Vorwort
Theorie:
Wissenswertes über den Psoas
Etwas Anatomie: Das macht den Psoas so besonders
Ein Team für Stabilisation und Bewegung
Der Psoas und seine Umgebung
Nervale Versorgung
Blutgefäße in der Psoas-Region
Faszien
So gerät der Psoas aus dem Gleichgewicht
Organische Ursachen
Test: Wie kräftig ist Ihr Psoas?
Wie der Alltag den Psoas quält
Permanentes Sitzen verändert den Psoas
Test: Wie beweglich ist Ihr Psoas?
Das macht Sport mit dem Psoas
So passt sich der Körper ans Training an
Was hat der Psoas mit Rückenbeschwerden zu tun?
Die unterschätzte Rolle der Bauchmuskulatur
Stress schadet dem Psoas
Praxis: Das neue Psoas-Training
So trainieren Sie Ihren Psoas gezielt
Den Psoas erleben und wahrnehmen
Der Weg vom Reiz zur Bewegung
Durch neue Bewegungen sensibler für den Körper
Mehr Beweglichkeit und geschmeidige Faszien für den Psoas
Dehnen ist nicht gleich dehnen
Aktive Dehnübungen für den Psoas
Statische Dehnübungen für den Psoas
Massage der Faszien mit der Rolle
Mehr Kraft für den Psoas
Direkte Kräftigung des Psoas
Die Rolle des Psoas beim Sport
Pilates
Yoga
Joggen
Radfahren
Fußball
Schwimmen
Trainingsprogramme für Ihren Psoas
Das SOS-Programm
Das Stand-up-Programm für Vielsitzer
Die Everyday-Programme
Das Büro-Programm
Anhang
Literaturverzeichnis
Verzeichnis der Übungen
Glossar
Impressum
Der aus dem Altgriechischen stammende Begriff »Psoas« sagt den meisten Menschen gar nichts. Wenn Sie jedoch zu den wenigen gehören, die wissen, dass es sich um den Lenden-Darmbein-Muskel handelt, kann das nur einen der folgenden drei Gründe haben:
•Sie haben wie wir beruflich damit zu tun, weil Sie vielleicht Arzt, Wissenschaftler, Physiotherapeut oder Trainer sind.
•Sie haben bereits unangenehme Bekanntschaft mit dem Psoas gemacht, weil er Ihnen – vermutlich im Rücken – Schmerzen bereitet hat.
•Jemand hat Ihnen vom Psoas erzählt und Sie wissen daher, dass es Ihrer Gesundheit guttun könnte, sich genauer mit diesem speziellen Muskel zu beschäftigen.
Tatsächlich ist der Psoas ein ganz besonderer Muskel, denn er ist der einzige, der den Oberkörper direkt mit den Hüften und Beinen verbindet. Deshalb ist er direkt oder indirekt an den meisten unserer Bewegungen beteiligt. Selbst wenn er beim Sitzen passiv bleibt, ist dies nicht ohne Folgen.
Deshalb wird der Psoas für alle möglichen Zipperlein, Beschwerden oder Schmerzen verantwortlich gemacht. Seit mehreren Jahrzehnten hält sich unter Therapeuten, Wissenschaftlern und Trainern hartnäckig die irrige Meinung, dass man den Muskel sogar bei vielen Übungen bewusst nicht anspannen sollte, um keine Probleme zu provozieren und den Effekt der Übung nicht zu beeinträchtigen. Dabei wird übersehen, dass kein Muskel als Solist agiert, sondern immer im Zusammenspiel mit den umgebenden Muskeln. In Wirklichkeit sind die Dinge noch viel komplizierter, denn auch die Nerven, das Bindegewebe und sogar die Blutgefäße spielen eine wichtige Rolle für das einwandfreie und schmerzlose Funktionieren eines Muskels.
Genauso wie der Psoas fälschlicherweise für viele Schmerzen verantwortlich gemacht wird, gehen auch die Empfehlungen für Übungen oft in die falsche Richtung. Beispielsweise gibt es die Auffassung, der Muskel solle ausschließlich gedehnt werden, weil er sonst die Wirbelsäule zu sehr ins Hohlkreuz zwingen würde, was wiederum Rückenschmerzen auslöse. Tatsächlich ist genau das Gegenteil der Fall! Es wird sogar behauptet, man könnte den Psoas gar nicht gezielt kräftigen. Dabei ist schon simples Treppensteigen – am besten zwei Stufen auf einmal – eine gute Übung für diesen Muskel.
Es ist also tatsächlich an der Zeit, mit falschen Behauptungen und Gerüchten über den Psoas aufzuräumen und zu erläutern, welche Rolle er spielt, was er kann und was nicht. Nur die genaue Kenntnis dieser Zusammenhänge ermöglicht es, bei Schmerzen einzuordnen, ob der Psoas beteiligt ist, um ihn gegebenenfalls gezielt zu trainieren und eventuelle Schwächen auszugleichen. Daher ist dieses Buch in einen Theorie- und einen Praxisteil gegliedert. Im ersten Teil erfahren Sie das Grundlagenwissen über den Psoas, wie es sich in der Wissenschaft aktuell darstellt. Auch wir Forscher sind uns bei diesem Muskel noch längst nicht über jeden Aspekt einig. Im zweiten Teil geht es um das praktische Training des Psoas im Allgemeinen sowie mit Blick auf ausgewählte Sportarten im Besonderen.
Da unser Buch in erster Linie für Laien und Patienten gedacht ist, haben wir uns um eine allgemein verständliche Sprache bemüht. Da und dort mussten wir allerdings in die Tiefe gehen, um die komplexen Zusammenhänge darzustellen, und das geht nicht ganz ohne die akademische Fachsprache und etwas Latein. Auch Fachleute, die sich seltener mit dem Psoas und den ihn umgebenden Strukturen beschäftigen, werden hier hoffentlich manches Neue erfahren und Übungen gegen Beschwerden oder zur Behebung von Schwächen gezielter auswählen können.
Der unauffällige, versteckte Muskel Psoas hat so viel Potenzial und Bedeutung für sportliche Leistung, Fitness und Gesundheit, dass es mir ein Bedürfnis ist, ihn endlich einmal an die Oberfläche zu holen. Sie werden staunen, was dieser Winzling alles kann, aber auch leisten muss. Genau deswegen hat er es umso mehr verdient, dass wir ihn wertschätzen und ihm auch beim Training und in der Therapie mehr Raum und Zeit widmen.
Dr. Ingo Froböse
Der Musculus iliopsoas, wie ihn die Mediziner auf Latein bezeichnen, wird auf Deutsch etwas sperrig Lenden-Darmbein-Muskel genannt, was Ihnen aber schon sagt, wo er sich befindet, nämlich mitten im Körper. Obwohl wir hier laufend vom Psoas im Singular sprechen, meinen wir damit eigentlich immer zwei Muskelgruppen, denn wir haben einen linken und einen rechten Psoas.
Die Muskelgruppe besteht jeweils aus drei Teilen: dem großen und dem kleinen Lendenmuskel (Musculus psoas maior und minor) sowie dem Darmbeinmuskel (Musculus iliacus). Diese drei Teile finden Sie in der Illustration rechts rötlich gefärbt.
Dort sehen Sie auf den ersten Blick, wie eng der Muskel mit den Knochen der Wirbelsäule, des Beckens und der Beine (beige) sowie mit den zugehörigen Sehnen und Knorpeln (weißlich) verbunden ist.
Der große Lendenmuskel (Musculus psoas maior) entspringt mit mehreren kräftigen Muskelfasern seitlich an der Lendenwirbelsäule, und zwar an den Querfortsätzen des ersten bis fünften Lendenwirbels, bei manchen Menschen sogar bereits am zwölften Brustwirbel. Er verläuft vorne durch das Becken und am Oberschenkelhalsknochen vorbei und setzt erst unterhalb des Oberschenkelhalses am sogenannten Trochanter minor an, dem kleinen Rollhügel am Beginn des Oberschenkelknochens. Die langen Muskelfasern des Psoas verlaufen nahezu senkrecht. Deswegen verfügt dieser Muskel über eine ausgesprochen gute Hebelwirkung und wird damit zum wichtigsten und kräftigsten Beweger zwischen Ober- und Unterkörper. Wenn wir im Folgenden vom Lendenmuskel sprechen, ist damit ausschließlich dieser große Lendenmuskel gemeint.
Der kleine Lendenmuskel (Musculus psoas minor) hat im Gegensatz zu seinem großen Bruder keinen Einfluss auf die Bewegung der Beine, weil er nur die Lendenwirbelsäule mit Teilen des Beckens verbindet. Man geht davon aus, dass dieser Muskel funktionell wichtig war, als sich unsere Vorfahren noch auf allen vieren fortbewegten. Für den menschlichen Gang und andere Bewegungen spielt er heutzutage keine Rolle mehr. Bei manchen Menschen ist er deshalb schon jetzt nur noch auf einer Seite ausgebildet oder sogar überhaupt nicht mehr vorhanden.
Der Darmbeinmuskel (Musculus iliacus) hat im Gegensatz zum Lendenmuskel keine direkte Wirkung auf die Lendenwirbelsäule, weil er erst in der Grube (Fossa iliaca) der beiden Darmbeinschaufeln entspringt, die er nahezu vollständig auskleidet. Im weiteren Verlauf zieht er sich wie der große Lendenmuskel zu dessen Ansatzpunkt, dem kleinen Rollhügel am Beginn des Oberschenkelknochens. Auf der Grafik können Sie das gut erkennen: Die untere Partie beider Muskeln umgibt eine gemeinsame Hülle aus Bindegewebe, eine sogenannte Faszie (siehe hier). Daher werden sie unter dem Namen Musculus iliopsoas beziehungsweise Lenden-Darmbein-Muskel als zusammenarbeitende Muskelgruppe zusammengefasst. Wir nennen sie im Folgenden nur kurz Psoas.
Der Musculus iliopsoas, bestehend aus großem und kleinem Lendenmuskel sowie Darmbeinmuskel
Finden Sie Ihren Psoas
Den Psoas oder genauer den großen Lendenmuskel mit der Hand zu erfühlen ist prinzipiell ziemlich schwer, weil er sich in der Tiefe des Körpers unter anderen Muskeln befindet. Versuchen Sie es trotzdem einmal: Legen Sie sich auf den Rücken und wandern Sie mit den Fingern sieben bis acht Zentimeter seitlich unter dem Bauchnabel schräg nach unten. Dort liegt der Lendenmuskel eingebettet zwischen Arterien und Venen seitlich neben den Bauchorganen. Sie müssen ein wenig »graben«, um ihn zu ertasten.
Am vorderen Becken befinden sich an der Seite zwei Punkte, die ein wenig nach vorne herausragen und mit etwas Übung gut zu erfühlen sind. Von dort aus laufen die Leistenbänder jeweils links und rechts in der Mitte am Schambeinhöcker (Tuberculum pubicum) zusammen, wobei der Psoas hinter diesen Bändern verläuft.
Eine gute Chance, ihn zu ertasten, haben Sie auch, wenn Sie den Leistenpuls der großen Beinarterie innen am Oberschenkel als Ausgangspunkt nehmen und von dort mit den Fingern seitlich etwa fünf bis sieben Zentimeter nach außen wandern.
Aus der Lage des Psoas ergeben sich seine Funktionen, die einander auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen. Als Verbindung zwischen Ober- und Unterkörper sorgt er zum einen dafür, dass beide Abschnitte stabil in ihrer Position zueinander bleiben. Zum anderen gewährleistet er aber auch deren Beweglichkeit. Verglichen mit den weiteren drei Hüftbeugern, dem Musculus rectus femoris, Musculus tensor fasciae latae (TFL) und Musculus sartorius, ist der Psoas der einzige Beinbeuger, der den Oberschenkel im Hüftgelenk um mehr als 90 Grad anheben kann! Das liegt an seinem fast senkrechten Verlauf.
Die beiden aktiven Anteile des Psoas kommen bei allen Bewegungen zum Einsatz, bei denen sich die Beckenstellung nach vorne verändert. Machen Sie zum Beispiel einen Schritt vorwärts, wird das Becken automatisch in der Hüfte gekippt. Wird diese Beugung der Hüfte im Becken allerdings isoliert und fixiert gehalten wie bei der Übung auf dem Foto, gewährleistet maßgeblich der Lendenmuskel (mithilfe anderer kleiner Muskeln) die aufrechte Stellung der Lendenwirbelsäule.
Die Forschung untersucht immer noch das komplexe Zusammenspiel von Lenden- und Darmbeinmuskel, um herauszufinden, welcher der beiden Muskeln genau wozu dient. Nach dem aktuellen Stand der Forschung Anfang 2017 ist der Darmbeinmuskel dafür zuständig, das Becken und damit auch den Oberkörper nach vorne zu kippen. Das tut der Musculus iliacus im Verbund mit weiteren Muskeln wie dem geraden Oberschenkelmuskel und verstärkt die Bewegung ins Hohlkreuz, in die sogenannte lumbale Lordose. Der andere Anteil des Psoas, also der Lendenmuskel, wirkt dem entgegen – vorausgesetzt, er ist kräftig und zugleich elastisch genug. Nur dann kann er uns vor einer zu starken dauerhaften Lendenlordose (Hohlkreuzbildung) bewahren. Daran sehen Sie schon, wie wichtig ein gut ausgebildeter Lendenmuskel ist, denn ein ständiges Hohlkreuz gehört zu den häufigsten Fehlhaltungen überhaupt und führt bei untrainierter Rückenmuskulatur meist früher oder später zu Kreuzschmerzen!
Der Lendenmuskel gewährleistet die aufrechte Stellung der Wirbelsäule.
Vor allem Fachleute dürfte dies interessieren: Ob und inwieweit der Lendenmuskel auch an der Beugung der Lendenwirbelsäule beteiligt ist, wird gelegentlich kontrovers diskutiert. Die Mehrheit der Wissenschaftler geht momentan davon aus, dass zumindest Anteile des großen Lendenmuskels an der Beugung mitwirken. Würde man jedoch die Beine komplett ruhigstellen, sodass sich der Oberkörper nur ab dem Becken bewegen könnte, dann würde vor allem der Darmbeinmuskel den Körper im Becken beugen. Der Lendenmuskel arbeitet in diesem Fall eher als Strecker der Lendenwirbelsäule. Es ist schon kompliziert, aber sinnvoll, dass der Psoas so variabel agieren kann.
Beuger und Strecker
Muskeln arbeiten immer paarweise als Gegenspieler zusammen. Während sich der eine aktiv zusammenzieht, wird der andere passiv gedehnt. Am einfachsten sehen Sie das an Ihrem Arm: Wenn Sie ihn anwinkeln, wird der Bizeps dick und der Trizeps, der Strecker auf der Rückseite des Oberarms, wird gedehnt. Wenn Sie den Arm strecken, ist es genau umgekehrt. Fachleute nennen die Muskeln und ihre Gegenspieler Agonisten und Antagonisten.
Einig ist man sich heute in Bezug auf die Stabilisierungsfunktion des Lendenmuskels. Vor allem stützt er die Lendenwirbelsäule, und zwar sowohl bei der Beugung als auch bei der Streckung. Das heißt, er sorgt mit dafür, dass die Lendenwirbelkörper mit ihren Gelenken und die Bandscheiben dazwischen bei Bewegungen an ihrem Platz bleiben und sich nicht verschieben oder verkanten. Neuere Studien scheinen allerdings zu belegen, dass im unteren Teil der Lendenwirbelsäule die Aufrichtungsfunktion überwiegt, weil der Psoas maior sich in dieser Region zusätzlich mit den tiefen, schräg verlaufenden Rumpfmuskeln – dem sogenannten transversospinalen System – zu einem Bündel vereinigt.
Die transversospinale Muskelgruppe verläuft auf der Rückseite der Wirbelsäule und besteht aus den Halbdornmuskeln (Musculi semispinales), dem viel gespaltenen Rückenmuskel (Musculus multifidus) und den Drehmuskeln der Lendenwirbelsäule (Musculi rotatores lumborum). Außer den Musculi semispinales umschlingen diese Muskeln zusammen mit dem Lendenmuskel die gesamte Lendenwirbelsäule und dienen damit zu ihrer Aufrichtung und Streckung.
Dies widerspricht aber der Beugefunktion des Lendenmuskels, weshalb sich die Wissenschaft nach wie vor fragt, ob verschiedene Fasern des Lendenmuskels einander entgegengesetzte Funktionen erfüllen können wie etwa das Beugen mit den oberen vorderen Anteilen und das Strecken mit den unteren inneren Fasern. Das könnte diesen offenkundigen Widerspruch erklären.
Außerdem unterstützt der Lendenmuskel bei der Neigung zur Seite weitere Muskeln in der Region der Lendenwirbelsäule, etwa die schräge Bauchmuskulatur. Neigen Sie sich zum Beispiel im Stehen zur rechten Seite (Lateralflexion), zieht sich der rechte Lendenmuskel zusammen; er kontrahiert sich, wie wir in der Fachsprache sagen. Drehen Sie den Oberkörper um die Körperlängsachse (Rotation) nach links, kontrahiert sich ebenfalls der rechte Lendenmuskel.