Alain Badiou und Alain Finkielkraut setzen sich in einem leidenschaftlichen Streitgespräch mit so sensiblen und strittigen Themen wie der nationalen Identität, dem Judentum und dem Staat Israel, dem Mai ’68 und der Rückkehr der Idee des Kommunismus auseinander.

Die beiden Kontrahenten vertreten unversöhnliche Standpunkte in der intellektuellen Debatte. Ihre Positionen liegen weit auseinander. Alain Badiou ist Vordenker eines erneuerten Kommunismus, Alain Finkielkraut ein Beobachter, der den Verlust der Werte bedauert. Die leidenschaftliche Diskussion, die sich auf Initiative der Journalistin Aude Lancelin ergab, die auch die Einleitung verfasst hat, wird zu einer Auseinandersetzung. Der vorliegende Band dokumentiert jedoch nicht nur die Meinungsverschiedenheiten der beiden. Denn in einem Punkt sind sie sich einig: Weder sind sie mit dem aktuellen Zustand unserer Gesellschaft zufrieden noch mit dem Kurs, den ihr die politischen Akteure vorgeben.

KLARTEXT

PASSAGEN FORUM

Alain Badiou, Alain Finkielkraut
Klartext

Eine Kontroverse

Eingeleitet und moderiert

von Aude Lancelin

Aus dem Französischen

von Richard Steurer-Boulard

Herausgegeben von Peter Engelmann

Deutsche Erstausgabe

Ouvrage publié avec le concours du Ministère français

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de/ abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Einleitung

I. Über die nationale Identität und die Nationen

II. Über das Judentum, Israel und den Universalismus

III. Über den Mai ’68

IV. Über den vergangenen und den kommenden Kommunismus

Anmerkungen des Übersetzers

Einleitung

„Man sollte niemals diskutieren“, hat Philipp Muray einmal behauptet. „Ein originelles Weltverständnis kann und muss als eine unabänderliche Uneinigkeit, als eine Stimmungsunvereinbarkeit dastehen. Man darf nicht argumentieren, man muss radikale Grenzen ziehen.“1 Der geniale Denker des „Endes der Geschichte“ und des universalen Trugbildes, der Autor von Désaccord parfait hat besser als jeder andere erfasst und formuliert, dass das Ziel der Mehrzahl der heutzutage in den Medien verbreiteten Pseudo-Debatten keineswegs die Überwindung der Meinungsverschiedenheiten ist. Im Gegenteil, die Verdampfung des Sinns ist ihr ungedachter Zweck. Man sieht übrigens täglich, wie sich die große Kommunikationsmaschinerie von karikaturistischen Feindschaften nährt, die übertrieben werden, wenn sie nicht schlicht vorgetäuscht sind, um besser von den wahren Kämpfen abzulenken. Es sei uns erlaubt, zu sagen, wie sehr unser im Jahr 2006 plötzlich verstorbener Freund wieder einmal Recht gehabt hat. Man sollte tatsächlich niemals diskutieren, wenn das darauf hinausläuft, ein solch illusorisches Schlachtfeld zu errichten, das als bequemer Schutzschirm für die Handelsund Denkunfähigkeit fungiert. Man sollte noch weniger diskutieren, wenn das darauf hinausläuft, zwei schwache Ansichten zu verbreiten, die sich gegenseitig eine Räuberleiter machen, um gehört zu werden oder schlimmer noch, Beachtung zu erlangen.

Bei den zwei hier vorgestellten Männern handelt es sich sicherlich nicht um derartiges. Badiou und Finkielkraut, das sind zwei radikal voneinander abweichende Sichtweisen, die am Puls der Zeit liegen. Zwei Eigennamen, die wie Decknamen für zwei intellektuelle Clans klingen, die fest entschlossen sind, sich im heutigen Frankreich zu bekämpfen. Als wir sie zum ersten Mal anlässlich eines Gesprächs, das in der Wochenzeitung Le Nouvel Observateur am 21. Dezember 2009 erschienen ist, einander gegenübertreten ließen, mussten sich beide von den hitzigsten ihrer Parteigänger die schlichte Tatsache vorwerfen lassen, den Gegner überhaupt getroffen zu haben. Jene wurden jedoch beim Erscheinen des Wochenmagazins schnell beruhigt, da das befürchtete Happy End nicht eintrat. Eine gespannte, geladene und manchmal sogar hitzige Atmosphäre machte sich auf jeder Seite bemerkbar. Es war ganz gewiss keine gewöhnliche Debatte, sondern tatsächlich eine gleichsam „tätliche Auseinandersetzung“2, wie man auf Französisch sagt.

Dennoch fand am 16. Februar 2010 ein zweites Gespräch statt. In der Zwischenzeit gab es unzählige, extrem heftige und ausufernde Reaktionen der Leser. Dutzende Internet-Sites und -Blogs hatten die Sache im Netz verbreitet, tausende leidenschaftliche Kommentare hatten sich gekreuzt und der Verlag Lignes teilte uns bald sein Interesse an einer Publikation des wesentlich erweiterten Textes mit. Die zweite Begegnung ähnelte nicht der ersten. Die ein wenig künstlich nervöse Verkrampfung hatte sich gelöst. Die angesprochenen Themen, angefangen bei Israel, über den Mai ’68 bis zum relativen Wiedererstarken der kommunistischen Idee, hatten jedoch nichts Lockeres an sich. Man hätte sich sogar berechtigterweise eine Neuauflage des berühmten Familienabendessens erwarten können, das vom Zeichner Caran d’Ache im Figaro am Höhepunkt der Dreyfusaffäre unter dem Titel „Sie haben darüber gesprochen“ skizziert wurde. In Wirklichkeit fand nichts dergleichen statt. Es herrschte nunmehr eine wirkliche, gegenseitige Neugierde vor und der Humor verlieh den delikatesten Waffengängen einen besonderen Akzent.

Die Debatte hätte am Nachmittag eineinhalb Stunden dauern sollen, sie dehnte sich auf volle vier Stunden aus. Die winterliche Sonne war bereits von der Place de la Bourse verschwunden, nicht so die Streitenden, die Fragen stellten, auf Antworten wieder zurückkamen und noch Streit suchten, als die Nacht schon angebrochen war und ihre Pferde, um Hugos Die Legende der Jahrhunderte zu parodieren, schon lange tot waren. Schläge wurden ausgeteilt, manchmal extrem harte Schläge, es wurden auch Punkte zurückgegeben und sogar Hände gereicht, aber es gab am Ende natürlich kein Friedensprotokoll. Wäre das denn auch nötig? Dieses Mal gelangte man tatsächlich zum Kern der Überzeugungen, mit all dem, was er an unerwarteten Konvergenzpunkten und auch an unüberwindlichen Hindernissen bedingt.

Zurecht ist keine der beiden anwesenden Persönlichkeiten berühmt für ihre Neigung zum Konsens oder zur gemäßigten Mitte, noch weniger zum Kompromiss. Das ist sogar eines der wenigen Dinge, die sie gemeinsam haben. Gleichzeitig hebt es sie heute aus der Masse hervor. Ein und dieselbe Unnachgiebigkeit gegenüber dem, was jeder für die Wahrheit hält, die ohne Verstellung vorgebracht wird. Und auch ein Mut, der bewiesen und durch die Feuerprobe so mancher intellektueller Affären gegangen ist, die seit der Mitte der 2000er-Jahre spektakulär inszeniert worden sind und sie manchmal grausamen Bezichtigungen ausgesetzt hat. Seinen Standpunkt mit Festigkeit vertreten, koste es, was es wolle, würde Alain Badiou sagen. Sich nicht vom Knurren des „Gutmenschentums“ einschüchtern lassen, würde Alain Finkielkraut antworten. Und beide würden sich also darüber streiten, was das Wesen dieser Gegnerschaft ist, der es unablässig zu trotzen galt.

Würde dann aber nicht von Neuem die Frage auftauchen: Wozu dann diskutieren? Man bräuchte auch gar nicht zu diskutieren, wenn das darauf hinausliefe, zwei Selbstgespräche parallel vor sich hinlaufen zu lassen, zwei diametral entgegengesetzte Autismen, die so tun würden, als wüssten sie nicht um ihre trostlose Symmetrie und ihre objektive Komplizenschaft in der Komödie der Medienberufe. Auch das wird hier nicht der Fall sein. Dieses Buch ist sogar deshalb interessant, weil es den Beweis dafür antritt. Genauso wenig wie Alain Finkielkraut ein absolut typischer Neo-Konservativer ist, ist Alain Badiou ein pawlowsch konditionierter Progressist. Es wäre so einfach für die Verfechter der Politik der Katastrophe! So bequem für all jene – und sie sind zahlreich –, die für nichts in der Welt auf einen Antagonismus verzichten würden, der sie ebenso sehr davon befreit, ihre intellektuelle Faulheit aufzugeben, wie auf ein einziges ihrer Vorurteile zu verzichten.

Das Echo, das das Buch Wofür steht der Name Sarkozy?3 seit der Präsidentenwahl von 2007 hervorrief, hat Alain Badiou die Titelrolle des unerbittlichen Radikalen eingebracht, des von Wunden übersäten, aber diabolisch ausdauernden Maoisten, des leidenschaftlich pro-palästinensischen Aktivisten – neben anderen Verkürzungen und Verfälschungen, die immer nützlich sind, wenn man glaubt, sich auf diese Weise einem anspruchsvollen Werk nähern zu können. Eine selbst oberflächliche Lektüre seiner jüngsten Stellung beziehenden Werke, ganz zu schweigen von seiner langjährigen philosophischen Arbeit, die seit dem Erscheinen von Das Sein und das Ereignis4 Ende der 1980er-Jahre weltweit geschätzt und studiert wird, würde jedoch leicht von einer weitaus scharfsinnigeren und komplexeren Position überzeugen. Das Portrait Alain Badious als extremistischer Verderber unschuldiger Schüler, die nach dem Fall der Berliner Mauer geboren wurden, verdunkelt eigentlich nur in Frankreich dasjenige Portrait von Badiou als Philosophen des Einen und des Mannigfaltigen, das ein Thema umfassender Kolloquien von Athen bis Los Angeles ist.

Auch Alain Finkielkraut wird oft stark karikiert. In der französischen Landschaft nimmt er dennoch eine wahrhaft eigenständige Position ein. Wir erkennen das umso bereitwilliger an, als auch wir uns schon zumindest ein Mal in der Vergangenheit ernsthaft mit ihm gestritten haben, nämlich anlässlich seiner Stellungnahmen zu den Unruhen in den französischen Vorstädten im Jahr 2005. Als unablässiger Ankläger eines gleichmachenden und dominanten Demokratismus, als Verteidiger einer republikanischen Schule, die von der als unbezwinglich angesehenen Ausdehnung jenes Demokratismus bedroht sei, war der Autor von La Défaite de la pensée, entgegen der hartnäckigen Legende, geschichtlich niemals Teil des medialen Kartells, das „neue Philosophen“ genannt wird. Obwohl er ganz und gar ihren Antimarxismus teilt und mit einem von ihnen, mit Bernard-Henri Lévy, das Institut d’études lévinassiennes gründete, hat Alain Finkielkraut seit damals seine Abneigung gegen die aggressive Marketing-Dimension jener Operation deutlich gemacht. Es lässt sich in seinem Werdegang auch keine Spur von einer Zustimmung zu den amerikanischen Kriegen an der Wende des 21. Jahrhunderts erkennen. Es wäre nicht einmal übertrieben, zu behaupten, dass seine an Péguy gemahnende Verteidigung des ewigen Frankreichs, das in Auflösung begriffen ist, ganz zu schweigen von seiner untypischen Unterstützung eines schlimm an den Pranger gestellten Schriftstellers wie Renaud Camus – mit der er vor allem alleine dasteht – aus ihm eine Figur macht, die bis in die französische neokonservative Bewegung hinein, in der er trotz allem eifrige Unterstützung genießt, umstritten ist.

Auch nach dieser Korrektur der Sichtweise bleibt die Tiefe der Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden Protagonisten beachtenswert und die Kluft, die für eine Begegnung zu überwinden war, maximal. Alain Finkielkraut hat eines Tages das Denken von Alain Badiou, besorgt in Hinblick auf seine steigende Resonanz, als „das aller-gewalttätigste“, als „ein Symptom der Rückkehr der Radikalität und des Zusammenbruchs des Antitotalitarismus“ bezeichnet. Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek hatte damals eine heftige begriffliche Antwort auf diese Bezichtigung in der Tageszeitung Libération gegeben – zu einem Zeitpunkt, als Logik der Welten5, die Fortsetzung von Das Sein und das Ereignis, von seinem sehr engen Weggefährten im März 2007 veröffentlicht wurde: „Wie Badiou selbst auf typisch platonische Weise sagen würde, die wahren Ideen sind ewig und unzerstörbar: Man mag ihren Tod verkünden, sie kehren immer wieder zurück.“

Es muss auch festgestellt werden, dass Alain Badiou seit einigen Jahren eine starke intellektuelle Strömung angreift, die ihm zufolge wichtige politische und mediale Wirkung entfaltet, und als deren bedeutendste Vertreter in Frankreich allgemein Alain Finkielkraut oder Jean-Claude Milner angesehen werden. Diese Strömung, die aus dem ex-maoistischen Milieu hervorgegangen war, beschreibt Alain Badiou meistens als eine breite Bewegung der konservativen Gegenrevolution, die unter anderem durch die symptomatische Ablehnung des Mai ’68 und die Verteidigung eines christlich-jüdischen „Westens“ gekennzeichnet ist; eines „Westens“, der angeblich bedroht wird von einer islamistischen Gefahr und ihren angeblichen progressistischen Komplizen, den Erben der Dritte-Welt-Bewegung der 1970er-Jahre; eine herrschende Strömung, die ständig die stalinistischen Verbrechen und deren Verwandten des 20. Jahrhunderts wieder aufwärmt, um jeden Versuch zukünftiger politischer Emanzipation zu verunglimpfen und in aller Ruhe den Rechten die Waffen hinzustrecken. Die Wahl von Nicolas Sarkozy, die von Badiou als „ein abscheuliches Vorkommnis, ein Schlag für die symbolische Strukturierung des französischen politischen Lebens“ beschrieben wurde, war für ihn das logische Ergebnis dieser Gegenrevolution und ihr Höhepunkt.

Das Gelände war, so scheint es, nicht „schwierig“ genug zwischen den beiden, offensichtlich musste ein noch gewichtigerer Streitpunkt hinzukommen. Die Fragen des Jude-Seins, des Heiligen Paulus und Israels boten sich dafür an. Als Alain Badiou 2005 bei Lignes eine Sammlung von zum Teil 20 Jahre alten Texten unter dem Titel Circonstances III, Portées du mot „juif“ veröffentlichte, wurde er mit einer extrem harten Kampagne konfrontiert. Die ursprünglich von der Zeitschrift Les Temps modernes – deren Leiter Claude Lanzmann allerdings im Anhang des von Cécile Winter mitunterzeichneten Buchs angegriffen wurde – initiierte Kampagne, die ohne Unterlass von einigen boshaften Aktivisten geführt wurde, zielte auf nichts weniger ab, als ihn als linksextremen Antisemiten zu brandmarken. Alain Badiou hatte sich jedoch von den ersten Seiten des Buches an mit einer außergewöhnlichen Schärfe zum Aufkommen eines neuen Antisemitismus geäußert, der mit den Konflikten des Nahen Ostens zusammenhängt, welche einen tatsächlichen Einfluss auf eine in Frankreich lebende Minderheit von Moslems ausüben: „Es ist unbestreitbar, dass es ihn gibt, und der Eifer, mit dem manche ihn im Namen der Unterstützung der Palästinenser leugnen, ist verheerend“, schrieb er wörtlich. Aber wenn man einen Denker mundtot machen will, wozu sich dann die Mühe machen, ihn zu lesen, nicht wahr?

Natürlich hat Alain Finkielkraut niemals an dieser abgesprochenen Lynchjustiz teilgenommen. Es gab zwischen ihnen dennoch eine grundlegende Uneinigkeit in dieser Angelegenheit, die in Wirklichkeit, wie man hier merken wird, weniger mit dem vorgeblichen, Badiou zugeschriebenen philosophischen Anti-Judaismus in Beziehung steht als mit der sehr klassischen Frage der Nation. Die schicksalhafte Einzigartigkeit des jüdischen Volkes, so behauptet Badiou seit langem, ist die Aufforderung zum Universalen. Der Aufruf ist geschichtlicher und geistiger Vorläufer der Überschreitung der nationalen Zugehörigkeit. In diesem Sinne ist es „ein heiliger Name unserer Geschichte“, schreibt er. Eine Sichtweise, der Alain Finkielkraut offensichtlich widerspricht, wenn er die vollständige Vereinbarkeit der identitären Verwurzelung mit der universalen Dimension beansprucht und mehr noch den Verzicht auf das Modell des Nationalstaates ablehnt, den er als unüberschreitbar und gleichzeitig als einen Beschützer ansieht, umso mehr für ein Volk, das während seiner ganzen Geschichte so leiden musste wie das jüdische Volk.

Es ist bekannt, dass diese Uneinigkeit über die politische Tragweite des Judentums in gewisser Weise bereits die Gespräche durchzog, die Jean-Paul Sartre am Ende seines Lebens mit Benny Lévy führte und die im März 1980 in Le Nouvel Observateur von Jean Daniel und Claude Perdriel veröffentlicht wurden. Sartre wollte die jüdischen Texte, die dem Ex-Chef der proletarischen Linken in ihrer ganzen Verführungskraft erschienen, dazu verwenden, die Linke, jenen „am Boden liegende(n), große(n) Kadaver“6, im Horizont eines Messianismus mit universaler Berufung neu zu gründen. Hatte er bereits völlig durchschaut, dass Benny Lévy, der damals 35 Jahre alt war, sich im Gegenteil auf das Studium der Thora, auf Levinas und den „jüdischen Namen“ im Allgemeinen stützen würde, um das antifortschrittliche Umkippen einer immer breiteren Fraktion der französischen Intelligenzija zu vollziehen? Sartre ist ein entscheidender Bezugspunkt in der Ausbildung und dem Denken von Alain Badiou, und Levinas erfüllt diese Funktion für Alain Finkielkraut. Zwei Eigennamen, die wie zwei Schlachtrufe für zwei Lager klingen, die, auch in dieser Hinsicht, kaum Umgang miteinander pflegen.

Werden die in diesem Buch präsentierten Aufklärungen dazu beitragen, die lebhafte Gegnerschaft zu mäßigen, die die Anhänger von Badiou und Finkielkraut oft gegeneinander hegen? Man kann natürlich nicht umhin, es zu hoffen, auch wenn es naiv wäre, zu glauben, es genüge, auf diese Weise Missverständnisse zu beseitigen, um die wilden Leidenschaften zu zügeln. Es ist auch schwierig, sich im Frankreich des Jahres 2010 in der Illusion der Aufklärer*7 zu wiegen, der zufolge es genüge, die widerstreitenden Argumente ans Licht der Öffentlichkeit zu tragen, damit die Gemüter besänftigt werden und sich der ewige Friede einstelle. „Auf in den Krieg, also!“, wie Proudhon sagte.

Es gibt tatsächlich keinen Grund, ihn zu fürchten, wenn er es ermöglicht, ein französisches Denken wachzurufen, das immer mehr darauf verzichtet zu haben scheint, auf das Gesetz der Welt Einfluss auszuüben. Drücken wir einfach den Wunsch aus, dass, wenn die Feindseligkeiten wiederaufflammen, die Erinnerung an das brüderlich ausgetauschte Wort einem jeden unnötige Wunden ersparen möge.

Aude Lancelin

I. Über die nationale Identität
und die Nationen

Aude Lancelin – Frankreich wurde aus weitgehend wahltaktischen Gründen eine Debatte über die „nationale Identität“ aufgezwungen. Vorhersehbarerweise war die Stimmung bald vergiftet. Wie soll man sich dazu verhalten?

Alain Finkielkraut – Ich weiß nicht, ob die Debatte angebracht ist, aber die Besorgnis ist gerechtfertigt. Im berühmten Vortrag von 1882 beginnt Renan damit, jede rassische Definition der Nation auszuschließen. „Die Menschengeschichte ist von der Zoologie wesentlich verschieden.“1, sagt er und definiert die Nation als ein geistiges Prinzip, wie eine Seele (man darf vor dem Wort keine Angst haben), das aus zwei Elementen besteht: einerseits aus einem reichen Vermächtnis von Erinnerungen, einem Erbe an Ruhm und Sehnsüchten, das man teilt, und andererseits aus dem aktuellen Einverständnis, aus dem Wunsch, das gemeinsame Leben fortzuführen. Frankreich ist nun heute die Theaterbühne für eine zweifache Krise, eine Krise des Erbes und eine Krise des Einverständnisses. In einem nicht zu vernachlässigenden Teil der neuen französischen Bevölkerung ist der Hass auf Frankreich an der Tagesordnung. Man muss blind für die Wirklichkeit sein, um anzunehmen, dass dieser militante Frankreichhass eine Antwort auf den Staatsrassismus oder auf die Stigmatisierung des Fremden sei. Was das Erbe betrifft, so ist die Schule seit nunmehr vierzig Jahren mit Fleiß darauf bedacht, dieses zu verschwenden. Immer mehr Franzosen, einschließlich der Eliten, stehen heute ihrer Sprache, ihrer Literatur, ihrer Geschichte und Landschaft fremd gegenüber. Die Frage der nationalen Identität interessiert deshalb so viele Leute, weil die französische Kultur heute vielleicht im Verschwinden begriffen ist. Vom wahltaktischen Manöver hingegen lässt sich niemand hinters Licht führen. Was man der Regierung vorwerfen kann, ist nicht, dass sie sich um die nationale Identität kümmert, sondern dass sie sich dieser in einer Debatte zu entledigen versucht. Ich hätte eine echte Politik der Weitergabe des Erbes vorgezogen.

A.L. – Die Taten der Regierung Sarkozy stehen jedoch sehr oft im Gegensatz zu diesem Diskurs über die Weitergabe. Nehmen Sie nur zum Beispiel den Versuch, in der letzten Klasse der Fachrichtung Naturwissenschaften den Geschichtsunterricht zu streichen

A. Finkielkraut – Das ist ein Widerspruch. Man muss sich zwischen Richard Descoings und Marc Bloch entscheiden.2 Aber eine Neugründung der Schule in diesem Sinne (Zentrierung auf die Kultur und Wiedereinführung des Leistungsanspruchs) würde die Gymnasiasten, die Lehrergewerkschaften und die Elternvereinigungen auf die Straße treiben. Die Unkultur für alle ist eine der demokratischen Errungenschaften, die man nur schwer rückgängig machen können wird.

Alain Badiou – Eine von der Regierung organisierte Diskussion über die „französische Identität“ kann nur die Suche nach Verwaltungskriterien darüber sein, „wer ein guter Franzose ist und wer nicht“. Die sorgfältigen Juristen der Regierung Pétains3 hatten genau in diesem Sinne gearbeitet! Sie hatten durch leidenschaftslose Wissenschaft gezeigt, dass die Juden und andere Mischlinge keine guten Franzosen sind… Von der Initiative Sarkozys und Bessons4, um die kolonialistischen und rassistischen Doktrinen, um Pétain und Sarkozy handelt. Es gibt nicht „ein“ französisches Erbe. Es gibt eine konstitutive Spaltung dieses Erbes zwischen dem, was vom Gesichtspunkt eines minimalen Universalismus her annehmbar ist, und dem, was abgelehnt werden muss, weil das in Frankreich eben auf die extreme Barbarei der besitzenden Klassen und auf die Vereinnahmung des Motivs der „nationalen Identität“ durch eine Oligarchie übler Geschäftemacher, Politiker, Militärs und Medienbediensteter verweist. Man, und namentlich Alain Finkielkraut, spricht immer vom Blut, das den anderen, den „Totalitären“ an den Händen klebt. Aber die „nationale Identität“ hat großartige Beispiele dafür geliefert. Man muss schon früh aufstehen, um ein in jeder Hinsicht ebenso sinnloses wie grauenvolles Gemetzel zu finden wie das von 1914-18. Dieses war nun aber ganz eng mit der nationalen Identität verbunden, diese hatte die Leute mobilisiert. Es ist ganz klar, dass die nationale Identität, die auf eine einmütige Erinnerung und auf eine vererbte und familiäre Einwilligung bezogen wird, nur die Rückkehr zu den ausgeleierten Kategorien der Tradition ist und nur den Krieg vorbereitet, den inneren gegen die „schlechten Franzosen“, den äußeren gegen „die Anderen“. Die öffentliche Debatte findet heute zwischen zwei desaströsen Orientierungen statt, zwischen der Einmütigkeit der Warenwelt und der universalen Kommerzialisierung einerseits, und der Verkrampfung auf die Identität, die gegen jene Globalisierung einen reaktionären Schutzwall errichten will, der noch dazu völlig ineffizient ist, andererseits.