Tage im Juni
Roman
Aus dem Niederländischen
von Andreas Ecke
Suhrkamp
Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel Juni
bei Uitgeverij Cossee BV, Amsterdam.
Die Übersetzung des Buches wurde gefördert
vom Nederlands Literair Productieen Vertalingenfonds.
ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2010
© Suhrkamp Verlag Berlin 2010
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eISBN 978-3-518-73110-9
www.suhrkamp.de
STOFF FÜR SCHLAGZEILEN
Stroh
Staub
Mulm
Gold
Schulp
Stroh
Weihnachtsbäume
Hortensien
Kaffee
Scheiße
Muschelgrieß
Bluse
Stroh
Vögel
Stroh
Großbuchstaben
Scheiße
Wasser
Strohbuch
Zwergziegen
Mohrchen
Kies
Sims
Radio
Stroh
Spazierstock
Oh Happy Day
Spazierstock
Kastanie
Stroh
Kastanie
Kies
Grünzone
Scheiße
Scheune
Stroh
Fische
Stroh
Anstoßen
Essen
Scheiße
Schlafen
Graben
Anrufen
Sitzen
herausfordern
Fluchen
Springen
Juni
Warten
SCHLAGZEILEN
»Gleich kommt Slootdorp«, sagt der Chauffeur. »Dort übernimmt Sie ein neuer Bürgermeister.«
Sie schaut hinaus. Rechts und links breite Streifen Weide- und Ackerland, deren Ende nicht zu sehen ist. Hier und da ein klobiger Bauernhof mit rotem Ziegeldach. Zum Glück regnet es nicht. Rechts wird ihr die Sicht teilweise von C.E.B. Roëll versperrt, die in ihren Papieren liest; bestimmt irgend etwas über das Dorf, zu dem sie unterwegs sind. Sie zieht die Handschuhe aus, legt sie sich auf den Schoß und klappt den Aschenbecher auf. Roëll seufzt. Einfach ignorieren. Noch nicht einmal das halbe Pensum, und es kommt ihr so vor, als wäre schon viel mehr als die Hälfte des Tages vorbei. Während sie ihre Zigarette anzündet und tief inhaliert, sieht sie im Rückspiegel die Augen des Chauffeurs aufleuchten. Sie weiß, daß er sich auch gerne eine anzünden würde, und wenn Roëll nicht im Wagen säße, hätte er es auch schon getan.
Nach einem recht frühen Start in Soestdijk haben sie den Vormittag auf der ehemaligen Insel Wieringen verbracht. Wo man den unverzeihlichen Fehler begangen hat, ihr als ersten Programmpunkt einen Tisch voller Krabben zu präsentieren. Um elf Uhr vormittags. Eigentlich hatte man schon vorher keine so glückliche Hand. Der Bürgermeister der ehemaligen Insel ließ ihr die Blumen von seinen beiden Töchtern überreichen, während seine Frau so tat, als würde sie die Kinder oben auf dem Hafendeich einfach nicht sehen. Anschließend wieder Schulkinder und Senioren. Immer Schulkinder und Senioren. Na gut, es ist auch ein Dienstag, ein normaler Werktag. Im Rathaus fand ihr zu Ehren eine Sondersitzung des Gemeinderats statt. Von der Ansprache des Bürgermeisters hat sie nicht allzuviel mitbekommen, weil sie schon an den Abend dachte, an die Piet Hein, und als sie gedankenverloren einen Schluck Kaffee nahm, schmeckte der in etwa wie die Worte des Bürgermeisters. Dort ist auch diese Frau aufgetaucht, die den Auftrag hat, einen Bronzekopf von ihr anzufertigen.
»Wie heißt noch die Nonne?« fragt sie.
»Jezuolda Kwanten. Keine Nonne, eine Schwester.« Roëll blickt nicht von ihrer Lektüre auf. Gleich kommt sicher ein kleines Exposé.
Jezuolda Kwanten, aus Tilburg, die fast eine halbe Stunde lang eingehend ihre Gesichtszüge studiert und hin und wieder etwas auf einem großen gelblichen Blatt Papier skizziert hat. Was es noch schwerer machte, den Ausführungen des Bürgermeisters zu folgen. Sie sitzt jetzt in dem Wagen hinter ihnen, zusammen mit Beelaerts van Blokland und van der Hoeven. Wäre es nicht anders gegangen? fragt sie sich. Roëll im zweiten Wagen, und van der Hoeven in meinem? Der raucht auch. Jezuolda Kwanten wird bei allen Festlichkeiten dabei sein, wird sie den ganzen Tag ansehen, abtasten, skizzieren. Nicht nur heute, auch morgen. Sie drückt ihre Zigarette aus. Ein »Bronzekopf«. Dabei haßt sie es schon, fotografiert zu werden. Wenn es um »Kunst« geht, wird auf nichts Rücksicht genommen.
Sie erreichen ein Dorf, das ganz aus neuen Häusern besteht. Auffallend wenig Menschen sind auf der Straße, und kaum jemand hat eine Fahne herausgehängt.
»Slootdorp«, sagt der Chauffeur.
»Wie ist sein Name?« fragt sie.
»Omta«, antwortet Roëll.
Vor einem Hotel, das Lely heißt, steht eine Gruppe von Wartenden. Ein Grüppchen. Hier keine Schulkinder und Senioren, keine Fähnchen, Bukette oder Krabben. Sie steigt aus, und der Mann mit der Amtskette reicht ihr die Hand. »Willkommen in der Gemeinde Wieringermeer«, sagt er. »Guten Morgen, Herr Omta«, sagt sie.
»Sie fahren direkt weiter«, sagt er.
»Das ist bedauerlich«, sagt sie.
»Ich fahre bis zur Gemeindegrenze voraus. Dies ist übrigens meine Gattin.«
Sie gibt der Frau des Bürgermeisters die Hand und steigt wieder ein. Na bitte. So wie dieser könnten sie von ihr aus alle sein. Kein Gerede, kein Getrödel, kein Blick, der ausdrückt: »Wieso verbringen Sie nicht in meiner Gemeinde ein paar Stunden.« Aber hat er tatsächlich nicht »Majestät« gesagt? Nicht einmal »gnädige Frau?« Die Bürgermeistersfrau hat auch keine Worte verschwendet, nur einen kleinen Knicks gemacht. Wenn die ganze Gemeinde Wieringermeer so ist wie das, was sie davon gesehen hat, würde sie sich hier wirklich nicht stundenlang aufhalten wollen. Vielleicht nicht einmal aufhalten können. Omta ist in ein blaues Auto gestiegen, das jetzt langsam vor ihnen herfährt. Seine Frau bleibt vor dem Hotel zurück, ein bißchen verloren steht sie da. Der böige Juniwind zerzaust ihr die Frisur, eine Fahne über ihrem Kopf knattert.
»1610«, liest Roëll vor. »Het Polderhuis, in dem wir den Lunch zu uns nehmen werden, stammt aus dem Jahre 1612. Vor allem die Viehzucht steht auf sehr hohem Niveau. Herdbuchvieh. Erwähnenswert ist der im weiten Umkreis bekannte Viehbestand von Fräulein A.G. Groneman; ihrem verstorbenen Onkel – hier stand Vater, aber das ist durchgestrichen und durch Onkel ersetzt – wurde für seine zahlreichen Verdienste auf diesem Gebiet durch königlichen Beschluß der Orden von Oranien-Nassau im Rang eines Ritters verliehen.«
»Ist sie beim Mittagessen auch dabei?«
Roëll nimmt ein anderes Blatt zur Hand und murmelt leise. Unter ihrem gelben Topfhütchen kommt ein graues Haarbüschel zum Vorschein. »Ja«, antwortet sie nach einer Weile.
»Das wird bestimmt nett. Fräulein. Nicht verheiratet also.« Roëll schaut sie kurz, aber durchdringend an.
»Trink auch mal ein Gläschen«, sagt sie. »Statt mich so anzusehen.« Draußen immer noch lange Streifen Weide- und Ackerland und klobige Bauernhöfe, einer genau wie der andere. Die Sonne scheint, es werden etwa zweiundzwanzig Grad sein. Angenehmes Wetter, wenn man dauernd aus- und einsteigen muß, nicht zu warm, nicht zu kalt, man braucht keinen Mantel. »Außerdem hab ich Kühe sehr gern«, fügt sie hinzu.
Noch monatelang wird es hier so aussehen. Sicher, die Feldfrüchte wachsen und werden geerntet, aber trotzdem. Der Frühling ist und bleibt doch die schönste Jahreszeit. Wenn sich im Schloßgarten die Zwiebelpflanzen abwechseln. Schneeglöckchen zu Füßen der Buchen, Narzissen beiderseits der Zufahrt, die Schachblumen in der kleinen Rabatte beim Lieferanteneingang. Und etwas später natürlich die ersten Gartenwicken im Gewächshaus. Sobald die Bäume Blätter bekommen, wird es ziemlich langweilig, vor allem, seit die Töchter nicht mehr auf dem Rasen toben. Im Grunde gibt es nach dem Defilee nur noch wenig Reizvolles. Einförmigkeit, bis die ersten Herbstfarben da sind. »Sonst noch Erwähnenswertes?«
»Diese fast vollständig agrarisch geprägte Gemeinde sieht schwierigen Zeiten entgegen, vor allem auf finanziellem Gebiet.«
»Wieso das?«
»Nicht nur wegen der schlechten Wetterbedingungen der letzten Jahre, sondern auch, weil ein starker Anstieg der Löhne und Preise zu verzeichnen war, während die Erträge nicht proportional dazu gesteigert werden konnten.«
»Ach ja, Löhne, Preise und Erträge. Aber gleich erscheinen sie natürlich alle in Gala.«
»Und hier steht noch, daß circa neunzig Prozent der Einzelhändler und Gewerbetreibenden ihr Geschäft umgebaut und nach moderneren Prinzipien gestaltet haben. Die Bevölkerung habe erkannt, daß ein Auf-der-Stelle-Treten kein Fortschritt, sondern Rückschritt sei. Es bedürfe keiner Erwähnung, daß Politik auch hier Weitsicht erfordere.«
»Warum eigentlich nicht? Und man hat es ja erwähnt.«
»Ach, Kommunalbeamte.«
»Was willst du damit sagen?«
»Nichts.«
»Ich bin sehr gespannt, was wir zu essen bekommen.«
»Ja.«
Nein, denkt sie, das muß anders werden. Ich werde diesen Punkt selbst mal ansprechen, es ist doch wirklich nicht nötig, daß das Presseamt in Gestalt von Roëll bei mir im Wagen sitzt. Wie kommt man überhaupt darauf, daß ich lieber mit Roëll als mit van der Hoeven fahre? Und vielleicht möchte Papi auch ab und zu wieder mit auf Arbeitsbesuch.
Das blaue Auto von Omta bremst ab und rollt an den Straßenrand. Dort hält es hinter einem geparkten Wagen. Die Bürgermeister steigen gleichzeitig aus und schütteln sich die Hand. Als der neue Bürgermeister – »Hartmann«, flüstert Roëll – auf den Wagen zugeht, öffnet der Chauffeur ihr die Tür.
»Guten Tag, Majestät. Herzlich willkommen in unserer Gemeinde. Die allerdings erst dort beginnt.« Er deutet auf eine Brücke mit weißem Geländer ein Stück vor ihnen.
»Guten Tag, Herr Bürgermeister Hartmann«, antwortet sie und unterdrückt ein Seufzen. »Ich freue mich sehr auf meinen – leider nur kurzen – Besuch.«
»Würden Sie mir bitte folgen?«
»Mit dem größten Vergnügen.« Als sie wieder einsteigt, wobei sie nicht vergißt, den Chauffeur anzuschauen, weil er aus dem Türaufhalten jedesmal ein laienbühnenhaftes Ereignis macht, sieht sie auf dem Rücksitz ihre Lederhandschuhe liegen. Schon zwei Bürgermeistern hat sie die unbehandschuhte Hand gegeben. Höchste Zeit für ein Zigarettchen. Egal, was Roëll für ein Gesicht zieht.
Auf dem Brückengeländer balancieren zwei Knirpse in Badehosen. Einer rotblond, der andere braunhaarig, beide haben die Arme weit ausgebreitet, dicke Wassertropfen fallen von ihren Ellbogen auf den makellosen weißen Anstrich. Als der Wagen über die Brücke fährt, springen sie hinunter. Man könnte meinen, sie hätten genau diesen Moment abgewartet. Sie lächelt. Ein Besuch der Königin interessiert die beiden offenbar nicht besonders. Allerdings haben sie doch erst einen längeren Blick auf den Wagen geworfen, bevor sie sprangen.
»Stein der Hilfe.«
»Bitte?«
»Stein der Hilfe.«
»Ich kann dir gerade nicht folgen.«
»Der Hof dort. Eben Ezer.«
Eine völlig andere Atmosphäre herrscht hier. Das Land ist älter. Die Bauernhöfe unterscheiden sich stärker voneinander, in den Gärten wächst mehr, die Bäume sind höher, die Gräben voll Wasser, man sieht weniger Feldfrüchte, mehr Kühe. Ha, da steht ein glänzender Lieferwagen mit der Aufschrift Blom Backwaren an der Seite. Schräg vor einem spiegelblanken Schaufenster mit dem gleichen Schriftzug. Der Bäcker gehört offenbar zu den neunzig Prozent Einzelhändlern und Gewerbetreibenden, die ihr Geschäft umgebaut und neu gestaltet haben. Backwaren, lustig. Und modern. Sie hält Ausschau nach Läden, die zu den restlichen zehn Prozent gehören, kann aber keinen entdecken. Dann hört sie ein Jubeln und sieht eine Menschenmasse. Sie holt tief Luft und zieht die Handschuhe an. Bis zum Mittagessen wird sie niemandem mehr die unbehandschuhte Hand geben.
Der Chauffeur öffnet ihre Tür. »Wir haben das Fahrtziel erreicht«, sagt er.
»Und ohne Unfall«, antwortet sie. Nie redet sie ihn mit dem Vornamen an.
Dann sind alle wieder um sie. Roëll natürlich, die ohne Hilfe aussteigen mußte, weil der Chauffeur nicht überall gleichzeitig sein kann. Van der Hoeven, Beelaerts van Blokland. Kranenburg, der Beauftragte der Königin. Wo ist diese Nonne geblieben, diese Jezuolda Kwanten? Sitzt sie noch im Auto? Hier wird es keine Tische voller Fische oder Krabben geben, es ist kein Fischerdorf. Hier wird gleich ein Volkstanz aufgeführt. Sie reicht Roëll ihre Tasche, sie muß die Hände frei haben. Het Polderhuis ist ein großer ehemaliger Bauernhof. Weiß gestrichen, mit Spalierlinden davor. Den falschen Weg nehmen kann sie nicht, es gibt nur einen, Kinder und Mütter haben eine Gasse gebildet. Aha, da stehen zwei Kinder mit einem Bukett. Der Bürgermeister nennt ihre Namen, sie hört die Wörter Bäcker und Metzger. Deren Kinder werden es sein.
»Ganz herzlichen Dank, ihr beiden«, sagt sie. »So ein wunderschöner und kunstvoll gebundener Blumenstrauß. Habt ihr den selbst zusammengestellt?«
Sie schauen sie an, als ob sie Deutsch spräche.
»Nein, nicht wahr?« sagt sie deshalb. »Das hat man beim Blumenhändler gemacht.«
Das Mädchen nickt schüchtern, sie tippt der Kleinen mit einem ledernen Finger sanft auf die Wange. Der Junge schaut sie nicht an. Erleichtert ziehen sich die Kinder in das Spalier zurück.
Hat sie nicht genau diese Kinder heute vormittag auf dem Deich gesehen? Diese weißblonden Köpfe und nackten Knie, diese Strickjäckchen? Genau dieselben Kinder? Es herrscht ein eisiges Schweigen, man könnte meinen, alle hätten vor lauter Ehrfurcht die Sprache verloren. Ehrfurcht oder Nervosität. Abgesehen von den paar Worten über die Kinder hat auch der Bürgermeister noch keinen Ton gesagt. Sie schüttelt den Kopf. Roëll faßt sie beim Ellbogen. Sie zieht den Arm weg, ohne ihre Privatsekretärin anzublicken, und geht langsam weiter.
Und der Kleine dort, was der für ein beleidigtes Gesicht macht. Sommersprossen hat er und rotblondes Haar. Er läßt den Kopf etwas hängen, blickt auf seine Füße, die in neuen Sandalen stecken. Was kann den Jungen so geärgert haben? Am liebsten würde sie zu ihm hingehen und ihn fragen, warum er sich nicht freut. Warum sein rotweißblaues Fähnchen auf der Höhe seiner Knie baumelt. Und den größeren Jungen, der ihn bei der Hand genommen hat und bestimmt nicht sein Bruder ist, denn er hat rabenschwarzes Haar, anschließend fragen, warum er nicht sie, sondern den Kleinen ansieht. Der Anblick schlägt ihr selbst ein bißchen aufs Gemüt: das wütend vorgestreckte Bäuchlein, das offensichtlich nagelneue Jäckchen mit Norwegermuster und Messingknöpfen, bestimmt von seiner Großmutter gestrickt. Alles hier wird in den letzten Wochen im Zeichen dieses Tages gestanden haben, der im Handumdrehen vorbeigeht, wie es bei solchen Tagen immer ist. Und dann so wütend zu sein, daß man praktisch nichts davon mitbekommt. Überall um sie herum werden Fotos gemacht, sie hört die Auslöser klicken, es wird sogar geblitzt, obwohl das bei diesem Wetter doch nicht nötig wäre. Sie verlangsamt ihren Schritt, als könne sie einfach nicht weiter, bevor der Kleine sie angesehen hat. Aber der Bürgermeister ist schon vorausgegangen, und hinter ihr, das spürt sie, drängt der Rest der Gesellschaft nach.
Sie richtet den Blick auf eine Gruppe von Männern und Frauen in Tracht; wo sie stehen, ist ein bißchen mehr Platz. Alle Kinder haben Fähnchen, die sie in die Höhe halten, aber keins wird geschwenkt. Ohne die leichte Brise würden die Fähnchen tot herunterhängen. Sie hofft, daß es im Polderhuis Sherry gibt.
Die Tanzgruppe bietet zwei Volkstänze dar, auf der Violine begleitet von einem steinalten Mann, der direkt neben ihr steht. Seine runzlige Oberlippe glänzt vor Schweiß. Vierundachtzig Jahre, hat ihr der Bürgermeister zugeraunt. Aber noch sehr rüstig! Sie schaut auf die Tanzenden, alle Leute vor dem Polderhuis schauen zu ihr. Die Röcke rauschen, die Klompen der Männer in den schwarzen Trachtenanzügen klopfen auf den Asphalt. Das schwere Bukett ist lästig. Sie möchte ihre Tasche haben, ihre Zigaretten, möchte sich einen Moment setzen.
»Bitte hier hinein, Majestät. Hier ist alles für den Lunch vorbereitet«, sagt der Bürgermeister.
Mensch, sag doch gnädige Frau, denkt sie. Gnädige Frau und Mittagessen.
Noch vor ihr schlüpft Jezuolda Kwanten durch die Tür, Skizzenblock und Bleistifte im Anschlag.
»Sie können sich dort einen Moment zurückziehen«, hat eine Hostess gesagt. »Mit Ihrer Gesellschaftsdame. Bei Bedarf können Sie dieses WC benutzen.« Sie hat die Frau nicht zurechtgewiesen.
Roëll und Jezuolda Kwanten sitzen im Amtszimmer des Bürgermeisters, in dem es nach frischer Farbe und Tapetenleim riecht, genau wie hier übrigens. All die Toiletten, denkt sie. Überall diese Toiletten speziell für mich. Sie hat die Handschuhe abgestreift und klopft mit dem Knöchel an eine merkwürdige Zwischenwand; es klingt hohl. Vermutlich ist die Wand nur für kurze Zeit eingezogen worden. Sie überlegt, wo die anwesenden Männer pinkeln sollen, wenn die Herrentoilette unzugänglich ist, weil man die für sie umgebaut hat. Sie denkt an die Hauptstadt, sieht die Toilette im Hauptbahnhof vor sich. Die ungelüfteten, stickigen Räume, die staubigen Vorhänge, die kostbar bezogenen Stühle, auf denen so gut wie nie jemand sitzt. Sie befühlt das Toilettenpapier. Marke Edet, zweilagig. Auf dem Waschbecken liegt ein jungfräuliches Stück Seife. Ich bin sechzig Jahre alt, denkt sie. Schon seit über zwanzig Jahren sitze ich dienstlich auf solchen Toiletten. Wie lange hält ein Mensch das aus? Sie steht auf, wäscht sich die Hände und spült der Form halber durch.
Auf dem riesigen polierten Tisch im Amtszimmer stehen Flaschen mit Apfel- und Orangensaft. Und genau eine Flasche Sherry. Roëll trinkt Orangensaft, die Künstlerin trinkt nichts. Sie gießt Sherry in zwei Gläser und hält Jezuolda Kwanten ein Glas hin.
»Danke, ich trinke überhaupt keinen Alkohol.«
»Aber Sie sind doch Künstlerin.«
Die Schwester lächelt und setzt sich auf den bequemsten Stuhl. Sie klappt den großen Skizzenblock auf.
Die Königin lächelt auch. Die Gläser müssen leer werden, es wäre merkwürdig, hier ein volles Glas zurückzulassen. Und das Büschel Zigaretten in dem Väschen will wenigstens ausgedünnt sein. Lucky Strike. Roëll zieht ein schiefes Gesicht, gibt ihr aber doch Feuer. Sie schlendert ein wenig durch das geräumige Zimmer, kommt zu einem großen Spiegel. Betrachtet sich, prostet sich zu, bläst sich Rauch ins Gesicht. »Frau Kwanten, könnten Sie mir noch einmal erklären, was eigentlich der Unterschied zwischen einer Nonne und einer Schwester ist?« fragt sie.
»Eine Nonne legt ein Klostergelübde ab«, sagt Kwanten.
»Das haben Sie nicht?«
»Nein. Ich gehöre der Kongregation der Schwestern der Liebe an.«
Ihr Glas ist leer. Sie deutet in Richtung des vollen Glases auf dem Tisch. »Wenn Sie es nicht trinken, werde ich es tun.« »Ein Schlückchen Sherry würde ich jetzt doch mögen«, sagt Roëll.
Sie schaut ihre Hofdame prüfend an, kann aber nichts anderes tun, als ihr das zweite Glas zu reichen. »Wer hat Ihnen den Auftrag für den Bronzekopf erteilt?«
»Die Stadt Tilburg.«
»Sie wohnen auch dort?«
»Ja, gnädige Frau.«
»Wie finden Sie die Gegend hier?«
»Leer. Leer und kalt.«
»Kalt?« Die Königin lächelt. »Dann ist es ja kein so angenehmer Tag für Sie. Sind Sie schon einmal auf der Insel Texel gewesen?«
»Nein, gnädige Frau.«
»Morgen wird Ihnen diese Reise viel besser gefallen.«
»Sie gefällt mir schon jetzt außerordentlich gut. Ich habe das Privileg, Sie zwei Tage lang zu begleiten.« Die Schwester kratzt mit dem Bleistift übers Zeichenpapier.
Die Königin ordnet ihr Haar. »Trinken Sie doch ein kleines Glas Sherry.«
»Danke, gnädige Frau, wirklich nicht.«
»Dann werde ich mir stellvertretend noch ein halbes genehmigen.«
Roëll seufzt und nippt mit säuerlicher Miene an ihrem Sherry.
Beim Mittagessen sitzt sie neben van der Hoeven. Der Viehzüchterin hat man einen Platz schräg gegenüber zugewiesen. Ansonsten haben sich an dem langen, tadellos gedeckten Tisch die üblichen Gäste niedergelassen. Vorsitzende der Landfrauen und der Frauenorganisation des Niederländischen Gewerkschaftsbunds, Mitglieder des Deichverbands, Deichgrafen, Beigeordnete. Aber nicht der Arzt, auch nicht der Notar. Und auch Kwanten nicht, die das Mittagessen nebenan zu sich nehmen wird, unter anderem wahrscheinlich in Gesellschaft des Chauffeurs. Sie freut sich, daß jemand daran gedacht hat, ein paar kleine Vasen mit Gartenwicken auf den Tisch zu stellen. Es gibt die unvermeidliche Ochsenschwanzsuppe – vermutlich denkt man: Die Suppe, die zu Weihnachten gegessen wird, müßte doch auch zu anderen festlichen Gelegenheiten passen –, kräftig gewürzt. Zum Essen wird Buttermilch getrunken. Oder möchte Majestät vielleicht einen trockenen Weißwein zur Suppe? Den möchte sie, nach kurzem Zögern. Van der Hoeven und die Frau des Bürgermeisters ebenfalls, und auch die Viehzüchterin gegenüber läßt sich ein Glas einschenken. Die warme, junge Stimme des Privatsekretärs bildet einen ruhigen Kontrast zu der hohen, nervösen des Bürgermeisters.
Sie selbst sagt nicht viel. Sie ißt und trinkt. Das Brot ist frisch, die Auswahl an Käse und Aufschnitt üppig. Leckeres Brot backt dieser Blom, denkt sie. Durch die hohen Fenster fällt helles Licht herein, und draußen sind – erst jetzt – aufgeregte Stimmen zu hören, obwohl die Kinder anscheinend schon verschwunden sind. Die Viehzüchterin sitzt ein klein wenig zu weit weg für ein Gespräch. Fast unmerklich nickt sie der hübschen Frau zu und hebt ihr Weinglas. Die andere erwidert diese Geste, als habe sie verstanden, daß die Königin gern mit ihr über Zuchtstiere, Kühe, Kälber, Gott und die Welt sprechen würde, wenn die Entfernung nicht leider zu groß dafür wäre. Dann erhebt sich eine der anderen Frauen: Frau Backer-Breed, Vortragskünstlerin, wie die Gattin des Bürgermeisters verkündet.
Während des Vortrags, teilweise im lokalen Dialekt gehalten, schweifen ihre Gedanken wieder ab. Sie denkt an Papi. Fragt sich, ob er abends auf der Piet Hein sein wird. Natürlich ist der Mann unmöglich, aber auf der Yacht fühlt er sich wohl. In knapp zwei Wochen hat er Geburtstag. Er geht nun auch auf die Sechzig zu, da wird er doch wohl keine Dummheiten mehr machen. Sie nippt an ihrem zweiten Glas, der Weißwein wurde offensichtlich mit Sachverstand ausgewählt. Als die Gesellschaft zu klatschen beginnt, klatscht sie mit. Dann kommen große Schalen mit frischen Erdbeeren auf den Tisch, dazu Schüsseln voll Schlagsahne. Der Kaffee, der das Mittagessen abrundet, ist stark. Unter ihren Sohlen knirscht es. Der Holzfußboden des Sitzungssaals ist mit Sand bestreut.
Die Schulkinder sind wirklich verschwunden. Aber insgesamt haben doch ziemlich viele Leute ausgeharrt. Auch die Pressefotografen sind noch nicht weg. Offiziell ist der Besuch mit dem Essen im Polderhuis zum Abschluß gekommen. Jetzt heißt es, zum Wagen zu gehen und ins nächste Dorf zu fahren. In das Dorf, das den Namen ihrer Urgroßmutter trägt. Ob die Menschen dort jemals darüber nachdenken, wie seltsam das eigentlich ist? Im Gegensatz zu den beiden anderen Bürgermeistern wird dieser nicht vorausfahren. Roëll hat wieder ihre Handtasche übernommen, sie selbst trägt das Bukett. Sie gehen in Richtung Straße. Der Kaffee hat die Wirkung von Sherry und Weißwein ein wenig gedämpft, aber noch erscheint ihr alles angenehm gewichtslos. Van der Hoeven ist dicht neben ihr, hin und wieder stößt er leicht gegen ihren Arm.
Aus dem jetzt ungeordneten, ausgedünnten Spalier tritt ein großer Mann im blitzsauberen Overall vor, in jeder Hand einen Strick und an den Stricken zwei winzige Zicklein. »Gnädige Frau«, sagt er.
»Ja?« fragt sie.
»Ich möchte Ihnen diese beiden jungen Zwergziegen zum Geschenk machen.«
»Ach«, sagt sie. »In wessen Namen?«
»In meinem Namen.«
»Und wie ist Ihr Name?«
»Blauwboer.«
Eins der Zicklein entdeckt in der Hand einer Frau, die zu nah bei dem Bauern steht, ein Sträußchen Bartnelken und knabbert es an. Sie gibt van der Hoeven ihr Bukett und geht in die Knie. Das andere Zicklein schnüffelt mit seinem weichen Näschen an ihrem Lederhandschuh. Die Tierchen sind braun mit einem schwarzen Fleck auf dem Kopf. Und so klein, daß sie beide leicht hochheben könnte. Sie tut es. Sie spürt die dicken, strammen Bäuchlein auf ihren Handflächen, der Bauer läßt die Stricke etwas nach.
»Ich habe drei Enkel«, sagt sie.
»Das weiß ich, gnädige Frau.«
»Die würden sich sehr über dieses Geschenk freuen.« Sie fühlt die beiden kleinen Herzen rasen.
»Das war mein Gedanke dabei«, antwortet der Bauer.
Fotografen drängen nach vorn, ein Polizeibeamter stellt sich ihnen in den Weg. Königin durchbricht Protokoll und spielt mit Zwergziegen. Sie sieht die Schlagzeile von morgen vor sich. Als sie sich bückt, um die Zicklein wieder auf den Boden zu stellen, befällt sie ein leichter Schwindel. Sie richtet sich unsicher auf, van der Hoeven faßt sie am Ellbogen. Eins der Zicklein beginnt laut zu meckern.
»Wir können sie jetzt nicht mitnehmen«, sagt ihr Privatsekretär.
»Das verstehe ich«, antwortet der Bauer.
Sie bedankt sich herzlich für das Geschenk und geht weiter. Van der Hoeven bleibt zurück. Sie hat jetzt nichts mehr in den Händen. Keine Tasche, kein Bukett, keine Zicklein. Harte braune Härchen kleben an ihren Handschuhen. Ein Zicklein für Willem-Alexander und ein Zicklein für Maurits. Jemand von den Stallungen soll die Tierchen möglichst bald abholen. Und für Johan Friso muß sie sich noch etwas anderes ausdenken.
Der Chauffeur wartet neben der geöffneten Tür.
»Wie steht’s mit dem Zeitplan?« fragt Roëll.
»Wir sind prima in der Zeit«, antwortet er. »Prima.«
Bevor sie einsteigt, schaut sie sich um. Fahnen flattern an fast jedem Haus, und schräg gegenüber, am anderen Ufer des Kanals, der das Dorf teilt, sieht sie wieder den glänzenden Lieferwagen stehen. Erst jetzt überlegt sie, warum er wohl nicht unterwegs ist. Oder beliefert der Bäcker nur ein so kleines Gebiet, daß er es an einem Vormittag schafft? Leute entfernen sich vom Polderhuis, drehen sich noch einmal um, drängen sich aber nicht um den Wagen. Sie gehen zur Tagesordnung über, die Kinder könnten schon wieder in der Schule sein. Nein, sie werden den Nachmittag frei haben, heute ist ein Festtag. Vielleicht hat das Dorf ein Schwimmbad. Dann sieht sie eine junge Frau näher kommen, gegen den allmählich versiegenden Strom. Sie trägt ein Kind auf dem Arm und schiebt mit der anderen Hand ein Fahrrad, was das Gehen etwas anstrengend macht. Ach ja, eine Frau, die sich verspätet hat. Die sich beeilt, um doch noch einen Blick von ihr zu erhaschen. Sie gibt dem Chauffeur ein Zeichen und geht der Frau ein Stück entgegen; aus dem Augenwinkel sieht sie, daß Roëll ihr folgt.
»Was hast du vor?« fragt ihre Privatsekretärin.
Sie antwortet nicht, sie wartet auf die junge Mutter.
»Die Zeit. Wir müssen die Zeit im Auge behalten«, sagt Roëll.
Dann steht die Frau vor ihr, sie ist ein wenig außer Atem. »Sind Sie zu spät aufgebrochen?«
»Ja, ich …«
»So ein goldiges Mädchen. Wie heißt du?«
Das Kind, das höchstens zwei sein kann, schaut sie mit großen blauen Augen an.
»Na, wie heißt du?«
»Anne«, flüstert das Kind.
»Hanne«, sagt die Mutter.
Sie zieht den rechten Handschuh aus. »Das H ist nicht einfach.« Sie streicht dem Kind über die Wange. Es erschrickt und drückt das Gesicht an den Hals der Mutter. »Und wie ist Ihr Name?«
»Anna Kaan, gnädige Frau.«
Na bitte, die weiß, wie sie es mag. »Ist die Zeit heute vormittag schneller vergangen als gedacht?«
Die Frau schaut sie an. Ihr erschrockener Blick weicht einem Lächeln. Sie antwortet nicht. Das Fahrrad, das an ihrer Hüfte lehnt, rutscht langsam ab und schlägt auf den Asphalt.
Die Königin streckt unwillkürlich beide Arme aus.
»Ist nicht schlimm«, sagt die Frau.
»Wir müssen fahren«, sagt Roëll, die irgendwo hinter ihr steht.
Es werden doch noch Fotos gemacht, sie sieht es nicht, sie hört es. Aufreizend nah ist das Klicken. Königin macht spontan kleinen Umweg. Noch eine mögliche Schlagzeile für morgen. »Sie hören es«, sagt sie zu der Frau. »Wir müssen fahren. Auf Wiedersehen, Hanne.«
»Auf Wiedersehen, gnädige Frau«, sagt die Mutter. »Danke.« »Wofür?«
»Daß Sie sich die Mühe gemacht haben …«
»Ich bitte Sie«, sagt sie. Als sie sich umdreht, steht nicht Roëll, sondern Jezuolda Kwanten hinter ihr. Auf Tuchfühlung. Warmer Atem streicht an ihrem Gesicht entlang. Die Schwester scheint sich die Poren und Unreinheiten in der Haut ihres Modells einprägen zu wollen. Damit ihr Bronzekopf möglichst naturgetreu ausfällt. Die Schwester aus der Kongregation der Schwestern der Liebe tritt zur Seite und folgt ihr mit einem Schritt Abstand zu den Wagen.
Sie winkt ein letztes Mal in Richtung Polderhuis, wo der Bürgermeister und seine Frau am Tor stehen und höflich auf ihre Abfahrt warten. Dann fallen sämtliche Autotüren zu. Noch bevor sich der Wagen in Bewegung setzt, hat Roëll wieder Papiere zur Hand genommen, in denen sie ungeduldig blättert. Die Königin zündet sich eine Zigarette an. Der Wagen biegt nach rechts ab und fährt sehr langsam auf den Dorfrand zu. Beim Hinausschauen sieht sie einen Friedhof, der direkt hinter dem Polderhuis liegt. Das ist ihr eben weder aufgefallen noch gesagt worden. Sie kommen an einem Wasserturm und einem Schöpfwerk vorüber. Am äußersten Rand des Dorfes steht eine Mühle am Fuß eines Deichs.
»Das mit den Ziegen …« beginnt Roëll.
»Ja?«
»So etwas kann man doch nicht machen.«
»Wieso nicht?«
»Bei allem Respekt, aber Ziegen!«
»Ja?«
»Wie kommen die nach Soestdijk?«
»Das hat van der Hoeven schon arrangiert.«
»Und diese Frau mit dem Kind.«
»Sie hat sich verspätet, das kann jedem passieren.«
»Man kann so etwas auch übersehen.«
»Ich will so etwas nicht übersehen. Es ist doch auch nett für sie, für das Kind. An diesen schönen, sonnigen Tag im Juni wird die Familie immer zurückdenken.« Sie zieht an ihrer Zigarette. »Nicht, daß ich es deshalb tue, natürlich nicht.« Roëll preßt die Lippen zusammen und schaut in ihre Papiere.
»Versuch dich doch mal in die Leute hineinzuversetzen. Kommt es nun auf die paar Minuten an?«
Darauf geht Roëll nicht ein. »1846«, sagt sie. »Der Polder trägt den Namen der Gemahlin König Wilhelms II.«
»Das brauchst du mir nicht vorzulesen. Wie heißt der nächste?«
»Warners.«
»Was steht auf dem Programm?«
»Eine Wasserskivorführung. Nachmittags um halb drei auf dem Oude Veer.«
»So?«
»Der vierte Teil ist Barfußwasserski.«
Die Königin drückt ihre Zigarette aus und zieht den rechten Handschuh an. Sie starrt aus dem Fenster. Hier ist manches wieder ein klein wenig anders als in der vorigen Gemeinde. Die Straßen, die Bauernhöfe, man sieht weniger Grasland. Wenn sie doch diese Wasserskivorführung schon hinter sich hätte. Auch da werden wieder Senioren sein. Wenn sie doch Den Helder schon hinter sich hätte. Sie sehnt sich nach der Piet Hein, seit Monaten ist sie nicht mehr auf der Motoryacht gewesen. Das polierte Birnenholz, die grün gepolsterten Rietveld-Sessel, die Etagenkojen. Papi – wenn er denn kommt – in der oberen Koje. Und sonst ein entspanntes Gespräch mit van der Hoeven, der geöffnete Barschrank in Reichweite. Morgen früh vielleicht selbst ein Weilchen steuern, oder wenigstens dem Skipper über die Schulter blicken. In zwei Monaten ein paar Tage am Stück auf der Yacht, anläßlich der Flottenparade bei den Harlinger Fischereitagen. »Barfußwasserski«, sagt sie. »Wie kommt man nur auf so was.«
Ich werde nie wieder etwas feiern. Nie. Wann sollte ich auch? Goldene Hochzeit nur mit Söhnen, nein. Nie wieder. Stroh ist längst nicht so hart, wie man meinen könnte. Wenn man sich auf Stroh setzen oder legen will, muß man wissen, wie. Man muß hin und her rutschen wie Kühe oder Schafe, die sich scheuern, so lange rutschen, bis alle harten, stechenden Halme einen Platz gefunden haben. Ich weiß genau, wie man’s macht; ein Dreiviertelleben Erfahrung mit Stroh. Es sind nicht bloß ein paar Ballen, es sind Hunderte. Was soll das Stroh hier eigentlich noch? Wozu ist es gut? Sie liegt auf dem Rücken und starrt zu der Stelle im Dach hinauf, an der ein paar Ziegel fehlen. Mit einer Tochter wäre es anders gewesen. Die hätte nicht nur getrunken und gefressen. Die hätte nicht über den Zoo gemeckert, in dem sich das Nachmittagsprogramm abspielte. Sie hätte ein Album mit Fotos und Anekdoten zusammengestellt, sie hätte ein Lied gedichtet, »nach der Melodie von dem und dem«, eins mit Reimen und zum Lachen, und das wäre von viel mehr Enkelkindern gesungen worden als von diesem einen, das auch noch geschmollt hat und frech wurde. Eine Tochter hätte sich neben ihren Stuhl gehockt und leise gefragt, ob alles so sei, wie sie es sich gewünscht habe. Die Mistbengel haben nur getrunken und gelacht, viel zu laut und über nichts, und Zeeger hat mitgemacht, abgesehen vom Trinken. Zeeger trinkt nie.
Durch die Lücke genau über ihr fällt eine staubige Bahn Sonnenlicht schräg in die Stallscheune. So schräg, daß es später Nachmittag sein muß. Freitag nachmittag.
Vor ein paar Stunden, bevor sie die Leiter hinaufgestiegen ist, hat sie die Lampe angeknipst. Jetzt ist es noch hell, aber in der Nacht wäre es hier dunkel gewesen. Dagegen hat sie vorgesorgt. Sie hat die wacklige Leiter hinter sich hochgezogen, sie an die aufgeschichteten Strohballen gelehnt und dann das Hochklettern und Hochziehen noch einmal wiederholt. Auf einem härteren Strohballen neben ihr liegen eine Wasserflasche, eine Packung Bokkenpootjes – ihre Lieblingskekse –, eine Flasche Eierlikör und der Paradedegen, der normalerweise unter den Bücherbrettern hängt. Etwas weiter weg die wacklige Leiter.
Die Luft hier drin steht; obwohl die Seitentüren und großen Hintertüren weit geöffnet sind, spürt man keinen Hauch. Sie richtet sich auf und greift nach der Flasche Wasser, anderthalb Liter. Beim Trinken betrachtet sie das Gerümpel auf dem Boden über der Milchkammer, schräg gegenüber vom Strohboden. Ein Wäschekorb, Blumenzwiebelkisten, ein verrosteter Boiler, Dachziegel, ein alter Mantel (hellblau), Zinkwannen, ein Kettcar, eine Kiste mit Jutesäcken voll Schafwolle. Die drei runden Fenster mit den schmiedeeisernen Verzierungen, eins direkt unterm First, zwei etwas tiefer, über den beiden Türen am Ende des langen Quergangs, erinnern sie an eine Kirche. Überall haben sich Dachziegel gelöst und sind nicht ersetzt worden, trotz des Ziegelvorrats, den sie gerade gesehen hat. An all diesen Stellen fällt Sonnenlicht herein.
Unter sich hört sie das Scheuern und Stöhnen des Stiers. Dirk. Ein überflüssiger Klumpen Fleisch. Sonst ist es still, so still, wie es nur an einem heißen Junitag sein kann. Die Schwalben fliegen fast lautlos ein und aus. Sie schraubt die Flasche wieder zu, hebt sie hoch, um zu sehen, wieviel Wasser noch drin ist, und legt sie neben sich. Als das Stroh ausgeknistert hat, hört sie Schritte. Sehr schnelle Schritte. »Dirk!« ruft eine helle Stimme. Dieke. Die Kleine weiß nicht, daß ihre Oma hier ist. Als die Schritte schon fast die Türen erreicht haben, ruft das Kind: »Onkel Jan!« Dirk beginnt zu schnauben. Dieke sagt noch etwas, aber das ist nicht zu verstehen. Kurz darauf ist es wieder still. Sie läßt sich vorsichtig zurücksinken, und nachdem sie kurz hin und her gerutscht ist, liegt es sich wieder ganz anständig auf dem Stroh. Soweit es sich noch auf irgend etwas anderem als einer weichen Matratze ganz anständig liegt, wenn man erst einmal über Siebzig ist. Sie kratzt sich langsam und ausgiebig den Bauch und reibt sich dann mit beiden Händen übers Gesicht.
Was soll der Stier hier noch? Weshalb verkauft Klaas das Riesenvieh nicht? Sie starrt durch die Lücke im Dach nach draußen. Ein kleines Rechteck Draußen. Gerade so viel, wie sie jetzt ertragen kann. Ich werde nie wieder etwas feiern. Nie. Wir können das nicht, feiern. Wir sagen immer genau das Falsche. Im Zoo sind die Jungs mit Gesichtern wie drei Tage Regenwetter herumgelaufen. Eine Tochter hätte Fotos gemacht oder ab und zu etwas gesagt wie: Schau mal, ein Pavian! Ich hab noch nie einen Pavian gesehen!
Irgendwo in der Scheune knackt es. Ein trockenes, dumpfes Knacken, und es muß etwas Größeres sein. Die Kehlbalken? Die Bretter des Heubodens? Die großen Türen?
Sechs Fenster hat das Wohnzimmer. Dieke schaut durch das Fenster mit dem Sprung. Sie sieht ein Stück Rasen, das vom Vorderhaus bis zur Straße reicht. Mitten auf dem Rasen steht eine riesige Blutbuche. Die Blätter bewegen sich nicht, auch das ungemähte Gras steht ganz still.
Dieser Sprung stört sie, schon sehr lange. Sie hat Angst, daß die Scheibe jeden Moment herausfallen könnte, vielleicht, wenn sie gerade davorsteht. Dieke seufzt und geht aus dem Wohnzimmer, über den Flur und in die Küche. Ihre Mutter sitzt rauchend am Tisch. »Was seufzt du so«, sagt sie.
Dieke gibt keine Antwort. Sie stellt sich ans Fenster und winkt mit beiden Armen ihrem Opa zu, den sie gegenüber, hinter dem breiten Wassergraben am Ende des Hofs und hinter Omas Gemüsegarten, an seinem eigenen Küchenfenster stehen sieht. Wenn Bettücher an der Wäscheleine hängen würden oder Hosen und Handtücher, könnte sie ihren Opa nicht sehen. Er winkt nicht zurück. Die Sonne scheint fast schon in die Küche. Opa geht vom Fenster weg. Sie seufzt noch einmal tief.
»Wo ist Onkel Jan?« fragt sie.
»Ist Jan da?«
»Ja«, sagt Dieke. »Er ist eben über die Brücke gekommen.«
»Ich weiß nicht, Dieke. Irgendwo hinten wahrscheinlich.« »Wieviel Uhr ist es?«
»Sechs.«
»Essen wir gleich?«
Ihre Mutter dreht den Kopf in Richtung Herd, auf dem keine Töpfe stehen. »Ja«, sagt sie. »Du kannst ihn ja mal suchen.« Sie drückt ihre Zigarette in dem überquellenden braunen Aschenbecher aus.
Dieke gleitet auf Socken über den Laminatboden. Auf der Kokosmatte hinter der Tür stehen ihre gelben Gummistiefel. Sie zieht einen Stiefel an, und noch während sie in den zweiten schlüpft, läuft sie los, weshalb sie nach vorn fällt. »Macht nichts, tut nicht weh«, sagt sie zu sich, als sie sich aufrappelt. In dem langen Gang, der das Vorderhaus von der Stallscheune trennt, ist es kühler als in den Wohnräumen. Der Betonboden ist knochentrocken. Wenn der Boden feucht ist, kommt Regen, das weiß sie. Es kommt kein Regen. Vom Gang springt sie über die beiden Betonstufen in die alte Milchkammer hinauf. Dahinter ist die Stallscheune. Sie bleibt kurz stehen und schaut nach oben. »Tut nicht weh, tut nicht weh.« Die Scheune ist sehr groß und dämmrig, sogar jetzt, wo alle Türen weit offenstehen. Die größten Türen sind an der Rückseite, etwa dreißig Schritte von hier, große Schritte. Ein riesiges Viereck aus hellem Licht, so hell, daß sie die dicken Balken auf den vier Pfosten nicht mehr sehen kann, als sie wieder zum Dachfirst hinaufschaut.
Sie fängt an zu rennen. Auf halbem Wege ruft sie ganz laut: »Dirk!« Der Stier dreht seinen großen Leib in die Richtung, aus der die Geräusche kommen, aber Dieke schaut gar nicht zu dem Tier hin. Sie rennt weiter. In der Türöffnung bleibt sie stehen. Vor ihr liegt der Schlagschatten des Bauernhofs, er reicht fast bis zur Beischeune. Eine der beiden Türen hängt schief in den Angeln. Neben der Beischeune ist auf der einen Seite der alte Misthaufen, auf der anderen steht ein Betonsilo mit weißen Schimmelflecken. Der Mist auf der Betonplatte ist pechschwarz, darin wimmelt es von Angelwürmern. Im Silo wächst Holunder.
Irgendwo hinten, hat ihre Mutter gesagt. Hinten ist sehr groß. In der Beischeune? Hinter den Grashaufen mit der Plane drauf? Oder sogar auf den Weiden? »Onkel Jan!« brüllt sie. Hinter ihr, im halbdunklen Bauch der Stallscheune, fängt der Stier zu schnauben an. »Dich ruf ich doch nicht«, sagt sie, ohne sich umzusehen. Sie geht ein paar Schritte und schreit noch einmal, noch lauter.
»Hier.«
»Wo ist hier?!«
»Hinter der Beischeune.«
Sie kann sich entscheiden: zwischen der Beischeune und dem Silo durchgehen, aber da stehen diese hohen Stechpflanzen, oder auf dem Weg am breiten Wassergraben entlang und dann noch ein kleines Stück nach rechts. Sie entscheidet sich für den Weg und wirbelt mit ihren gelben Stiefeln Staub auf. »Denk an den Graben«, sagt sie zu sich. »Denk an den Graben, denk an den Graben.« Als sie den Rücken ihres Onkels sieht, schaut sie sich um. Die Staubwolke, die über dem Weg hängt, senkt sich nur ganz langsam. Ihr Onkel sitzt auf einem Dammzaun. Bei ihm angekommen, packt sie mit beiden Händen das oberste Brett. Vorsichtig stellt sie einen Fuß auf das unterste, und erst, als sie sicher steht, auch den anderen. Onkel Jan sagt nichts und schaut sie auch nicht an. Er ist jemand, der nicht so schnell etwas sagt. Sie steht nun mit beiden Füßen auf dem zweituntersten Brett, und ihr Oberkörper ist schon nach vorn geneigt. Jetzt wird es schwierig. Sie muß sich am obersten Brett festhalten, damit sie nicht das Gleichgewicht verliert, aber wenn sie aufs dritte Brett steigt, fällt sie bestimmt nach vorn, mit dem Gesicht auf die harte, rissige Erde hinter dem Zaun. Einen Augenblick bleibt sie, wo sie ist, sie weiß nicht, ob sie weitermachen, aufhören oder lieber wieder runterklettern soll.
»Geht’s nicht?«
»Nein«, sagt sie.
Ihr Onkel springt auf den Boden, auf der anderen Seite des Zauns, und packt sie unter den Achseln. Als er sie hochhebt, schwingt sie selbst ihre Stiefel übers oberste Brett und setzt sich. Genau wie Onkel Jan, der auch wieder hochgeklettert ist, aber seine Beine sind viel länger, seine Füße stehen auf dem zweiten Brett, ihre auf dem dritten. Sie klammert sich fest, um nicht nach vorn oder, noch schlimmer, nach hinten zu fallen. Sie seufzt tief.
»Geht’s immer noch nicht?«
»Nein«, sagt sie.
»Halt dich an meinem Arm fest.«
Das tut sie, und so ist es besser. Solange sie sich an Onkel Jan festhält, kann sie nicht fallen. Sie rutscht lieber nicht hin und her, denn der Zaun ist alt, ein Zaun, an dem die Kühe genagt haben.
Onkel Jan schaut in die Ferne. Gras, gelbliche Stoppeln auf dem Land von Nachbar Brak, blauer Himmel. Es gibt keine Kühe auf den Weiden und auch keine Schafe. Gar nichts gibt es auf den Weiden. In einiger Entfernung steht ein zweiter Dammzaun und dahinter ein dritter. Eine Treckerspur führt schnurgerade von einem zum nächsten. Wo Kühe hingeschissen haben und das Gras etwas höher ist, sind schon die ersten Schatten. Die großen Windräder hinter dem dritten Zaun drehen sich nicht. Dieke spürt die Abendsonne im Nacken.
»Was machst du?« fragt sie.
Es dauert zu lange, ihr Onkel antwortet nicht. Zeit für eine neue Frage. »Warum sitzt du hier?«
»Darum.«
»Darum?«
»Nur so, weil mir das gefällt.«
»Ach so«, sagt Dieke. »Bist du mit dem Zug gekommen?« »Ja.«
»Aus Den Helder?«
»Ja.«
»Hat Oma dich abgeholt?«
»Nein, Opa.«
»War’s warm im Zug?«
»Sehr warm.«
»Hat er keine Verspätung gehabt?«
»Doch, natürlich. Die Schienen hatten sich ausgedehnt, durch die Hitze.«
»Ah. Ich war heut nachmittag im Schwimmbad.«
»Hast du schon dein Schwimmabzeichen?«
»Ich bin doch erst fünf!«
»Entschuldige.«
»Aber das Zeugnis hab ich.«
»Was für ein Zeugnis?«
»Na, daß ich durch einen Reifen getaucht bin, mit dem Kopf ganz unter Wasser.«
»Das ist gut.«
»Ja«, findet Dieke selbst auch. »Evelien hat sich nicht getraut.«
»Wer ist das?«
»Meine Freundin.«
»Ach, die.«
Dieke kann ihm anhören, daß er keine Ahnung hat, wer Evelien ist. »Oma traut sich auch nicht mit dem Kopf unter Wasser.«
»Ja, das ist ganz schlimm. Oma ist dreiundsiebzig und hat immer noch kein Schwimmabzeichen.«
»Du hast keinen Führerschein.«
»Da triffst du meinen schwachen Punkt, Dieke.«
Sie wartet einen Moment. »Oma ist doof.«
»So? Warum?«
»Darum.«
Keine Kühe, die zur Weide trotten und mit ihren Füßen den Staub aufwirbeln würden, auf dem Weg, an dem immer noch ein Elektrozaun steht. Es ist still, den Vögeln ist es auch zu warm zum Singen. Dann ist ein dumpfer Schlag zu hören, wie von Holz auf Beton vielleicht. Dieke erschrickt, sie packt den Arm ihres Onkels noch fester.
»Was kann das gewesen sein, Dieke?« fragt Onkel Jan.
»Ich weiß nicht«, piepst sie.
Klaas hat im alten Kuhgang in einem Sessel gesessen, den ein Bekannter dort abgestellt hat, weil der alte Kuhgang ein trockener und billiger Lagerraum für Möbel ist, die man gerade nicht gebrauchen kann. Er hat den Schwalben zugeschaut, die aus- und einflogen und mit weit aufgesperrten Schnäbelchen Mücken aus der Luft sammelten. Vom Stroh kamen keine Geräusche. Aus der Stierbox schon. Dieke ist eben noch daran vorbeigelaufen. Sie ist immer sehr ängstlich in der Scheune.