John Harvey
Schrei aus der Ferne
Kriminalroman
Deutsch von Sophie Kreutzfeldt
Deutscher Taschenbuch Verlag
Deutsche Erstausgabe 2012
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH und Co. KG, München
© 2012 für die deutschsprachige Ausgabe:
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH und Co. KG, München
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH, KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart
eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 41375 - 6 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 21392 - 9
Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website
www.dtv.de/ebooks
TEIL EINS
1
2
3
4
5
6
7
8
TEIL ZWEI 1995
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
TEIL DREI
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
TEIL VIER
44
45
46
47
48
49
50
51
52
53
54
55
56
57
58
59
60
61
62
63
64
65
66
67
68
69
70
71
72
73
74
75
76
[Informationen zum Buch]
[Informationen zum Autor]
Für
PETER COLES
Ein kleiner Dank für viele Jahre voller guter Ratschläge und uneingeschränkter Hilfe
All die süßen Kleinen?
Alle, sagst du? – O Höllengeier! – Alle!
William Shakespeare, ›Macbeth‹
Ruth stellte ihre Tasse ab, ging durch den Raum und öffnete die Schublade. Selbst mit Hausschuhen an den Füßen fühlte sich der Küchenfußboden kalt an. Februar. Heute Morgen um sieben, als sie zum ersten Mal hinausgegangen war, war es immer noch dunkel gewesen.
Der Umschlag war da, wo sie ihn hingelegt hatte, unter Quittungen für alte Stromrechnungen, Zetteln mit Mitteilungen von der Frau, die dienstags und donnerstags zum Putzen kam – Ruth hatte sich nie die Mühe gemacht, sie wegzuwerfen –, und Rezepten, die sie aus irgendwelchen Zeitschriften gerissen hatte: ein mattweißer selbstklebender Umschlag, dessen Ecken etwas wellig waren. In ihm steckte eine ganz normale Ansichtskarte, die eine größtenteils grün kolorierte Landkarte von Cornwall zeigte; auf der Rückseite stand über der Adresse in angestrengt sauberer Handschrift Ruths Name zusammen mit dem ihres Exmannes, Simon. Mr und Mrs Pierce. Die alte Adresse in London NW5. Der Text daneben war ein wenig schief, neigte sich von links nach rechts.
Liebe Mum, lieber Dad!
War heute wieder am Strand. Riesige Wellen!
Morgen gehen Kelly und ich zum Surfunterricht.
Hoffentlich geht es Euch gut. Bis bald.
Liebe Grüße,
Heather
Obwohl sie den Text auswendig wusste, las Ruth langsam jedes Wort, sorgfältig, nahm sich Zeit. Bis bald. Einen Moment lang schloss sie die Augen. Die Landkarte war mit kleinen Zeichnungen illustriert: die Kathedrale von Truro, eine Kuh über einem Eimer mit Milch, St Michael’s Mount, die Felsen von Land’s End.
Neben der gezackten Küstenlinie war auf halbem Weg zwischen Cape Cornwall und Sennen Cove mit dem Kugelschreiber ein kleiner Punkt gemacht worden, und wenn Ruth die Karte vor dem Küchenfenster in die Höhe hielt, wie sie es jetzt beim bereits schwindenden Nachmittagslicht tat, konnte sie einen schwachen Lichtschein durch das winzige Loch sehen, das absichtlich mit dem Stift gemacht worden war. Hier bin ich stand da in kleinen Buchstaben, die sich über das Meer erstreckten. Hier bin ich: Ein Pfeil zeigte auf den Punkt.
Wie lange sie dastand und hinausstarrte, dann hinunterstarrte auf die Karte in ihrer Hand, wusste sie nicht. Irgendwann hielt sie kurz die Luft an und schob die Postkarte wieder in den Umschlag, legte den Umschlag zurück in die Schublade, sah auf die Uhr und wendete sich schnell ab. Zeit, sich Schuhe und Mantel anzuziehen und ihre Tochter von der Schule abzuholen; ihre andere Tochter, Beatrice, die Tochter, die noch lebte.
Will Grayson hasste Morgen wie diesen, hasste diese Jahreszeit. Wenn der Wecker klingelte, war es nicht mehr so dunkel, dass er den Ruf ohne schlechtes Gewissen ignorieren und zehn oder fünfzehn Minuten länger rausschlagen konnte, sofern die Kinder nebenan nicht aufwachten. Vielmehr begann der Himmel am fernen Horizont aufzubrechen, und es war schon so hell, dass er davon aus dem Bett gescheucht wurde.
Neben ihm bewegte sich Lorraine, und für einen Augenblick kehrte er zu ihrer Wärme zurück. Als er die glatte Haut auf ihrer Schulter küsste, griff sie schläfrig mit der Hand nach seiner, aber dann riss er sich los.
Unten zog er seine Laufsachen an und schnürte die Schuhe zu. Susies erstes Schreien erklang, als er den Riegel an der Tür zurückzog und nach draußen trat. Ein paar Stretchübungen, und schon lief er los. Die schmale Straße führte zum Ende des Dorfes und zu dem Pfad zwischen den Feldern, der ihn zum Fenn bringen würde.
Obwohl er es manchmal leugnete und jede Verantwortung abstritt, war es Will gewesen, der sie letztendlich hierher gebracht hatte, in dieses kleine lang gestreckte Dorf im dünn besiedelten Norden der Grafschaft, wo unter dem weiten Himmel alles Wasser zu sein schien, manchmal sogar das Land.
Richtig war, dass Lorraine, noch bevor Jake, ihr erstes Kind, geboren wurde, gedrängt hatte, aus der Stadt fortzuziehen, aus dem kleinen Reihenhaus mit dem winzigen Garten und den feuchten Wänden. Irgendwo aufs Land, wo sie mehr Platz und frische Luft hatten, wo die Kinder – sie hatte immer von mindestens zwei gesprochen – in gesunder Umgebung aufwachsen konnten. Will hatte halb zugestimmt, aber trotzdem gezögert, weil er das betriebsame und lebhafte Cambridge mochte, wo natürlich auch ihre Freunde lebten. Außerdem fürchtete er die lange Fahrt zur Arbeit, den langsam im Stau dahinkriechenden Verkehr. Vielleicht sollten sie lieber an Ort und Stelle bleiben und sich nach oben orientieren, schlug er Lorraine vor. Ein ausgebautes Dachgeschoss, davon gab es genug. Aber nachdem sie etwas in der Stadt angesehen hatten – nicht größer als ihr eigenes Haus, aber fast doppelt so teuer – und von Ely aus nach Osten gefahren waren, war ihnen ein Schild mit der Aufschrift Zu verkaufen aufgefallen. Es führte sie von der Hauptstraße weg und stammte nicht von einem Makler, sondern von dem Eigentümer persönlich, einem Bauherrn mit einem Blick für Gestaltung, der das Land vor zwei Jahren gekauft und das Haus – einfach, klare Linien, helles Holz und Glas – als Traumhaus für seine Frau gebaut hatte. Es war wohl eher sein Traum gewesen als ihrer, wie sich herausgestellt hatte.
Will gefiel die hölzerne Veranda, die an der Rückseite des Hauses verlief, die angenehme Atmosphäre der Räume, die hohen breiten Fenster, aus denen man die Kathedrale von Ely und die langsam untergehende Sonne sehen konnte.
»Also, was denkst du?«, hatte er Lorraine gefragt und voller Freude die Antwort in ihren Augen gelesen.
Sobald der Reiz des Neuen vergangen war, waren sie überzeugt davon, einen Fehler gemacht zu haben. Will war fast im Zentrum von Cambridge stationiert, in der Polizeidienststelle an der Parkside, und an manchen Tagen – an den meisten – dauerte die Fahrt noch länger, als er erwartet hatte. Lorraine, die nur ein Krabbelkind zur Gesellschaft hatte, fühlte sich in den langen Stunden seiner Abwesenheit vom Leben abgeschnitten. Sie glaubte, sie würde langsam den Verstand verlieren. Manchmal dachte sie, es ginge sogar ganz schnell.
»Okay«, hatte Will dann gesagt. »Wir verkaufen. Begrenzen den Schaden. Suchen uns was anderes.«
Sie waren geblieben. Nach und nach, fast widerstrebend, fand Lorraine andere Frauen im Dorf, andere Mütter, mit denen sie gemeinsame Interessen hatte. Will wurde fest als Detective Inspector ins Morddezernat übernommen, und er brachte Detective Sergeant Helen Walker als seine Nummer Zwei mit – eine gute Arbeitsbeziehung, die sich inzwischen fast fünf Jahre lang bewährt hatte. Wie lange Will an ihr festhalten konnte, bis sie selbst einem Kommando vorstehen würde, wusste er nicht.
In letzter Zeit hatte er gemerkt, dass Helen irgendetwas quer lag, dass ihre Zunge spitzer und ihr Temperament aufbrausender denn je waren. Und vielleicht war es das. Ein Mangel an Anerkennung. Vielleicht hatte sie sich zu lange in seinem Kielwasser bewegt.
Vierzig Minuten nachdem er aufgebrochen war, kehrte Will mit schmerzenden Muskeln, klarem Kopf und an der Haut klebendem Unterhemd ins Haus zurück; er duschte schnell, rubbelte sich ab und ging dann zum Frühstück in die Küche, wo Jake sich Rice Krispies in den Mund löffelte, als gäbe es kein Morgen, und Susie es schaffte, mehr von dem Brei aus ihrer Schale in ihr Haar zu befördern als sonstwohin.
Will schenkte sich eine zweite Tasse Kaffee ein und strich Marmelade auf seine letzte Scheibe Toast; Lorraine war oben und gab ihrem Gesicht den letzten Schliff. Drei Tage die Woche arbeitete sie im Sekretariat des King’s College, und an den betreffenden Tagen lieferte sie Susie bei einer Tagesmutter ab, bevor sie Jake in die Grundschule brachte, von der ihn die Tagesmutter nach dem Unterricht abholte.
Will trank die restlichen Schlucke Kaffee, spülte den Becher aus und bückte sich dann, um Jake kurz zu umarmen und ihm einen Kuss auf den Kopf zu drücken. »Hab einen schönen Tag in der Schule. Streng dich an!«
»Okay.«
Susie streckte die Arme nach ihm aus, und es gelang ihm, sie auf die Wange zu küssen, ohne dass sein Hemd von ihren klebrigen Fingern Breiflecken bekam.
»Dad?« Jakes Stimme ließ Will an der Tür innehalten. »Können wir Fußball spielen, wenn du heute Abend nach Hause kommst?«
»Klar.«
Wenn sie die Vorhänge in der Küche und im Wohnzimmer offen ließen, hätten sie so viel Flutlicht, wie sie brauchten. Jake würde Manchester United sein, wahlweise Rooney oder Ronaldo, während Will zu Cambridge United verdammt war. Gelinde gesagt, ein ungleiches Match.
Als Will in die Diele trat, war Lorraine fast unten an der Treppe angekommen.
»Gehst du schon?«, fragte sie.
»Ich muss.«
»Kommst du spät nach Hause?«
»Nicht später als sonst.«
Sie kam in seine Arme, und als er den Kopf zu ihr beugte, küsste sie ihn leicht auf die Lippen und trat zurück. »Später, okay?«
Will lachte. »Kann ich dich beim Wort nehmen?«
»Träum weiter!«
Immer noch lachend zog er seinen Mantel vom Haken und trat durch die Tür.
Wie so oft war Helen vor ihm da, lehnte sich auf dem Parkplatz des Reviers an das Dach ihres blauen VW und rauchte eine letzte Zigarette, bevor sie das Gebäude betrat.
In den vergangenen paar Jahren hatte sie es mit Pflaster, Hypnose, Nikotinkaugummis, sogar Akupunktur versucht, aber sie hatte es nie geschafft, länger als drei Monate aufzuhören: ein besonders scheußlicher Fall, wieder eine Reihe von Tagen, an denen sie in aller Frühe aufstehen musste, obwohl sie spät, sehr spät ins Bett gekommen war, und sie war abgesprungen und rückfällig geworden.
Sie richtete sich auf, als Will näher kam, und blinzelte ein wenig in dem Licht, das überraschend hell für diese Tageszeit, diese Jahreszeit war. Helen trug schwarze Hosen und rote Stiefeletten sowie einen grauen Pullover unter einem blauen Wollmantel. Ihr frisch aufgehelltes Haar hatte sie zurückgebunden. Will dachte nicht zum ersten Mal, was für eine attraktive Frau sie doch war, und fragte sich, warum die Männer – wenn sie Männer bevorzugte, was so zu sein schien – nicht vor ihrer Tür Schlange standen.
Aber vielleicht taten sie das.
Von einer bitteren und etwas bizarren Beziehung abgesehen, hatte Helen ihm nie irgendetwas über die Wechselfälle ihres Privatlebens anvertraut – und damals auch nur, weil sie im Krankenhaus gelegen hatte und sehr deprimiert gewesen war.
»Hallo«, sagte sie jetzt fröhlich.
»Hallo.«
»Alles in Ordnung mit den Kindern?«
»Prima.«
»Und mit Lorraine?«
»Auch.«
Helen grinste. »Du bist wirklich ein Glückspilz, was?«
»Ach ja?«
»Schöne Frau, wunderbare Kinder, höhere Aufklärungsrate als alle anderen.«
Will runzelte die Stirn. »Läuft das auf irgendwas hinaus? Oder ist es nur dein stinknormales Sticheln am Montagmorgen?«
Helen neigte den Kopf zur Seite. »Es läuft auf was hinaus.«
»Wenn es nämlich um deine Beförderung geht, ich habe dir doch gesagt, dass ich alles unterstütze …«
»Es geht nicht um die Beförderung, so überfällig sie auch ist.«
»Worum dann?«
»Mitchell Roberts.«
»Was ist mit ihm?«
»Er ist entlassen worden.«
»Wann?«
»Ende letzter Woche.«
»Mein Gott!«
»Gerichtliche Verfügung, ihn unter Aufsicht zu stellen, aber …« Helen zuckte die Achseln.
»Mein Gott!«, sagte Will noch einmal. »So eine Scheiße!«
Helen drückte ihre Zigarette unter der Hacke aus und folgte ihm zwischen den Autos hindurch zum Eingang des Gebäudes.
Es war vor drei Jahren und einigen Monaten im Hochsommer gewesen. Ein norwegischer Lastwagenfahrer, der eine Ladung Holzspäne beförderte, war über einen geraden Abschnitt der A10 nach Süden gefahren und musste einer kleinen Gestalt ausweichen, die ziellos am Straßenrand herumstolperte. Der Fahrer hatte angehalten, gewartet und unsicher in den Rückspiegel geblickt – ein Ausländer in einem fremden Land, der sich auf der Fahrt vom Hafen in Immingham schon verspätet hatte und auf keinen Fall in irgendetwas hineingezogen werden wollte.
Während er noch zögerte, fiel die Gestalt – ein Mädchen, er war sich fast sicher – einfach um und blieb bewegungslos auf dem Grünstreifen liegen. Er fluchte leise vor sich hin, stellte den Motor ab und kletterte aus dem Führerhaus.
Ein Bein lag ausgestreckt zum Straßenbelag hin da, das andere war angewinkelt; ihre Fußsohlen waren rissig und blutig, die Schnitte mit Kies und Erde verkrustet. Sie trug eine übergroße Öljacke, sonst nichts. Die dunkelgrüne Jacke stand offen und hatte Ölflecken. Das Mädchen war kaum in der Pubertät, die Hüftknochen stachen scharf unter der dünnen Haut hervor, ein paar Härchen wuchsen dunkel zwischen den Beinen. Die Brüste, fast noch wie die eines Jungen, hoben und senkten sich leicht über dem Umriss der Rippen. Die Augen waren geschlossen.
Ohne sie zu bewegen, bedeckte der Fahrer ihren Körper so gut er konnte, dann rannte er zum Lastwagen und holte sein Handy.
Der erste Polizeiwagen aus Ely war in sieben Minuten da, der Krankenwagen in zehn; Will, der an einer Sitzung im Polizeihauptquartier in Huntingdon teilgenommen hatte, traf ein, als die Sanitäter das Mädchen auf eine Trage legten. Sie war viel zu verschreckt, um mit jemandem zu sprechen oder auch nur ihren Namen zu nennen. Als sich Will vorsichtig zu ihr hinunterbeugte und ermutigend lächelte, zuckte sie zusammen.
Es dauerte mehrere Stunden, bis sie ihren vollen Namen herausbekamen: Martina Ellis Jones. Sie lebte mit ihrer Mutter und drei Geschwistern etwa eine Meile von Littleport entfernt auf einem inoffiziellen Stellplatz für Zigeuner und Landfahrer, einem wenig ansprechenden Stückchen Erde zwischen dem Old Croft River und Mow Fen.
Als Will später an jenem Tag über die schmale Straße fuhr – kaum mehr als ein Weg –, hing die Sonne tief am Himmel, dunkelrot und von Wolken zerschnitten.
Vier Wohnwagen waren wie zum Schutz gegen feindliche Elemente und den durchdringenden Wind mehr oder weniger kreisförmig angeordnet. Fast erloschen schwelte ein Feuer an einer Stelle etwa in der Mitte, Spielzeug und diverse Fahrräder lagen verstreut herum. Direkt außerhalb des Kreises standen zwei Autos; ein drittes ohne Räder war etwas weiter hinten auf dem Weg auf Ziegelsteinen aufgebockt.
Als Will an die Tür des ersten Wohnwagens klopfte, hörte er das tiefkehlige Knurren eines Hundes, der zu bellen begann, als er noch einmal klopfte. Eine Stimme im Inneren schrie den Hund an aufzuhören, dann wurde offenbar etwas durch die Luft geschleudert, und ein Jaulen ertönte, bevor wieder Stille einkehrte. Niemand kam an die Tür.
Will wurde klar, dass er sich zu den feindlichen Elementen zählen musste.
Als er schließlich beim dritten Wohnwagen ankam, war seine Ungeduld nicht mehr zu verkennen: Er trat mit dem Fuß an die Tür und stieß eine scharfe Warnung aus, die Polizei nicht bei ihren Ermittlungen zu behindern. Dazu den Namen des Mädchens. Noch ein Hund fing zu bellen an, anders als der erste. Eine andere Stimme befahl ihm, ruhig zu sein, drohte dem Tier Gott weiß welche Strafe an, und das Bellen hörte auf.
Langsam öffnete sich die Tür.
Der Mann, der dort stand, musste sich seiner Größe wegen ein wenig in der Türöffnung ducken; er hatte eine silbergraue Haarmähne, die auf seinen Schultern auflag, und seine Nase war nicht nur einmal gebrochen. Er trug einen zerlumpten Pullover über einem kragenlosen Hemd und eine schwarze Hose mit einem ausgefransten Seil als Gürtel; in der linken Hand hielt er einen lackierten Spazierstock, auf den er sich beim Stehen stützte. Einen Moment lang erblickte Will den Hund zwischen seinen Beinen, dann war er verschwunden.
»Martina Jones«, sagte Will.
»Was ist mit ihr?« Die Stimme war rau und krächzend. Will hätte den Mann auf sechzig oder älter geschätzt, wäre da nicht das Leuchten in seinen Augen gewesen.
»Sie lebt hier?«
»Was geht Sie das an?«
»Lebt sie hier?«
»Jawohl«, sagte der Mann. »Wenn sie Lust hat.«
»Könnte ich vielleicht reinkommen?«, fragte Will.
Der Mann rührte sich nicht vom Fleck.
Um sie herum rührte sich jetzt allerlei: Die Stimmen von Erwachsenen und auch von Kindern waren zu hören; die Bewohner kamen heraus, wollten wissen, was los war.
»Was«, sagte der Mann, »hat Martina jetzt schon wieder angestellt?«
»Schon wieder?«
Der Mann sah ihn unbeeindruckt an.
»Was soll das heißen, schon wieder?«, fragte Will.
»Tut nichts zur Sache.«
»Sie sagen damit …«
»Ich weiß, was ich damit sage.« Er klopfte mit dem Stock auf den Boden. »Wo ist das Mädchen?«
»Im Krankenhaus. In Huntingdon.«
»Also ist es was Ernstes?«
»Ziemlich ernst.«
Der Mann fluchte und stieß den Stock heftig gegen die Seite des Wohnwagens, was ein kleines Kind im Inneren zum Weinen brachte. »Was ist passiert?«, fragte er.
»Sie ist an der A10 entlanggelaufen.«
»In Gottes Namen«, sagte der Mann und schlug seinen Stock noch einmal gegen den Wohnwagen, »habe ich sie nicht immer wieder davor gewarnt?«
»Wovor gewarnt?«
»Vor dem Weglaufen.«
»Ist Martinas Mutter hier?«, sagte Will.
»Das ist doch egal.«
»Wenn sie hier ist …«
»Sie sprechen mit mir, das muss genügen.«
»Sind Sie Martinas Vater?«
Er lachte. »Seh ich etwa so aus?«
Will hob beide Schultern. »Ist er denn hier? Der Vater?«
»Wenn er hier wäre, würde ich ihm mit diesem Stock den Kopf abschlagen und ihn an die verfluchten Krähen verfüttern.«
Eine jüngere Frau erschien hinter ihm in der Türöffnung, ein Baby mit verschmiertem Mund an der nackten Brust.
»Was ist los?«, fragte sie. »Geht es um Martina? Hat er Martina gesagt?«
»Geh wieder rein und zieh dir was an, verdammt.«
»Jemand muss ins Krankenhaus mitkommen«, sagte Will. »Sie und Martinas Mutter. Es gilt einige Fragen zu beantworten. Wie es dazu gekommen ist, dass man sie dort gefunden hat. Ein paar andere Sachen.«
Er sagte nichts über Wunden auf der Schulter des Mädchens, die vermutlich von Bissen herrührten, den Striemen auf ihrem Gesäß, dem dünnen Rinnsal aus getrocknetem Blut auf der Innenseite ihres Oberschenkels. Das konnte warten.
Der Name des silberhaarigen Mannes war Samuel Llewelyn Mason Jones. Er war Martinas Großvater und der Patriarch eines lockeren Verbundes von Schwestern, Brüdern, Vettern, Kusinen und Lebensgefährten, die an der Ostküste des Landes mehr oder weniger nach Belieben herumreisten. Cleethorpes, Hunstanton, Wisbech, Market Rasen, Lowestoft, Colchester, bis hinunter nach Canvey Island.
Martinas Mutter, Gloria, hatte Martina bekommen, als sie gerade sechzehn war; seither hatte sie noch drei weitere Kinder geboren, zwei Jungen und ein Mädchen.
»Eine wilde Bande, alle zusammen«, sagte Jones. »Ich bin’s, der sie unter Kontrolle halten muss.«
Will dachte an den rohen Striemen auf dem Gesäß des Mädchens und an das Seil um die Taille des Großvaters, an andere Dinge, die passiert waren oder auch nicht, Dinge, die der alte Mann getan hatte oder auch nicht.
Martina, so schien es, rannte immerzu weg, eine Gewohnheit, ein Zwang: manchmal nicht weiter als bis zu einem nahen Feldrand, wo sie sich versteckte; manchmal legte sie sich in ein altes Bauernhaus, in einen Traktoranhänger, in ein leeres Ölfass, das auf die Seite gerollt war. Meistens, aber nicht immer, kam sie von allein zurück. Normalerweise am selben Tag. Diesmal war sie seit dem späten Nachmittag des Vortags verschwunden gewesen.
»Sie haben sie nicht als vermisst gemeldet?«, fragte Will.
Jones sah ihn an, als wäre Will ein Narr.
»Haben Sie sie gesucht?«
»Natürlich. Wir alle. Keine Spur von ihr.«
»Und sie ist über Nacht weggeblieben?«
Jones sah ihn ungerührt an. »Sie war irgendwo.«
»Wissen Sie, wo das gewesen sein könnte?«
»Fragen Sie sie doch.«
Aber Martina redete nicht, nicht mit ihrer Mutter oder ihrem Großvater, nicht mit dem Arzt oder den Krankenschwestern, schon gar nicht mit Will. Auch nicht mit Helen, als diese eintraf. Klaglos lag sie da und presste die Augen fest zusammen, als man sie gründlich untersuchte und Abstriche von verschiedenen Teilen ihres Körpers genommen wurden.
Sie war keine Jungfrau mehr. Vor kurzer Zeit hatte sie Geschlechtsverkehr gehabt, und abgesehen von einigen leichten Abschürfungen, die vermutlich auf die Tatsache zurückzuführen waren, dass sie klein war, gab es keinerlei Hinweise, dass es gegen ihren Willen geschehen war. Auf der Rückseite ihrer Beine und auf ihrer Brust gab es schwache Spuren von Sperma und auch Speichel.
Als der Großvater davon unterrichtet wurde, zeigte er sich kaum überrascht, sondern grunzte und sah zur Mutter hinüber. »Der Apfel«, sagte er, »fällt nicht weit vom Stamm.«
Will vernahm ihn weiter, und Helen sprach mit Gloria und dann noch einmal – ergebnislos – mit Martina. Weitere Mitglieder der Familie wurden befragt, während Beamte den Wohnwagen gründlich durchsuchten. Wie ein Fliegenschwarm im Hochsommer machten sich Sozialarbeiter über die anderen Kinder her.
Erst am dritten Nachmittag, als Helen schon fast die Hoffnung aufgegeben hatte, dass Martina etwas sagen würde, erwähnte das Mädchen Mitchell Roberts’ Namen. Zuerst sprach sie nur von Mitchell.
»Sagen Sie Mitchell, dass es mir gut geht«, sagte sie. »Sonst macht er sich nämlich Sorgen.«
Mitchell Roberts lebte und arbeitete bei Rack Fen: Er hatte dort eine hauptsächlich aus Betonstein und Wellblech errichtete kleine Tankstelle mit Werkstatt und einer ebenerdigen Wohnung im hinteren Teil. Sie war weniger als eine Meile vom Lager der Familie Jones entfernt, genauso weit weg war die Stelle, wo Martina gefunden worden war.
In einer Ecke der Werkstatt unterhielt Roberts ein kleines Lager mit Vorräten für Landwirte, die kamen, um Diesel zu tanken oder einen kaputten Reifen zu ersetzen: Tierfutter und Dünger und verzinkte Futterschaufeln. Hinter der Kasse standen auch Tüten mit H-Milch und Zigaretten zum Verkauf, Schachteln mit Frühstücksflocken und Schokoladenriegel, die ihr Verfallsdatum lange überschritten hatten, außerdem Getränkedosen, Pepsi und 7-Up, lauwarm, weil der Kühlschrank ständig den Geist aufgab.
Will hatte Roberts per Computer überprüfen lassen, bevor er und Helen aufbrachen. Dieser erste Versuch hatte nicht viel erbracht: keine polizeiliche Akte, keine Vorstrafen. Anscheinend hatte er das Geschäft drei Jahre zuvor übernommen, nachdem es fast genauso lange leer gestanden hatte. Es hieß, er kenne sich mit Traktoren bestens aus und man könne sich in einem Notfall auf ihn verlassen.
In einem Teil des Landes, wo das Reden um des Redens willen nicht sonderlich hoch im Kurs stand, hielt man Roberts für recht gesellig; bereitwillig unterbrach er seine Arbeit, um seine Meinung zum Besten zu geben: zum Wetter, wurde immer schlechter, zum Wasserpegel, steigend, und zu der Tatsache, dass der Benzinpreis in ungeahnte Höhen schoss. Hatte der Einmarsch in den Irak das nicht eigentlich regeln sollen?
Was für ein Leben er führte, sobald das Licht ausgeschaltet und die Treibstoffpumpen abgeschlossen waren, wusste man weder noch kümmerte man sich darum. Bis jetzt.
Wills Jackett lag auf dem Rücksitz, und sein Hemd klebte am Rücken; neben ihm hatte Helen das Fenster heruntergelassen und hielt die Finger in die Luft. Das Thermometer im Auto zeigte sechsundzwanzig Grad an.
Die Öljacke, die Martina Jones getragen hatte, lag doppelt in Plastik eingeschlagen im Kofferraum.
Will lenkte den Wagen an den Straßenrand und brachte ihn zum Stehen. Eine einsame Krähe hüpfte ein Stück weit weg und fuhr dann damit fort, auf dem Boden herumzuhacken.
»Oh Gott!«, sagte Helen, als sie die Wagentür schloss und sich umsah. »Kannst du dir vorstellen, wie das sein muss? So weit draußen zu leben?«
Will folgte ihrem Blick über die flache, fast kahle Landschaft zu der kleinen Erhöhung im Westen, die ein optimistischer Kartograph Croft Hills genannt hatte.
»Das muss ich mir nicht vorstellen«, sagte er.
Helen schüttelte den Kopf. »Im Vergleich zu hier lebst du in einer Metropole.«
Der Mann, der aus dem Gebäude trat und ihnen entgegenkam, war mittelgroß, hatte hellblondes Haar und trug ein kariertes Hemd unter einer Latzhose, die mehr als eine Wäsche ausgelassen hatte. Will hätte ihn auf Mitte bis Ende vierzig geschätzt, wenn ihm nicht bereits bekannt gewesen wäre, dass Roberts zweiundfünfzig war.
Roberts sah von Will zu Helen und zur Sicherheit noch einmal zurück. »Sie müssen sich verfahren haben«, sagte er.
»Glauben Sie?«
»Ich kenn einfach jeden hier in der Gegend und ich hab Sie noch nie gesehen. Also wenn Sie nicht jemand hier draußen besuchen wolln oder ’n dringendes Bedürfnis haben, das Schwemmland zu sehn, würde ich sagen, ja, Sie haben sich verfahren.«
»Denken Sie noch mal darüber nach«, sagte Will.
Roberts warf einen Blick über die Schulter auf nichts im Besonderen. »Dann sind Sie von der Polizei«, sagte er.
Will hielt ihm seinen Polizeiausweis hin. »Mitchell Roberts?«, sagte er.
Roberts nickte. »Dem Finanzamt und ’n paar anderen einschlägigen Institutionen zufolge, ja. Die meisten Leute nennen mich Mitch.«
»Sie hat sie Mitchell genannt«, sagte Helen.
Roberts blinzelte. »Sie?«
»Sagen Sie Mitchell, dass er sich keine Sorgen machen soll. Das hat sie gesagt.«
Roberts trat einen halben Schritt zurück und legte die Hand auf die Hüfte.
»Haben Sie sich am Bein verletzt?«, fragte Will.
»Vor ’ner Weile ist ’n Traktorchassis draufgefallen. An manchen Tagen tut es mehr weh als an anderen.«
»Wenn Sie nervös sind, vielleicht?«, schlug Will vor.
»Bin ich denn nervös?«
»Das müssen Sie mir sagen.«
»Ich …« Er lächelte. »Ich weiß gar nicht, worum’s geht. Irgendeine Frau sagt, ich soll mir keine Sorgen machen.«
»Keine Frau«, sagte Helen. »Nicht direkt.«
»Sie sagten doch …«
»Eher ein Mädchen.«
»Ich kenne kein …«
»Martina.«
»Wer?«
»Martina Jones.«
»Nee, tut mir leid, ich …« Roberts hob eine Hand und schüttelte den Kopf.
Will ließ das Schloss am Kofferraum aufschnappen, nahm die Jacke in ihrer Plastikverpackung heraus und legte sie über den Arm. Er trat auf Roberts zu und hielt die Jacke hoch.
»Oh«, sagte Roberts, und Erleichterung breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Gott sei Dank. Ich hab schon gedacht, die werd ich nie wiedersehen.«
»Gehört sie Ihnen?«
»Ja, das is’ meine. Die würd ich überall erkennen, eingewickelt oder nicht.«
»Sind Sie sicher?«
»So sicher, wie ich hier stehe.« Er lächelte. »Ich erkenn jeden verdammten Fleck da drauf.«
»Würden Sie uns erzählen, wie sie Ihnen abhandengekommen ist?«, fragte Will.
»Abhandengekommen? Na, die Kleine hat sie mir geklaut, so war das.«
In Wills Schläfe begann ein Nerv zu zucken. »Welche Kleine denn?«
Roberts sah ihn an. »Die, von der Sie mir erzählt haben, schätze ich. Wie hieß sie noch mal?«
»Sie wissen es nicht mehr?«
»Nein, ich weiß es nicht mehr.«
»Martina«, sagte Will ruhig. »Martina Ellis Jones.«
Roberts scharrte mit der Zehenspitze in der Erde. »Ich hab ihren Namen nicht gekannt.«
»Aber Sie haben ihr Ihre Jacke gegeben.«
»Ganz bestimmt nicht. Sie hat sie geklaut, das hab ich doch schon gesagt.«
»Wann war das?«
Roberts dachte darüber nach. »Muss inzwischen drei, nein, vier Tage her sein.«
Will und Helen tauschten einen kurzen Blick aus.
»Wie wär’s denn, wenn Sie uns erzählen, wie Martina zu Ihrer Jacke gekommen ist?«, sagte Helen.
»Wollen Sie reinkommen?«, fragte Roberts und schlurfte ein wenig zur Seite. »Raus aus dieser Hitze. Ich hab Brause da oder ich kann Tee machen.«
Weder Will noch Helen rührten sich von der Stelle.
Roberts räusperte sich. »Sie sind immer mal vorbeigekommen, sie und ihre Brüder«, sagte er. »Manchmal noch ’n anderes Mädchen. Die sind über die Felder gelaufen.« Er zeigte auf eine schmale Lücke in der niedrigen Hecke, wo der Anfang eines Pfads sein mochte. »Zigeuner, fahrendes Volk, wie immer Sie die nennen wollen.« Er spuckte zu Boden. »Manchmal hatten sie Geld. Haben sie ihrer Mutter wahrscheinlich aus der Geldbörse geklaut. Dann haben sie sich ’ne Pepsi oder so gekauft. Hab einen von den Jungs mal erwischt, wie er sich einfach so zwei Marsriegel nehmen wollte, und hab ihm ’nen Tritt in den Hintern gegeben. Hab sie alle weggejagt. Hab ihnen gesagt, wenn einer von denen das noch mal macht, brauchen sie nicht mehr wiederzukommen.«
»Und?«, fragte Will.
»Was?«
»Sind sie wiedergekommen?«
»Nach ’ner Weile.«
»Ist Martina jemals allein hierhergekommen?«, fragte Helen.
Roberts schluckte und wischte sich mit der Hand über den Mund. »Hin und wieder.« Angesichts der Hitze war es keine Überraschung, dass ihm der Schweiß in Strömen übers Gesicht lief.
»Zum Beispiel an dem Tag, an dem sie Ihre Jacke mitgenommen hat?«
»Ja. Zum Beispiel.«
»Erzählen Sie uns, was an diesem Tag passiert ist«, sagte Will.
Roberts blinzelte, weil ihm Schweiß in die Augen gelaufen war. »Gibt nix zu erzählen. Ich hab so ziemlich den ganzen Nachmittag an ’nem Anhänger gearbeitet und bin dann ins Haus, um abzuwaschen, und da war sie.«
»Im Haus?«
»Nein. Sie saß da drinnen auf der Theke, frech wie Oskar, und aß ’n Twix. Ich weiß noch, was ich zu ihr gesagt hab, nämlich: Ich hoffe nur, dass du das bezahlst.«
»Und hat sie?«
»Oh ja.«
»Sie hatte Geld?«
»Wie hätte sie sonst bezahlen sollen?«
Will sah ihn an. »Sie haben sie dann ins Haus mitgenommen?«
»Warum hätte ich das tun sollen?«
»Vielleicht, um die Jacke zu holen?«
Roberts schüttelte den Kopf. »Die Jacke hängt immer an ’nem Haken direkt da drin.« Er zeigte in die Werkstatt, deren Tür offen stand. »Ich kann’s Ihnen zeigen, wenn Sie wollen.«
»Später«, sagte Will.
»Warum haben Sie ihr die Jacke gegeben?«, fragte Helen.
»Ich hab ihr das verdammte Ding nicht gegeben. Hab ich doch schon gesagt. Sie hat sie genommen, als ich gerade nicht hingesehn hab, und is’ damit weggerannt. So war das.«
»Und warum hat sie das getan?«
»Woher soll ich das wissen? Die sehen was, das sie nehmen können, und weg is’ es. Sie kennen doch deren Sorte.«
»Deren Sorte?«
»Sie wissen, was ich meine.«
»Vor vier Tagen war es doch ziemlich heiß?«, sagte Will eher beiläufig.
»Würd ich sagen.«
»So heiß wie heute?«
»Ungefähr.«
»Trotzdem hat sie Ihre Jacke genommen, eine schwere Jacke für Erwachsene. War das nicht sinnlos?«
»Wie gesagt, wenn was nicht festgenagelt is’ …«
»Hören Sie«, sagte Helen und fixierte ihn mit ihrem Blick, »lassen Sie sich was Besseres einfallen.«
»Ich versteh nicht, was Sie meinen.«
»Sie verstehen nicht, was ich meine? Als das Mädchen gefunden wurde, lief sie kopflos und völlig verängstigt durch die Gegend, und außer Ihrer Jacke trug sie nichts. Sie war nackt. Splitterfasernackt.«
»Davon weiß ich nix.«
»Sie glauben nicht, dass sie Ihre Jacke deshalb genommen hat? Um sich zu bedecken? Nach dem, was passiert war?«
Roberts umklammerte sein Bein noch fester.
»Was haben Sie mit ihren Kleidern gemacht?«, fragte Will. »Haben Sie sie verbrannt? Irgendwo ein Feuer gemacht? Oder sind sie immer noch im Haus?«
»Hören Sie«, sagte Roberts, »ich weiß gar nicht, wieso …«
»Souvenirs«, sagte Helen. »Nennen Sie das nicht so? Das mögen Sie doch? Ihre Sorte?«
In Roberts’ Augen erwachte plötzlich etwas zum Leben. »Fick dich!«, sagte er. »Alte Schlampe! Fick dich, fick dich, fick dich!«
»Mitchell Roberts«, sagte Will. »Ich verhafte Sie …«
Helen hatte recht gehabt. Ganz hinten in der Truhe, in der Roberts seine eigenen Kleider aufbewahrte, fanden sie Martinas Baumwollschlüpfer – an einer Seite eingerissen und voller Flecken. Wie nicht anders zu erwarten, machte Martina selbst völlig widersprüchliche Angaben, die von einer Minute zur anderen variierten. Mitchell hatte sie überhaupt nicht angerührt, er hatte sie gezwungen, Sachen zu tun, er hatte gedroht, sie wegen Diebstahls anzuzeigen, wenn sie nicht mitmachte. Mitchell liebte sie, sie liebte ihn, wirklich. Sie hasste ihn, weil er ihr wehgetan hatte. Es war überhaupt nicht Mitchell gewesen, der diese Sachen mit ihr gemacht hatte, sondern jemand in einem roten Auto, der sie mitgenommen hatte. Es war ihr Großvater gewesen. Wirklich, der war es.
Sie hatten ihn natürlich unter die Lupe genommen, den Großvater. Fragen, Beweismaterial, Proben von Gewebe und Körperflüssigkeiten, DNA. Für den blutigen Striemen auf dem Gesäß seiner Enkelin nahm Samuel Jones bereitwillig die Schuld auf sich. Strafe, das brauchte sie. Davon hatte sie zu wenig bekommen, und das zu spät. Das war die Wahrheit. Jones starrte Will mit allzu klaren Augen an, als forderte er ihn heraus, ihm zu widersprechen, ihn zu fragen, warum sie lieber in einem Traktoranhänger auf den Strohschnipseln geschlafen hatte als in ihrem eigenen Bett, warum sie an Entwässerungsgräben entlang über offene Felder zu Mitchell Roberts’ Haus gewandert war, und das nicht einmal, sondern mehrmals.
Am Ende gab es nichts, das darauf hindeutete, dass Jones seine Enkelin sexuell missbraucht hatte; wie Will meinte, hatte er sie lediglich in die Arme von jemandem getrieben, der das für ihn erledigt hatte.
»Du kannst Jones nicht die Schuld geben«, sagte Helen. »Nicht für etwas, das jemand anders getan hat.«
»Kann ich nicht?«, sagte Will.
Die Analyse der Bisswunden und der Spuren von Sperma und Speichel auf Martinas Körper versperrte Mitchell Roberts’ Verteidigung jeden aussichtsreichen Weg. Allerdings gab es Bedenken, Martina in den Zeugenstand zu rufen, weil unklar war, wie sie sich verhalten würde. Deshalb akzeptierte die Staatsanwaltschaft zwei Schuldbekenntnisse wegen sexueller Übergriffe und eines wegen rechtswidrigen Geschlechtsverkehrs mit einem Mädchen unter dreizehn, und Roberts wurde zu einer Haftstrafe von fünf Jahren verurteilt.
Seither hatte er nach Wills Schätzung etwas mehr als die Hälfte verbüßt. Auf keinen Fall genug. Will wäre glücklich gewesen, hätte man ihn einsperrt und dann den Schlüssel weggeworfen.