Gisela Burckhardt
in Zusammenarbeit mit Swantje Steinbrink
Todschick
Edle Labels, billige Mode –
unmenschlich produziert
Wilhelm Heyne Verlag
München
Die Studie vor Ort wurde mit finanzieller Unterstützung von MISEREOR ermöglicht.
Taschenbucherstausgabe 12/2014
Copyright © 2014 by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
www.heyne.de
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Redaktion: Klaus Gabbert
Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering
ISBN: 978-3-641-14521-7
Inhalt
Eine persönliche Vorbemerkung
Brief eines ungeborenen Kindes
1. Wo Arbeit Leben kostet: Billiglohnland Bangladesch
Land und Leute
Die Katastrophe von Rana Plaza
Der Brand bei Tazreen
Skrupellose Geschäfte: Wirtschaftszweig Bekleidungsindustrie
Der steinige Weg der Gewerkschaften
Was es heißt, in Bangladesch eine Frau zu sein
Die Arbeit in den Textilfabriken
2. Die Reaktionen auf das Unglück von Rana Plaza
Opferentschädigung: mangelhaft
Sicherheitsabkommen: hoffnungsvoll
Politische Reaktionen in Europa und den USA
Reaktionen der Regierung in Dhaka
3. Achtung, Audit! Hinter den Kulissen der Überprüfungsindustrie
Das Audit-Business
Audit light à la BSCI
Mit Sicherheit Profit: der TÜV
TÜV-Audit der Fabrik Phantom Apparels im Rana Plaza
4. Luxuslabel und Discounterriesen
Eine Untersuchung vor Ort bei zwölf Fabriken
Luxus unter der Lupe: Hugo Boss
Billigklamotten auf dem Prüfstand: H&M
Hugo Boss und H&M im Vergleich
5. Gesetze statt Gerede: die Politik in der Pflicht
Politische Trippel- und Fehltritte
Rechte für Menschen, Regeln für Unternehmen!
6. Lieber klug konsumiert als für dumm verkauft
Wider den Konsumwahn
Öko-faire Mode kaufen
Schlussakkord
Recherche-Ergebnisse
Abkürzungen und Glossar
Dank
Anmerkungen
Literatur
Die wichtigsten Webseiten zum Thema
Quellen
Eine persönliche Vorbemerkung
»Ich schaue, wo die Ware herkommt, und gehe davon aus, dass Menschen für Boss nicht ausgenutzt werden. Die Sachen haben ja ihren Preis«, sagte eine Kundin in einem Berliner Hugo-Boss-Geschäft. Nicht nur diese Kundin glaubt, dass teure Kleidung sozialverträglich hergestellt wird, auch die Vertreter deutscher Modeverbände verbreiten diese Information munter in Talkshows. So zum Beispiel am 2. Dezember 2012 Wolf-Rüdiger Baumann, zum damaligen Zeitpunkt Hauptgeschäftsführer des Gesamtverbandes der deutschen Textil- und Modeindustrie, in der Talkshow von Günther Jauch, wo er mit mir zusammen zum Thema »Schöne Bescherung! Wer muss für unsere Geschenke leiden?« eingeladen war. Angesichts der erschreckenden Berichte aus Bangladesch seit dem verheerenden Brand in der Fabrik Tazreen im November 2012 und dem tragischen Einsturz des Rana-Plaza-Gebäudes im April 2013 behaupten die Modehersteller, die deutschen Bekleidungsproduzenten würden sich nichts zuschulden kommen und keineswegs unter unmenschlichen Arbeitsbedingungen produzieren lassen. Schuld seien vielmehr die großen Handelsunternehmen wie H&M und C&A oder Discounter wie KiK, Aldi und Lidl. Alle anderen würden zwar auch in Fabriken in Bangladesch produzieren lassen, aber in ganz anderen …
Doch stimmt das? Oder lassen teure Marken wie Hugo Boss, Tommy Hilfiger und Armani unter den gleichen prekären Produktionsbedingungen arbeiten wie die billigen Marken? Dieser Frage wollte ich auf den Grund gehen, denn als Vorstandsvorsitzende von FEMNET und Mitglied der Kampagne für Saubere Kleidung (Clean Clothes Campaign*) hörte ich von unseren Partnern in Bangladesch immer wieder, dass auch die Edelmarken unter unmenschlichen Bedingungen produzieren lassen. Nur gab es bisher keine Studie darüber. Deshalb bat ich die Research Initiative for Social Equity (RISE) in Bangladesch, nach Fabriken zu suchen, in denen Designermarken wie auch Billiglabel gleichermaßen produzieren lassen. Zudem war ich zweimal (Mitte 2013 und Anfang 2014) selbst in Bangladesch und habe dort nicht nur mit Beschäftigten aus den Fabriken und mit Gewerkschafterinnen gesprochen, sondern auch mit einem Fabrikkontrolleur und mehreren Fabrikbesitzern.
Um vorwegzunehmen, was Sie wahrscheinlich schon geahnt haben: Premiumlabel und Billigmarken lassen in den gleichen Fabriken produzieren – zu den gleichen unmenschlichen Bedingungen. Und das, obwohl große Imagekampagnen immer wieder etwas anderes behaupten. Deshalb stelle ich in diesem Buch die Ergebnisse der Recherche von RISE den Aussagen zweier exemplarischer Unternehmen gegenüber: Hugo Boss und H&M. Hugo Boss steht für hochpreisige Premium- und Luxusmode, H&M für billige Trendklamotten. Wir werden sehen, was wirklich dahintersteckt, wenn Firmen wie Hugo Boss oder H&M von Nachhaltigkeit sprechen.
Oft berufen sich die Unternehmen auf sogenannte Audits, Sicherheitsüberprüfungen der Fabriken. Immer wieder blicke ich in erstaunte Gesichter, wenn ich sage, dass auch der deutsche TÜV in Bangladesch Textilfabriken prüft. Und der Zufall wollte es, dass mir just während der Arbeit an diesem Buch ein TÜV-Bericht über das Rana Plaza zugespielt wurde. Der bietet ein gutes Beispiel für die Sinnlosigkeit solcher Audits.
Ich habe dieses Buch bewusst nicht für ein Fachpublikum geschrieben, sondern für die vielen Kundinnen und Kunden, die ein Recht darauf haben zu wissen, welche Machenschaften sie unter Umständen mit dem Kauf bestimmter Modemarken unterstützen. Ihnen möchte ich die Augen öffnen für die Zusammenhänge in der modernen Bekleidungsindustrie und für die Arbeitsverhältnisse in den Fabriken von Sabhar, Gazipur und Chittagong, die mich jedes Mal aufs Neue erschüttern, wenn ich mit den Näherinnen in den Slums spreche.
Todschick ist eine umfassende Darstellung des wichtigsten Wirtschaftszweigs in Bangladesch, beleuchtet die Situation der Frauen im Land, beschreibt die alltägliche Korruption und schließlich die Maßnahmen, die nach der Rana-Plaza-Tragödie auf Einkäufer- wie auf Regierungsseite ergriffen wurden. Persönliche Erlebnisse und Erfahrungen von Betroffenen zeigen, wie groß das Elend ist, in dem die meisten Textilarbeiterinnen nach wie vor um ihr Überleben kämpfen müssen. Und es ist ein himmelschreiender Skandal, wie Industrie und Handel versuchen, sich um angemessene Entschädigungszahlungen an die Opfer von Rana Plaza herumzudrücken. Aber Öffentlichkeit und Nichtregierungsorganisationen bleiben an den Verantwortlichen dran. Über aktuelle Entwicklungen und Ereignisse zum Thema können Sie sich auf den Internetseiten www.femnet-ev.de und www.saubere-kleidung.de informieren.
Vielleicht fragen Sie sich nun: Was muss passieren, damit sich etwas ändert? Was kann und muss ich dafür tun? Aus meiner Sicht ist es dringend geboten, dass die Bundesrepublik Deutschland und die Europäische Union stärker regulierend eingreifen: Es muss den Unternehmen eine verbindliche Vorsorgepflicht vorgeschrieben werden bis hin zu einer Unternehmenshaftung. Aber auch als Einzelne können Sie etwas tun: Konsumieren Sie bewusster, kaufen Sie weniger, und wenn, dann achten Sie auf Marken und Siegel, die faire und ökologische Arbeitsbedingungen garantieren. Lassen Sie sich nicht verwirren von den vielen verschiedenen Labels, die Unternehmen schüren geradezu die Vielfalt, um uns zu verwirren. Man muss nur einige wenige Siegel kennen – und die stelle ich Ihnen im letzten Kapitel vor.
Gisela Burckhardt, Bonn, im September 2014
* Die Clean Clothes Campaign (CCC) ist ein internationales Bündnis in 15 europäischen Ländern und mit rund 250 Partnern weltweit, das sich seit über 25 Jahren für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der globalen Textilindustrie einsetzt.
Brief eines ungeborenen Kindes1
Ich bin eine ungeborene Einwohnerin von Bangladesch. Ich wurde getötet, bevor ich auf die Welt kam. Meine Mutter war gerade 22 Wochen und drei Tage mit mir schwanger, als das Rana Plaza einstürzte.
Sehr geehrte Frau Premierministerin! Meine Mutter arbeitete als Näherin in der Textilfabrik New Wave Bottoms im Rana Plaza. Mein Vater ist Hilfsarbeiter bei einer Busgesellschaft. Die beiden hatten sich in Gazipur kennengelernt, hatten sich verliebt und geheiratet. Sie waren sehr glücklich, sagen die Nachbarn, strahlten regelrecht vor Glück wie alle werdenden Eltern. Aber es war ein kurzes Glück. Ich wurde getötet, bevor ich auf die Welt kam.
Sehr geehrte Frau Premierministerin! Man sollte meinen, Sie verstünden, wie schmerzvoll es ist, einen Verwandten zu verlieren, insbesondere bevor er/sie überhaupt geboren wurde, denn Sie haben einen solchen Verlust in der eigenen Familie erlebt: Ihr Neffe und seine schwangere Frau wurden am 15. August 1975 erschossen. Jahrelang haben wir Sie davon reden hören, dass Sie die Mörder Ihrer Angehörigen zur Rechenschaft ziehen werden. Der Besitzer des Rana-Plaza-Gebäudes, Sohel Rana, ist ein korrupter Geschäftsmann und steht Ihrer Regierung nahe. Wir haben nicht gehört, dass Sie sich besonders eingesetzt hätten, um den Mörder meiner Mutter für dessen kriminelle Missachtung jeglicher Sicherheitsbestimmungen und -bedenken zur Rechenschaft zu ziehen. Er konnte erst fliehen, wurde dann an der Grenze zu Indien aufgegriffen und wäre fast auf Kaution freigelassen worden … Auch der Besitzer der Tazreen Fabrik, wo ein Feuer im November 2012 den Tod von 112 Näherinnen verursachte, wurde viel zu lange nicht festgenommen. Am 5. August 2014 wurde er sogar auf Kaution wieder freigelassen.
Sehr geehrter Herr Sohel Rana! Die Gier muss Sie blind und taub gemacht haben. Warum sonst hätten Sie behaupten können, eine Todesfalle wie das Rana Plaza sei sicher … Wie viel Bestechungsgeld haben Sie den Kontrolleuren gezahlt, die am Vortag des Einsturzes das Gebäude überprüften? Sohel Rana, wie viel haben Sie den lokalen Behörden gezahlt, um das Gebäude an allen Bauvorschriften vorbei hochziehen zu können? Können Sie sich vorstellen, wie schwer es für einen Vater sein muss, die Ultraschallbilder seines ungeborenen Kindes zu betrachten, des Kindes, das zusammen mit dem Leib seiner Mutter zerquetscht wurde?
Sehr geehrte Herren aus dem Vorstand des Bekleidungsherstellerverbandes! Waren Sie oder ein anderes Mitglied jemals in einer Leichenhalle? Haben Sie jemals Haufen von toten, unvollständigen Körpern gesehen und ihren üblen Gestank gerochen? Können Sie sich vorstellen, die blutigen Körperreste Ihrer Frau, Ihrer Tochter, Ihres Bruders lägen dort? Haben Sie selbst jemals an Ihren eigenen Tod gedacht? Ich hoffe, Sie haben Ihre Erben angewiesen, Sie zusammen mit Ihrem Scheckheft zu begraben. Oder sterben Reiche nicht?
Sehr geehrte Mitglieder des Bekleidungsherstellerverbandes! Die mehr als tausend Toten von Rana Plaza haben die ganze Welt erschüttert; nur Sie sorgen sich vor allem um das Image bei den Einkäufern. Das war auch schon nach dem Tazreen-Brand so, als Sie nichts Besseres zu tun hatten, als die internationalen Einkäufer per Zeitungsartikel zu beruhigen. Die Gier hat Sie Ihres Mitgefühls beraubt.
Sehr geehrte Besitzer der Fabriken im Rana Plaza! Am 24. April 2013 frühstückten meine Eltern zusammen, aßen den Reis vom selben Teller, während meine Mutter von den bedrohlichen Rissen erzählte, die sie am Tag zuvor in der Wand neben ihrem Arbeitsplatz entdeckt hatte. Zwei Stunden später stürzten riesige Betonbrocken auf meine Mutter herab. Mein Vater konnte sie nicht retten.
Sehr geehrte Fabrikbesitzer! Ich wurde getötet, bevor ich auf die Welt kam, weil Ihnen schnelles Geld wichtiger ist als das Leben von Arbeiterinnen. Weil Sie alle Warnungen ignoriert haben, um keinen Verlust zu machen. Sogar Kinder haben im Rana Plaza gearbeitet. Meine Mutter stöhnte unter den Überstunden. Sie beschwerte sich bei meinem Vater über die Beschimpfungen, die die Aufseher ihr an den Kopf warfen. Sagen Sie mir, wie viele andere Fabrikbesitzer in Dhaka missachten die elementarsten Menschenrechte? Wie viele Fabriken haben keine geeigneten Notausgänge? Wie viele Manager schauen nur auf den Profit und missachten jegliche Sicherheitsbestimmungen zum Schutz der Beschäftigten?
Liebe Konsumentinnen und Konsumenten! Ich sah mit den Augen meiner Mutter, wie die Mauern auf sie, auf mich und auf ihre Kolleginnen fielen, hörte, wie sie vor Schmerzen schrien, wie sie um Wasser flehten, wie sie beteten in ihrer Verzweiflung. Meine Mutter hielt nur einige Stunden durch, dann gaben unsere Herzen auf. Wir sind weit weg von Ihnen – aber haben Sie deshalb Ihr Mitgefühl verloren? Ich kann es nicht glauben und bitte Sie: Fordern Sie von den Textilmarken eine Entschädigung für alle Opfer und Hinterbliebenen!
Liebe Leserinnen und Leser! Ich bin eine ungeborene Einwohnerin von Bangladesch, ich wurde getötet, bevor ich geboren wurde. Und ich bin nicht allein. Unmenschliche Fahrlässigkeit und Gier riefen schon zahlreiche Unglücksfälle hervor, kosteten schon zahlreiche Menschen das Leben. Ich fordere, dass die Verantwortlichen bei Rana Plaza (2013), bei Tazreen Fashions (2012), bei der Ha’meem Group (2010), in der Garib & Garib Sweater Factory (2010), bei KTS Textile Industries (2006), bei Shan Knitting (2005), bei Mico Sweater (2001), in der Chowdhury Knitwear Garments Factory (2000), bei Globe Knitting (2000), bei Shanghai Apparels (1997), bei Jahanara Fashion (1997), bei Lusaka Garments (1996) und bei Saraka Garments (1990) endlich zur Rechenschaft gezogen werden.
Ich träume von einem Tag, an dem die Kinder von Bangladesch nicht zu Waisen gemacht werden. Dafür müssen die, die leben, kämpfen. Sie müssen sich dafür einsetzen, dass die Fabriken keine Todesfallen mehr sind, dass es nie wieder ein Rana Plaza oder Tazreen geben wird.
Hochachtungsvoll,
eine ungeborene Einwohnerin von Bangladesch