Ulrike Herwig
Sag beim Abschied
leise Blödmann
Roman
Marion von Schröder
S. 247: »Er schlang seine Arme …« und »Werther, rief sie …«
Aus: J.W. Goethe, Die Leiden des jungen Werther, Reclam,
Stuttgart 1984, Seite 139
S. 259: »Der Sauerteig, der mein Leben ...« Aus: Ebenda, Seite 77
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ISBN 978-3-8437-0610-0
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To Chris, who makes everything in life easier with his great sense of humour
Für Chris, der mit seinem herrlichen Humor alles im Leben leichter macht
1 Das Schaf stand mitten auf dem Holzweg und sah sie beide erstaunt an. Sein längliches Gesicht und die langsamen Kaubewegungen erinnerten Charlotte an ihre Schülerin Berenike Katscheck, ihre ganz persönliche Pest aus der Klasse BF1 der Berufsschule Berlin-Mitte. Berenike schob immer einen Kaugummi im Mund hin und her und lagerte ihre schweren Brüste demonstrativ auf dem Tisch, als ob deren Gewicht sie sonst ins Erdinnere ziehen würde. Charlotte versuchte, den Gedanken an Berenike und die Berufsschule zu verscheuchen. Sie war schließlich hier, um sich eine kostbare Februarwoche lang zu erholen. Von ihrer anstrengenden Lehrertätigkeit und von Berenike und all den anderen gelangweilten Mädchen im einjährigen Bildungsgang Soziales und Hauswirtschaft. Die verbrachten nämlich Charlottes mühsam vorbereitete Unterrichtsstunden vor allem damit, zu gähnen, sich Klumpen aus der Wimperntusche zu entfernen oder ihr Facebook-Profil mit vor dem Spiegel aufgenommenen Fotos und ihren täglichen Horoskopen zu verschönern.
»Heißt das Schaf Geschiebemergel?« Die Stimme ihrer Tochter Miriam riss Charlotte aus den Gedanken. Miriam zeigte auf ein Schild. »Da steht: Achtung – auf den nächsten 500 Metern ist mit Geschiebemergeln zu rechnen!«
»Was?« Charlotte riss sich von dem hypnotischen Gekaue des Schafes los. Geschiebemergel? Was war das gleich? Blass waberte eine Erinnerung an die Oberfläche ihres Gedächtnisses. Ihre alte Erdkundelehrerin, wie hieß die nur gleich, die immer so eine Frisur wie ein Verkehrshütchen hatte und die Brocken von Gestein auf dem Lehrertisch aufbaute und diese liebevoll herumreichte wie kostbare Gaben aus dem Morgenland. Geschiebemergel war Kalk, oder? »Das ist so ein Gestein«, antwortete Charlotte zögernd. »Mit Kalk. Glaube ich. Nein, warte.« Es fiel ihr wieder ein. »Das sind so Reste, die vom Gletschereis geschoben werden, also wurden …«
»Ist okay, Mama. Ich google es«, schnitt Miriam ihr das Wort ab. »Da kann ich gleich mal nachgucken, ob in Berlin auch so ein kackblödes Wetter ist.«
»Miriam!«
»Und wenn nicht, dann können wir wieder fahren. Wir waren doch schon lange genug hier.«
»Wir sind gerade mal drei Tage hier. Und hier ist es doch schön. Herrliche Natur, Strand, Felsen und …« Charlotte breitete die Arme aus, trat einen Schritt zur Seite und landete mit dem Fuß in etwas Nassem, Weichem und Braunem. »Herrgott noch mal!«, entfuhr es ihr. Die Schuhe waren hin. Phantastisch. Ansonsten hatte sie nämlich nur noch die Gummistiefel mit Blumenaufdruck mit in den Urlaub genommen, die sie in einer teuren Berliner Boutique gekauft, aber noch nie angehabt hatte. Sie kam sich damit wie ein überaltertes Kindergartenkind vor.
Miriam kicherte. »… und herrlicher Schlamm!«
Charlotte rieb ihren Schuh am Gras ab. Wem wollte sie eigentlich etwas vormachen? Der Urlaub war keine Erholung. Es regnete nicht nur seit Tagen immer wieder, es stürmte und wehte, Sand flog ihnen in den Mund, sobald sie ihn öffneten, scharfer Wind fuhr brutal durch alle Stoffritzen, ließ die Augen tränen und verursachte einen permanent stechenden Kopfschmerz. Charlotte trank jeden Abend allein zu viel Wein, und Miriam hatte bereits alle ihre Bücher ausgelesen und sich aus der mageren Bibliothek der Pension Sanddorn gestern Abend Entfesselte Dämonen geliehen. Charlotte hatte das geflissentlich ignoriert, musste sich aber insgeheim eingestehen, dass sie unbedingt abreisen sollten, ehe Miriam sich zum Restbestand der Bibliothek (Geheimes Verlangen und In seinem Bann) durchgearbeitet hatte. Sie war schließlich noch nicht mal zehn.
»Wir gehen weiter. Wir wollten doch eine Strandwanderung machen.« Charlotte wedelte halbherzig mit der Hand. »Na los, du Schaf. Aus dem Weg.«
Das Schaf hörte auf zu kauen und setzte sich dann verwirrt in Richtung Fischräucherei in Bewegung.
»Wow, es gehorcht dir.« Miriam war voller Bewunderung.
Charlotte war selbst ganz überrascht. Ja, es gehorchte, im Gegensatz zu ihren Schülern. Vielleicht gäbe sie eine viel bessere Schafhirtin als eine Lehrerin ab? Sie ließ ihren Blick über die Dünen und die regengraue Ostsee schweifen. Das wäre es doch. Sich hier auf Rügen ansiedeln und jeden Tag würzige Ostseeluft einatmen und nicht den Mief von Nikotin, Schweiß und süßlichen Promi-Parfüms, der sich täglich in den Klassenzimmern ausbreitete wie eine Biowaffe. Obwohl – wenn Charlotte ehrlich war, hatte sie sich als Teenager ebenfalls eimerweise Parfüm auf den Körper gekippt. Gabriela Sabatini – Eau de Parfum. Wenigstens so lange, bis ein Junge, in den sie damals leidenschaftlich verknallt war, behauptet hatte, sie rieche damit wie die Sabatini nach dem fünften Satz.
Aber trotzdem – nach Rügen zu fliehen, das hatte was. Hier wohnen und sich um Schafe kümmern, die zugegebenermaßen auch ein bisschen streng rochen, aber wenigstens nicht dauernd hinterfragten, wozu sie denn Englisch oder gar Deutsch brauchten.
Charlotte seufzte. So ein Haus am Meer war unbezahlbar. Und ihr Mann Phillip hasste die Provinz, der würde sowieso nie mitmachen. »Komm, Schatz. Noch ein bisschen laufen«, sagte sie betont munter und streckte die Hand nach ihrer widerstrebenden Tochter aus.
Ohne Vorwarnung setzte ein sturzbachartiger Regen ein. Miriam drehte sich reflexartig um und marschierte in entgegengesetzter Richtung davon, Charlotte stieß einen leisen Fluch aus. Voller Neid dachte sie an Phillip, der vorausschauend in Berlin geblieben war. Er wollte die ganze Woche straff zu Hause durcharbeiten, um endlich einmal Liegengebliebenes in seiner Firma aufzuholen. Mit vielen Gesten des Bedauerns und der Entschuldigung hatte er seiner Tochter versichert, dass er nichts lieber täte, als mit ihr im Sand nach Schätzen zu suchen, aber leider, leider … Von wegen, dachte Charlotte grimmig. Was du lieber machst als alles andere auf der Welt, ist, die Beine am Schreibtisch hochzulegen, literweise Espresso zu trinken, wichtigtuerisch Befehle ins Telefon zu bellen und bei StayFriends.de nachzusehen, welche deiner ehemaligen Klassenkameradinnen am wenigsten aus dem Leim gegangen sind, um ihnen dann per E-Mail von deinen Erfolgen zu berichten.
Das Schaf blökte leise, und eine besonders hinterlistige Böe klatschte einen Schwall eisigen Regenwassers in Charlottes Gesicht. Sie atmete tief durch und folgte Miriam.
Auf der Strandpromenade in Binz hörte der Regen wieder auf, und sofort spuckten die Cafés und Restaurants ihre Gäste wieder aus – Stadtmenschen, die gierig die feuchte Meeresluft einatmeten und ihre extra für den Urlaub angeschafften Jack-Wolfskin-Jacken ausführten.
»Darf ich Rosi ein Geschenk kaufen?«, fragte Miriam.
Charlotte zuckte mit den Schultern. »Von mir aus.« Rosi war Miriams Klavierlehrerin, eine blonde Studentin Mitte zwanzig, mit lila Federn im Haar und dunkelrot geschminkten Lippen, die Miriam in einer chaotischen Wohnung seit einigen Wochen die Tonleitern auf und ab spielen ließ. Voller Eifer sang Miriam dazu: »Der Tante Nudelbeck, der läuft der Pudel weg«, immer und immer wieder, während Rosi – den Verdacht hatte Charlotte zumindest – gelegentlich auf eine Zigarettenlänge auf den mit tropfnasser Unterwäsche bespannten Balkon davonschlich. Rosi schien in Miriam eine echte Begeisterung für Musik hervorzurufen, weshalb Charlotte ihre Tochter trotz allem jede Woche zum Klavierunterricht im Prenzlauer Berg ablieferte und es sogar fertigbrachte, dem stets stumm in der Küche sitzenden Mitbewohner mit dem Nasenring freundlich einen guten Tag zu wünschen.
Sie betraten einen kleinen Souvenirladen, dessen Schaufenster mit maritimem Kitsch für jede Stimmungslage angefüllt war.
»Das hier oder das hier?« Miriam hielt einen Miniaturstrandkorb und einen großen Hühnergott hoch. Charlotte lag es auf der Zunge zu sagen, dass Rosi sich wahrscheinlich eher über eine Literflasche Sanddornlikör freuen würde, aber sie hielt sich zurück. »Den Hühnergott vielleicht? Zeig mal her.« Sie betrachtete den faustgroßen Stein, in den jemand eindeutig mit einem Bohrer oder Meißel ein exakt kreisrundes Loch gebohrt hatte. »Der ist ja gar nicht echt«, rief sie überrascht.
»Natürlich ist der echt. Sind alle echt«, meldete sich beleidigt das Hutzelmännchen hinter der Kasse.
»Das Loch ist nicht echt. Hier sieht man ja noch die Bohrrillen.« Charlotte hielt ihm den Stein hin.
Der Mann verzog keine Miene. »Is echt«, wiederholte er stur.
»Sehen Sie das denn nicht? Das ist doch kein natürlich entstandenes Loch!« Dieser Mensch regte Charlotte langsam auf.
Der Ladenbesitzer zuckte nur mit den Schultern. »Natürlich entstandenes Loch … Bin ich Mutter Erde oder was? Wollen Sie den Stein jetzt oder nicht?«
»Ja«, sagte Miriam schnell. »Bitte, Mama. Ich gebe es dir auch von meinem Taschengeld wieder.« Charlotte verdrehte die Augen, zog einen Schein aus dem Portemonnaie, bezahlte eine Unsumme für den größten Nepp seit der Erfindung der Kaffeefahrt und wartete anschließend im wieder einsetzenden Regen vor der Tür, bis das Rumpelstilzchen da drin den Stein für Miriam umständlich in mehrere Lagen Zeitungspapier eingewickelt hatte.
»Jetzt habe ich ein Geschenk für Rosi, jetzt können wir zurück nach Hause«, meinte Miriam zufrieden, als sie aus dem Geschäft kam.
Auf dem Weg zurück zur Pension Sanddorn quietschte der Schlamm in Charlottes Schuh bei jedem Schritt, und der Wind fauchte dazu wie eine gereizte Katze.
»Warum können wir nicht nach Hause fahren?«, jammerte Miriam. »Da kann es auch regnen, aber da sind wenigstens meine Freundinnen.«
»Weil wir noch zwei Tage gebucht haben.« Normalerweise brach Charlotte einen Urlaub nicht ab, sie hatte schließlich dafür bezahlt, aber das Wetter war einfach so was von unbeschreiblich schlecht, dass ihre eisernen Grundsätze ins Wanken gerieten. »Okay«, sagte sie schließlich und blieb stehen. »Ich sage dir was: Wenn das komische Ehepaar vom Frühstück heute Abend miteinander redet, dann bleiben wir noch. Wenn nicht, fahren wir.«
Miriam grinste verschwörerisch. Das »Ehepaar vom Frühstück« saß in der Pension zu den Mahlzeiten am Nachbartisch und hatte in der ganzen Zeit noch kein einziges Wort miteinander gewechselt. Sie reichten schweigend Butter und Marmelade hin und her, als ob sie durch Telepathie miteinander verbunden wären, und ließen glasig ihre Blicke in entgegengesetzte Ecken des Raumes schweifen. Es war absolut unwahrscheinlich, dass die beiden ausgerechnet an diesem Abend miteinander reden würden. Miriam hatte blitzschnell kombiniert, dass eine Heimfahrt unmittelbar bevorstand. »Okay«, sagte sie und grinste immer noch, als Charlotte sich mit ihr in der Pension zum Abendessen einfand. Als das Ehepaar erschien, fing Miriam an zu kichern.
»Psst«, machte Charlotte, musste sich aber selbst das Lachen verkneifen. Die Frau trug einen gestrickten Pullover mit nordisch anmutenden Applikationen, in dem sie wie ein untersetzter Wikinger mit Dauerwelle aussah. Schweigend ließen die beiden sich am Nachbartisch nieder und begannen ihre Prozedur des Butter-hin-und-her-Reichens. Miriam hielt den Griff ihres Messers vor Spannung so fest umklammert, dass das Weiße ihrer Fingerknöchel hervortrat.
Charlotte kaute gerade ihre Bratkartoffeln, da öffnete der Mann plötzlich den Mund. »Du siehst heute wieder so was von bescheuert aus«, sagte er zu seiner Frau.
Charlotte verschluckte sich und hustete. »Miriam«, keuchte sie. »Wir fahren trotzdem.«
Warum zum Teufel ging Phillip nicht ans Telefon? Charlotte ließ entnervt ihr Handy sinken und sah aus dem Zugfenster. Zweimal hatte sie schon versucht, ihn zu erreichen, aber er ging einfach nicht ran. Wollte er ihr signalisieren, wie beschäftigt er war? Es war abends um sechs, verdammt noch mal. Sie wussten doch beide, dass er da nicht mehr arbeitete, sondern entweder Musik von dubiosen russischen Anbietern auf seinen PC herunterlud oder bei den Nachbarn Billard spielte.
Charlotte wählte seine Nummer ein letztes Mal. »Wir kommen eher nach Hause, kannst du uns bitte um halb zwölf vom Bahnhof abholen?« So. Und wehe, er war nicht da. Die Reise war ohnehin schon kein Zuckerschlecken, mehrmals mussten sie umsteigen, die letzte Strecke mit einem Regionalzug fahren. Wenn sie den überhaupt erwischten, denn ihr Zug hatte bereits zehn Minuten Verspätung und war noch keinen Zentimeter aus dem Bahnhof heraus. Warum bin ich nur so ein Weichei, dachte Charlotte. Wenn ich nicht immer so gestresst beim Autofahren wäre, müssten wir jetzt nicht um unseren Anschlusszug bangen, sondern würden bequem nach Hause düsen.
Auf dem Bahnsteig gegenüber stand eine Mutter mit ihren beiden kleinen Töchtern, beide mit Zöpfchen, die größere mit der kleineren an der Hand. Die Kinder lachten und sprangen absichtlich in eine große Pfütze, während ihre Mutter mit einer älteren Dame redete und dabei immer wieder in ihrer Handtasche wühlte. Als sie die kleinen Mädchen entnervt zurechtwies, kicherten die und versuchten dann, sich hinter dem Rücken der Mutter gegenseitig in die Pfütze zu schubsen. Wie wir damals, schoss es Charlotte durch den Kopf. Genau wie wir. Sie wandte sich ab. Weg mit den Erinnerungen.
»Eine Schwester zu haben muss so schön sein.« Miriam hatte die beiden ebenfalls bemerkt. »Meinst du, ich bekomme noch irgendwann eine Schwester?«
»Nein, mein Schatz.«
»Aber du …«
Charlotte zog rasch ein Buch aus ihrer Tasche. »Eine Schwester zu haben ist nicht immer nur etwas Schönes. Glaub’s mir.« Der Schaffner pfiff, endlich. »Und jetzt geht es los. Wir kommen irgendwann wieder her. Wenn besseres Wetter ist. Dann wirst du sehen, wie schön es hier sein kann.«
»Hm«, brummte Miriam. Ihre Begeisterung hielt sich eindeutig in Grenzen, aber wenigstens war die lästige Frage nach einer Schwester aus der Welt.
Der Zug ächzte und ratterte durch die dunkle Nacht, endlose Felder zogen vorbei, hier und da ein Provinzbahnhof, und irgendwann blieb der Zug mitten in der Landschaft stehen, eine unverständliche Durchsage faselte etwas von »…echnischen …rigkeiten«. Nachdem exakt die Zeit verplempert worden war, die Charlotte und Miriam zum Umsteigen gebraucht hätten, ging es weiter. Charlotte hatte Phillip immer noch nicht erreicht und wurde langsam wütend, vermischt mit leiser Sorge. War ihm etwas passiert?
Mit der schlaftrunkenen Miriam im Schlepptau stieg Charlotte schließlich erschöpft in die letzte Regionalbahn und merkte viel zu spät, dass sie im Partyabteil der Landjugend gelandet war. Zwei stämmige junge Männer dirigierten dort ein unsichtbares Orchester mit ihren Bierflaschen und sangen laut und falsch: »Hey, sie hatte nur noch Schuhe an … Hey, sie hatte nur noch Schuhe an!«, während Mädchen in viel zu dünner Kleidung einen Background-Sound aus wieherndem Gelächter lieferten.
»Und jetzt alle zusammen!«, schrie einer der Männer und sah sich auffordernd nach allen Seiten um. »Hey …« Er hob dramatisch die Hände wie die Christus-Statue in Rio und grölend fiel nahezu das gesamte Zugabteil mit ein: »… sie hatte nur noch Schuhe an!«
Ich halte das nicht aus, dachte Charlotte. Dieser Tag ist nicht mein Freund. Phillip hatte sich nicht gemeldet, und so war es auch keine Überraschung, dass nach einer schier endlosen Stunde von »… nur noch Schuhe an!« Phillip nicht am Bahnhof stand. Charlotte nahm zähneknirschend ein Taxi. Endlich vor ihrem Haus angekommen, war drinnen alles dunkel. Nein, halt, ein kleines Licht dämmerte im Wohnzimmer. Vor dem Fernseher eingeschlafen, das war doch nicht zu glauben.
»Papa schläft«, sagte sie zu ihrer Tochter, die selbst nicht mehr richtig wach war. Charlotte schloss die Tür auf. »Geh am besten auch gleich ins Bett.« Miriam nickte und stolperte in den dunklen Flur. Ein scharrendes Geräusch kam aus dem Wohnzimmer. War Phillip doch noch wach? Dann konnte er sich gleich etwas anhören. Wenn sie etwas getrunken hatte, sie war am Verdursten. Charlotte ließ die schwere Tasche fallen, ging in die Küche, riss die Kühlschranktür auf und goss sich ein Glas Wasser ein.
»Mama, guck mal«, rief Miriam plötzlich aus dem Flur. Sie klang verwundert und hellwach. »Hier ist …« Sie brach ab, und Charlotte hörte ein leises Flüstern. Das klang nicht wie Phillip, das … Sie trat in den Korridor und holte erschrocken Luft. Neben Miriam stand jemand.
»Rosi?«, fragte Charlotte verblüfft. »Was um alles in der Welt machst du denn hier? Wie bist du hier hereingekommen?«
Rosi blickte stur nach unten und antwortete nicht. Ihre Haare wirkten zerwühlt, und sie trug einen grauen Regenmantel, der Charlotte an irgendetwas erinnerte. Und dann, als etwas im Wohnzimmer klirrte, wahrscheinlich ein Glas umfiel, weil jemand hastig etwas aufräumte, zuckte Rosi zusammen und ließ das Bündel fallen, das sie sich unter den Arm geklemmt hatte. Da wusste Charlotte auf einmal auch, woran sie dieser seltsame Aufzug erinnerte. Miriams Klavierlehrerin glich auf absurde Weise einem Entblößer, denn als Rosi sich nach dem Bündel bückte, ging der Regenmantel vorn auf und darunter war Rosi splitterfasernackt. Sie hatte nur noch Schuhe an.
2 Drei Monate später
Tupperdosendeckel, eine kaputte Grillzange, kitschige Topflappen, ein alter Mixer. Es war unglaublich, wie viel Schrott sich im Laufe der letzten Jahre angesammelt hatte. Charlotte fegte den ganzen Kram mit einer entnervten Bewegung in den riesigen Müllsack neben sich.
»Haust du das alles weg?« Ihre Kollegin und Freundin Veronika sah ihr belustigt zu.
Charlotte nickte. »Restmüll, alles miteinander.« Ihr Blick fiel auf zwei Tassen, die so geformt waren, dass sie sich aneinanderschmiegten wie Verliebte. Du und ich forever stand darauf, von roten Herzchen umflattert. Irgendeine Arbeitskollegin von Phillip hatte ihnen das Ding zur Hochzeit geschenkt. »Und dieses reizende Teil erst recht. Forever ist ja nun eindeutig vorbei.«
Veronika lachte. »Mann, ist das hässlich. Habt ihr das je benutzt?«
»Nie.« Charlotte knallte das Ding nicht nur in den Sack, sie trat sogar noch darauf. Es knirschte angenehm, und wenn sie die Augen schloss, konnte sie sich beinahe vorstellen, auf Phillips Jacketkronen herumzutrampeln. »Restmüll, wie meine Ehe.«
»Ach, Charlotte.« Veronika verzog mitfühlend das Gesicht. »Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.«
Charlotte schniefte. »Stimmt. Einen Schrecken ohne Ende hatte ich ja die ganzen Jahre lang. Ich frage mich nur: Warum? Warum gerade ich? Warum musste ich den notorischsten Fremdgänger der Welt heiraten?«
»Du warst jung und dumm, wie wir alle.«
»Du warst nicht dumm. Du hast dir einen Rosinenmann rausgepickt.«
Veronika lächelte. »Na, heute ähnelt er mehr einem Hefezopf.«
Charlotte lächelte pflichtschuldig, aber Hefezopf hin oder her, Veronikas Mann war ein Schatz. Und Phillip ein Arschloch. Wie hatte sie nur jahrelang so blöd sein können?
»Lass uns weitermachen. Dann bin ich hier bald fertig und dann Klappe zu, Affe tot. Dann heißt es adios, Mahlsdorf.« In Mahlsdorf hatte sie sich sowieso nie wohl gefühlt. Zu spießig, zu viele Exprenzlberger, die sich gegenseitig das Märchen vom Landleben vorspielten.
»Du wirst die Ruhe noch vermissen«, neckte Veronika. »Und den Garten. Perfekt für Kinder und Tiere.«
»Ich mag sowieso keine Tiere.«
»Du weißt nicht, was du verpasst. So ein treuer Dackelblick …«
»… erinnert mich nur an Phillip. Schönen Dank auch.«
Vor Phillips ehemaligem Arbeitszimmer lag ein großer Haufen Zeug, das er bei seinem Auszug nicht mitgenommen hatte.
»Jetzt kommen wir zu den Kronjuwelen«, verkündete Charlotte und hielt ihr persönliches Hassobjekt Nummer eins hoch: die pervers labberigen Jogginghosen, die er immer so gern im Haus getragen hatte.
»Uh, gruslig.« Veronika fuhr erschrocken zurück. »Hat er die im Bett angehabt?«
Charlotte nickte. »Nicht nur da. Überall und immer. Für mich brauchte er ja keine Umstände zu machen. Zu den Dates mit Rosi oder den ganzen anderen jungen Schnepfen hat er natürlich seine Lederjacke angezogen, die ich ihm gekauft habe.« Gegen ihren Willen traten ihr die Tränen in die Augen. »Und seine dämliche Sonnenbrille.« Sie schluchzte. »Wahrscheinlich, damit man seine Falten nicht sieht.«
Veronika streichelte ihren Arm. »Wie viele waren es denn?«, fragte sie leise.
Da war diese Kellnerin aus dem alternativen Café, die immer so gebatikte Wurstkleider anhatte und sich die Haare mit Henna färbte. Da war die kleine Asiatin, kaum einen Kopf größer als Miriam. Da war seine Sekretärin mit Lippen, so prall wie Nürnberger Würstchen. Die Praktikantin mit den roten streichholzkurzen Haaren. Charlottes ehemalige Nachbarin im Prenzlauer Berg – alleinerziehende Übermutter mit Waldorftick und frei pendelnden Brüsten unter dem T-Shirt, die Charlotte ständig davon überzeugen wollte, keine Wegwerfwindeln zu benutzen. Da war …
»Zu viele«, sagte Charlotte knapp. »Und diesmal war einfach das Maß voll. Ich habe ihn ja nicht mal mehr geliebt. Es war nur noch wegen Miriam. Ich bin ohne Vater aufgewachsen, das weißt du ja. Mein Vater hat sich einfach aus dem Staub gemacht, als ich drei Jahre alt war, weil ihm das Familienleben auf die Nerven ging. Und nachdem ich jahrelang davon geträumt hatte, dass er vielleicht doch irgendwann zurückkommt, weil er mich vermisst und liebhat, da hat er sich im Vollrausch zu Tode gefahren. Ich habe immer die anderen Kinder um ihre Väter beneidet. Und das wollte ich Miriam ersparen. Nicht zu vergessen die Panik, dass man alleine finanziell den Bach runtergeht.« Sie wischte sich die Tränen weg. »Aber irgendwann ist die Angst vor einer kleineren Wohnung weniger schlimm als die vor einem Leben als zweite Wahl. Und wer braucht schon auch den ganzen Konsumkram.« Sie schmiss eine Ladung CDs zu den ganzen anderen Phillip-Überbleibseln.
Veronika betrachtete den Haufen. »Wir könnten das alles mit Benzin übergießen und draußen im Garten verbrennen. Du könntest noch eine Strohpuppe nach seinem Ebenbild basteln. Wie sie das in England machen, am Guy Fawkes Day.«
»Wow.« Charlotte zog die Augenbrauen hoch. »Veronika, du überraschst mich. Ich dachte, du bist die Güte in Person.« Sie grinste. »Lieber nicht. Dann verursachen wir noch einen Brand, es hat seit Wochen nicht geregnet.« Überdies würden die Nachbarn sich das Spektakel nicht entgehen lassen wollen und mit falschzüngigem Mitleid und gierigem Blick hinter den Zäunen und Gardinen lauern, um sich anschließend genüsslich in den eigenen abgestandenen Ehemief zurückzuziehen. Lieber einen nervenden Mann nebst Fernbedienung im Sessel zu Hause als einen Benzinkanister in der Hand wie die arme betrogene Verrückte da draußen …
»Was jetzt noch?« Veronika sah sich um.
Charlotte überlegte. Die Küche war leer. »Noch kurz die zwei Kisten vom Speicher durchsehen.«
Veronika schnappte sich eine der Kisten. »Ach du lieber Himmel. Was ist denn das Vorsintflutliches? Kann das weg? Oder willst du das unseren Schülerinnen zeigen, um zu demonstrieren, wie anstrengend es mal war, eine SMS zu schicken?«
Sie hielt ein altes Handy mit Aufladestation hoch. Es wirkte plump, riesig und total überholt, wie ein Relikt aus einem Science-Fiction-Film aus den Siebzigern.
»Kann weg«, antwortete Charlotte gleichgültig. Dann schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf: Das hier war das letzte Handy aus Singlezeiten. Darauf mussten die Nummern ihrer alten Freunde sein. Leute, die sie aus den Augen verloren hatte. Die vielleicht immer noch allein oder ebenfalls frisch getrennt waren. Mit denen sie jetzt wieder etwas unternehmen konnte … »Warte, doch nicht wegwerfen.« Sie drehte das Handy nach allen Seiten. »Ob das Ding noch geht?«
Charlotte wurde von einer seltsamen Unruhe ergriffen und beschloss, das Handy aufzuladen. In der Zwischenzeit konnten sie die restlichen Kisten durchgehen und noch einen Kaffee trinken. Tatsächlich glimmerte nach einer Weile ein schwaches grünes Licht an dem Telefon auf.
»Es lebe die Technik«, murmelte Charlotte. »Und beinahe hätte ich dich entsorgt.« Sie schaltete das Handy ein. »Bingo.« Da war sogar noch eine Nachricht auf dem AB. Warum hatte sie die damals nicht gelöscht? Charlotte drückte auf den Knopf, und in dem Moment, als die Stimme erklang, brach die Vergangenheit wie eine Horde wilder Nomaden in das leere Reihenhaus ein.
»Meine große Kleine, du, ich freu mich total auf morgen. Das wird die Party des Jahrhunderts.« Ein Lachen. »Ben freut sich auch schon. Er hat euch sogar ein Lied geschrieben, also besorge dir lieber ein paar Ohrstöpsel.« Wieder Lachen. »Ich hab dich lieb, Lottchen, für immer und immer!« Ein Kussgeräusch. »Bis dann!«
Charlotte bewegte sich nicht. Dann setzte ein eigenartiges Ziehen in ihrem Bauch ein, das bis zum Herzen hochwanderte. Es war Sehnsucht. Nach dem Menschen, der ihr einmal auf dieser Welt der vertrauteste gewesen war.
»Wer war denn das?«, fragte Veronika.
»Meine Schwester Doro.«
»Du hast eine Schwester? Was? Das hast du mir nie erzählt!«
»Wir haben keinen Kontakt mehr. Seit … ach, ich weiß gar nicht mehr, wie lange.« Unsinn, natürlich konnte sie sich noch haargenau daran erinnern, wann sie Doro das letzte Mal gesehen hatte.
Veronika warf ihr einen irritierten Blick zu. »Aber, das ist doch deine Schwester. Wolltest du denn nie herausfinden, wie es ihr geht?«
»Ab und zu. Ich habe sie gegoogelt. Aber sie ist wie vom Erdboden verschluckt.«
»Vielleicht lebt sie ja gar nicht mehr?« Veronika schlug die Hand vor den Mund. »Sorry, das habe ich nicht so gemeint.«
»Ist schon okay. Es ist ja … durchaus möglich.« Doro war quicklebendig, Charlotte konnte es spüren.
»Vielleicht solltest du doch noch mal nach ihr suchen? Jetzt, wo du ohnehin ein neues Leben anfangen willst? Vielleicht ist euer Streit längst verjährt? Das Leben ist doch so kurz.« Veronika stand auf. »Ich muss los. Bis morgen im Irrenhaus.«
»Bis morgen. Danke für alles, du.«
Als Veronika gegangen war, saß Charlotte einen Moment lang auf dem Fußboden, von Kisten umgeben und den Blick in die Ferne gerichtet. Veronika hatte recht. Ein neues Leben sollte man gleich richtig anfangen. Alten Streit begraben. Aber wie sollte sie Doro finden? Sie hatte nicht gelogen, sie hatte Doro oft gesucht. Vor einiger Zeit, kurz vor Weihnachten, hatte sie nach ihrer Schwester tagelang im Internet gesucht und nichts gefunden. Manche Menschen lebten einfach immer noch an der Peripherie der gläsernen Welt. Absichtlich? Doch jetzt, heute, hatte das Telefon Charlotte auf eine neue Idee gebracht: Ben. Doros Rockmusiker-Freund damals. Vielleicht konnte man den ausfindig machen? Vielleicht hatte der eine Ahnung, wo Doro steckte?
Aufgeregt klappte Charlotte ihren Laptop auf. Keine zwei Minuten später hatte sie eine Website ausfindig gemacht. »Ben the Man – Musik vom Feinsten.«
»Ben the Man, du lieber Himmel«, murmelte sie. Das nicht sehr professionelle Foto zeigte ihn, einen Arm nach oben gestreckt, mit dem Zeigefinger zum Himmel, die typische Rockerpose. Er sah dicker aus als früher und ein bisschen wie John Travolta in Blond. Aber es war schwer zu sagen, alles auf dem Bild lag im Schatten. Eine Telefonnummer stand auch dort. Sehr gut. Nach nur einem Klingeln meldete sich jemand.
»Künstleragentur Harisch, Sie wünschen?«
»Oh«, sagte Charlotte verdutzt. »Ich wollte eigentlich Ben sprechen. »Ist er da?«
»Ist er da!« Die Männerstimme am anderen Ende klang fassungslos, als hätte Charlotte sich danach erkundigt, wann Elvis denn von seiner Mittagspause zurückzuerwarten sei. »Gute Frau, Ben the Man ist ein vielbeschäftigter Künstler. Der ist nicht einfach mal so da!«
»Okay.« Charlotte rollte mit den Augen. »Wann ist er denn da? Ich muss ihn sprechen. Kann ich mal vorbeikommen?«
»Nein das können Sie auf gar keinen Fall.«
»Und wieso nicht, wenn ich fragen darf?« Was war denn das für ein Wichtigtuer?
»Weil nicht jeder einfach so hier vorbeikommen kann. Er ist viel unterwegs, das sagte ich bereits. Konzerte, Promotions usw. Und woher soll ich außerdem wissen, ob Sie nicht ein durchgeknallter Fan sind, der ihn erschießen will?«
»Wie bitte?«, fragte Charlotte entgeistert.
»Ich sage nur John Lennon. Kennen Sie ja vielleicht.«
»Ja, natürlich kenne ich … hören Sie, ich bin kein Fan. Ich will ihn einfach nur …«
»Ach, Sie wollen ihn buchen? Warum sagen Sie das nicht gleich?« Augenblicklich änderte sich die Stimme des Mannes. Sie wurde wacher, eifriger. »Wann? Welche Größenordnung hat die Veranstaltung? Er ist ein vielbeschäftigter Mann, wissen Sie.«
»Was Sie nicht sagen«, murmelte Charlotte.
»Was?«
»Nichts. Richten Sie ihm einfach nur aus, er soll mich unbedingt zurückrufen.« Sie gab ihre Handynummer durch. »Es geht um Doro. Ich bin ihre Schwester. Ich brauche nur eine Auskunft von ihm.«
»Ja, warum sagen Sie das denn nicht gleich«, ranzte der Mann. »Ich bin ein vielbeschäft–«
Charlotte legte auf.
3 Charlotte blickte auf das Meer aus gesenkten Mädchenköpfen hinab. Die meisten schielten unter der Bank auf ihre Handys, um mit den zukünftigen Sonnenstudiobesitzern Deutschlands (einjähriger Bildungsgang Metallbearbeiter) SMS voller Ausrufezeichen und Smileys auszutauschen. So versteckt das eben ging, um bloß nicht von Charlotte aufgefordert zu werden, ihre Buchvorstellung vor der Klasse zu präsentieren. Vor etwa einem Jahr hatte ein naiver, junger und noch erschreckend enthusiastischer Kollege tatsächlich im Lehrerkollegium den Vorschlag gemacht, man könnte doch den Handyempfang im ganzen Gebäude sperren, es gäbe da solche Handyblocker, mit denen man künstliche Funklöcher schaffen konnte. Ein Schrei der Entrüstung war erklungen, vom Hausmeister über die Sekretärinnen bis hin zu allen Lehrern, von denen etliche den Tag nur überstanden, indem sie regelmäßig Zuflucht bei ihren Smartphones suchten und nachsahen, ob ihr Shop bei eBay nicht endlich genug abwarf, um den Job hier hinzuschmeißen. Als sich herausstellte, dass Handyblocker in Deutschland ohnehin illegal waren, hatte der junge Kollege verschämt den Kopf eingezogen und von da an keinen Mucks mehr gesagt.
»Jessica?« Charlotte nickte dem pummeligen Mädchen in der ersten Reihe aufmunternd zu. »Wie wäre es mit dir?«
Jessica warf stöhnend den Kopf in den Nacken und erhob sich schwerfällig aus der Bank. »Ich weiß aber nicht, ob ich das so mache, wie Sie das wollen«, sagte sie verschnupft.
»Das werden wir ja sehen«, erklärte Charlotte betont munter. »Welches Buch hast du denn gewählt?«
Jessica schielte nervös nach unten auf ihren Zettel. Sie konnte sich nicht einmal an den Titel erinnern. Das fing ja gut an.
»Nein, ich esse meine Suppe nicht«, las Jessica vor.
»Struwwelpeter?«, riet jemand.
Jessica schüttelte den Kopf. »In meinem Buch, was ich heute vorstellen will«, las sie stockend, »geht es um dieses Mädchen namens Chrissy, die also nichts mehr isst, weil sie Magersucht hat, also sie nimmt ganz viel ab.«
»Wie viel denn?«, erkundigte sich Berenike, von der Charlotte angenommen hatte, dass sie schlief.
Jessica blätterte verwirrt in ihrem Buch. »Also, ich glaube, warte mal, sie nimmt so vierzehn Kilo ab, also erst mal.«
»Wow.« Ein beeindrucktes Raunen ging durch den Raum.
»Mit Atkins?«, fragte Berenike zurück.
»Wie heißt denn der Autor oder die Autorin?«, ging Charlotte dazwischen.
»Nein, nicht Atkins.« Jessica klang jetzt etwas sicherer. »Sie hat einfach nichts mehr gegessen. Also nur noch ganz wenig.«
»Also FdH gemacht«, ergänzte ungefragt Lisa aus der zweiten Reihe. »Das ist eh immer noch am besten. Wie bei den Weight Watchers. Mit Punkten und so. Meine Mutter hat da total viel abgenommen.«
»Wenn ich Diät mache, nehme ich immer zuerst am Busen ab, das macht mich wahnsinnig. Warum nicht zuerst am Hintern? Könnte doch mal echt jemand erfinden, einen Shake oder so.« Berenike sah sich beifallheischend um.
»Die Autorin oder der Autor haben sicher …«, setzte Charlotte an, wurde aber wieder unterbrochen.
»Der Arsch-weg-Shake«, rief Lisa und alle lachten. »Da würde ich glatt zehn am Tag trinken!«
»Wie heißt denn nun der Autor und was ist deiner Meinung nach gut an dem Buch?«, fragte Charlotte laut. »Lies doch mal eine besonders gute Stelle vor!« Die Gespräche versickerten und machten betretenem Schweigen Platz.
»Die Autorin heißt Sabine Reutner«, sagte Jessica. »Ich lese da mal jetzt, was die so schreibt.« Sie blätterte nervös durch die Seiten, ließ beinahe ihr Buch fallen, räusperte sich und fand endlich die Stelle. »Aus dem Spiegel sieht mir ein fettes, hässliches Mädchen entgegen. Kein Wunder, dass er mit mir Schluss gemacht hat. Fette Kuh hat er mich genannt. Wer will schon mit so einer gehen? Heute erst 300 Kalorien zu mir genommen. Ich darf bis heute Abend nichts mehr essen, dann einen Apfel. Das macht 350. Seine Neue ist viel dünner. Schöner. Ich will ihn zurück.«
Unterdrücktes Schluchzen kam aus der letzten Reihe. Das Mädchen neben Berenike hatte ihre Arme auf den Tisch geworfen und ihr Gesicht darin vergraben. Berenike streichelte ihren Rücken. »Mann, musste das sein«, fuhr sie Jessica an. »Du weißt doch, was Falko zu Denise gesagt hat.«
»Das steht aber hier drin«, wehrte Jessica sich. »Da kann ich doch nichts dafür.« Hilflos sah sie zu Charlotte. Das Schluchzen wurde lauter.
»Denise, wenn du mal kurz rauswillst, dann geh bitte.« Charlotte schielte auf die Uhr. Noch zwanzig Minuten. Das Mädchen tat ihr leid, aber wenn sie jetzt darauf einging, war die Stunde gelaufen. »Jessica, bitte mach weiter. Was ist deiner Meinung nach gut an dem Buch? Was ist die Aussage?«
Denise stand unter Schniefen auf und begab sich zur Tür. »Du bist nicht zu dick, Denise«, rief jemand. »Falko ist ein Arschloch.«
Ein Handy summte, und automatisch schielten alle unter die Bank. Das Handy summte immer weiter, und Charlotte wollte schon der Klasse den Marsch blasen, als ihr klar wurde, dass es sich um ihr eigenes Handy handelte. Wie peinlich. Sie hatte ganz vergessen, es abzustellen, weil sie bis zur letzten Minute heute früh immer wieder nachgesehen hatte, ob Ben sich vielleicht bei ihr gemeldet hatte. Wie hatte sie Ben nur all die Jahre vergessen können? Warum war sie nicht schon früher einmal auf die Idee gekommen, sich bei ihm nach Doro zu erkundigen? Weil du bis vor kurzem Doro gar nicht hättest sehen wollen, flüsterte eine kleine Stimme in ihr. Du hast ja damals auch nicht versucht, sie aufzuhalten.
»Entschuldigung«, murmelte Charlotte und griff nach ihrer Tasche. Das Handy kündigte eine neue SMS an.
»Kein Problem«, bemerkte Berenike großzügig. »Gucken Sie nur.« Die Klasse nutzte die Gelegenheit, um ebenfalls einen kurzen Blick auf ihre Handys zu werfen. Natürlich war das nicht in Ordnung, aber Charlotte musste einfach nachsehen. Die SMS war von Ben! Klar, ruf mich an, hier meine Handynummer, wie geht es meiner alten Doro? Charlotte lächelte. Wenn diese Stunde endlich vorbei war, würde sie ihn sofort anrufen.
»Gute Neuigkeiten?«, erkundigte sich Lisa interessiert. »Sie freuen sich so?«
»Ich … entschuldigt bitte. Dringende Familienangelegenheit. Wir machen jetzt hier weiter, entschuldigt bitte noch mal.« Charlotte wandte sich wieder geschäftsmäßig an ihre Schülerin, die immer noch vor der Klasse stand und verwundert ihr Buch hin und her drehte, als hätte sie es noch nie zuvor gesehen. »Jessica?«
»Hm?« Jessica erwachte aus ihrer Starre.
»Was ist deiner Meinung nach gut an dem Buch?«
»Na, es ist gut geschrieben und so. Also, wie sie abnehmen will, weil sie denkt, dass sie ihren Freund dann zurückbekommt. Aber der will sie gar nicht mehr, der hat eine Neue. Und der Witz ist, dem ist sie dann zu dünn, aber sie kapiert das eben nicht, weil sie eben Magersucht hat, und das zeigt das Buch, wie schlimm das halt ist.« Sie holte erschöpft Luft.
Charlotte lächelte ihr aufmunternd zu.
»Wegen ’nem Kerl abnehmen bringt eh nichts«, erklärte Lisa ungefragt. »Wenn er dich nicht mehr will, dann kannst du noch so dünn sein, das ist dem dann auch egal.«
»Manche lassen sich ja dann noch liften und so was oder Brust vergrößern, und dann geht das schief, und du siehst aus wie ein Freak, und der Typ ist längst über alle Berge.« Lisa winkte ab. Zustimmendes Gemurmel erklang. »Und dann rutschen dir die Silikondinger runter oder platzen, dann siehst du so scheiße aus, dass du gar keinen mehr abkriegst.«
»Und weh tut das bestimmt auch.« Ein dünnes Mädchen mit Brille meldete sich schüchtern zu Wort.
»Ich würd’s trotzdem machen lassen, warum nicht? Hast du mehr Erfolg im Leben.« Berenike zuckte mit den Schultern.
Lisa protestierte energisch. »Nee, niemals, also …«
»Was ist denn nun die Aussage des Buches«, versuchte Charlotte sich Gehör zu verschaffen. »Jessica?«
Langsam erstarb das Gemurmel wieder.
Jessica überlegte. »Na, die Aussage ist, dass sie ihrem Freund erst zu dick war und dann zu dünn. Nie war sie gut genug. Und dass es keinen Sinn hat, sich danach zu richten, was dein Freund vielleicht schöner findet. Entweder du gefällst einem Typen oder nicht. Und da ist es dem egal, ob du dick oder dünn bist. Wenn er dich nicht liebt, wird er immer mit anderen rummachen, immer wieder. Und wegen so was muss man nicht aufhören zu essen wie Chrissy, denn sonst stirbt man. Also Chrissy, die stirbt am Ende. Dabei hätte sie doch ohne den noch so viel Spaß haben können.«
Charlotte starrte ihre Schülerin an. Sie konnte sich nicht erinnern, dass Jessica jemals so eine lange Rede gehalten hatte. Wo kamen diese Worte her? Die Tür klappte leise, und Denise kam mit roten Augen wieder herein und setzte sich hin.
»Also, ich denke, die Aussage des Buches ist, dass man sich wegen einem Typen nicht das Leben versauen lassen darf,« schlussfolgerte Jessica und sah unschlüssig von einem zum anderen.
»Da hast du … völlig recht, Jessica.« Charlotte spürte einen Kloß in ihrem Hals.
Jessicas rundes Gesicht strahlte. »Was krieg ich denn jetzt da drauf?«
»Eine Eins«, sagte Charlotte. Sie lächelte Jessica an. So eine treffende Erkenntnis musste einfach belohnt werden. Es klingelte.
»Also, das Buch klingt richtig gut«, meinte Lisa. »Gibt es das auch als Film?«
Sobald ihre Schülerinnen das Zimmer verlassen hatten, stellte Charlotte sich ans Fenster und wählte Bens Nummer. Als sein »Hello, hello?« erklang, sah sie ihn sofort wieder vor sich. Sah beide wieder vor sich, Ben und Doro. Ben, der Anarcho-Punk-Rocker, mit Ledermantel, Dreitagebart und wüsten Haaren, mit T-Shirts voller cooler Sprüche, für die er schon damals ein kleines bisschen zu alt war, mit Lederarmband und Ohrring, eine Art Bob Geldof aus der Provinz. Daneben Doro in kniehohen Stiefeln und mit ständig wechselnden Haarfarben, mit exzentrischen Ohrringen, ironischem Blick, einer zutiefst verankerten Verachtung für Spießer und dem immer noch festen Glauben, dass sie als Sängerin groß rauskommen würde.
»Ich bin es, Charlotte«, meldete sie sich.
»Die Charlotte, das gibt es ja nicht.« Er schien sich tatsächlich zu freuen, was Charlotte wunderte, sie hatten sich nie viel zu sagen gehabt. »Wie geht es dir denn?«
»Gut und dir?«
Ein Husten erklang. »Prima, prima, alles bestens, könnte nicht besser gehen. Was macht Phillip?«
Charlotte zögerte einen Moment. »Keine Ahnung. Wir haben uns getrennt.«
»Nee, echt jetzt? Warum?«
»Weil … ich mir von einem Typen nicht mein Leben versauen lassen will«, erklärte Charlotte. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
»Bravo. So ist’s richtig. Ehe wird sowieso total überbewertet.«
Charlotte schloss daraus, dass er offenbar nicht verheiratet war. Oder nicht mehr.
Ben hustete wieder, instinktiv hielt Charlotte das Handy ein Stück weiter weg von ihrem Ohr. »Was macht die Musik?«, fragte sie höflich.
»Du, alles super. Super. Hab total viele Auftritte und so. Gefragter Mann, sozusagen.«
»Hab schon gehört, dass du sehr beschäftigt bist.«
Ben lachte geschmeichelt. »Ja, der Harry, mein Agent. Der passt auf. Hält mir die Paparazzi vom Leibe, haha. Sorgt für mich wie eine Mutter ohne Brust.« Jetzt erklang das Schnappen eines Feuerzeuges, gefolgt vom Geräusch tiefen Inhalierens.
Paparazzi? War Ben berühmt geworden? »Hast du einen Künstlernamen oder so?«, fragte Charlotte verwirrt.
Am anderen Ende klapperte etwas, und Charlotte war sich sicher, eine Frauenstimme zu hören, die etwas flüsterte.
»Nee, bin immer noch Ben. Ben the Man. Warum?«
»Weil ich …« So gar nichts von dir und deiner Musik gehört habe, deswegen. Aber das konnte sie schlecht sagen. »Vergiss es. Machst du immer noch Hardrock?«
»So ähnlich, ja, kann man sagen.«
Charlotte fand, dass genügend Höflichkeiten ausgetauscht worden waren. Ben hatte sich nicht unbedingt zu einem brillanten Gesprächspartner entwickelt, und es war ja auch alles gesagt. »Ich suche Doro. Weißt du, wo sie sein könnte?«
»Was? Im Ernst jetzt?« Er lachte ungläubig.
»Sie ist meine Schwester.«
»Ich meine ja nur, nach allem, was …«
»Also – hast du eine Idee, wo sie stecken könnte?«, fiel Charlotte ihm ins Wort.
Deutlich war jetzt die Frauenstimme im Hintergrund zu vernehmen. »Baby, komm doch endlich zurück ins Bett!«
»Ich muss jetzt leider Schluss machen.« Bens Stimme klang dumpf, als ob er sich bückte. »Muss mich noch auf meinen Auftritt heute Abend vorbereiten. Große Sache.« Er lachte und hustete gleichzeitig.
»Auftritt?«, erkundigte sich Charlotte interessiert. »Wo denn?«
»Also, äh … hm.« Ben druckste aus irgendwelchen Gründen herum und weckte damit erst recht Charlottes Neugierde.
»Nun sag schon. Dann komm ich mal vorbei.«
»Das ist nicht direkt in Berlin.«
Warum stellte er sich so an? »Wo denn?«
»Bärchen«, quengelte die Stimme im Hintergrund.
»In … also, ich sag es dir, wenn du versprichst, mir bei etwas zu helfen, okay?«
»Bei etwas zu helfen?«, fragte Charlotte verwirrt. »Okay. Klar.«
Es klingelte zur nächsten Stunde, andere Mädchen schlurften in das Klassenzimmer, und Charlotte wappnete sich gedanklich für die nächste Runde von: Was wollte die Autorin euch denn damit sagen?
»Na gut.« Ben klang leicht gequält. »Grünheide am Peetzsee, um sieben geht es los.« Ben gab ihr eine Adresse durch, hustete noch mal und legte dann einfach auf.
»Was habe ich da gerade getan?«, murmelte Charlotte. Sie wollte doch gar nicht zu diesem Rockkonzert. Wie sollte sie da hinkommen? Sie würde mit dem Auto fahren müssen, auch das noch. Aus dem Alter war sie raus, und wer sollte in der Zeit auf Miriam aufpassen? Sie seufzte und klatschte dann laut in die Hände. »Herrschaften, es geht los.«
»Fünfzig Euro von meiner Oma gestern abgefasst«, sagte ein Mädchen in der ersten Reihe schnell noch leise zu seiner Banknachbarin.
Charlotte stutzte kurz. Dann grinste sie. Na, klar doch. Die Lösung lag auf der Hand.