Petra Mattfeldt

Multiversum

Roman

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

Alle Akteure dieses Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind von der Autorin nicht beabsichtigt.

Copyright © 2015 by Buntstein Verlag, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH

1. Auflage

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

Lektorat: Susanna Abt

E-Book: Mirjam Hecht

Made in Germany

ISBN: 978-3-95669-044-0

www.buntstein-verlag.de

Widmung

Für meine Familie

Mit euch ist das Universum unendlich!

Prolog

Ungläubig blickte er auf das Boot, das gekentert und kieloben treibend unter dem ruhigen Tuckern des Schleppers in den Hafen gezogen wurde. Trotz der vielen Menschen um ihn herum herrschte eine beklemmende Stille, und selbst die Möwen am Kai gaben kaum einen Laut von sich. Stumm sah der Neunjährige zu seiner Großmutter hinauf, die angespannt und mit zusammengepressten Lippen ihren Blick starr auf das verunglückte Boot gerichtet hielt. Unter Wasser konnte man das große, weiße Segel erkennen, das sich gespenstisch hin- und her bewegte. Auf den Jungen wirkte es falsch, doch auf eine schauerliche Weise auch faszinierend, das Segelboot seiner Eltern verkehrt herum durch das Wasser gleiten zu sehen.

Unfähig zu begreifen, was sich direkt vor seinen Augen abspielte, beobachtete er staunend, wie der Schlepper seitwärts anlegte und ein Helfer das Seil am Mauerpflock vertäute. Das Segel der »Birdfly« scharrte unter der Wasseroberfläche an der Hafenmauer entlang, bis die Bewegungen erstarben und der Schlepper und seine traurige Fracht ruhig auf dem Wasser lagen. Ein ihm unbekannter Mann trat heran und er hörte seine Großmutter sagen, dass es das Boot seiner Eltern sei. Doch wo waren seine Eltern? Suchend sah er sich nach ihnen um, als seine Großmutter nach seiner Hand griff und ihn sanft fortzog. Hastig warf er einen letzten Blick auf das Segel, das ihm unter Wasser zum Abschied zu winken schien. Erst jetzt erkannte er, dass es nicht der Abschied von dem Boot, sondern von seinen Eltern sein sollte.

Kapitel 1

Seine Hand zitterte, als er den Schlüssel ins Schloss gleiten ließ. Wie schon so oft. Aber dieses Mal wollte er es schaffen. Es musste einfach gelingen! Sein Atem ging schnell und er spürte jeden seiner hastigen Herzschläge in den Ohren dröhnen. Die Augen fest geschlossen begann er langsam, den Schlüssel herumzudrehen. Das erste Klicken ließ seinen Atem rascher werden. Er schluckte. Heute wollte er es schaffen. Eine weitere Umdrehung des Schlüssels – das zweite Klicken ließ ihn zusammenzucken. Nur noch ein klein wenig und die Tür würde sich öffnen lassen.

Sein Puls begann zu rasen. Er keuchte, und bei jedem eiligen Atemzug entwichen seinem Mund helle Wölkchen. Plötzlich stieg eine gewaltige Übelkeit in ihm auf. Das Pochen seines Herzschlags glich nun Hammerschlägen und Schweiß ließ seine Hand abrutschen. Schnell wischte er sie an seiner Jogginghose ab und griff entschlossen erneut nach dem Schlüssel. Kleine Lichtpunkte begannen, vor seinen Augen auf- und abzutanzen, in seinen Ohren rauschte es und der eben noch feste Boden unter seinen Füßen glich nun einer Drehscheibe, die immer schneller zu werden schien. Er versuchte sich zusammenzureißen, seinen Körper zu straffen und das Schwindelgefühl zu bekämpfen. Doch es schnürte ihm immer mehr die Brust zu, bis es ihm unmöglich wurde, zu atmen. Er konnte es einfach nicht. Nach kurzem Zögern drehte er den Schlüssel zurück und zog ihn mit einem heftigen Ruck eilig und voller Enttäuschung heraus. Kurz geriet er ins Taumeln und musste sich an der Hauswand abstützen. Dann stürzte er los, rannte weg von dem Haus, den Hügel hinunter und hielt erst inne, als er die kleine Mauer am Rande des Weges erreicht hatte. Erschöpft ließ er sich darauf niedersinken und vergrub sein Gesicht in den Händen. Es dauerte eine Weile, bis sich seine Atmung beruhigte und er in der Lage war, sich auf den Heimweg zu machen.

Erst ging er, bis seine Beine wie von selbst wieder einen leichten Laufschritt annahmen und er nach einer Weile schließlich sogar rannte. Er hatte es so sehr gewollt. Es war der erste Ferientag und er hatte sich fest vorgenommen, dass heute genau der Tag sein sollte, an dem er das erste Mal seit dem Verschwinden seiner Eltern sein früheres Zuhause betreten wollte. Doch so gut er sich auch auf diesen Moment vorbereitet hatte, packte ihn bei dem Gedanken, dorthin zurückzukehren, wo sie zusammen so glücklich gewesen waren, kalte Panik. Sechs Jahre waren seit dem Unfall vergangen, und nichts war mehr wie zuvor.

Er verlangsamte seinen Lauf und joggte nach einer Weile gleichmäßig weiter, bis er die Straße mit dem Haus erreichte, in dem er gemeinsam mit seiner Großmutter lebte. In diesem Augenblick fasste er einen Entschluss: Die Quälerei musste ein Ende haben. Er würde seine Großmutter bitten, einen Makler zu beauftragen. So schön das Anwesen seiner Eltern auch sein mochte, es würde nie mehr sein Zuhause sein.

Noch bevor er die Tür aufschloss, wurde sie von innen geöffnet.

»Guten Morgen, Tom! Nicht einmal in den Ferien schläfst du aus.«

Mary Westley schüttelte lächelnd den Kopf, als sie ihren Enkel eintreten ließ.

»Guten Morgen. Ich konnte nicht mehr schlafen und wollte mich bewegen.«

Sie griff nach seinen Schultern und sah ihm in die Augen. »Du warst wieder beim Haus, nicht wahr?«

Er nickte und sah zu Boden.

In diesem Augenblick klingelte es und ersparte ihm damit das weitere Gespräch. Rasch drehte er sich um und öffnete.

Vor der Tür stand Aurelia Johns, die Witwe des alten Tide und eine Freundin seiner Großmutter. Sie machte einen aufgewühlten, gehetzten Eindruck.

»Guten Morgen Tom, kann ich bitte mit Mary sprechen?«

Sie spähte an Tom vorbei, der die Tür ein Stück weiter öffnete.

»Aber sicher.« Er trat beiseite.

»Aurelia, was verschafft mir den frühen Besuch?« Mary hatte einen Schritt auf sie zugemacht und umarmte die Freundin. »Was ist los mit dir? Du bist ja ganz aufgewühlt. Ist etwas geschehen?«

Aurelia warf einen flüchtigen Blick auf Tom. »Eben das weiß ich nicht. Kann ich dich allein sprechen, Mary?« Sie berührte kurz Toms Arm. »Bitte verzeih.«

»Kein Problem. Ich wollte sowieso gerade duschen gehen.« Er trat an den Frauen vorbei und ging in Richtung Bad davon.

Mary hakte sich bei ihrer Freundin ein und zog sie in die Küche. »Ich mache uns erst einmal einen Tee. Du bist ja ganz blass.«

Aurelia zog die Küchentür hinter sich zu und prüfte, dass diese auch wirklich verschlossen war. »Tom sollte uns besser nicht hören.«

»Meine Güte, was ist denn los? Du klingst ja sehr geheimnisvoll.«

Aurelia zog eine kleine Schatulle aus ihrer Handtasche hervor.

»Setz dich lieber, Mary. Das musst du dir ansehen. Ich habe wirklich hin- und her überlegt, ob ich es dir zeigen soll. Mein Neffe Rick hat es heute Morgen beim Fischen aus dem Meer gezogen. Wir haben es geöffnet.« Sie hielt Mary das Kästchen entgegen. Es wies eine tiefe Einkerbung auf, die vermutlich durch das gewaltsame Öffnen entstanden war.

»Ein schöner Gegenstand, Aurelia. Aber ich bin Goldschmiedin, keine Kunstsammlerin. Ich kenne mich mit so etwas zu wenig aus, deshalb kann ich dir leider nicht sagen, ob es wertvoll ist. Außerdem ist es beschädigt. Vielleicht stammt es von einem der alten Schiffwracks, die hier in der Nähe vor langer Zeit gesunken sind. Aber wie gesagt, ich verstehe zu wenig davon. Du solltest dich an einen…«

»Nein Mary, nicht die Kiste ist das Außergewöhnliche, es ist der Inhalt«, unterbrach die Freundin sie.

»Was ist denn drin?«

»Eine Nachricht! Und ich denke, sie ist für dich und Tom. Anders kann ich es mir nicht zusammenreimen.« Sie legte ihre Hand auf Marys. »Bevor du es liest, möchte ich, dass du weißt, dass ich gezögert habe, hierher zu kommen.«

»Also jetzt machst du mich aber wirklich neugierig, Aurelia«, erwiderte Mary schmunzelnd und öffnete die Schatulle. Zum Vorschein kam ein zusammengefaltetes Blatt, das sie mit spitzen Fingern herausnahm. Es war kein gewöhnliches Papier, das erkannte Mary auf den ersten Blick. Vielmehr schien es eine Art Pergament zu sein.

»Sieht wirklich alt aus«, entfuhr es ihr.

»Lies, was draufsteht«, drängte Aurelia.

»Also gut, wenn du meinst«, sagte Mary und begann laut vorzulesen:

»Wir sind am Leben, Charles und ich – aber wir wissen nicht, wo und in welcher Zeit wir uns befinden. Derjenige, der diese Nachricht findet, soll sie bitte unserem Sohn überbringen. Tom, wir lieben dich und denken an dich.

Claire und Charles Stafford.«

Mary sackte auf ihren Stuhl. Ungläubig starrte sie auf das Blatt in ihrer zitternden Hand. Kein Ton kam über ihre Lippen. Sie musste sich an der schweren Tischplatte festhalten, denn ihr wurde schwarz vor Augen und kalte Schauer liefen ihr über den Rücken.

»Claire«, flüsterte sie schließlich, »das ist Claires Handschrift.« Mary war kreidebleich geworden und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Aber das kann doch nicht sein. Sie ist tot. Beide sind tot.« Vorsichtig legte sie das Pergament auf dem Tisch ab, konnte aber den Blick nicht von den Zeilen wenden.

Der Bootsunfall lag bereits sechs Jahre zurück. Seitdem hatte sie kein Lebenszeichen von ihnen erhalten. Sie schluckte schwer. War es möglich, dass sich jemand einen bösen Scherz mit ihr erlaubte? Panisch blickte sie zu der verschlossenen Tür hinüber. Was wäre, wenn Tom etwas davon erfahren würde? Er war noch immer nicht über den Tod seiner Eltern hinweggekommen. Wenn auch nur ein Tag verging, wo er nicht für einen Moment in tiefe Traurigkeit fiel, war es bereits ein guter Tag. Doch das kam selten vor. Wenn er diese Zeilen zu Gesicht bekäme, wie würde er reagieren? Und wie sollte es überhaupt möglich sein, dass tatsächlich Claire diese Zeilen geschrieben hatte? Und wenn es doch so war, wann hatte sie die Nachricht verfasst? Vielleicht hatten sie nach dem Unfall noch gelebt. Doch wenn Claire und Charles irgendwo an Land gespült worden wären, sodass sie die Nachricht wirklich geschrieben hatte, warum hatten sie sich nicht einfach gemeldet? Angerufen, dass es ihnen gut ging? Die Fragen pochten heftig gegen ihre Stirn. Mary blickte auf Aurelia, die ihr noch immer gegenübersaß und sie schweigend betrachtete. Führte sie vielleicht etwas im Schilde? Doch warum sollte Aurelia ihr schaden wollen? Die Gedanken hämmerten wild in ihrem Kopf.

»Kann ich dir vielleicht einen Schluck Wasser holen?« Aurelia blickte sie besorgt an. »Du bist kreidebleich.«

Mary seufzte schwer. »Bitte entschuldige Aurelia, aber ich würde jetzt gern allein sein.«

Aurelia nickte und stand auf. »Das verstehe ich gut.« Sie ging einen Schritt Richtung Tür, drehte sich aber nochmal um. »Kannst du dir das erklären?«

Mary reagierte nicht. Wie erstarrt blickte sie auf das Stück Pergament.

Aurelia legte ihr kurz die Hand auf die Schulter, ging dann zur Tür und öffnete sie. »Ruf mich an, wenn ich etwas für dich tun kann.« Mit diesen Worten verließ sie leise den Raum.

Mary griff nach dem Pergament und berührte sanft mit der Fingerspitze die Buchstaben. Tränen ließen das Papier vor ihren Augen unscharf werden. Wieder und wieder ging ihr die Frage durch den Kopf, ob sie die Nachricht Tom zeigen solle. Doch selbst wenn sie es täte, was sollte das bringen? Es würde nur die alten Wunden wieder aufreißen, die ohnehin noch nicht geschlossen waren. Und wozu? Um ihm eine kleine Hoffnung zu geben, dass seine Eltern womöglich doch noch am Leben sein könnten? Nach all den Jahren? Sie schüttelte entschlossen den Kopf. »Das führt doch zu nichts«, entschied sie laut.

»Was führt zu nichts? Und ist Aurelia schon wieder weg?«

Mary erschrak, als sie die Stimme ihres Enkels hörte. Er war unbemerkt in die Küche getreten.

»Wie bitte?«

»Was führt zu nichts? Du hast es gerade eben gesagt.«

Mary faltete hastig das Pergament zusammen und hielt es in ihrer Hand fest umschlossen.

»Was ist das?«, wollte Tom wissen.

»Was?«

»Die kleine Truhe da.« Tom trat näher. »Sowas hab ich noch nie gesehen.« Er nahm die Schatulle in die Hand und betrachtete sie von allen Seiten. »Hat Aurelia dir die gebracht?«

Mary räusperte sich. »Ja, ganz recht.«

»Wozu?«

Sie überlegte, doch ihr wollte keine passende Antwort einfallen. Dann traf sie eine Entscheidung. »Setz dich, Tom.«

»Okay.« Er zögerte, bevor er sich hinsetzte. Erst jetzt fiel ihm auf, wie ungewohnt bleich seine Großmutter aussah. »Ist alles in Ordnung mit dir? Du bist wahnsinnig blass.«

Sie suchte nach Worten, wog im Geiste ab, was sie ihm sagen oder lieber verschweigen sollte. Wie würde er es aufnehmen? Tom sah sie erwartungsvoll und aufmunternd an. Es brach ihr fast das Herz, ihn anzusehen und zu wissen, dass sie ihn gleich aufs Neue aus seiner Welt herausreißen würde. Wortlos öffnete sie ihre Hand und schob ihm die Mitteilung hin.

»Das sieht alt aus«, entfuhr es ihm. Er strich das Pergament glatt und begann leise zu lesen. Immer wieder ging er die wenigen Zeilen durch. Es schien, als könnte er den Sinn nicht verstehen. Einige Zeit verstrich, die er wie gebannt auf das Pergament starrte. Dann füllten sich seine Augen mit Tränen. Eine gewaltige Übelkeit kroch seine Kehle hinauf, und immer wieder murmelte er leise die Namen, mit denen die Nachricht unterzeichnet war: »Claire und Charles Stafford, Claire und Charles Stafford …«

»Woher…?«, stammelte er und sah seine Großmutter mit erschrocken aufgerissenen Augen an, unfähig den Satz zu beenden.

»Tom, mein Lieber«, sagte sie leise und begann zu schluchzen, »ich kann mir so gut vorstellen, wie du dich jetzt fühlen musst.« Sie machte eine kurze Pause. »Der Neffe von Aurelia hat das Kästchen beim Fischen aus dem Meer gezogen. Das Pergament war darin. Mehr weiß ich im Moment auch nicht.« Vorsichtig streichelte sie die Wange ihres Enkels. »Es könnte alles, wirklich alles bedeuten. Ich kann es mir selbst nicht erklären.« Sie drückte ihre Hände vors Gesicht und ihr Schluchzen ging in verhaltenes Weinen über.

Tom starrte noch immer auf das Pergament. Tausende Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Claire und Charles Stafford, seine Eltern. Sie lebten! Nein, genau genommen hatten sie nach dem Bootsunglück noch gelebt. Oder vielleicht lebten sie auch noch immer. Vielleicht waren sie gar nicht tot. Seine Gedanken überschlugen sich. Er hatte das Gefühl, sein Kopf würde jeden Moment zerspringen. Mit beiden Händen drückte er so fest er konnte dagegen, als könnte er dadurch wieder klar denken. Dann sah er zu seiner Großmutter auf.

»Ist das Moms Handschrift?«, fragte er mit zitternder, geradezu bettelnder Stimme und streckte Mary das Blatt entgegen. Er hatte furchtbare Angst vor der Antwort und wusste nicht, ob ihm ein Ja oder Nein lieber wäre. Er fühlte sich so elend.

Ohne einen weiteren Blick auf das Pergament zu werfen, antwortete seine Großmutter: »Ja, Tom, sie ist es. Es ist die Handschrift deiner Mutter.«

Nun schwiegen beide, saßen sich wortlos gegenüber und starrten vor sich hin. Mehr als eine halbe Stunde verging, ohne dass sie sich ansahen oder miteinander sprachen. Gedankenverloren blickten sie ins Leere. Und jedem für sich wurde eines bewusst – die Nachricht, diese wenigen Zeilen, hatten alles geändert. Sie würden nicht mehr so weiterleben können wie bisher. Was immer es kostete, sie mussten der Sache auf den Grund gehen. Und beiden wurde klar, dass sie nicht aufhören würden zu suchen, bis sie die ganze Wahrheit herausgefunden hätten.

Kapitel 2

Professor Jonathan Steiner lehnte sich zufrieden in seinem Armsessel zurück und betrachtete den in seiner Hand liegenden Klumpen von allen Seiten.

»Wer hätte das gedacht, Maximilian? Damit meine ich natürlich, wer außer mir hätte das gedacht?!«

Er sah Maximilian Winter dabei nicht an, sondern drehte das Artefakt noch einmal zufrieden hin und her.

»Komm, Maximilian, genieße gemeinsam mit mir eine Tasse Tee. Auch wenn es dafür eigentlich noch viel zu früh ist. Aber Roberta hat ihre köstlichen Zitronenplätzchen gebacken und das Geheimrezept dafür ist mit Sicherheit eine größere Erfindung als das, was alle Physiker zusammengenommen auf drei Kontinenten in den letzten fünfzig, ach was sag ich, hundert Jahren zustande gebracht haben.«

Damit stand er auf und legte väterlich die Hand auf den Rücken des gut einen Kopf größeren Maximilian.

»Woher haben Sie dieses Artefakt eigentlich, Professor? Oder wollen Sie mir das wieder nicht verraten?«

»Ohne dich kränken zu wollen, Maximilian, in der Tat möchte ich das zum jetzigen Zeitpunkt noch für mich behalten.«

Maximilian versuchte sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Gemeinsam gingen sie die paar Schritte zu dem liebevoll gepflegten Wintergarten, wo sich Chopin, der rötlich-braun getigerte Kater des Professors, genüsslich in den einfallenden Sonnenstrahlen räkelte, und nahmen an dem liebevoll dekorierten und mit zwei Gedecken versehenen Tisch Platz.

Kurze Zeit später betrat Roberta McKane mit einem Tablett in den Händen das Zimmer, und sofort durchströmte das leicht nussige Aroma des Darjeeling-Tees den ganzen Raum.

»Sie müssen die Zitronenplätzchen probieren, Mr Maximilian. Ich habe sie ganz frisch gebacken«, flötete sie und stellte den Plätzchenteller mit einem Lächeln auf den Tisch.

»Alles, was Sie zubereiten, ist köstlich!« Er zwinkerte ihr spitzbübisch zu.

»Darf ich den Tee schon eingießen?«

»Nur zu gern, Roberta. Sie verwöhnen uns, wie immer«, gab der Professor zur Antwort.

»Ja, das habe ich vor.«

Maximilian beobachtete amüsiert die Unterhaltung zwischen Professor Steiner und seiner Haushälterin. Die beiden wirkten so vertraut miteinander, dass sie ohne weiteres auch ein Ehepaar hätten abgeben können, auch wenn sie rein äußerlich so gar nicht zusammen passen wollten. Professor Jonathan Steiner war bereits über sechzig und nie ein großer Sportler gewesen. Doch er war auffallend groß und wirkte daher nicht dick, obwohl sich bei genauer Betrachtung ein kleiner Bauchansatz erkennen ließ. Seine weiß-grauen Haare waren kurz geschnitten, und durch seine Kleidung, die fast immer aus Jeans, Hemd und einer Krawatte bestand, hatte er einen gewissen jugendlichen Charme. Roberta McKane hingegen war einige Jahre jünger, wirkte jedoch nicht so. Sie war klein, etwas rundlich und trug ausschließlich Faltenröcke. Ihre Haare waren stets korrekt zum Knoten gebunden und sie zog es vor, anderen die großen Gedanken dieser Welt zu überlassen. Seit über dreißig Jahren stand sie bei dem Professor im Dienst, war ihm treu ergeben und schien sehr glücklich mit ihrer Position zu sein. Wobei Maximilian sich schon mehr als einmal gefragt hatte, ob zwischen den beiden nicht mehr war, als sie zugeben wollten. Doch es ging ihn nichts an und eine derart persönliche Frage hätte er dem Professor nie gestellt.

Als Roberta schließlich den Raum verließ, folgte ihr Professor Steiners lächelnder Blick.

»Sie ist ein Goldstück«, bemerkte er, als sie die Tür von außen geschlossen hatte, um sich erst dann wieder seinem Gegenüber zuzuwenden. »Wo waren wir stehen geblieben?«

»Das Artefakt«, half Maximilian ihm ein wenig zu hastig auf die Sprünge.

Der Professor warf ihm einen nachdenklichen, prüfenden Blick zu.

»Ach ja richtig, das Artefakt«, sagte er dann schließlich sehr gelassen. »Weißt du, Maximilian, derzeit sehe ich mich nur in der Rolle des Forschers. Es ist für die Welt auch nicht wirklich entscheidend, wann große Entdeckungen gemacht werden und den Menschen zugutekommen. Viel wichtiger ist, dass sie in der richtigen Weise gewürdigt werden können und die sich ergebenden Erkenntnisse auf fundierten Fakten beruhen. Deswegen katalogisiere und kategorisiere ich sämtliche Stücke auf wissenschaftlich korrekte Weise.«

Er machte eine kleine Pause, als überlegte er, ob er die nächste Information wirklich preisgeben sollte.

»Und ich möchte, dass du eines weißt, Maximilian. Sollte mir wider Erwarten etwas zustoßen, was auch immer es sei, so gelangt diese Sammlung in die dafür wohl am besten geeigneten Hände – in die deinen.«

Der Professor wirkte sehr zufrieden nach dieser Ankündigung. Maximilian hingegen schien verwirrt.

»Aber was sollte Ihnen denn…?«

»Das war nur laut gedacht, mein Lieber«, fiel der Professor ihm ins Wort. »Ich habe nicht vor, so schnell das Zeitliche zu segnen, das kann ich dir versichern.«

Maximilian musterte den Professor. Er fragte sich, was dieser mit seiner Bemerkung gemeint haben könnte. War es ein Test? Maximilian hatte nur mit Mühe verbergen können, dass ihn die Geheimniskrämerei des Professors geärgert, sogar ein wenig gekränkt hatte. Mehr als einmal stellte Maximilian sich die Frage, warum der Professor ihm keinen Einblick in seine Forschungsergebnisse gewährte. Vertraute er ihm nicht? Er versuchte, Haltung zu bewahren und zwang sich zu einem Lächeln. »Ich danke Ihnen, Professor. Sie wissen, dass ich Sie als Mentor betrachte und dass ich auch weiterhin von Ihnen lernen möchte. Ich werde Sie bestimmt nicht enttäuschen.«

»Genauso hatte ich mir das gedacht.« Professor Steiner lehnte sich zufrieden mit der Teetasse in der Hand in dem gemütlichen Rattan-Stuhl zurück, noch immer den Blick fest auf Maximilian gerichtet. »Weißt du, Maximilian, dass ich mich derzeit noch nicht über meine Erkenntnisse austauschen möchte, ist durchaus kein Misstrauen dir gegenüber. Ich muss nur erst meine Gedanken zu Ende bringen, bevor ich sie teile. Dafür hast du doch sicher Verständnis?«

»Natürlich, Professor«, pflichtete Maximilian mit leicht gesenktem Kopf bei. Er fühlte sich ein wenig beschämt, es war, als hätte der Professor seine Gedanken erraten.

»Ich möchte für den Moment lediglich sagen, dass mein Entschluss, den zuerst so zuversichtlich begonnenen Weg der Physik, um einen Ausflug in die Archäologie und Geschichte zu erweitern, genau richtig war. Denn nur auf diese Weise ergibt meine Arbeit ein Ganzes und der Kreis kann sich schließen.« Bei diesen Worten nippte er zufrieden an seinem Tee.

»Es tut mir leid, doch ich verstehe nicht, wie Sie das meinen, Professor.«

»Das wirst du noch, mein Lieber. Darauf gebe ich dir mein Wort.«

Maximilian Winter, der von seinem äußeren Erscheinungsbild her eher an einen Profisportler als an einen Historiker erinnerte, betrachtete Professor Steiner nachdenklich. Obwohl Winter selbst längst Dozent für Alte und Mittlere Geschichte in Cambridge war, kam er sich in Anwesenheit des Professors fast wie ein kleiner dummer Schuljunge vor. Er war sich zwar sehr wohl der Tatsache bewusst, dass das Denken und die wissenschaftlichen Erkenntnisse Professor Steiners seinen eigenen weit voraus waren. Doch er war ehrgeizig. Sehr sogar. So war er schon als Kind gewesen. Er hatte Niederlagen immer schwer einstecken können, ganz gleich, ob im Sport, privat oder im beruflichen Bereich. Nichts war ihm so verhasst wie seine Herkunft aus einfachen, kleinbürgerlichen Verhältnissen. Er hatte sich immer zu Höherem berufen gefühlt und auch wenn er es nicht gern zugab, er verachtete seine Eltern. Sein Vater besaß eine Autowerkstatt, seine Mutter war Hausfrau. Sie waren zufrieden mit ihrem einfachen Leben und hatten ihren Sohn liebevoll erzogen. Doch sie wollten nur gewöhnlich, nie besonders sein und strebten nicht nach Wissen, das ihm selbst so sehr am Herzen lag. Und doch liebte er seine Eltern, auch wenn er nur noch wenig Kontakt zu ihnen hatte. Er war in der Schule ein herausragender Ruderer gewesen, und durch den Sport und seine außergewöhnlich guten Zensuren an ein Stipendium in Cambridge gelangt. Dort hatte er Professor Steiner kennengelernt und war einer seiner Doktoranden geworden war. Seinetwegen hatte er sich für das Studienfach Geschichte entschieden und diesen Entschluss auch später nie bereut.

Dabei hatte Maximilian beobachten können, dass Professor Steiner zwar als brillant galt, er jedoch gerade unter Kollegen keineswegs unumstritten war. Tatsächlich legte Professor Steiner seinen Kollegen gegenüber auch eine unübersehbare Arroganz an den Tag und schien oft geradezu belustigt, wenn andere Professoren sich in Abhandlungen ereiferten, die Steiner schlicht für Unsinn hielt. Er galt als Querulant und Unruhestifter, bis er sich dann vor einigen Jahren immer mehr in die Forschung zurückzog.

Maximilian sah darin eine Chance für sich. Er wusste, dass es seiner Karriere nützlich sein würde, in die Forschungsprojekte des Professors eingebunden zu sein. Allerdings setzte dies voraus, dass er überhaupt Einblick in die Ergebnisse erhielt, was jedoch derzeit von dem Professor unterbunden wurde. Er gab Maximilian zwar immer wieder Artefakte, die dieser im Labor von Cambridge auf Alter, Art und Herkunft untersuchen ließ, verlor jedoch nie auch nur ein einziges Wort über die Quelle, aus der er diese Gegenstände bezog. Steiner hatte aber in den letzten Jahren derart viel zusammengetragen, dass Maximilian davon überzeugt war, eine Veröffentlichung würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Und Professor Steiner hatte ihm zugesagt, dass diese Veröffentlichung gemeinsam mit Maximilian erfolgen würde. Das könnte für ihn den Durchbruch bedeuten, dem er schon so lange entgegenfieberte.

Steiner war nicht nur Professor für Geschichte, sondern hatte außerdem einen Lehrstuhl für Physik, eine außergewöhnliche Kombination. Maximilian selbst hatte sich mit Leib und Seele dem Mittelalter verschrieben. Seine geschichtlichen Kenntnisse gingen über die der anderen Mediävisten weit hinaus. Er hatte als Jahrgangsbester mit großem Abstand vor allen anderen sein Diplom abgelegt und sprach fließend die alten Sprachen Provenzalisch, Latein, Mittelenglisch und Altfranzösisch. Und nicht nur das. Er verfügte über große Kenntnisse der Lebensweise der Menschen zu jener Zeit.

»Wann wirst du nach Cambridge zurückkehren, Maximilian?« fragte der Professor und biss genussvoll in eines der Plätzchen.

»Schon morgen. Meine Arbeit erfordert es. Außerdem werde ich mich in den nächsten Tagen mit Joseline treffen. Sie ist aus Frankreich zurück. Wir haben uns mehr als einen Monat nicht gesehen – obwohl es mir längst nicht so lange vorkommt.« Er machte ein nachdenkliches Gesicht und rieb sich, wie immer, wenn ihn etwas beschäftigte, mit Daumen und Zeigefinger das Kinn.

»Ärger mit der holden Weiblichkeit, meiner Lieber, was?« Der Professor grinste ihn an.

»Ach, wissen Sie, ich fürchte, dass Joseline und ich doch zu unterschiedlich sind. Sie interessiert sich mehr für ihre Freunde im Country-Club als für meine geschichtlichen Höhenflüge. Im Grunde kann ich es ihr nicht verdenken. Aber ich glaube, dass sie meinen Doktortitel in der Tat recht beeindruckend findet, meine Ansichten ihr dagegen ziemlich egal sind. Kurz und gut, ich fürchte, dass ich mein Verlobungsversprechen ihr gegenüber nicht einhalten kann.«

Er lehnte sich in seinem Sessel zurück, der leise knarrend sein Gewicht auffing.

»Ich sehe nicht ganz, wo das Problem liegt«, entgegnete Professor Steiner. »Heutzutage ist doch eine Verlobung nicht mehr das gleiche Heiratsversprechen wie noch vor einhundert Jahren.«

»Sie kennen mich doch«, erwiderte Maximilian. »Für mich, mit meinen etwas altmodischen Ansichten und Wertvorstellungen, ist es eben noch genau das. Vielleicht gehöre ich wirklich nicht in diese Zeit.«

»Aber, aber, nicht doch. Du wirst schon die richtige Entscheidung treffen. Außerdem bin ich der Überzeugung, dass es besser ist, jetzt einen deutlichen Schnitt zu machen, als sich dann an ein Versprechen gebunden zu fühlen und Ewigkeiten eine schreckliche Ehe zu führen. Das solltest du dir wirklich nicht antun.« Steiner rutschte in seinem Sessel nach vorn: »Sag, bist du am Abend noch hier, oder machst du dich heute noch auf den Rückweg? Solltest du noch bleiben, dann mache mir doch die Freude und bleibe zum Dinner. Roberta wird glücklich sein, ihre Kochkünste noch einem weiteren Bewunderer unter Beweis stellen zu können. Außerdem musst du mir unbedingt noch erzählen, was es so Neues in Cambridge gibt. Ein »Nein« würde ich nur sehr schwer akzeptieren.«

Der Professor lächelte Maximilian herzlich an. Das Klingeln der Haustür unterbrach ihre Unterhaltung.

»Bin unterwegs«, hörten sie Roberta flöten, während sie eiligen Schrittes die Eingangshalle durchquerte.

»Mary, Tom! Was für eine Überraschung!« Sie beugte sich vor und umarmte Mary Westley kurz. »Wollt ihr zu mir?«

Mary Westley erwiderte die Umarmung. »Guten Tag, Roberta. Nein, ehrlich gesagt würden wir gern den Professor sprechen. Ist er da?«

»Ich kann ihn leider nicht stören, Mary. Er hat bereits Besuch.«

»Es ist aber sehr wichtig!«

»Ich kann ihm ausrichten, dass du ihn sprechen möchtest. Soll er dich anrufen?«

»Es ist wirklich dringend.« Mary wollte sich unter keinen Umständen so einfach abspeisen lassen. »Gib ihm das. Bitte!« Mary streckte ihr die hölzerne Schatulle entgegen.

»Was ist das?«

»Bitte Roberta, gib es dem Professor. Wir werden hier warten.«

»Dann kommt wenigstens herein in die Eingangshalle.« Roberta hielt ihnen die Tür auf und ließ sie eintreten. Noch ehe sie dem Professor Bescheid geben konnte, verließ dieser gefolgt von Maximilian das Arbeitszimmer.

»Roberta, was ist denn? Wir haben Stimmen gehört.«

»Ja, Mr Steiner, Sie haben überraschend Besuch bekommen. Sie kennen doch sicher Mary Westley und ihren Enkel Tom Stafford?«

»Aber selbstverständlich kenne ich Mrs Westley.« Mit einem charmanten Lächeln ging er auf seinen Besuch zu. »Ich bin ein großer Bewunderer Ihrer Arbeit, gnädige Frau. Sie haben einen unverwechselbaren Stil und ich glaube, ich sage nicht zu viel, wenn ich behaupte, dass ich Ihre Schmuckstücke unter denen anderer Meister Ihres Fachs ohne Probleme herausfinden kann.«

Mary nahm das Lob lächelnd entgegen. Sie wusste sehr genau um die Qualität ihrer Arbeit. Schließlich konnte sie es sich leisten, ihren Schmuck im Gegensatz zu früher nur noch an einen einzigen Juwelier, Mr Griffert, zu verkaufen. Sie arbeiteten bereits seit Jahren zusammen und machten mit Marys Stücken einen beträchtlichen Umsatz. Sie trafen sich mindestens einmal im Monat, damit sie ihm ihre neu gezeichneten Entwürfe zeigen konnte. Gemeinsam wählten sie dann aus, was als Nächstes gefertigt wurde, wobei Mr Griffert stets bekräftigte, dass Mary seinen Rat im Grunde gar nicht bräuchte. Bei ihrem guten Geschmack ginge der Verkauf ohnehin wie von selbst.

So hatte Mary im Laufe der Jahre ein beträchtliches Vermögen angehäuft, ohne jedoch ihren Lebensstil in irgendeiner Weise zu ändern. Dennoch brachte ihr das verdiente Geld eine gewisse Unabhängigkeit, die sie genießen konnte.

»Danke, Mr Steiner«, sagte sie nun, »ich weiß Ihr Kompliment durchaus zu schätzen und freue mich sehr, dass Sie das so sehen.«

»Ich kann dir versichern, Mary, es handelt sich nicht nur um ein Lob von Mr Steiner«, schaltete sich nun auch Roberta in das Gespräch ein. »Ich habe in den letzten Jahren zu meinem Geburtstag mehr als einmal Schmuckstücke von ihm geschenkt bekommen. Ob du es glaubst oder nicht, sie stammen alle aus deiner Werkstatt.«

»Wenn das wirklich so ist, Roberta«, erwiderte sie lächelnd und drückte leicht den Arm von Roberta McKane, »werde ich mich vor deinem nächsten Geburtstag wohl mit Mr Steiner besprechen müssen und ein besonderes Stück nur für dich anfertigen.«

Tom räusperte sich deutlich hörbar, da er sich langsam fragte, wie lange sie hier wohl noch herumstehen und Nettigkeiten austauschen wollten, bevor sie dem Professor endlich ihr Anliegen vortragen konnten.

»Entschuldige, Tom!« Mary war seine Ungeduld nicht entgangen und nun bemerkte sie etwas verlegen: »Professor Steiner, mein Enkelsohn, Tom Stafford.«

Professor Steiner streckte Tom mit einem Lächeln die rechte Hand entgegen, der diese mit dem ihm eigenen, festen Händedruck ergriff. »Schön dich kennenzulernen, Tom.«

»Guten Tag, Mr Steiner. Wir müssen dringend mit Ihnen sprechen.«

Mary griff schnell nach seinem linken Arm, um ihm etwas mehr Zurückhaltung zu signalisieren. »Tom, bitte«, sagte sie mahnend, bevor sie sich erneut dem Professor zuwandte: »Sie müssen entschuldigen, doch Tom hat recht. Wir haben tatsächlich ein dringendes Anliegen.«

»Na, da machen Sie mich aber neugierig«, erwiderte Steiner.

»Es geht um die kleine Schatulle«, erklärte Mary und deutete auf das Kästchen, das Roberta noch immer in den Händen hielt. Der Professor nahm es und betrachtete es kurz.

»Interessant«, murmelte er. »Aber bitte, gehen wir doch und setzen uns, dabei spricht sich’s leichter.« Er machte eine einladende Armbewegung. »Ich darf vorausgehen, wenn Sie erlauben.«

Maximilian Winter stand noch immer an der Tür zum Arbeitszimmer. »Dann werde ich mich jetzt verabschieden«, sagte er zu Professor Steiner.

Dieser überlegte kurz. »Ich glaube, du solltest dabei sein, Maximilian.« Er drehte sich um. »Mary Westley, Tom Stafford, darf ich Sie mit Doktor Maximilian Winter bekannt machen?« Ohne die Begrüßung abzuwarten, ging er zu einem der angrenzenden Zimmer. »Wir sollten ins Esszimmer gehen. Dort haben wir mehr Platz am Tisch«, erklärte er, ließ seine Besucher eintreten und schloss dann hinter ihnen die Tür.

»Bitte, setzen Sie sich doch. Kann ich Ihnen etwas anbieten?« Steiner schaute seine Gäste fragend an.

»Nein danke, Professor, wir wollen Sie auch wirklich nicht lange stören.« Mary nahm auf einem der geraden, schlichten Holzstühle Platz und sah sich im Raum um. Die Einrichtung war sehr einfach und schien dem Mittelalter nachempfunden zu sein mit einem langen Esstisch und dunklen Holzstühlen mit Verzierungen. Zwischen den beiden großen Terrassenfenstern stand eine dunkle, mit Scharnieren beschlagene Eisentruhe, die der kleinen Schatulle ähnelte, die sie mitgebracht hatten. Es gab keine Bilder oder Grünpflanzen; nur einen Wandteppich an der Stirnseite. Professor Steiner folgte ihrem Blick.

»Ein interessanter Raum, nicht wahr? Das ist mir der liebste Raum im ganzen Haus. Wissen Sie, wenn man sich für Geschichte interessiert, erhält man ganz von selbst auch einen Einblick in die jeweilige Architektur und die individuelle Gestaltung von Räumen zu einer bestimmten Zeit. Ich habe für mich entdeckt, dass zur Zeit der großen Wende vom Mittelalter zur Renaissance der wohl interessanteste Umschwung von großen Räumen, in denen gegessen und gleichzeitig gelebt wurde, hin zur Aufteilung dieser Bereiche kam. Von da ab gab es einen bevorzugten Essraum und einen gesonderten Wohn- und Schlafbereich. Nun ja, und ich habe nicht, wie die meisten, den größten Raum des Hauses als Wohnzimmer eingerichtet, sondern als Esszimmer. Die Einrichtung ist natürlich nicht tatsächlich aus dieser Zeit, aber ich denke, der Nachbau ist meinem Tischler gut gelungen.« Er stellte die Schatulle vor sich auf den Tisch und sah, wie Maximilian den Gegenstand kritisch beäugte.

»Nun denn. Was kann ich für Sie tun?«

Mary zog das Pergament hervor, das sie in ihrer Handtausche aufbewahrt hatte, und reichte es ihm. »Wir wüssten gern, was Sie hierzu sagen.«

Steiner nahm das Blatt entgegen. Ohne es zu entfalten, wandte er sich erneut Mary zu: »Haben Sie das Pergament so gefaltet oder kam es bereits in dieser Form in Ihren Besitz?«

»Es war so in diesem Kästchen dort.« Entschuldigend fügte sie hinzu: »Die Leute, die es fanden, haben die Schatulle offenbar nicht besonders vorsichtig geöffnet.«

Professor Steiner nickte und betrachtete dann erneut das Pergament. »Sehr ungewöhnlich.«

»Es steht etwas darauf!«, meldete sich Tom zu Wort.

»Das dachte ich mir schon«, gab der Professor schmunzelnd zurück. »Es ist nur so, Tom, dass Pergament eigentlich nicht gefaltet, sondern gerollt wird. Deswegen meine Frage.«

»Und warum ist das so wichtig?«, wollte Tom wissen.

»Nun, weißt du«, der Professor lächelte, »Pergament verzeiht es nicht sehr lange, wenn man es auf und zu klappt. Es zerbricht dann. Darum rollt man es.«

Diese Erklärung leuchtete Tom ein. Er hatte sich, nachdem sie die Nachricht erhalten hatten, um alles Mögliche Gedanken gemacht, aber sicher nicht darüber, auf welche Art das Pergament zusammengelegt worden war.

Nun betrachtete der Professor das Schriftstück erneut. »Ich würde sogar so weit gehen, zu behaupten, dass zwangsläufig ein Mensch aus unserer Zeit das Pergament gefaltet und in dieser Schatulle verstaut hat. Naheliegend, denn dieser Mensch dürfte keinerlei Kenntnisse über den richtigen Umgang und die eigentliche Beschaffenheit des Materials gehabt haben.« Damit legte er das Pergament auf den Tisch.

Im selben Moment betrat Roberta McKane das Zimmer, in der Hand ein Tablett. »Erfrischt geht man leichter an Probleme heran, gleich welcher Art sie sind«, trällerte sie vergnügt und lächelte die Anwesenden an. »Das hier ist meine aus fünf Früchten hergestellte Spezialmischung, Limonade und Saft. Wirklich köstlich.«

»Vielen Dank, Roberta!«

Sie goss jedem ein Glas voll ein, murmelte etwas davon, dass sie noch so viel zu tun hatte und huschte sofort wieder aus dem Esszimmer.

Mary nahm vorsichtig das Pergament vom Tisch, entfaltete es behutsam und hielt es Professor Steiner hin. »Bitte, Mr Steiner, lesen Sie die Nachricht und sagen Sie uns, was Sie davon halten«, bat sie.

Der Professor rückte seine kleine runde Brille zurecht und begann zu lesen.

»Wie ungewöhnlich«, murmelte er leise. Dann nahm er die Schatulle in die Hand, betrachtete sie erneut und reichte sie an Maximilian weiter. »Hier bitte. Sei so nett und gib mir eine erste kurze Einschätzung.«

Maximilian spürte eine eigenartige Stimmung. Das Artefakt schien für Mary und Tom enorm wichtig zu sein, ohne dass er sich erklären konnte, weshalb. »Eine kleine Eichentruhe mit Eisenbeschlägen«, begann er und roch daran. »Mir scheint, als wäre sie kurze Zeit großer Feuchtigkeit ausgesetzt gewesen.« Er roch erneut. »Meerwasser, würde ich sagen. Kann ich sie öffnen, Mr Steiner?«

Steiner nickte.

Also hob Maximilian den Deckel vom Unterteil der Truhe ab. »Geht etwas schwer auf«, bemerkte er und verzog das Gesicht. »Ja, ich bin jetzt sicher, eindeutig Meerwasser, da besteht kein Zweifel. Sie ist aufgequollen und deshalb so schwer zu öffnen.« Während er das Kästchen in seiner Hand drehte, fuhr er fort: »Keine Scharniere, nur Beschläge. Offenbar wurde sie gewaltsam geöffnet. Die Absplitterungen an dieser Seite hier sind eindeutig noch frisch.« Er strich mit den Fingern über das Holz und stellte das Kästchen zurück auf den Tisch.

»Wo hast du sie her, Tom?«

»Nein, bitte noch nicht antworten!«, schritt der Professor ein und hob abwehrend die rechte Hand.

»Ich möchte erst mehr von dir hören, Maximilian. Zu gegebener Zeit wirst du dann alle weiteren Informationen erhalten, keine Sorge.«

»Sie wissen, woher das hier stammt?«

»Zumindest habe ich eine Ahnung«, entgegnete Steiner.

»Also gut, dann weiter.« Damit griff Maximilian nach dem Pergament, das auf dem Tisch lag.

Er entfaltete es vorsichtig, begutachtete dessen Stärke und legte es dann ausgebreitet vor sich auf den Tisch. Leise begann er den Text zu lesen.

Als er fertig war, hob er den Kopf und sah den Professor fragend an. »Merkwürdig, nicht wahr? Es passt nicht.«

»Was passt nicht?« Mary sah zwischen Maximilian und dem Professor hin und her.

»Nun ja«, begann Maximilian, »die Herstellungsart der Schatulle und die Machart und Anbringung der Beschläge passt zusammen, sowohl zeitlich als auch handwerklich.« Er drehte die Truhe erneut. »Auch das Pergament dürfte aufgrund der Stärke, Art und Färbung der gleichen Zeit zuzuordnen sein.« Gedankenverloren nahm er einen Schluck aus seinem Glas. »Was die Schreibflüssigkeit angeht, zu der kann ich so spontan nichts sagen, die müsste auf jeden Fall auf ihre Zusammensetzung hin genau untersucht werden.« Er machte eine kurze Pause. »Was jedoch überhaupt nicht zu dem allen passen will, ist die Schrift selbst, Schriftart, Federführung und natürlich nicht zuletzt die Art der Faltung. Das alles ist eindeutig modern, wie Professor Steiner schon sagte.« Er legte das Pergament wieder aufgefaltet vor sich auf den Tisch und machte eine fahrige Handbewegung. »Ja, ganz eindeutig aus unserer Zeit.«

Dann lehnte er sich zurück.

»Wie alt schätzt du ganz grob Pergament und Schatulle, Maximilian?«, wollte Professor Steiner wissen.

»Nun ja, schwer zu sagen ohne genaue Untersuchung. Ich kann wirklich nur sehr grob schätzen und selbst hier gibt es Widersprüche.« Maximilian hob nachdenklich die Augenbrauen. »Inwiefern?«, schaltete sich Tom ein.

»Es ist so, Tom – eigentlich ist die Truhe für meine erste Einschätzung zu gut erhalten. Des Weiteren irritiert mich mein Eindruck, dass sie mit Meerwasser in Berührung gekommen ist. Und zu guter Letzt müsste ich auch den genauen Fundort kennen, um ohne C-14 Test eine Schätzung abgeben zu können.« Er machte eine Pause, trank erneut und stellte dann schwungvoll sein leeres Glas auf den Tisch.

»Aber dennoch, meinem Eindruck nach, und ich betone, nur einem bloßen und vielleicht vorschnellen Eindruck nach, dürfte sie aus dem Mittelalter stammen.«

Mary und Tom sahen ihn verdutzt an. Keiner sagte ein Wort. Professor Steiner schien aufgrund dieser Aussage bester Laune zu sein und fühlte sich anscheinend bestätigt.

»Genau meine Meinung«, rief er überschwänglich aus. »Wenn es so ist, wie ich nach dem ersten Anschein vermute, könnte es in der Tat der endgültige Beweis für eine von mir vertretene Theorie sein.«

»Wie meinen Sie das?«, wollte Tom wissen.

»Bitte beantworte du mir zuerst noch eine Frage, Tom«, bat der Professor. »Aufgrund des gemeinsamen Nachnamens vermute ich, dass du mit den in der Nachricht genannten Personen in irgendeiner Verbindung stehst. Ist das richtig?«

»Es sind meine Eltern«, sagte Tom leise und ihm lief bei diesen Worten ein Schauer über den Rücken.

»Erstaunlich, wirklich erstaunlich«, entfuhr es dem Professor, der jetzt merklich aufgeregter wurde.

»Aber wie kommst du darauf, dass die Nachricht tatsächlich von deinen Eltern ist?«, fragte Maximilian. »Namensgleichheiten sind keine große Seltenheit. Was ist mit deinen Eltern, dass du so etwas annimmst und dir anscheinend ganz sicher bist?«

Tom begann zu erzählen, wie sich damals der Unfall seiner Eltern zugetragen hatte.

»Eigentlich weiß ich nicht mehr viel«, sagte er und drehte gedankenverloren die auf dem Tisch stehende Kerze in seinen Händen.