Meiner Mutter und Veronika
zum Gedächtnis
Von: lila@schlehenherz.net
An: vio@anubis.de
Betreff: miss u
liebe vio,
heute war ich auf »unserem« hochsitz, wo wir immer über gott und die welt gequatscht haben. es war ganz still, denn du warst nicht da. ich hatte deine jacke an und wenn ich den kopf drehte, konnte ich im kragen noch den schwachen duft deines parfums riechen. irgendwas mit grapefruit und ingwer. in diesem moment war es so, als würdest du neben mir sitzen. ich habe die hand ausgestreckt, aber ins leere gegriffen – natürlich.
obwohl ich es wusste, hat mich der schmerz in diesem moment wie ein faustschlag erwischt. weil es sich immer noch so anfühlt, als wärst du da. weil ich deine jacke trage, die nach dir riecht. weil ich genau weiß, wie du am telefon klingst. »süße, ich bin’s, viiiio!« – ich kann deine stimme so deutlich hören, als würdest du in dieser sekunde mit mir sprechen.
hier auf dem hochsitz haben wir oft stundenlang gehockt und gequatscht. hier hast du mir von deinen bildern erzählt. hier hab ich dein t-shirt nassgeheult, weil till aus der elften mich links liegen ließ und auf dem schulhof mit der dummen zicke nessie rumknutschte. uns gingen die themen nie aus. eine von uns musste nur ein stichwort sagen – und dann prusteten wir beide los. insiderwitze, die sonst niemand kapierte.
vio und lila, die unzertrennlichen. wir kannten uns in- und auswendig, wussten alles voneinander. dachte ich.
als du auf einmal verschwunden warst, hab ich geahnt, dass es etwas gibt, das ich nicht von dir weiß, etwas, das du mir verschwiegen hast.
und jetzt bist du fort.
ich bin bis zur dämmerung auf dem hochsitz geblieben. die untergehende sonne hat die wolken graugoldorange gefärbt, und ich hab mich gefragt, ob es so im himmel aussieht.
sieht es da so aus, vio? gibt es überhaupt einen himmel? tut sterben weh oder geht man tatsächlich in ein helles licht und ist dann für immer glücklich?
über den tod haben wir nie geredet. warum auch? wir wollten doch leben und nicht sterben. ich glaube, wir haben tatsächlich geglaubt, so was wie der tod würde uns nie passieren. aber jetzt liegst du in einem grab auf dem friedhof und ich kann immer nur denken: wer hat dir das angetan?
lila
»Lila, nun warte doch mal!« Ich hörte Vios hastige Schritte hinter mir und musste lachen. Konnte sie sich also doch beeilen, wenn sie wollte! Hinter meinem Rücken keuchte es: »Ok, es tut mir leid. Ich habe nicht verdient, dass du auf mich wartest. Ich schwöre, ich werde mich bessern.«
Jetzt war Vio an meiner Seite und ich sah aus dem Augenwinkel, dass sie grinste wie ein Kobold. Sie glaubte genauso wenig an ihren Schwur wie ich. Vio war unverbesserlich. Oft stand ich vor ihrem Haus, um sie zur Schule abholen, und sie war gerade erst aus dem Bett gekrochen! Klar, wenn Vio dann endlich geduscht, angezogen und geschminkt war, kamen wir regelmäßig zur ersten Stunde zehn Minuten zu spät. Mindestens.
Den Anpfiff von den Lehrern kriegten wir beide, aber nur ich ärgerte mich darüber. Vio grinste ihnen nur frech ins Gesicht, ging zu ihrem Platz und hatte die Standpauke vergessen, ehe ihr jeansbekleideter Hintern den Stuhl berührte. Also beschloss ich, den Spieß umzudrehen.
Als ich Vio an diesem Morgen noch im Schlafanzug antraf, ging ich einfach los, ohne auf sie zu warten. Ich war noch nicht mal zehn Schritte weit, als Vio aus der Haustür geschossen kam, als hätte sie einen Turbo an ihren Flipflops. Die Kette um ihren Hals hüpfte wild auf und ab, als sie mich einzuholen versuchte. An der Kette hing Anubis, der ägyptische Totengott. Besser gesagt, eine Miniatur von ihm. An Anubis hatte Vio einen Narren gefressen. Keine Ahnung, warum, normalerweise hatten wir beide es nicht so mit Mystik und diesem Kram. Aber als Vio damals bei dem Straßenfest an einem der Schmuckstände den Anhänger mit dem Schakalkopf sah, zückte sie sofort ihre Geldbörse und opferte ihr ganzes Geld für das viel zu teure Schmuckstück. Seitdem tat sie ohne diese Kette keinen Schritt mehr.
Jeder ihren Tick. Dafür ging ich nie ohne meinen Ring mit dem Mondstein aus dem Haus. Ich glaubte fest, dass er mir Glück brachte. Bei diesem Gedanken fasste ich unwillkürlich an meinen Finger und merkte prompt, dass ich den Ring heute zu Hause vergessen hatte. Mist, hoffentlich brachte mir das kein Pech. Ich hatte noch nicht mal zu Ende gedacht, als Vio neben mir ächzte: »Och nee, ausgerechnet der jetzt!«
Ich blickte in die gleiche Richtung wie Vio und sah etwas Blaues aus der Seitengasse auf uns zukommen. Grover im Anmarsch. Eigentlich hieß er Jonas und ging in unsere Klasse. Aber weil er auf Punk machte und sich die Haare blau färbte, nannten ihn alle nur »Grover«, wie die Figur aus der Sesamstraße. Er hatte Glück, dass er den englischen Spitznamen verpasst bekam, auf Deutsch hieß die knallblaue Puppenfigur nämlich »Grobi«.
Eigentlich war Grover ganz nett, was man im ersten Moment nicht vermutete, wenn er in seiner nietenbesetzten Lederjacke, den total zerrissenen Jeans und den ausgelatschten Chucks – rechts dunkelgrün, links knallrot –auftauchte. »Nett ist die kleine Schwester von Scheiße«, sagte Vio immer, wenn ich jemanden so bezeichnete. Scheiße fand ich Grover zwar nicht, aber ganz ehrlich: Mit seiner blauen Matte auf dem Kopf und seiner etwas zu großen Nase war er nicht gerade mein Typ. Immerhin hatte er schöne Augen, grau mit dichten schwarzen Wimpern. Wir sagten »Hallo«, wenn wir uns sahen, einmal hatte er ganz vorsichtig gefragt, welche Musik ich gerne hörte, aber ich blockte alle Small-Talk-Versuche von ihm ab. Na ja, und dann war da noch die Sache mit der CD, aber davon habe ich nicht mal Vio erzählt. Aber jetzt schoss Grover wie eine blaue Farbwolke um die Ecke und ignorieren war unmöglich. »Hi«, sagte er und grinste uns freundlich an.
»Hi«, murmelte ich, den Blick auf seine zweifarbigen Turnschuhe gerichtet.
»Hi Grover, lange nicht gesehen. Hast du blaugemacht?«, fragte Vio, und obwohl ich sie nicht ansah, konnte ich ihr breites Grinsen förmlich fühlen. Grover nahm es locker, er lachte und fasste in seine Haare, die wie ein farbiger Flokati wild in alle Richtungen standen.
»Schwester, du kannst nur beten, dass du unter deinem blonden Scheitel so viel Grips hast wie ich hier«, sagte er feierlich. »Die Gärtner schreibt heute ’ne Stegreifaufgabe in Bio, die sich gewaschen hat!«
»Was?«, schrie Vio auf, »’ne Bio-Ex? Mann, ich werde total verkacken!« Was bei Vio nichts Neues war. Dass sie erst einmal eine Klasse wiederholen hatte müssen, war eigentlich ein Wunder. Nicht, dass ich mir wünschte, sie würde noch mal sitzen bleiben. Immerhin hatte ihr katastrophales Zeugnis sie vor zwei Jahren zum Wiederholen der siebten Klasse gezwungen und sie war in meinem Jahrgang gelandet, worüber wir beide happy waren.
»Woher weißt ’n das?«, fragte Vio Grover und leise Panik schlich sich in ihre Stimme.
Grover lächelte wie die Sphinx persönlich. »Intuition, Schwester!«, sagte er geheimnisvoll und schlenderte mit einem »See you later, alligator« davon.
Vio blickte ihm finster nach. »Angeber. Ich wette, der wollte uns nur Angst einjagen.« Dann warf sie mir einen schrägen Blick zu. »Aber … falls das mit dem Test stimmt, könnte ich dann …?«
Ich seufzte und nickte. Abschreiben. Logisch. Das war nämlich der Grund, wieso Vio bisher kein zweites Mal kleben geblieben war. Ich paukte den Stoff – und Vio schrieb ihn ab. So war es und so würde es wohl immer sein. Trotzdem nervte es manchmal. Jetzt zum Beispiel.
»Warum kannst du eigentlich nicht einmal selber lernen?«, traute ich mich aufzumucken.
Vio lächelte von ihren 1,75 Metern gönnerhaft auf mich herunter: »Weil du mir vor fünf Jahren fast den Schädel eingeschlagen hast, meine Süße. Seitdem bin ich irgendwie – so vergesslich!«
Ich verdrehte die Augen. Immer kam sie mir mit dieser ollen Kamelle!
Kennengelernt hatten wir uns nämlich auf einem Ponyhof ganz in der Nähe. Im Gegensatz zu anderen besten Freundinnen waren wir uns aber anfangs gar nicht grün gewesen. Ich hielt Vio für eine eingebildete Ziege mit ihren langen, damals blonden Haaren, die beim Trab und Galopp immer filmreif unterm Reiterhelm wehten. Und sie mich für eine kleine Streberin, weil ich nach drei Monaten schon in die Fortgeschrittenen-Gruppe durfte. Wir mieden uns wie die Pest. Bis zu dem Tag, als ich und ein paar andere Reitschüler in der leeren Halle herumblödelten. Ich wirbelte zum Spaß einen Halfterstrick wie ein Lasso herum. Leider mit dem Ende nach vorn, an dem der massive Eisenhaken befestigt war, der normalerweise ins Pferdehalfter gehakt wird.
Ich schwöre, dass ich Vio nicht gesehen habe. Ich hörte nur einen Schrei und dann hielt sich Vio den Kopf. Ein Büschel ihrer blonden Haare färbte sich erschreckend schnell rot. Sie war voll in den Radius meines »Lassos« gelaufen und das Eisenteil hatte ihr eine ordentliche Platzwunde beschert. Doch Vio war hart im Nehmen. Als unser Reitlehrer ihr eine Mullkompresse anlegte, um sie notdürftig zu versorgen, ehe er sie zum Arzt fuhr, vergoss sie keine einzige Träne. Dafür heulte ich wie ein Schlosshund, vor Schreck und schlechtem Gewissen.
»Mann«, sagte Vio und musterte mich streng, während Desinfektionsmittel und Blut an ihrer Schläfe herunterliefen und sich auf ihrer Wange zu einem hellroten Rinnsal vermischten, »beim Halfterstrick-Schleudern gehörst du eindeutig nicht zu den Fortgeschrittenen!«
Obwohl mir die Tränen noch aus den Augen liefen, musste ich lachen und Vio lachte mit. Seitdem waren wir unzertrennlich. Sogar unsere Namen passten zueinander. »Lila und Violett gehören doch auch zur selben Familie der Farben«, lautete Vios Begründung. Und was Vio sagte, galt.
»Sag mal, hatte Grover heute Morgen seine Kontaktlinsen vergessen oder warum hat er dich so angestarrt?«
Vio hatte nicht nur eine spitze Zunge, sondern zu meinem Leidwesen auch scharfe Augen. Ich zog es vor, mit möglichst unschuldigem Blick die Schultern zu heben: »Weiß ich doch nicht!«
Genauso erfolglos hätte ich versuchen können, einer Horde Pinguine zehn Flaschen Sonnenmilch anzudrehen. Wenn’s drauf ankam, konnte ich einfach nicht lügen.
Vio brachte ihr Gesicht zwanzig Zentimeter vor meines und starrte mir in die Augen: »Lila …?! Läuft da etwa was zwischen dem Blauhelm und dir?«
Ich entschloss mich notgedrungen für die Wahrheit: »Nein, da läuft nichts. Grover hat mir nur neulich mal ’ne CD gebrannt.«
Vio blieb stehen und starrte mich an: »Der glaubt aber nicht im Ernst, du stehst auf Punkrock, oder?«
Ich zog mein Lauftempo an und sagte möglichst beiläufig »Nee, ist ’ne Schostakowitsch-CD!«
Vio hielt eisern mit mir Schritt. »Schosta… häh? Russendisco, oder was?«
Ich blieb genervt stehen. »Mann, Vio! Schostakowitsch war einer der berühmtesten Komponisten Russlands! Klassik … Oper, Ballett, kapiert?«
Erst als ich Vios breites Grinsen sah, wusste ich: Sie hatte mich voll auflaufen lassen. Ich musste lachen: »Du bist so blöd!«, sagte ich und knuffte sie.
»Du willst aber nichts von dem Typen, oder?«, versicherte sich Vio und blickte mich von der Seite an.
»Nee, Quatsch, ich steh nicht auf Jungs, die am Morgen schon blau sind!«, sagte ich mit todernstem Gesicht.
Daraufhin brachen wir beide in schallendes Gelächter aus.
Ehrensache, dass ich Vio später abschreiben ließ. Die Gärtner hatte tatsächlich eine Bio-Ex verkündet und ein Aufstöhnen war durch die Klasse gegangen. Als wir – in affenkurzer Zeit – abgeben mussten, blieb mein Blick an Grover hängen. Der blickte scheinbar unbeteiligt aus dem Fenster. Nur die Andeutung eines zufriedenen Grinsens und die Erinnerung an sein Verhalten heute Morgen machten mich stutzig: Wie zum Kuckuck hatte er von der überraschend angesetzten Arbeit Wind bekommen?
»Wahrscheinlich hat Grover was mit der Gärtner. Deswegen weiß er immer im Voraus, wann eine Ex fällig wird«, witzelte Vio. Aber ich spürte, dass sie mich ein bisschen lauernd musterte.
Es war Pause, und wir standen in der Schlange vorm Schulkiosk, um unsere tägliche Ration Ungesundes in Form von Schokoriegeln, Hotdogs oder Donuts abzuholen. Die Schlange war lang und der Verkäufer, der immer stumm bediente, nicht der Schnellste. Ich verzog keine Miene und antwortete nur gelangweilt: »Logisch. Die Gärtner ist ja auch erst fünfundfünfzig. Und mit neunzig Kilo ein flotter Brummer. Da hat sich Grover bestimmt unsterblich verknallt.«
Wir blickten uns an – und gackerten los. Vio war wieder obenauf. Dank meiner Hilfe bei dem Test heute war sie in Bio für die nächste Zeit aus dem Schneider. Als hätte sie meine Gedanken gelesen, legte Vio mir den rechten Arm um den Nacken und drückte mich kurz an sich: »Danke, Schatz! Du hast echt was gut bei mir!«
Ich musste lächeln. Auf eine schulische Gegenleistung konnte ich bei ihr zwar nicht hoffen, aber bestimmt würde mir Vio mal was Süßes in meine Schulmappe stecken oder mir eine DVD brennen. Illegal natürlich, aber ich schaute mir die Filme ja nur zu Hause an.
»Wenn ihr hier noch länger herumsteht, ohne was zu kaufen, will ich eure Stellplatzgenehmigung sehen!«
Schon wieder Grover. Er war hinter uns aufgetaucht und konnte sich einen Spruch offenbar nicht verkneifen. Ich beeilte mich, am Kiosk eine Kornstange zu verlangen. Vio schüttelte den Kopf, als ich sie fragend musterte. »Hab keinen Hunger«, behauptete sie.
Aber als ich ihr mein Gebäck hinhielt, verschwand mit einem Biss fast ein Viertel der Kornstange zwischen Vios Kiefern.
»Wie isses heute? Kommst du nach dem Essen zu mir – Hausaufgaben machen und danach draußen chillen?«, fragte ich kauend.
»Ja, iss du mal schön, ich schau dann später vorbei«, meinte Vio. Obwohl ihre Stimme cool klang, sah sie mich nicht an, sondern starrte auf den Boden.
Ich schluckte. Arbeitete ihre Mutter also mal wieder bis in die Puppen in der Praxis. Vio tat zwar immer, als fände sie es super, den ganzen Tag sturmfreie Bude zu haben. Nur ich wusste, dass sie mich manchmal um meine Halbtagsjob-Mutter beneidete, auch wenn sie mich mit der »elterlichen Kontrollinstanz« zu Hause aufzog. Ich fand es aber meist ganz schön, mit meiner Mutter nach der Schule quatschen zu können – und ein leckeres Essen auf dem Teller zu haben. Wenn Vio die Haustür aufschloss, wartete nichts als Stille – und die Mikrowelle.
»He, bevor du dir wieder ’ne Dose Ravioli aufmachst … meine Mutter macht heute Schinkennudeln mit Salat. Komm doch mit, bleibt sowieso immer viel zu viel übrig«, meinte ich betont lässig.
Vios Mundwinkel hoben sich bis fast zu den Ohren: »Aber nur, wenn’s auch Ketchup gibt.«
»Guck mal, wie findest du die?«, hörte ich Vio fragen.
Ich öffnete träge die Augen und blinzelte ins späte Septemberlicht, das in schrägen Strahlen durch feine Schleierwolken fiel. Mein Bauch war voller Schinkennudeln, die Hausaufgaben erledigt, was wollte man mehr? Doch Vio wedelte mit einer Zeitschrift vor meiner Nase herum. Ich sah, dass sie mit Kuli einen Kreis um eine schwarze Hose aus weichem Leder gemalt hatte.
»Träum weiter!«, murmelte ich.
Immer kaufte Vio diese Hefte von ihrem spärlichen Taschengeld. Sie war verrückt nach Mode, obwohl das Zeug auf den bunten Seiten für uns beide so unerschwinglich wie ein Luxustrip auf die Malediven war.
»Wirst schon sehen – sobald ich einen Millionär gefunden hab, laufe ich nur noch in solchen Klamotten rum«, sagte Vio.
»Und wie willst du den finden – etwa im Internet in einem deiner beknackten Chat-Foren?«, zog ich sie auf.
Vio hatte ein, zwei Mal versucht, mich für verschiedene Onlineplattformen zu begeistern, aber mich langweilten Facebook und Co. Ich fand, da trieben sich nur Dampfplauderer und aufgeblasene Selbstdarsteller herum. Ich hatte keine Lust, Einträge wie »XY war zwei Stunden joggen und isst heute Abend noch ein rohes Steak« zu lesen. Geschweige denn, darauf zu antworten.
Vio aber machte sich einen Spaß draus, solche Blender herauszufischen und dann vor allen anderen Forumteilnehmern mit Vio-typischen Sprüchen hochzunehmen. Echte Millionäre trieben sich da sicher nicht herum. Und wenn, würde sie bestimmt Vios spitze Zunge in die Flucht schlagen. Trotzdem konnte ich es nicht lassen, die seltene Gelegenheit zu nutzen, Vio aufzuziehen. »Iiih, du würdest also einen reichen alten Sack heiraten, nur wegen der Klamotten?«, fragte ich.
»Bist du bescheuert, wer redet vom Heiraten? Ich lass mich adoptieren«, sagte Vio und lachte.
Ich gähnte und schloss wieder die Augen. Die Herbstsonne wärmte noch richtig doll hier oben auf dem Hochsitz – »unserem« Hochsitz. Verborgen hinter ein paar struppigen Schlehenbüschen und zerzausten Weiden stand der bretterverschlagene Jägersitz, der sich nach vorn zu einer sonnenbeschienenen Lichtung mit weitem Blick über das Murnauer Moor öffnete.
Niemand wusste von Vios und meinem Geheimplatz. Meine Mutter sah es nicht gern, wenn ich im Wald oder in den Moorwiesen »herumstrolchte«, wie sie sagte. Vor allem, seit vor drei Monaten im Nachbarort ein vierzehnjähriges Mädchen auf dem Heimweg von der Klavierstunde vom Rad gezerrt worden war, als sie einen von Büschen gesäumten Hohlweg entlangfuhr. Der Täter war maskiert und konnte bislang nicht gefasst werden. Die Polizei versuchte zwar, die Sensationsreporter abzuwimmeln, doch die Presse berichtete natürlich über das Verbrechen. Zwar wurde die Identität des Opfers geheim gehalten, trotzdem sickerte durch: Das Mädchen wurde vergewaltigt. Nur war ich ja nicht alleine unterwegs, sondern mit Vio. Und mit ihr an meiner Seite würde mir nichts passieren. Zu zweit waren wir unangreifbar. Und kein Mensch sah uns, wenn wir Stunden hier oben verbrachten. Meistens quatschten wir über die Schule oder über Jungs, manchmal wollte ich aber einfach nur ein bisschen chillen. So wie jetzt. Zwei Minuten war Ruhe, dann raschelte es wieder aufdringlich vor meinem Gesicht.
»Vio …«, begann ich drohend und öffnete erneut die Augen. Eine Lila mit Augen, die Blitze schleuderten, und übertrieben gefletschten Zähnen grinste mir vom herausgerissenen Blatt eines Spiralblocks entgegen. Die Karikatur war gut getroffen und ich musste kichern. Im Zeichnen war Vio einfach unschlagbar. Kunst war das einzige Fach, in dem sie immer die Bestnote absahnte, und der Kunstlehrer wahrscheinlich der Einzige im ganzen Lehrerkollegium, der Vio gut leiden konnte.
»Hey, du könntest nach Paris gehen. Am Montmartre machen Maler mit solchen Karikaturen sicher eine Menge Kohle«, meinte ich und nahm Vio das Blatt aus der Hand.
Ich war mit meinen Eltern mal ein paar Tage in Frankreich gewesen. Meine Mutter war damals im sechsten Monat schwanger mit meinem kleinen Bruder Julius. Inzwischen hatte der sich zu einer dreijährigen Nervensäge entwickelt – eine Städtereise konnten wir uns momentan abschminken. Jetzt planten meine Eltern vier Tage Urlaub auf dem Bauernhof. Mit Julius. Ohne mich, glücklicherweise.
Meine Gedanken kehrten zu Vios Zeichnung zurück. Echt der Hammer, wie sie mein Gesicht mit wenigen Strichen ihres Kulis hingekriegt hatte.
Vio seufzte sehnsüchtig. »Paris, das wär’s – da würde ich gern Kunst studieren«, sagte sie. Ihre Stimme wurde eifrig: »Und du könntest an die Sorbonne gehen, um dort Sprachen oder so was zu studieren. Das Quartier Latin ist total angesagt!«
Ich war ehrlich überrascht, dass Vio wusste, in welchem Viertel die Sorbonne lag und was man dort studieren konnte. Sie bemerkte mein Erstaunen und musterte mich strafend. »Denkst du, ich bin blöd? Natürlich hab ich mich mit Paris beschäftigt! Alle waren zum Malen dort! Franz Marc, August Macke, Klee, Kandinsky …«
Vio ratterte die Namen der berühmten Maler, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts zur Künstlervereinigung »Der Blaue Reiter« zusammengeschlossen hatten, herunter. Viele von ihnen waren in Murnau zu Gast gewesen und hatten hier gemalt: bei der Malerin Gabriele Münter, in deren Haus, das mitten im Ort stand und heute ein kleines Museum war. Vio ließ man inzwischen umsonst rein. Sie kam fast jede Woche und konnte sich an den Bildern nicht sattsehen.
Von: lila@schlehenherz.net
An: vio@anubis.de
Betreff: paris
liebe vio,
wenn ich an dich denke, dann will ich nicht deinen schlichten, mit weißen lilien geschmückten sarg vor mir sehen, sondern ich versuche, mir dich in paris vorzustellen: wie du in einem langen, taillierten mantel die champs-élysées entlanggehst, deinen zeichenblock und einen hölzernen kasten mit kohlestiften unter dem arm.
du hattest schon ganz konkrete pläne, wie unser leben nach dem abi in paris aussehen sollte: eine wohnung im quartier latin würden wir uns nehmen und jeden tag café au lait trinken.
»und morgens kaufen wir ganz frisches baguette, lila! das essen wir dann am abend zum rotwein, wenn wir auf unserem balkon sitzen. du weißt schon, so einer mit verschnörkeltem, schmiedeeisernem geländer, wo wir über die dächer von paris sehen können!«
liebe vio, ich werde nie nach paris gehen, denn bei jedem schritt würde ich daran denken, dass du nicht bei mir bist. wie im märchen von der kleinen meerjungfrau würde sich jeder schritt wie ein schnitt mit einem scharfen messer anfühlen, der mitten durchs herz geht. sagt man nicht, paris ist die stadt der liebe? für mich wird ab jetzt paris die stadt sein, die mich immer dran erinnert, dass ich dich nie wiedersehen werde. und das schlimmste: ich bin vielleicht schuld daran.
deine lila
Am nächsten Tag, als wir vorm Schulkiosk standen und warteten, bis wir drankamen, zog Vio den Ausdruck einer Internetseite aus ihrer Tasche und wedelte triumphierend damit herum. Ich schnappte ihn mir und las die Überschrift: »Studiengänge an der Sorbonne«. Ich muss Vio verständnislos angesehen haben, denn sie schnaubte empört: »Du hast jetzt nicht vergessen, was wir gestern wegen Paris besprochen haben, oder?«
Ich beeilte mich, den Kopf zu schütteln. Vergessen hatte ich es nicht, nur nicht ernst genommen.
»Na, was plant ihr beiden – die Weltherrschaft?«, ertönte es hinter uns. Wir fuhren herum. Schon wieder Grover.
»Nichts, Frauengespräche«, raunzte ich ihn an und steckte schnell Vios Papier in meine Schultasche. Er grinste nur. Ihn brachte wohl so schnell nichts aus der Fassung.
»Ach so – da kann ich natürlich nicht mitreden«, spöttelte er, klang aber freundlich.
»Genau, Blauspecht. Wenn du bei uns mitmachen willst, lass ’ne Geschlechtsumwandlung machen«, maulte Vio ihn an.
Grover grinste: »Wenn ich dann so zickig werde wie du – nee danke«, meinte er und schlenderte davon.
Vio, nicht gewöhnt, dass ihr jemand Kontra gab, starrte ihm eine Sekunde sprachlos hinterher. Doch dann verdrehte sie die Augen: »Die Typen haben doch echt alle einen an der Waffel. Bin ich froh, wenn ich in drei Jahren hier endlich raus bin und keine von den Nasen mehr sehen muss.«
Ich zuckte nur mit den Schultern. Im Gegensatz zu Vio fand ich Schule nicht so schlimm. Aber natürlich war die Vorstellung, zu zweit nach Paris zu gehen, viel verlockender. Nur: Drei Jahre waren lang.
Doch Vio war Feuer und Flamme für ihre Paris-Idee. Sie lehnte sich weit über die Kiosktheke und sagte mit übertrieben französischem Akzent: »Isch möschte einö Croissant – und zwar rapide! Merci.«
Dabei warf Vio dem Verkäufer einen übertrieben verruchten Blick zu. Dessen rundes Mopsgesicht lief unter seinen spärlichen blonden Haaren rosa an. Vio warf nonchalant einen Euro auf die Theke. Dann nahm sie das Croissant, rupfte es in zwei Hälften und hielt mir die eine energisch hin. »Hier – kleiner Vorgeschmack auf Paris.« In diesem Moment hätte ich Vio umarmen können. Ich biss in die knusprige Croissantspitze.
»Ob du dich noch an mich erinnerst, wenn du mal eine reiche und berühmte Malerin bist und Ausstellungen auf der ganzen Welt hast?«, sinnierte ich.
Vio starrte mich einen Moment erstaunt an, dann gab sie mir eine leichte Kopfnuss: »Natürlich, du Dummerchen. Wir bleiben immer Freundinnen!«, sagte sie und witzelte: »Bis dass der Tod uns scheidet.«
Wir ahnten nicht, wie bald es schon so weit sein würde.
* * *
Er legte das Büchlein von dieser Else Lasker-Schüler beiseite und schloss die Augen. Die Worte des Gedichts, das er eben gelesen hatte, tanzten hinter seinen geschlossenen Lidern einen irren Ringelreihen und der Rhythmus der Reime trommelte in seinem Kopf:
Es brennt der Keim im zitternden Grün
Und Funken, die aus dem Jenseits sprüh’n
Umschmeicheln den Sturmwind aus Nordost.
Als eine Natter kam ich zur Welt
Und das Böse lodert und steigt und quellt.
Ich hasse das Leben und dich und euch.
Durch mein Irrlichtauge verirrt ihr euch in mein Reich.
Die Schlange, der Teufel vom Paradies, ist in mir auferstanden.
Und umfängt die Nacht mit grausigen Banden.
Ja, dachte er, genau so ist es. Er hasste alle Mädchen. Wie sie ständig kicherten und er wusste genau: Sie kicherten über ihn. Vielleicht wegen seines Aussehens oder deswegen, wie er sich kleidete. Aber sie waren so dumm, so ahnungslos. Doch er war klug. Und schnell. Wie damals im Hohlweg. Er war aus den Büschen hervorgesprungen wie ein Wolf, der seine Beute reißt. Und nichts anderes war das Mädchen auf dem Fahrrad gewesen: leichte Beute. Er war nicht verrückt – er war klarer im Kopf als sie alle. Und raffinierter. Niemand hatte ihn im Verdacht.
»Lila, hallo, aufwachen!«
Ich schreckte hoch und starrte Vio an. Es hatte zum Ende der Pause geläutet und ich hatte es nicht gehört.
»Ich hab dich gerade gefragt, ob wir uns morgen Nachmittag bei dir treffen wollen – Klamotten probieren für die Schulparty!«
»Äh ja, klar«, erwiderte ich zerstreut.
Seit Tagen gab es in unserem Gymnasium kein anderes Thema mehr. Die ganze Woche waren viele Freiwillige nach der Schule länger geblieben, um die Aula für die Party zu schmücken und alles zu organisieren. Lautsprecherboxen wurden angeschlossen und auf ihre Funktionstüchtigkeit geprüft – mit dem Resultat, dass vormittags aus der offenen Aula-Tür plötzlich in voller Dezibelstärke der Klassiker »I Love Rock’n Roll« durch den Flur brüllte. Unsere Geschichtsreferendarin, mitten in einem Vortrag über die Widerstandsbewegung Georg Elsers, war kurz aus dem Konzept gebracht worden.
So wie ich jetzt. Allerdings hatte das nichts mit dem Fest zu tun, sondern mit Till. Till aus der Elften mit den braunen Augen und den schwarzen Haaren. Sein Was-kostet-die-Welt-Grinsen, wenn er morgens am Schultor den Motorradhelm abnahm und dann lässig über den Pausenhof schlenderte. Zwei Meter an mir vorbei, ohne mich wahrzunehmen. So wie eben gerade.
Vio musterte mich wie ein Wissenschaftler sein Versuchskaninchen: »Was ist los, hast du ’ne Erscheinung gehabt?«
Ich graste hastig meinen dürftigen Vorrat an Ausreden ab, denn wenn ich Vio die Wahrheit sagte, wäre wieder eine Standpauke fällig, das wusste ich. Und als »hoffnungslos-romantischen Fall« würde sie mich auch wieder betiteln. Das war nämlich immer so, wenn ich Till erwähnte. Er war vor einem Jahr an unsere Schule gekommen und ich hatte mich auf den ersten Blick in ihn verknallt. Blöd nur, dass das nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Till stand auf Mädchen mit langen Haaren und kurzen Röcken. Ich brauchte nicht mal in den Spiegel zu gucken, um zu wissen: mein halblanger Bob, meine graublauen Augen – ungeschminkt –, meine schmalen Lippen – ebenfalls ungeschminkt – und keine nennenswerten Kurven … Till konnte ich vergessen. Trotzdem schmachtete ich ihn heimlich an. Als er vor einem Dreivierteljahr im Schulflur, wahrscheinlich aus Versehen, einmal »Hallo« zu mir sagte, war ich selig. Ich trug seinen Blick und den Klang seiner Stimme drei Tage lang wie eine kleine Flamme im Herzen. Und war am Boden zerstört, als ich ihn eine Woche später knutschend in der Ecke des Schulhofs sah – ausgerechnet mit Nessie, dieser aufgebrezelten Kuh. Ihre Haare waren nur dank Chemie so blond, und was sich unter ihrem T-Shirt befand, war ausschließlich mithilfe von Push-up und in den BH eingelegten Gelkissen zur Körbchengröße C aufgepimpt. Die ganze Frau war eine einzige Mogelpackung. Till sah das aber offenbar anders und brach mir damit das Herz.
Ich heulte mich bei Vio aus. Die versuchte mich zu trösten: »Ein Typ, der auf Kunstblondinen steht, hat sowieso nichts zu bieten. Oder willst du einen, der denkt, du meinst mit ›Hermann Hesse‹ einen Einwohner Frankfurts?« Ich musste wider Willen lachen. Eigentlich hatte Vio recht. Trotzdem schlug mein Herz jedes Mal bis zum Hals, wenn ich ihn nur von Weitem sah. So wie jetzt.
Vio starrte mich an, als hätte sie Röntgenaugen. Dann schnaubte sie: »Till, hab ich recht?«
Dass ich rot wie eine Tomate wurde, war für sie Antwort genug. »Du wirst es nie lernen, Süße, oder?«, stöhnte sie.
Ich zuckte die Achseln: »Ich bin eben ein hoffnungsloser Fall«, zitierte ich sie.
Vio zog die Stirn in Falten und schüttelte den Kopf wie eine besorgte Großmutter über ihren ungezogenen Dackel.
»Was ziehst du zu der Fete an?«, fragte ich hastig, um sie abzulenken.
Vio verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen: »Ach, ich gehe auf dem Nachhauseweg mal bei Prada vorbei, da finde ich sicher was«, meinte sie und ich gab mir in Gedanken selbst einen Tritt: Ich hatte einen wunden Punkt bei Vio getroffen.
Ich knuffte sie leicht: »Pass auf: Du holst mich zur Party ab und suchst dir was von meinen Sachen aus – ich leihe dir was für den Abend.«
Vio biss sich auf die Lippen. Sie zögerte kurz, aber dann strahlte sie. Obwohl chronisch blank, schaffte Vio es mit wenig Geld und viel Fantasie, sogar Fünf-Euro-Schnäppchen zu Unikaten zu machen. Ohne Hemmung zerschnitt sie Shirts und Blusen, um die Teile anschließend wieder wild durcheinander zusammenzunähen. Ein Blümchenshirt erhielt auf diese Weise rotweiß karierte Puffärmel, ein weißes Top wurde mit ein paar schrägen Comicfiguren zum Aufbügeln verziert. Trotzdem sahen Zicken wie Nessie natürlich schon von Weitem, dass die Sachen aus dem Discount stammten – und das ließen sie Vio auch genüsslich spüren. Daher würde Vio für die Party mein schönstes Top bekommen. Nessie sollten die Augen aus dem Kopf fallen.
Ich hoffte nur, dass die morgen nicht eng umschlungen mit Till neben mir auf der Tanzfläche zugange sein würde. Wenn ich ehrlich war, wünschte ich, Till samt Nessie wäre morgen Abend auf einer Expedition zum Südpol.
All das ging mir durch den Kopf, als ich mittags von der Schule nach Hause ging – allein. Vio musste noch eine Französischstunde über sich ergehen lassen, ich hatte seit Schuljahresanfang als Wahlfach Spanisch und war früher fertig. Als ich den Stadtpark mit seinen herbstblühenden Rabatten durchquerte, grübelte ich, was ich Vio für die Party leihen könnte. Sie war größer und – das musste der Neid ihr lassen – hatte deutlich mehr Busen und eine schmalere Taille als ich. In Gedanken kleidete ich sie in ein schwarzes Top, das mit einem Peace-Symbol aus Pailletten verziert war.
Deswegen sah ich die beiden auch erst, als ich fast über sie stolperte: Till und Nessie, eng umschlungen im Gras. Mir blieb die Luft weg. Vor Schreck und weil mich der Anblick von Till unvermittelt traf. Mein Magen verkrampfte sich und in meinem Kopf schepperte es wie beim Dosenwerfen auf dem Rummelplatz. Nur war ich die Dose, die gerade mit voller Wucht getroffen worden war und hintenüber fiel.
»Hiii, Lila«, flötete Nessie affektiert und strich sich die zerzausten, kunstblonden Haare lasziv aus dem Gesicht. Till grinste nur cool – und mein Herz zog sich zu einer kleinen, harten Faust zusammen. Hatte ich wirklich gedacht, ich sei über ihn weg? Wie doof ich doch war.
»Hi«, würgte ich heraus. Ich wollte nur noch weg und zwar schnell.
Doch Nessie warf mir von unten einen lauernden Blick zu. »Was machst du denn für ein Gesicht?«, fragte sie und lächelte wissend, die falsche Schlange.
Till wurde nun offenbar auch aufmerksam und musterte mich neugierig. Ich wünschte verzweifelt, ich könnte mich hier und jetzt in Luft auflösen.
»Wenn sie Gesichter machen könnte, hättest DU längst ein anderes«, ertönte auf einmal eine Stimme hinter mir.
Vio. Sie war lautlos näher gekommen und blickte spöttisch auf die im Gras liegende Nessie herab. Der blieb bei Vios Spruch der Mund offen stehen.
»Ach, und übrigens, Nessie: Du hast Lippenstift an den Zähnen«, sagte Vio zuckersüß. Damit hakte sie sich bei mir unter und zog mich sanft mit sich.
»Was hängst du denn überhaupt im Park ab, ich dachte, du wärst in Französisch«, brachte ich erst fünfzig Meter später heraus.
Vio grinste nur: »Keinen Bock gehabt«, sagte sie und fügte auf meinen strafenden Blick hinzu: »Hey, ich hab dich gerettet, nur das zählt!«
Als ich am nächsten Morgen mit Vio – wie immer – zum Unterricht rannte, weil sie – wie immer – verschlafen hatte, sah ich mitten auf dem Gehweg plötzlich Till fluchend und mit hochrotem Kopf auf seiner Vespa sitzen. Er versuchte den Roller zum Laufen zu kriegen. Immer wieder trat er heftig auf den Starter, doch das Teil gab nur ein dumpfes Blubbern von sich. Hinter mir hörte ich Vio leise lachen: »Zucker im Tank. Verstopft die Benzinpumpe und gibt jeder Karre den Rest«, flüsterte sie.
Ich blieb so abrupt stehen, dass Vio gegen mich prallte. »Du hast …« Mir blieb die Spucke weg.
Vio zuckte nur die Achseln. »Kleine nächtliche Aktion gestern. Und unser Kaff ist ja sooo sicher. Da kann man unbesorgt seine Vespa auf der Straße parken!«
Vio kicherte wie ein Kobold. Ich starrte sie nur mit offenem Mund an. Wenn jemand sie gesehen hätte! Das hätte richtig Ärger geben können. Doch Vio schnaubte nur: »Mann! Ich hab dich gerächt! Wie im Film. Kill Till, Teil eins«, meinte sie und zog mich weiter, ehe jemandem meine fassungslose Miene auffiel.
Eigentlich hätte ich über Vios Sabotage entsetzt sein müssen, aber um ehrlich zu sein: Till einmal hilflos, sauer und verschwitzt zu sehen, tröstete mich ungemein. Spontan fiel ich Vio um den Hals. Normalerweise war sie eher der burschikose Typ – einmal kurz knuddeln und dann war’s gut. Diesmal aber schlang sie die Arme um mich und drückte mich sekundenlang so fest an sich, als müssten wir uns für lange Zeit verabschieden und es wäre ungewiss, ob wir uns je wiedersähen. In ihrer Umarmung lag etwas Verzweifeltes und ich bekam fast Angst. Sanft befreite ich mich aus ihrem Klammergriff.
Doch als ich zurücktrat und Vio prüfend musterte, war sie wieder ganz die Alte, grinste und musterte mich von oben bis unten. »Anubis hat dir ’nen hübschen Stempel verpasst«, meinte sie und tippte an ihren Anhänger.
Ich blickte an mir hinab. Tatsächlich hatte der Schakalkopf des ägyptischen Gottes durch Vios herzhafte Umarmung einen kleinen, aber sichtbaren roten Abdruck knapp über meinem Schlüsselbein hinterlassen.
»Jetzt bist du gebrandmarkt«, witzelte Vio.
»Cool, wenn es bis heute Abend bleibt, gehen wir als ›Anubis-Sisters‹ zur Fete«, sagte ich.
Vio verzog kurz das Gesicht zu einer Grimasse. »Ach ja, die Party …«, sagte sie gedehnt.
Obwohl wir zu spät zur ersten Stunde kommen würden, blieb ich stehen. »Du willst jetzt nicht sagen, dass du die Fete vergessen hast, oder?«
Vio zuckte die Achseln. Sie zögerte einen Moment, doch dann grinste sie breit: »Ach Quatsch, Süße. Und eins verspreche ich dir – wir beide lassen es heute Abend richtig krachen!«
Sie streckte mir die Handfläche hin, ich schlug ein. Und dann rannten wir wie auf Kommando los, denn unser Mathelehrer verstand keinen Spaß, wenn es um den heiligen Satz des Pythagoras ging.
Um sieben Uhr abends wartete ich immer noch auf Vio. Eigentlich hätte sie längst auftauchen müssen. Ich rief sie zu Hause an, doch niemand ging ran. Und auf ihrem Handy teilte mir eine monotone Computerstimme lediglich mit: »The person you have called is temporarily not available.«
Ich war traurig – und machte mir Sorgen. Um halb acht war ich kurz davor, alleine loszugehen, auch wenn ich plötzlich gar keine Lust mehr hatte. Ohne Vio bei der Schulparty! Das war wie … Erdbeereis ohne Sahne oder wie Kartoffelpüree aus der Fertigpackung.