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Klaus Heilman: Die Risikolüge. Warum wir nich alles glauben dürfen.

Über den Autor

Professor Dr. Klaus Heilmann, geb. 1937, war Professor der Medizin an der TU München, sowie Gastprofessor an zahlreichen Universitäten in den USA. Er veröffentlichte über 30 Sach- und Fachbücher und moderierte vier Jahre lang eine wöchentliche Fernsehsendung zu Gesundheitsfragen. Er gilt als Experte für Risikokommunikation und hat zahlreiche Unternehmen, Verbände und Organisationen beraten, u.a. die deutsche Energiewirtschaft nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl. Bei Heyne erschien zuletzt von ihm Das Risikobarometer. Wie gefährlich ist unser Leben wirklich?

Nachwort

Die primären Lebensbedürfnisse in der heutigen Industriegesellschaft sind befriedigt, nun sollten höhere Dinge Priorität erhalten. So wie es Pflichten bei den Verantwortlichen gibt, so sollte es Tugenden auch bei uns Bürgern geben. Wenn ich aber an unser Sozialverhalten oder unseren Umgang mit der Umwelt denke, dann meine ich schon, dass es heute auch um Änderungen des persönlichen Verhaltens gehen muss, bei jedem von uns und an jedem Tag.

Hans Joachim Schellnhuber fordert in einem Der Spiegel-Interview einen Gesellschaftsvertrag für das 21. Jahrhundert, der den gemeinsamen Willen zu nachhaltigen Änderungen zum Inhalt hat. Unter anderem wünscht er sich, dass der Energieverbrauch bei uns auf einem sinnvollen Nieau stabilisiert wird. Den Gürtel enger zu schnallen ist aber nicht populär. Schellnhuber weiß das und er sagt: »Meine Selbst- und Alltagserfahrung zeigt, dass Bequemlichkeit und Ignoranz die größten Charaktermängel des Menschen sind. Das ist eine potenziell tödliche Mixtur.« Und Kurt Tucholsky hat den Zustand der menschlichen Moral in zwei englischen Sätzen zusammengefasst: »We ought to. But we don’t.«

 

Angesichts der grenzenlosen Geldgier der Reichsten und der wachsenden Not der Ärmsten ist Ungerechtigkeit zu einem weltweit verbreiteten Gefühl geworden. Wassermangel, Hunger, Krankheit und Verelendung sind die täglichen Sorgen von Abermillionen Menschen.

Aber auch in den reichen Industrienationen gibt es Not und soziale Ungerechtigkeit, gehen immer mehr Bürger deswegen auf die Straßen, vor allem junge Menschen. Auch wenn bei uns die Situation wesentlich besser ist als in den meisten anderen EU-Ländern, auch hier ist der stille Protest gegen orientierungslose Politik, handlungsunfähige Parteien und trostlose Politikerfiguren ähnlich groß wie in anderen Ländern. Der Grund?

Ich zitiere noch einmal Botho Strauß: »Die Entscheidungsträger haben sich daran gewöhnt, zu ihm (dem Volk) durch Gesetze und Regelwerke zu sprechen. Ein Wort, das vielleicht allgemein aufhorchen ließe, wurde von einem Politiker seit Langem nicht vernommen. Die Autorität, die er vielleicht kraft seines Amtes noch besitzt, leidet in der Regel, sobald er den Mund aufmacht. Jedermann ist des Gewäschs überdrüssig. Man will nie wieder etwas von einem Schritt in die richtige Richtung hören.«

Vor allem die Jugend, die besonders sensibel für falsche Töne ist, kann mit den Worthülsen und Sprechblasen unserer Politiker nichts anfangen. Laut der Shell-Jugendstudie lag die Wahlbeteiligung der 18- bis 25-Jährigen in den vergangenen zehn Jahren lediglich bei knapp über 50 Prozent, mit sinkender Tendenz.

Ich denke aber auch an die Dinge, über die bei uns nicht gesprochen wird. Die weggeschwiegen werden. Kinderarmut in Deutschland ist eine Schande! Rentner in Deutschland, die Flaschen aus dem Müll sammeln und Senioren, die um Almosen bitten müssen, sind eine Schande! Die Vereinten Nationen zeigen sich tief besorgt über unsere Sozialpolitik und werfen der Politik vor, dass Deutschland im Kampf gegen Armut und Diskriminierung versagt. Für ein so reiches Land ist der Vorwurf ein Skandal!

Und dieser Vorwurf besteht zu Recht, denn das Engagement für andere hat bei uns einem erschreckenden Egoismus Platz gemacht. Karriere und Geld stehen heute an erster Stelle. Die Gestaltung von Freizeit und Urlaub und die Maximierung des Einkommens sind zum höchsten Lebensziel geworden. Verantwortung für die Gesellschaft wird immer seltener. Diejenigen sind am meisten über die Zukunft besorgt, denen es am besten geht.

Erschreckend ist das Bild westlicher Gesellschaften, wenn man sich die Korruptionsfälle vor Augen hält, die es in Industrie, Wirtschaft und Politik gegeben hat und laufend weiter gibt. »Gier schlägt Gewissen«, sagt Alexander Hagelücken in seinem Kommentar in der Süddeutsche Zeitung: »Geldhäuser auf dem ganzen Globus jonglieren inzwischen mit apokalyptischen Summen, die der Lebenswelt der meisten Menschen völlig enteilt sind. Die Menschen fühlen sich Finanzmärkten ausgeliefert, deren Mechanismen sie nicht verstehen – und kaum verstehen können.«

Ja, es ist erschütternd, wenn man sieht, wie Lüge und Unredlichkeit, Bestechung und Hehlerei unsere Gesellschaft allmählich prägen, auf welch skrupellose Weise manche sich politische Macht zu sichern und große Geschäfte zu machen verstehen.

Und nicht nur bedenklich, sondern extrem gefährlich ist es, wenn mit Risiken umgegangen wird, als seien sie unerfreuliche Nebenprodukte, die man am besten ignoriert. Wenn Sicherheit zugunsten des Profits geopfert wird, wenn sensible Großtechnologien wie Kernenergie und Gentechnik in die Hände von Banken, Börsenspekulanten und profitorientierten Managern geraten. Dies dürfen wir nicht zulassen!

Wenn wir Wohlstand und Fortschritt bei uns aufrechterhalten und an andere weitergegeben wollen, dann dürfen wir als eine Nation mit technologischer Hochkultur nicht nur an technische und wirtschaftliche Verbesserungen denken, dann müssen wir auch die gesellschaftlichen Voraussetzungen hierfür schaffen und erst einmal wieder lernen, vernünftig miteinander umzugehen. Nur durch mehr Miteinander und Füreinander können die Probleme unserer Zeit gelöst werden.

Ich bin davon überzeugt, dass eine gesunde Weiterentwicklung unseres Landes ganz wesentlich davon abhängt, ob es uns als Gesellschaft gelingen wird, über die Maßlosigkeit unserer Ansprüche, unser mangelhaft entwickeltes Sozialverhalten und die Ungenauigkeit im Umgang mit dem Recht nachzudenken.

Seien wir also wachsam und misstrauisch gegen alles, was man uns glauben machen will. Das rate ich!

Seien wir selbst aber auch bereit, Korrekturen vorzunehmen und ein neues Verständnis füreinander und ehrliches Miteinander zu entwickeln. Dazu rufe ich auf!

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Die Wolke sah harmlos aus, war es aber nicht

Der Dioxin-Unfall von Seveso, Italien

10.7.1976

Die Wolke, die sich am Samstag, dem 10. Juli 1976, einem heißen Sommertag, um 12.37 Uhr am Himmel der Lombardei zeigte, war weiß und sah harmlos aus. Die für die Wolke »Verantwortlichen« hofften, sie würde sich als Lappalie erweisen, doch diesen Gefallen tat sie ihnen nicht. Wegen hoher Windgeschwindigkeit bewegte sie sich schnell über dicht besiedeltes Gebiet, über die Gemeinden Meda, Desio, Cesano Maderno und Seveso.

Zunächst passierte nichts. Doch schon nach dem Wochenende verdörrten Pflanzen, starben Hühner, Katzen und Kaninchen, stürzten Vögel vom Himmel und verendeten elend am Boden. Die ersten Kinder kamen mit Durchfall, Übelkeit und Hautjucken in die Krankenhäuser.

Insgesamt etwa 3300 Tiere verendeten, 77 000 wurden notgeschlachtet. Eine Woche nach dem Unglück wurden 14 Kinder mit Chlorakne in Krankenhäuser gebracht. Bilder von Kindern mit eitrigen Pusteln im Gesicht gingen um die Welt. Die Erklärung für das Grauen: Dioxin.

Herkunft der Wolke und Ausgangspunkt der ihr folgenden Katastrophe war die Chemiefabrik Icmesa, zwanzig Kilometer nördlich von Mailand. Der als heruntergekommen geltende Betrieb beschäftigte einhundertsechzig Menschen und war ein Tochterunternehmen des Schweizer Aroma- und Parfümherstellers Givaudan, der wiederum zum Basler Pharmakonzern Hoffmann-La Roche gehörte.

Icmesa produzierte Trichlorphenol (TCP), ein Vorprodukt für das Desinfektionsmittel Hexachlorophen, das wegen seiner guten Wirkung gegen Bakterien zur Herstellung medizinischer Seifen eingesetzt wird. Es diente auch als Mikrobiozid in Kosmetika, ist hierfür aber in Deutschland seit 1985 verboten. Bei der Produktion entsteht als Nebenprodukt, besonders bei höheren Temperaturen, das hochgiftige Dioxin Tetrachlordibenzodioxin TCDD.

Zum Unfall kam es, weil ein Arbeiter am Ende der Nachtschicht wegen des bevorstehenden Wochenendes nicht nur den Reaktor zur TCP-Herstellung abschaltete, sondern auch das Rührwerk des Autoklavs, welches hätte weiterlaufen müssen. Es kam zu einem Wärmestau und die Temperatur stieg immer mehr an, bis sich durch Überdruck ein Sicherheitsventil löste und es zu einer Verpuffung kam. Das Unternehmen legte bei späteren Verlautbarungen Wert darauf, dass es sich um eine Verpuffung, nicht um eine Explosion handelte. Vermutlich, weil Verpuffung harmloser klingt. Mehrere Kilogramm TCDD sollen in die Umgebung ausgetreten sein, ehe das Leck geschlossen werden konnte. Es gab weder ein Auffangreservoir, noch Warnsysteme oder Alarmpläne. Erst um 13.45 Uhr traf fachkundiges Personal ein und konnte den Reaktor auf unkritische Temperatur herunterfahren. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits 1800 Hektar Land auf Jahre vergiftet.

Erst 27 Stunden nach der Wolke informierten die Verantwortlichen den Bürgermeister und die Polizei. Dass es sich bei dem Gift um Dioxin handeln könnte, wurde zunächst nicht erwähnt. Erst neun Tage später fiel dieses Wort zum ersten Mal.

2,3,7,8-Tetrachlordibenzodioxin, kurz: TCDD, ist der giftigste und bekannteste Stoff aus der Gruppe der Dioxine. Dioxin gilt als eines der stärksten Gifte, weniger als ein Milligramm kann tödlich sein. Rein rechnerisch ließen sich mit der bei dem Unfall ausgetretenen Menge Millionen Menschen vergiften, hieß es in Presseberichten. Das ist zwar reißerisch formuliert, aber es stimmt, und wo es hinpasst, sollte man es auch drastisch sagen.

Auch das im Vietnamkrieg eingesetzte berüchtigte Entlaubungsmittel Agent Orange hat als Grundbaustein Trichlorphenol und enthält Dioxin. Die Mischung wird für viele Erkrankungen und schwere Missbildungen bei Babys verantwortlich gemacht, wie auch für die hautentstellende Chlorakne.

Unfälle bei der Produktion von TCP hatte es schon in den 1950er-Jahren bei BASF in Ludwigshafen und bei Boehringer Ingelheim in Hamburg gegeben. Damals war Dioxin der Öffentlichkeit noch weitgehend unbekannt. Boehringer Ingelheim stellte daraufhin seine TCP-Produktion auf niedrigere Temperatur um. Und genauso wie BASF warnte das Unternehmen vor den erkannten Risiken.

Icmesa, Givaudan und Hoffmann-La Roche kümmerte dies allerdings wenig, obwohl man sich über die Gefahren einer Dioxinvergiftung durch die Anlage in Seveso durchaus im Klaren war. Und da man in Basel wusste, dass bei der Herstellung von Pestiziden auch Dioxin als Nebenprodukt anfällt, wurden diese nicht in der sauberen Schweiz, sondern im schmuddeligen Norditalien produziert. Und die Verantwortlichen hatten Anweisung, die in der Umgebung des Werks ansässigen Bauern, denen Vieh verendete, unverzüglich zu entschädigen.

Am 18. Juli 1976, also erst eine Woche nach dem Unfall, wurde das Icmesa- Werk geschlossen, zwei Tage später die leitenden Angestellten, Herwig von Zwehl und Paolo Paoletti, festgenommen. Und erst zu diesem Zeitpunkt wurde die Nachricht bestätigt, dass bei dem Unfall Dioxin freigesetzt worden war.

Weil die gebotene Aufklärung über die Ursachen und mögliche Folgen vonseiten des Unternehmens fehlten und Horrornachrichten in den Medien erschienen - Schwangere in dem Gebiet mussten in den Zeitungen lesen, dass sie Monster gebären werden – griff Hysterie um sich. Den Frauen wurde anheimgestellt, abzutreiben. Nach offiziellen Angaben trieben etwa drei Dutzend Frauen ab, Schätzungen gehen jedoch von etwa hundert Aborten aus. Eine tragische Überreaktion, wie sich später herausstellte.

Sukzessive wurden immer mehr Bürger der betroffenen Gebiete evakuiert, Tausende Kinder wurden in unbelastete Gebiete verschickt, zahllose Menschen bangten um ihre Gesundheit.

Dr. Paolo Mocarelli, Professor für klinische Biochemie an der Universität Milano-Bicocca, der im ersten Jahrzehnt nach dem Unfall die biochemische Überwachung von rund 30 000 Dioxin-exponierten Menschen leitete, konnte die Folgen später relativieren. Als Ergebnis seiner Untersuchungen zeigte sich, dass niemand an einer Dioxinvergiftung gestorben war, an Föten keine Missbildungen gefunden wurden, und auch später in dem betroffenen Gebiet keine vermehrten Frühgeburten oder Geburtsschäden aufgetreten waren. Es gab etwa 400 Fälle von Hautschädigungen, darunter 200 von Chlorakne. Bei den Krebserkrankungen fand man eine Zunahme von Lymphomen und Leukämien, sowie eine etwa verdoppelte Rate der Brustkrebserkrankungen. Insgesamt war die Sterblichkeit unter den Dioxinbelasteten nicht erhöht. Deutlich wurde hingegen, dass Dioxin offenbar eine hormonähnliche Wirkung hat. Diese spielt auch heute immer wieder eine Rolle, wenn Dioxin über Futtermittel in die Nahrungskette und damit ins Gespräch kommt.

Bei Icmesa gab es gravierende Sicherheitsdefizite, die Arbeiter waren hohen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt und verfügten über eine unzureichende Ausbildung. Aber auch die Sicherheitsstruktur des Hoffmann-La Roche-Konzerns war alles andere als perfekt. Jörg Sambeth, der 1976 technischer Direktor bei Givaudan war und später zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt wurde, schilderte 2004 in seinem Buch Zwischenfall in Seveso und 2005 in dem Dokumentarfilm Gambit, wie ein autoritärer Führungsstil im Konzern rasches Handeln und die Aufklärung der Bevölkerung verhindert hätten: Der damalige Präsident war in Brasilien gewesen, und keiner seiner Untergebenen habe es gewagt, ihn wegen des Zwischenfalls an einem Wochenende zu behelligen.

Hans Fehr, ehemaliger Pressesprecher von Roche, schildert die erste Krisensitzung am 15. Juli in seiner Autobiografie so: »Dr. Hartmann (Vizedirektor der Roche), ganz Oberst an der Front, stürmte den Ort der Handlung, gefolgt vom Chefchemiker von Givaudan, Dr. Sambeth. Gut, dass Sie da sind. Also erstens: Die Sache wird im engsten Kreise der Icmesa gehalten, Givaudan und Roche werden nicht erwähnt. Zweitens: Dass es bei der Herstellung von Hexachlorophen passiert ist, wird ... nicht erwähnt. Drittens: Dass Dioxin gebildet wurde, wird nicht erwähnt. Alles klar?«

In seinem Buch Roche versus Adams widmet Stanley Adams dem Seveso-Skandal ein ganzes Kapitel. Darin beschuldigt er Roche und dessen Töchter bei der Errichtung einer neuen Icmesa-Fabrik an den Sicherheitsstandards gespart zu haben, wofür er Konstruktionspläne der Fabrik als Belege hatte. Er erklärt weiterhin, dass Icmesa von dem als Basiszutat für Agent Orange benötigten TCP viel mehr herstellte als für die Parfümproduktion eigentlich benötigt wurde, und dass die gesamte Produktion an eine Givaudan-Fabrik in den USA ging.

Im Sommer 1982 wurde der Unglücksreaktor abgebaut. Nach jahrelangem Streit um die beste Sanierungsmethode wurde der Boden der verseuchten Kernzone großflächig abgegraben und zusammen mit dem Hab und Gut der Betroffenen einbetoniert. Heute befindet sich dort ein Freizeitpark, der Bosco delle querce (Eichenwald), mit Aussichtshügel und Sportanlage. Das Gebiet wurde 2005 feierlich zum neuen Naturpark der Lombardei erhoben. Auf dass Gras über der Katastrophe wachse!

Das Allergiftigste aber, der Inhalt des Reaktionsgefäßes, wurde in 41 Fässer gefüllt, die es dann zu entsorgen galt. Doch keine Deponie wollte die Fässer aufnehmen.

Und nun lief die Geschichte wie in einem Kriminalfilm ab. Auf einem gewöhnlichen Lastwagen passierten die Fässer mit dem hochgiftigen Inhalt im September 1982 in Ventimiglia die italienisch-französische Grenze, beschriftet mit dem einem Zollbeamten natürlich unbekannten Chemiekürzel TCDD. Kein Wort von Dioxin oder Seveso, dem Herkunftsort der Fässer. Wenig später wurde die Fracht zum letzten Mal gesehen, in St. Quentin, nördlich von Paris. Dann verschwanden die Fässer mit dem Giftmüll spurlos.

Verantwortlich für den Transport war der Schweizer Chemiekonzern Hoffmann-La Roche, der Mannesmann Italia mit der Entsorgung beauftragt hatte. Mannesmann gab den Auftrag aber an zwei andere Firmen weiter, Vadir und Spelidec, die nicht im Handelsregister eingetragen waren und jeweils aus einem Briefkasten und einem Mitarbeiter bestanden.

Als die Fässer verschwunden waren, fühlte sich keiner mehr verantwortlich. Hoffmann-La Roche verwies auf Mannesmann, Mannesmann verwies auf das Entsorgungsunternehmen Spelidec, dessen Besitzer, Bernard Paringaud, Hoffmann-La Roche eine notariell beglaubigte Erklärung ausstellte, dass der Müll ordnungsgemäß endgelagert war. Wo, verschwieg er, auch eine Beugehaft brachte ihn nicht zum Reden.

Acht Monate lang suchte man in halb Europa fieberhaft nach den Fässern. Privatdetektive ermittelten, der deutsche Bundesnachrichtendienst (BND) suchte. Gleichzeitig stieg der Druck auf Hoffmann-La Roche, viele Ärzte verschrieben keine Produkte der Schweizer Firma mehr. Genau das meinte ich, wenn ich eingangs sagte, dass wir uns wehren und Widerstand leisten können, wir sollten es nur viel öfters tun! Ein mir bekannter Professor, der bei Roche in hoher Position stand, verließ aus Protest gegen die Informationspolitik des Konzerns sogar das Haus.

Als Monsieur Paringaud vom Entsorgungsunternehmen Spelidec 1983 dann doch endlich auspackte, wurden die Fässer am 19. Mai 1983 im nordfranzösischen Ort Anguilcourt-le-Sart, einem 300-Seelen-Dorf, auf dem Hinterhof der örtlichen Fleischerei gefunden, in unmittelbarer Nähe einer Schule. Die Fässer hatten eine Strecke von etwa 900 km zurückgelegt. Als ihr Inhalt dann verbrannt werden sollte, wollte dies aus Angst vor giftigem Rauch auch wieder niemand tun.

Doch erst 1985, also neun Jahre nach der Katastrophe, war es dann der Basler Chemiekonzern Ciba-Geigy (heute Novartis), der bereit war, dies zu tun, genauer gesagt, es zu versuchen, denn Erfahrungen darüber, ob Dioxin ohne Umweltgefährdung verbrannt werden kann, gab es bislang nicht. Bei Ciba-Geigy hatte man einen Spezialofen für die Verbrennung von giftigen Chemikalien sowie den höchsten Schlot. Nach zwei Versuchsverbrennungen wusste man dann, dass eine Vernichtung des Giftes bei 1200 Grad möglich sei. In Einzelpackungen von je 2,5 Kilogramm wurde das Dioxin in hundert Stunden verbrannt.

 

Dioxin gilt als Inbegriff einer gefährlichen chemischen Substanz. Die Umweltkatastrophe von Seveso hat das hochgiftige Dioxin TCCD so berühmt gemacht, dass es heute auch Sevesogift genannt wird und Seveso zum Synonym für lebensbedrohliche Umweltverschmutzung, industrielle Schlamperei, unternehmerische Arroganz und kriminelles Verhalten wurde.

Seveso wurde aber auch zum Symbol für das Ende des Traums vom leichten und ungefährlichen industriellen Fortschritt – viele Jahre vor der Chemiekatastrophe im indischen Bhopal (1984) sowie dem Reaktorunglück von Tschernobyl (1986).

Die rechtlichen und gesetzgeberischen Folgen der Katastrophe waren weitreichend. Allein die EU hat zur Verhütung schwerer Betriebsunfälle mit gefährlichen Stoffen und zur Begrenzung der Unfallfolgen zwei »Seveso-Richtlinien« erlassen, 1982 und 1999. Sie schlugen sich in Deutschland in der Störfall-Verordnung nieder, in Italien wurde das Recht auf Schadensersatz umgekrempelt.

Charles Perrow, Professor für Soziologie an der Yale-Universität in Princeton und einer der weltweit bedeutendsten Organisationssoziologen sagt in seinem Buch Normale KatastrophenDie unvermeidbaren Risiken der Großtechnik: »Bei Unfällen wie diesem versagen einzelne Komponente, und die Risiken eines Bohrunfalls bei der Suche nach Erdöl, undichter Fässer mit hochgiftigen Abfällen und explodierender chemischer Reaktoren sind nicht nur vorhersehbar, sondern werden vermutlich auch bewusst einkalkuliert.«

Seveso war ein schweres Industrieunglück, dessen Folgen für Mensch und Umwelt glücklicherweise begrenzt blieben, aber doch so schwerwiegend waren, dass zu ihrer Aufarbeitung ein volles Jahrzehnt benötigt wurde.

Trostlos aber ist, dass man in so vielen Unternehmen hinsichtlich der Bewältigung von Zwischenfällen und Katastrophen in technischer wie kommunikativer Hinsicht so wenig gelernt hat und nach wie vor den Mut zu kriminellem Verhalten besitzt.