er schon sein?«
»Einen schnelleren Spieler hast du
noch nie gesehen.«
VfB-Manager Dieter Hoeneß
im Gespräch mit Nachwuchsleiter
Helmut Groß, 1990
»Buck, Buck, Buck, Buck!«
Fritz-Walter-Stadion,
Kaiserslautern, 1998
Der Fußball, meine Kinder und ich
Ich nehme die Autoschlüssel vom Haken und werfe mir die leichte Jacke über. Joshua kommt die Treppe herunter. Ich zwinkere ihm zu. »Hast du alles?« Er nickt. Dann sitzen wir nebeneinander im Auto. Es sind nur fünf Minuten bis zum Sportplatz, einmal quer durch den Ort.
Am Abzweig zur Hauptstraße schaue ich nach rechts. Mein Sohn wirkt entspannt. Ich steuere den Wagen langsam durch die leeren Straßen. »Versuch immer, den Ball zu kontrollieren«, sage ich zu ihm. Er nickt. »Du bist ein guter Kicker. Trau dich was!« – »Ja ja, Papa«, sagt er und dreht sich zum Fenster. – »Na, du machst das schon.«
Aus dem Augenwinkel schaue ich ihn an. Sehe ein feines Lächeln in seinem Gesicht. Ich denke daran, wie ich damals an seiner Stelle gesessen habe, neben meinem Vater, auf dem Weg zum Spiel. Wie lange ist das her, 40 Jahre? Ich spüre noch die stumme Anspannung in mir. Seinen Erwartungsdruck. Ich wusste, worum es ging. Spielte ich schlecht, sprach mein Vater manchmal den ganzen Tag nicht mehr mit mir.
Ich parke den Wagen und mache den Kofferraum auf. Joshua schnappt sich seine Sporttasche. Ich streiche ihm durch die Haare, wünsche ihm viel Glück. Dann rennt er schon los, zu seinen Kumpels von der D-Jugend, die drüben vor der Kabine warten.
Ich bleibe noch einen Moment stehen und nehme die Samstagmorgenstimmung in mich auf. Ich höre die Rufe der Zuschauer hinten am Platz und das dumpfe Geräusch des Balls, den jemand satt getroffen hat. Ich meine, den Rasen riechen zu können, aber vielleicht ist das nur die Erinnerung, die mir einen Streich spielt.
An Samstagen wie diesem kommt mir meine Vergangenheit wieder sehr nahe. Die Geräusche und Gerüche tragen mich von Joshuas Dorfverein zurück in die große Fußballwelt. Meine Welt. Lange war sie fast alles, was ich kannte. 15 Jahre lang war ich Andreas Buck, Fußballprofi. Auserwählter.
Ich sehe die Eckfahne schlaff im lauen Wind hängen, sehe mich ihr noch einmal auf der rechten Außenbahn entgegen sprinten. Ich höre den keuchenden Atem meines Gegenspielers und die Fans, die meinen Namen rufen. Buck, Buck, Buck!
Später stehe ich mit den anderen Eltern hinter der Absperrung. Ich sehe meinen Jüngsten dem Ball nachjagen. Seine schlaksigen Bewegungen, die wehenden Haare. Wie er hin und her wetzt im Mittelfeld. Er scheint nicht müde zu werden. Er ist ein Dauerläufer, der mit jedem Jahr schneller wird. Ich war der reine Sprinter. Einer der schnellsten Spieler der Bundesliga. Und dennoch sehe ich mich selbst in ihm. Bin ich nicht damals dem gleichen Traum nachgejagt wie er? Dem Traum aller Kleinen, die sich in naiver Freude begeistern an dem, was für sie wirklich noch ein Kinderspiel ist. Was sie mehr als alles andere lieben. Amateur, das heißt doch Liebhaber.
Die Wahrheit ist, ich wollte nie ein Profi sein. Habe mich nie wie einer gefühlt. Ich wollte, dass Fußball mir Spaß macht. Ein Spiel bleibt. An diesem unschuldigen Gedanken habe ich mich lange festgeklammert. Vielleicht zu lange.
Liebe ich den Fußball? Ich liebe meinen Sohn. Ich freue mich mit ihm. Will, dass er Spaß hat, dass er Erfüllung findet in diesem Sport, der so wunderbar einfach sein kann. Will ich, dass er den Traum lebt und sein Leben ganz dem Fußball verschreibt? Dass er ein Profisportler wird, wie ich einer war? Um Himmels willen, nein!
Oft schon bin ich diesen Gedanken nachgegangen. Warum nur kann ich den Fußball nicht lieben, einfach und bedingungslos? Er hat mir doch fast alles gegeben. Selbstvertrauen und Anerkennung. Die Rufe der Fans und Millionen an Gage. Ich habe wichtige Spiele gewonnen und große Titel, ich bin vor Zehntausenden in die größten Stadien Europas eingelaufen, ich war in Barcelona, London und Glasgow, in Dortmund und in München. Weil ich so schnell war, nannten sie mich Turbo.
Ich habe den Rausch geliebt, diesen Thrill des Moments, wenn der Ball, perfekt getroffen, Richtung Torwinkel fliegt und du als Erster von allen weißt, was jetzt passieren wird. Diese Zehntelsekunde, in der du auf den Jubel wartest. Diese Energie im Stadion, die du körperlich spüren kannst.
Und dieser Moment am nächsten Morgen, wenn du dich fragst, ob alles nicht doch nur ein schöner Traum war. Bis du wieder weißt, dass es stimmt. Dass alles so passiert ist und du wirklich deutscher Meister bist.
Dieses Gefühl hat mir der Fußball verschafft. Er hat mich reich gemacht und begehrt. Aber gleichzeitig hat er mich an jähe Abgründe geführt. Sportlich, menschlich, finanziell. Meine erste Ehe ist an ihm zerbrochen. Meine Töchter haben gelitten. Meine Familie. Ich habe mich blenden lassen, falschen Freunden vertraut, am Ende waren die Banken hinter mir her. Es hat nicht viel gefehlt und mein Kindertraum hätte mich zerstört.
Wie konnte das ausgerechnet mir passieren, dem grundsoliden Schwaben? Dem braven Jungen aus Geislingen, der noch mit Anfang zwanzig kaum den Mund aufkriegte vor fremden Menschen. Dem Beamtensohn und Abiturienten mit Eins im Mathe-Leistungskurs, der immer schön die Hälfte seiner Gehälter zurücklegte? Der nie ein Monatsgehalt im Casino verzockt hat, der nie auf den Gedanken kam, sich fünf Sportwagen in die Garage zu stellen?
Was ist nur schiefgelaufen? Auf dem Feld bin ich doch allen davongerannt. 10,8 Sekunden auf 100 Meter zu besten Zeiten. Ich dachte, das reicht. Das und meine Kinderstube. Sei höflich und dankbar. Sparsam und still. Mach den Leuten keine Probleme. So brachte man es doch zu was im Leben. Das lernte ein schwäbischer Bub wie ich schon früh. Genau so machten es die Mutter und der Vater und alle, die wir kannten.
Demut und Freundlichkeit? Hätte ich mich daran gehalten, ich hätte nicht ein einziges Bundesligaspiel gemacht. Das Fußballgeschäft schert sich nicht um die Regeln der Gesellschaft. Es hat seine eigene Moral. Sie widerspricht fast allem, was wir unseren Kindern fürs Leben mitzugeben versuchen. Im Fußball gewinnt der, der am wenigsten zweifelt. Der, der auch mal zutritt, wenn es nötig ist. Hier regieren die mit den wenigsten Skrupeln. Wer zweifelt, spielt nicht. Wer zu viel nachdenkt, verliert. Mitleid ist Gift, und die ärmsten Schweine kriegen die meiste Häme ab.
Mobbing ist Alltag. Egal ob Vereinsfunktionäre, Trainer oder Mitspieler – in jeder Funktion habe ich Leute erlebt, denen ethische Werte völlig egal waren. Selbst im Nachwuchsbereich wird oft schon ein ähnlicher Rahmen gesetzt.
In der E-Jugend spielte Joshuas Mannschaft um den Staffelsieg mit. Am vorletzten Spieltag kam es zum Showdown mit dem Tabellenführer. Als ein Ball schon fast im Aus war, schlug ihn ein Spieler der anderen mit aller Wucht Richtung Wald. »Super«, rief sein Trainer ihm zu, »genau richtig!« Sein Team führte 2:1. Ich stand nicht weit weg. Sonst sage ich ganz selten etwas. Nicht dass es heißt, der Ex-Profi spielt sich auf … Jetzt aber drehte ich mich zum Coach um und fragte ihn, was das solle. Er schaute mich fragend an. Fühlte sich im Recht: »Es geht hier um die Meisterschaft! Der darf den Ball so weit weg schießen, wie er kann!« Ich war fassungslos. In der E-Jugend? Das war das, was er seinen Zehnjährigen mitgeben wollte? Hauptsache, ihr setzt euch durch. Egal wie. Haben wir unseren Kindern nicht mehr zu sagen?
Als ich Profi in Stuttgart wurde, 1990, hat mich einer unserer Verteidiger zwei Mal so hart gefoult, dass jeweils die Bänder am Knöchel rissen. Noch bevor ich mein erstes Bundesligaspiel machen konnte. Ein Kollege, im Training. Unser Torwart hatte sich über ihn lustig gemacht, weil ich ihm immer davonrannte. Das machte ihn wütend. Beim dritten Mal trat ich als Erster zu. Da nahmen sie mich auf.
Ja, ich habe gelernt. Habe mich angepasst. Bin mitgeschwommen im Haifischbecken und habe Großes erlebt. Mit Stuttgart bin ich erster gesamtdeutscher Meister geworden, und dann noch einmal mit Kaiserslautern – als Aufsteiger! Was für eine unglaubliche Geschichte. Manchmal, wenn ich mit Joshua und seiner Schwester durch die Stadt gehe, spricht mich jemand darauf an. Dann bleibe ich stehen und wir erzählen ein bisschen von früher. Von ’98, den guten alten Zeiten. Hinterher fragt mein Sohn mich dann: Kanntest du den? Und ich schüttele den Kopf und muss grinsen.
Sie erinnern sich nicht mehr an mich? Das macht nichts. Ich war kein Matthäus oder Effenberg oder Basler. Zum großen Zampano tauge ich nicht. Mit der Presse habe ich nur geredet, wenn ich etwas zu sagen hatte. Ich bin nie zu den Bayern gegangen, zum FC Hollywood, wie es damals hieß. Ich hatte nie eine Kolumne in der Bild-Zeitung. Ich hocke nicht in den Fußball-Talkshows herum. Aber ich war dabei. Ich habe alles gesehen. Wie aus Bundesliga-Clubs weltweite Marken wurden. Wie Spieler und Berater an Macht gewannen. Den immer schnelleren Wandel meines Sports zum Milliardengeschäft.
Ganz vom Fußball losgekommen bin ich trotz allem nie. Ich bin noch im Geschäft, wenn auch nicht als Trainer oder Manager. Nach der Sportlerkarriere bin ich Versicherungskaufmann geworden und Finanzberater. Nun bin ich es, der den Fußballmillionären die Vermögensplanung macht. Keiner weiß, wie nah ich selbst vor dem Aus gestanden habe mit meinen tollen Immobiliendeals. Jetzt sitze ich auf der anderen Seite, am Tisch mit den Fußballstars und ihrer ganzen Entourage. Einem halben Dutzend Leute mit Euro-Zeichen in den Augen. Wenn ich eine solide Anlagestrategie vorschlage, mit wenig Spielraum für hohe Provisionen, bin ich bei vielen unten durch. So läuft das Business Fußball: Es kann nur Frieden geben, wenn alle mitverdienen.
Und dennoch: Der Fußball bewegt mich noch immer. Ich kann stundenlang darüber reden. Auf ein Champions-League-Finale freue ich mich Wochen im Voraus, und ich weiß, Millionen von Menschen geht es wie mir. Aber nur die wenigsten wissen, wie es aussieht hinter den verspiegelten Fensterfronten. Mit welchen Methoden gearbeitet wird. Wie Menschen gebrochen werden. Wie das große Geld alles mit sich reißt.
Ich habe erlebt, wie der Sport endgültig zum Big Business wurde. Ich war Fußballprofi von 1988 bis 2003. Die große Zeit der Kommerzialisierung. Als ich anfing, in der zweiten Liga in Freiburg, krabbelten dort noch Kakerlaken durch die Dusche. Mein erstes Monatsgehalt in der Bundesliga lag bei 6000 Mark. Als ich aufhörte, schüttete die Champions League zig Millionen aus. Die Spielergehälter und Transfersummen waren explodiert. Die Bayern zahlten 20 Millionen Mark Handgeld für einen einzigen Spieler. Real Madrid kaufte Jahr für Jahr einen neuen Weltstar, für 50 Millionen aufwärts. Sie waren die »Galaktischen«. Der Fußball war nicht mehr von dieser Welt.
Seitdem dreht sich das Geschäft immer schneller um sich selbst. Wenn Joshua heute mit seinen Kumpels über die großen Fußballstars spricht, geht es kaum noch um Tore und Tricks, sondern um Marken und Preise. Was verdient Messi, was hat Neymar für Schuhe angehabt? Habt ihr das neue Auto von Ronaldo bei Instagram gesehen? Wusste ich damals, was Karl Allgöwer für Kickschuhe trug? Die gleichen schwarzen Adidas wie alle anderen wahrscheinlich.
Es ist ein erbarmungsloser Wettlauf, den auch die jüngsten Spieler schon verinnerlicht haben. Einige von ihnen sind bereits mittendrin. Zehnjährige werden in so genannte Leistungszentren gelockt, die vor allem gefühlte Verlierer produzieren. Kaum einer schafft es ja wirklich am Ende in einen Profikader. Dennoch fordern die Vereine für ihre Internate immer noch mehr Sport und noch weniger Schule. Spielerberater buhlen um Teenager und verdienen später an einem einzigen Vereinswechsel Millionen. Können Sie sich vorstellen, dass ich die meiste Zeit meiner Karriere nicht mal einen Berater hatte?
Das Spiel meines Sohns ist vorbei. Joshua kommt auf mich zu, die Haare nass vom Duschen. Sie haben gewonnen. Kurz vor Schluss hatte er eine gute Chance, ein Tor zu erzielen, aber er hat vorbeigeschossen. Falls es ihn wurmt, zeigt er es nicht. Er spricht nicht davon. Zusammen laufen wir zum Parkplatz. Auf dem Weg nach Hause plaudern wir ein bisschen. Ich weiß, dass der Fußball nicht alles für ihn ist. Er hat sein Schlagzeug. Die Freunde. Das beruhigt mich.
Ich denke an die Berichte, die mein Vater damals von meinen Jugendspielen an die Geislinger Zeitung durchgab: »Das 3:0 fiel in der 56. Minute.« Alle anderen Torschützen nannte er, nur meinen Namen ließ er immer weg. Die Leute sollten bloß nicht denken, dass er seinen eigenen Sohn lobte. Es machte mich rasend.
Zeige ich meinen Kindern oft genug, dass ich stolz auf sie bin? Dass es Wichtigeres gibt als eine Eins in Mathe und ein Tor gegen den Tabellendritten?
Als Weltmeister Per Mertesacker 2018 öffentlich über den enormen Druck gesprochen hat, der auf Fußballspielern lastet, sprach er mir aus der Seele. Ich kenne alle Höhen und Tiefen der Achterbahn Profisport. War in einer Woche der Retter des deutschen Fußballs und in der nächsten der Depp der Nation. Und musste im Training gleich weiter den Macho spielen, damit niemand merkte, wie das alles an mir nagte. Reden konnte ich mit keinem. So dachte ich zumindest.
Es ist kompliziert mit dem Fußball. Wenn es läuft, wenn du fit bist, deine Leistung bringst und die Mannschaft gewinnt, dann gibt es wenig Schöneres. Du glaubst, dass du fliegen kannst. Aber wehe, wenn nicht. Dann verbündet sich die murrende Kulisse mit deinen dunklen Gedanken, und mit jedem Fehlpass wirst du kleiner und kleiner. Aus dem hochbezahlten Helden wird ein Mensch.
Ich erinnere mich an die Unterhaltung mit einem ehemaligen Mitspieler, lange nach dem Karriereende. Am Ende stand ein Satz, auf den wir uns einigen konnten: Fußball wäre ein Traumberuf, wenn nur die vielen Spiele nicht wären …
Buck lässt die Schwaben schweben. – Bucks Fehler kostet VfB Millionen. Ich habe die Schlagzeilen alle noch im Kopf. Die guten wie die schlechten.
Als wir zu Hause sind, will Joshua noch ein bisschen kicken. Wir gehen in den Garten. Ich stelle mich ins Tor. Er schnappt sich den Lederball. Ich gehe in die Hocke wie ein Torwart. Ich sehe sein konzentriertes Gesicht. Er ist mit genauso viel Eifer dabei wie vorhin im Spiel. Aber ich weiß, dass ihm das hier viel wichtiger ist. Er schießt.
Hinterher sitze ich im Schatten auf der Terrasse. Ich sehe das kleine Tor hinten vor dem Zaun. Das weiße Netz hängt reglos in der warmen Nachmittagsluft. Der Ball liegt verlassen im Gras.
Dieser Sport, dieses Business – mit all seinem Feuer und all seiner Kälte – hat mich zu dem gemacht, der ich heute bin. Ich hatte Glück. Der Fußball hat mich nicht ganz verschlungen. Heute habe ich genug Distanz, um von allem erzählen zu können. Um noch einmal nachzuvollziehen, wie alles wurde, wie es heute ist. Für Joshua, meine Kinder und all die anderen Kinder, die auch den Traum von der großen Sportkarriere träumen, weil sie denken, dass Fußballer Superhelden sind.
Für sie alle ist dieses Buch, meine Geschichte. Ich will ehrlich sein. Ich bin ein Held gewesen und ein Trottel. Ich bin noch einmal davongekommen. Und vielleicht ist es gut, dass es am Ende so schnell ging. Von einem Tag auf den anderen war alles vorbei.
Mainz 2003
Kloppo versprüht schon wieder gute Laune. Er steht da vorne im roten T-Shirt und mit Trainingshose und lacht. Macht einen Spruch, grinst in die Runde. Am Sonntag hat noch ganz Mainz geweint, weil es wieder nicht geklappt hat mit dem Aufstieg in die Bundesliga, aber wenn man dem Coach jetzt, fünf Tage später, ins Gesicht schaut, scheint es fast, als wäre das alles nie passiert. Sein Optimismus ist legendär.
Wir sitzen im engen Besprechungsraum am Bruchweg, dem Vereinsgelände des FSV Mainz 05. Es ist Ende Mai 2003, die letzte Mannschaftssitzung der Saison. Eine kurze Ansprache noch vor dem Urlaub. Neben Jürgen Klopp steht ein Flipchart. Das oberste Blatt ist leer. Vor uns liegt der kurze, wunderbare Sommer der Fußballprofis.
»Männer«, sagt Klopp, »wir kommen wieder. Und zwar richtig. Wir haben den Juni, um das Ding aus den Klamotten zu kriegen. Und dann greifen wir an. Vollgas!«
Ein Raunen geht durch die Reihen. Klopp weiß, wie er uns kriegt. Bis vor kurzem war er selbst noch ein Spieler, wir duzen ihn, er flachst mit allen herum, und doch ist seine Autorität unantastbar. Er ist kein Knurrer oder Schreihals. Er nimmt dich mit, indem er dir alles so erklärt, dass du es glaubst. Klopp ist einer, der Fußball atmet. Der dich in jedem Training an die Grenzen bringt. Intellektuell fast noch mehr als körperlich. Ich habe unter Christoph Daum trainiert, unter Jogi Löw, Otto Rehhagel und Jörg Berger. Nirgendwo waren die Einheiten annähernd so komplex und fordernd wie unter Klopp.
Der Coach ist mit seiner Ansprache durch. Er hält einen Stapel A4-Blätter hoch und klopft mit dem Handrücken darauf.
»Ihr wisst alle am besten, was euer Körper braucht. Aber wir haben’s euch trotzdem noch mal aufgeschrieben. Schönen Urlaub und bis in vier Wochen!«
Während die Jungs sich entspannen, die ersten Stühle rücken, fängt Klopp an, die individuellen Trainingspläne auszuteilen. Für jeden hat er ein Blatt dabei mit eigens zugeschnittenen Läufen und ein paar Krafteinheiten. Kloppfußball geht nicht ohne perfekte Fitness.
Die Jungs nehmen einer nach dem anderen ihren Plan entgegen, stehen auf und fangen an zu quatschen. Keiner denkt mehr an die Tränen vom Sonntag, als wir zwar 4:1 in Braunschweig gewonnen haben, aber Frankfurt in letzter Sekunde noch ein sechstes Tor gegen Reutlingen gemacht und uns vom dritten Platz der zweiten Liga verdrängt hat. Frankfurt steigt auf. Wir nicht. Wegen eines Tors. Am Sonntag hing eine dunkle Wolke über uns allen. Aber jetzt, fünf Tage später, freuen sich alle auf den Urlaub.
Klopp kommt auf mich zu. Er stellt sich neben mich und verschränkt die Arme. Ich schaue ihn an und frage mich, wo er meinen Trainingsplan hat. Klopp guckt ernst, seine gute Laune scheint verflogen. Er nestelt an seiner Brille.
»Andy, pass auf«, sagt er dann, »es gibt keinen guten Weg, dir das zu sagen. Aber keiner weiß, ob du wieder richtig fit wirst. Und dem Verein ist das finanzielle Risiko in der zweiten Liga einfach zu hoch.«
Ich starre ihn an. Er fährt sich durch die blonde Mähne, guckt kurz hoch zur Decke und dann wieder mich an. Wir sind der gleiche Jahrgang, er wird nächsten Monat 36, ich im Dezember. Für einen Trainer ist er blutjung. Für einen Spieler bin ich alt. In unserem Kader ist nur Peter Neustädter älter als ich.
Ich denke an meine verkorkste Rückrunde, meine Beinverletzung, die nie richtig ausgeheilt ist, an die drei Kurzeinsätze seit Weihnachten. Ein Abriss des Soleusmuskels. Wir Fußballer kennen alle Teile unseres Körpers, die uns je Probleme gemacht haben, beim medizinischen Namen. Es sind Begriffe, die man nicht vergisst, weil sie einen beschäftigen, für Wochen, manchmal Monate.
»Andy, es tut mir wahnsinnig leid«, sagt Klopp nach einer kurzen Pause, »aber wir können deinen Vertrag nicht verlängern.«
Ich merke, wie es um uns herum stiller wird. Die anderen Jungs kriegen mit, was passiert. Ich gucke den Coach an. Sehe seine leeren Hände.
»Kloppo …«, setze ich an und weiß dann nicht mehr weiter.
»Ich weiß«, sagt er, »ich weiß, wir hatten das alle anders geplant.«
»Es ist nur«, sage ich schließlich, »mein Karriereende hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt.«
»Verstehe ich komplett«, sagt er und legt mir die Hand auf die Schulter. »Tut mir extrem leid, wie das gelaufen ist. Vor allem weil ich vor der Winterpause, als du so aufgedreht hast, noch mal gemerkt habe, was für einen großen Qualitätsunterschied es zwischen der ersten und zweiten Liga gibt.«
Klopp schaut mich an. Es ist alles gesagt. Mainz 05 spielt noch ein Jahr zweite Liga. Und da wollen sie sich einen 35-Jährigen mit 260 Bundesligaspielen auf dem Buckel und einem lädierten Schussbein kein weiteres Jahr mehr leisten.
Klopp hält mir die Hand hin und ich schlage ein. Wir umarmen uns kurz. Dann geht der Trainer aus dem Raum. Ich bleibe stehen wie vom Blitz getroffen.
»Scheiße, Andy, das gibt’s doch nicht.« Die Jungs kommen und reden mir gut zu. »Wir hatten überhaupt keine Ahnung«, sagen sie. »Keiner wusste was.« Sandro Schwarz und Mimoun Azaouagh sind da und Jürgen Kramny, den ich länger kenne als alle anderen hier. Wir haben zusammen in Stuttgart angefangen, im Sommer 1990, das ist jetzt 13 Jahre her. Eine Ewigkeit. Zwei Bundesliga-Neulinge waren wir damals, zwei Veteranen sind wir heute. »Warum haben sie dich nicht verabschiedet?«, raunt er mir zu. Ich zucke mit den Achseln.
Ich denke an das letzte Heimspiel gegen Lübeck vorletzten Sonntag. Präsident Harald Strutz hat vor dem Anpfiff im Stadion Blumensträuße an alle Spieler verteilt, die als Abgänge feststanden. Aber damals sind eben noch alle davon ausgegangen, dass wir aufsteigen. Da lagen wir noch gut im Rennen und alle haben gehofft, dass das kleine Mainz im nächsten Jahr einen Erstliga-Etat haben würde. Aber es wurde wieder nichts. Vor einem Jahr hat Klopp und den Jungs nur ein Punkt gefehlt nach 34 Spielen. Dieses Jahr fehlte uns die Winzigkeit eines Tors.
Tausend Gedanken schießen mir durch den Kopf. Mein Einjahresvertrag, den ich letzten Sommer bei Mainz unterzeichnet habe, hat keine schriftliche Option auf eine Verlängerung. Wir hatten mündlich ausgemacht, dass wir, wenn alles gut läuft, noch ein Jahr zusammen weitermachen. Aber es ist nicht gut gelaufen.
Ich denke an die Momente nach dem Abpfiff in Braunschweig. Da hatten wir noch zwei Tore Vorsprung. Waren praktisch aufgestiegen. Aber in Frankfurt wurde noch gespielt. Als wir auf dem Platz zusammenstanden, schoss die Eintracht ein weiteres Tor. Noch waren wir vorne. Wir stellten uns im Kreis auf, irgendwer hatte ein Radio. Dann kam die Nachricht von Schurs entscheidendem Treffer.
Ein dummes, kleines Tor. Eins mehr für uns, eins weniger für die Frankfurter in 3060 Minuten dieser Saison, und sie hätten mich wahrscheinlich noch mal mitgenommen. Auf eine letzte Tour durch die Bundesliga, die ich kenne wie keiner sonst in unserem Team. Ich wäre noch mal ins Dortmunder Westfalenstadion eingelaufen und in die AOL-Arena in Hamburg, hätte noch mal zwei Spiele gegen die Bayern gemacht und mir im Berliner Olympiastadion den Hintern abgefroren. Wäre noch einmal im Mannschaftsbus den Betzenberg hochgekrochen durch die Menschenmassen in roten Trikots.
Ein mickriges Törchen, und sie hätten vielleicht gesagt: Andy, wir machen das, leistungsbezogener Vertrag, wir können deine Erfahrung da oben gut brauchen. Du warst Meister und Pokalsieger, du hast alles gesehen. Du bist unser Mann. Steig ein, los geht’s, noch eine letzte Runde auf dem Karussell.
Oder nicht?
Die Jungs verabschieden sich von mir. Dimo Wache haut mir seine riesige Pranke auf den Rücken und drückt mich. Ich murmele ein paar Worte, ein Dankeschön, schaue hierhin und dorthin, kann keinen Blickkontakt halten. Ich weiß, die meisten werde ich nicht wiedersehen.
An der Tür sehe ich Andrij Woronin stehen, unseren Topstürmer, der zum 1. FC Köln in die Bundesliga wechselt, wo es richtiges Geld zu verdienen gibt und der große Ruhm wartet. Woronin ist 22, genauso alt wie ich, als ich 1990 von Freiburg nach Stuttgart gewechselt bin, von der zweiten in die erste Liga. Ich mustere den jungen Ukrainer mit dem braungebrannten Gesicht und den hochgegelten dunkelblonden Haaren. Er lächelt, zwinkert jemandem zu. Ich weiß genau, wie er sich fühlt. Er ist jung und in der Form seines Lebens. Nach dem Sommer spielt er in der Bundesliga. Die Welt steht ihm offen. Niemand kann ihm etwas. Er denkt, er ist unverwundbar. Er kennt die Abgründe noch nicht, in die ich geblickt habe.
Draußen auf dem Parkplatz glänzt mein schwarzer CLK unter der heißen Nachmittagssonne. Ich werfe mein Zeug in den Kofferraum, schmeiße die Klappe zu und zwänge mich auf den Fahrersitz. Meine linke Wade brennt. Ich frage mich, wie der heutige Tag verlaufen wäre, wenn ich mich nicht im Wintertrainingslager verletzt hätte: Operation und vier Wochen Reha in der Schweiz. Seitdem bin ich nie mehr richtig fit geworden. Klopps Tempofußball erfordert höchste Fitness, selbst im Training. Mein Körper aber ist mit der Belastung nicht mehr fertig geworden. Ein Teufelskreis aus Spritzen, Schmerzen, Frust. Wollte ich zu viel? Was heißt zu viel? Ich wollte, was alle im Kader wollen. Spielen. Am besten von Anfang an. Dazugehören. Ein Teil des großen Ganzen sein. Aber es hat nur noch zu drei Kurzeinsätzen gereicht in der Rückrunde, 45 Minuten alles in allem. Eine Halbzeit in einem halben Jahr. Lächerlich wenig. In Braunschweig saß ich am Sonntag 90 Minuten auf der Bank. Hätte ich mehr Geduld haben müssen? Ich bin 35. Ich habe schon lange keine Zeit mehr zu verschenken.
Aber die guten Tage sind doch noch so nahe. Vor zwei Jahren habe ich mit Kaiserslautern das UEFA-Cup-Halbfinale gespielt. Und vor kaum sechs Monaten, direkt vor Weihnachten, hatte ich meine beste Phase hier in Mainz. Ich war fit, habe jedes Spiel gespielt, im Training auf vereistem Platz alle ausgetanzt. Die Jungs haben gestaunt, haben meine Nähe gesucht, wollten wissen, wie man es macht. Und Kloppo ist auf der Weihnachtsfeier mit leuchtenden Augen auf mich zugekommen: »Fünf Spiele, zwei Tore, eine Vorlage – kann man mal so machen!«
Ich merke, wie die Sonne den stehenden Wagen aufheizt. Ich drehe den Zündschlüssel, bis die Klimaanlage anspringt. Das Radio plärrt los, ich drehe es ab. Heute Morgen bin ich guter Dinge zum letzten Trainingstag der Saison aufgebrochen. Jetzt weiß ich nicht, wie es weitergehen soll. Mein Kopf dröhnt. Der Parkplatz leert sich. Ich bleibe noch ein paar Minuten so im Wagen sitzen, den kühlen Luftstrom im Gesicht und auf den Unterarmen, die Hände am Lenkrad. Ich starre ins Nichts. Dann, irgendwann, starte ich den Wagen, verlasse das Trainingsgelände und fahre zur Autobahn.
Nach und nach passiere ich die Ausfahrten zwischen Mainz und Kaiserslautern: Wörrstadt, Alzey, Freimersheim, Kirchheimbolanden … Ich fahre nach Hause. Aber was wird mich dort erwarten? Die Sonne steht tief über den Feldern und Weinhängen. Die Erinnerungen ziehen an mir vorbei wie die Kombis der Pendler auf der linken Spur.