Herzensgut
Es war ein Geschenk, dass ich Grit kennenlernen durfte. Dass sie mir mein Leben so viel wertvoller gemacht hat. Grit haderte nie, obwohl seit ihrer Geburt am 14. Juni 1972 in Neuruppin ein Herzfehler ihr großes Handikap war. Es sei nicht zu operieren, sagten die Ärzte damals. Sie kam schneller außer Atem als andere Menschen. Anstiege oder Treppen laufen waren für sie große Anstrengungen, die oft nur mit Pausen zu bewältigen waren. Ihr Bruder Jens hatte den gleichen Herzfehler. Er starb im Alter von zwölf Jahren auf der Rückbank des Trabbi neben der jüngeren Schwester, gerade als seine Eltern und sie ihn von einer Untersuchung im Krankenhaus abgeholt hatten. Grit war damals fünf Jahre alt.
Der Tod des Bruders ließ die Eltern natürlich auch um sie bangen. Grit selbst sagte mal, sie habe irgendwann gedacht, sie werde doppelt so alt wie Jens, dann müsse sie wohl auch sterben. Vierundzwanzig Jahre also. Es war ihr 24. Geburtstag, an dem wir uns zum ersten Mal trafen. Damals hatte sie immer einen Piepser dabei, der sie alarmieren sollte, wenn ein Spenderherz eintreffen würde. Sie stand auf der Transplantationsliste. Wer sie sah, konnte nicht glauben, dass sie einen Herzfehler hatte. Es war ihr nicht anzumerken.
Diese Frau strahlte. Sie besuchte Konzerte, sie ging in Ausstellungen, sie traf Freunde, sie ging ehrgeizig ihre Ausbildung an, arbeitete später gewissenhaft und zuverlässig in ihrem Beruf als Versicherungskauffrau.
Sie lebte. Und ich erlebte sie: ihren Optimismus, ihre Freude. Beides umarmte mich auf wundersame Weise auf unserem Spaziergang in Maria Laach an Ostern 2016.
Hand in Hand und Arm in Arm
Schon in der Abtei Maria Laach wird mir an diesem Ostersonntag 2016 bewusst, dass dies ein besonderer Tag werden würde. Als wir durch die schwere Tür in die Klosterkirche schreiten, steigt uns der Duft von Weihrauch in die Nase, Spuren der Messe am Morgen, nur wenige Stunden zuvor. Als wir uns umsehen, scheint plötzlich die Sonne durch die riesigen Kirchenfenster. Sie scheint nicht nur, sie lässt ihre Strahlen sichtbar werden. Durch den Weihrauch wirkt es, als hätte uns Gott direkt einen Ostergruß in die Kirche geschickt.
Und das durch alle Fenster, obwohl doch für den gesamten Tag fürchterlicher Regen vorhergesagt war. Fasziniert versuche ich, das kleine Kirchenwunder mit der Kamera einzufangen. Es gelingt – Grit und ich schauen uns begeistert im Display das Ergebnis an. Ich setze mich in eine der hinteren Kirchenbänke, um diesen grandiosen Anblick aufzusaugen. Grit sitzt in einer anderen Bank. Sie dreht sich um, sieht mich. Und zeigt ihr wunderschönes Lächeln. Mit ihren Augen sagt sie: »Warum sitzt du alleine da hinten? Ich möchte bei dir sein.« Sie steht auf, geht die sieben Schritte zu mir, setzt sich neben mich, nimmt meine Hand. Ich umarme sie. Viele Wochen später erst sollte mir klar werden: Gott schickte uns dieses Zeichen. Die Zeit war gekommen. Aber dieser Lichtstrahl an Ostern sollte uns auch sagen: Mit dem Sterben ist nicht alles vorbei – dann kommt das Licht. Es ist sechs Tage vor Grits Tod.
Grit hatte sich so sehr diesen Ausflug nach Maria Laach gewünscht. »Oh, du musst an Ostern nur Samstag arbeiten. Dann buche ich uns ab Sonntag ein Hotel, ich bezahle es auch, Vati hat mir Geld überwiesen.« Sie hatte – wie so oft – mein Zögern besiegt. Mit ihrem Entdeckergeist begeisterte sie mich. Aus meinem »Sollen wir Ostern nicht lieber zu Hause verbringen?« wurde Vorfreude.
Jetzt sind wir hier. Nach dem Licht-Moment im Inneren versuche ich, auch von außen die Basilika mit der Kamera einzufangen. »Ich gehe gerade mal auf diese Erhöhung im Wald, dann habe ich eine bessere Perspektive«, sage ich, worauf Grit schnell antwortet: »Ich komme mit.« Sie steigt den steilen Waldweg langsam hinauf. Während ich fotografiere, stellt sie fest: »Was für ein schöner Wald. Lass uns noch ein paar Schritte gehen.« – »Ja, gerne. Aber hier geht es bergauf. Ständig.« Das kann nicht gut gehen, wir werden schon bald abbrechen müssen. »Nur bis zur nächsten Kurve«, sagt Grit. Kein Problem, wir haben Zeit, wir können langsam gehen. An der nächsten Kurve angekommen, sieht sie voraus: »Da hinten ist ein Aussichtspunkt, lass uns da noch hingehen.« Wir wandern langsam weiter und genießen, am Aussichtspunkt angekommen, den Blick auf den Laacher See.
Und nun? Zurück? »Nein, lass uns noch ein Stück gehen, bis zur nächsten Kurve.« Grit ist fasziniert von dem Wald, von den Bäumen. Sie geht in dem ihr üblichen Tempo. Sie lässt sich von nichts und niemandem aus der Ruhe bringen. Schritt für Schritt. Langsam, aber stetig voran. Manchmal bleibt sie stehen, schaut einen Baum hinauf und sagt: »Schön.«
Die nächste Kurve ist erreicht, aber die Frage der Umkehr stellt sich nicht mehr. Längst haben wir beide viel Spaß an diesem Spaziergang gefunden. Wir stapfen weiter. Ich mache Fotos: von Wurzeln, Abhängen, dem See, den Stämmen, von Grit. Sie erzählt mir aus dem Buch, das sie sich von mir zu Weihnachten gewünscht hatte. »Das geheime Leben der Bäume« von Förster Peter Wohlleben. Begeistert und fasziniert berichtet sie. »Wusstest du, dass die Bäume in den Kronen zusammenwachsen? So können sie sich Halt geben, wenn ein Sturm kommt.« Und als plötzlich ein etwas kräftiger Wind um uns zieht, packt sie mich am Arm, zeigt auf die Wipfel und ruft aufgeregt:
»Schau, jetzt, da!« Ich ahne zu dem Zeitpunkt nicht, wie viel Trost mir diese Szene nur eine Woche später geben wird. Das Bild mit dem Halt, wie meine Freunde mich stützen – so wie die Bäume es gegenseitig tun.
Wir gehen weiter. Schritt für Schritt. Die Langsamkeit hat uns im Griff. Und das fühlt sich gut an. Irgendwie haben wir alles um uns herum vergessen. Keine Uhrzeit, keine anderen Menschen. Nicht mal einen Schirm haben wir auf diesem ungeplanten Gang dabei – obwohl die Wetterpropheten im Radio es empfohlen hatten. Ich bin auf diesem Spaziergang entspannt wie lange nicht. Und wir sind uns sehr nah. In unseren Gedanken, in unseren Schritten. Hand in Hand. Arm in Arm.
An einer Weggabelung schaue ich nach oben. »Das sieht aus, als sei da hinten schon der obere Punkt.« Grit lächelt und sagt: »Meinst du wirklich? Dann schaffen wir das auch noch.« Na klar, wir schlendern weiter. Kurz vor oben: Ich »muss mal«, schlage mich in den Wald, suche mir einen Baum. Grit setzt ihren Weg fort. Und dann höre ich sie: »Oh, wie schön, wir sind oben.« Ich laufe zu ihr. Der Waldweg ist zu Ende. Wir blicken unendlich weit. Bis ins Siebengebirge. Etwas näher ist die A61. Wir versuchen, uns zu orientieren.
Grit strahlt. Ihr ist der Stolz anzusehen: Ich habe es geschafft, ich bin oben, was für ein wunderschöner Spaziergang, Peter ist auch entspannt, hat Spaß – was wünsche ich mir mehr. Sie sagt es nicht, aber das alles strahlen ihre Augen aus. Dabei lacht sie: »Auf dem Rückweg schaltest du bitte deine Lauf-App ein. Damit ich mal sehen kann, wie weit wir gelaufen sind. Wie viele Höhenmeter es waren.« Das mache ich gerne. Später wird uns die App sagen, dass wir zweieinhalb Kilometer nach oben gelaufen sind, dabei hundert Höhenmeter bewältigt haben.
Den kompletten Weg hinab ist Grit diese Zufriedenheit, dieser Stolz anzumerken. Sie erzählt wieder von den Bäumen, macht Pläne für unsere nächsten beiden Tage: Vulkanmuseum in Mendig und Geysir von Andernach.
»Ich will viel mit dir sehen.« Ja, das will sie immer. Die Neugier, das Hinterfragen, das Entdecken. »Aber wenn wir unten sind, gönnen wir uns erst mal ein Stück Kuchen und einen Kaffee«, sagt sie und greift wieder nach meiner Hand.
»Ich habe jetzt so viele Fotos hier gemacht«, sage ich, »jetzt mache ich mal eines von dir und deinem Wald.« Sie stellt sich auf den Weg, sie lächelt in die Kamera, im Hintergrund die dürren, langen Stämme. Ihre gelbe Jacke leuchtet, ihr blau-weißes Halstuch wirkt beschützend. Die schönen glatten Haare, ein paar Strähnen fallen keck in die Stirn. Die Brille, die die Neugier ausdrückt. Vor allem aber die strahlenden Augen, dieses wunderschöne Grün rund um die Pupillen, was so bemerkenswert leuchtet. Aus ihrem Inneren kommt die Zufriedenheit, die Ruhe, die Entschleunigung, der Stolz auf diese Bergwanderung. Die Hoffnung, dass dies ein Zeichen ist, wie gut es ihr und ihrem Herzen geht.
Ich drücke auf den Auslöser, mir ist ganz warm dabei, ich bin entspannt und ruhig. Ich drücke noch mal auf den Auslöser. Weil das Foto so bezaubernd ist und ich den Gedanken habe, ich muss es festhalten, mehrmals, einmal scheint nicht zu reichen. Grit will gleich das Ergebnis im Display sehen. »Schön.« Sagt sie. Schön ist untertrieben. Dieses Foto ist ein Traum. Nur sechs Tage später werde ich wissen: Es ist das Abschiedsfoto. Das Foto wird während der Predigt der Pfarrerin bei der Beisetzung neben dem Altar stehen. Grit wird uns alle anlächeln.
Die Augen werden strahlen.
Dieser Spaziergang in Maria Laach war unser Abschied. Mit Nähe, Vertrautheit. Mit Erzählen und Zuhören. Hand in Hand und Arm in Arm.
Das Ufer
Ich weiß nicht, wie oft ich den Text zum Spaziergang im Wald am Laacher See inzwischen gelesen habe. In den ersten Monaten immer unter Tränen. Es war ein magischer Tag. Hätte mir vorher jemand gesagt, dass Grit diesen Berg schafft, ich hätte es nicht geglaubt angesichts des Herzfehlers. Sie war nicht zu bremsen. Jeden Tag begrüßte sie erwartungsfroh, plante Neues, ging ihre Ziele an. Wohl, weil sie damit rechnen musste, nicht so viel Zeit wie andere zu haben.
Dieser Ostersonntag packte all das in einen Rahmen. Das Ausprobieren, das Erreichen, das Gegen-alle-Befürchtungen-Ankämpfen. Wir wussten nicht, dass dieser einer unserer letzten Tage sein sollte. Es war gut, das nicht zu wissen. Es war gut, unbeschwert im Glück baden zu dürfen.
Am nächsten Tag, dem Ostermontag, fuhren wir nach dem Besuch des Geysirs in Andernach und des Vulkanmuseums in Mendig nochmals zum Laacher See. Am Parkplatz schaute ich in den Himmel und murmelte angesichts der pechschwarzen Wolken: »Wir werden im Regen total nass werden.« – »Ach, komm, wir können doch nicht hier Urlaub machen und nicht einmal am See gewesen sein.« Und schon hatte sie die ersten Schritte gemacht. Ich folgte ihr. Wenig später standen wir entspannt am Ufer. Ich fragte eine Spaziergängerin, ob sie ein Foto von uns beiden machen könne. »Natürlich.« Wie diese Frau aussah, weiß ich nicht mehr. Unsere Leben kreuzten sich etwa drei Minuten. Ich werde dieser Unbekannten aber für immer dankbar sein: Es war das letzte Foto von Grit und mir. Denn nach diesen verliebten Tagen in Maria Laach, wenige Tage später, kam der große Schock.
Der schlimmste Tag meines Lebens
Die Polizistin drängte mich ins Wohnzimmer. »Ich brauche jetzt ein paar Angaben. Sie sind der Ehemann? Kann ich bitte Ihren Personalausweis sehen?« Ich kramte im Portemonnaie, fand den Ausweis. Bevor ich ihn zückte, schaute ich der Frau in Uniform aber mit Bangen in die Augen: »Ist meine Frau gestorben?« Die Polizistin sackte etwas in sich zusammen. Ihr Nicken war kaum zu sehen: »Es tut mir so leid.« Der Moment, in dem Gewissheit wurde, was sich schon eine halbe Stunde lang quälend in jeden Winkel meines Körpers gegraben hatte: Grit lebte nicht mehr. Ihr tapferes Herz hatte aufgehört zu schlagen. Dieser Samstag, 2. April 2016, etwa 23 Uhr, veränderte mein Leben. Nichts würde mehr so sein, wie es war.
Am Morgen, etwa zwölf Stunden zuvor, hatte sich noch nichts angedeutet. Ich bereitete mich auf meinen Samstagsdienst in der Mainzer Redaktion vor. Grit plante, den Frühjahrsputz mit dem Schlafzimmer zu beenden. Eigentlich umarmten wir uns jeden Tag, wenn jemand von uns die Wohnung verließ. Immer. Ausnahmslos. Schrecklich: Dieser Tag war eine Ausnahme. Ich sehe sie immer noch im Schlafzimmer an der Wand stehen, neben ihrer Bettseite. Ich hatte es eilig, war an der Wohnungstür, öffnete sie. Wir schauten uns an. Drei Meter Entfernung. Keine Umarmung. Das war der Abschied. Unsere Blicke trafen sich. Sie lebte. Ich ging.
Der Dienst in der Redaktion war anstrengend. Und dauerte länger. Ich kam erst gegen 22 Uhr nach Hause.
Seltsam. Niemand da. Im Schlafzimmer sah es aus, als hätte jemand während des Aufräumens fluchtartig die Wohnung verlassen. Im Wohnzimmer standen die beiden großen Matratzen am Schrank, die ich morgens auf den Balkon zum Ausklopfen gewuchtet hatte. Wo war Grit? Ungewöhnlich war eine solche Situation nicht, denn schon öfter war sie bei einer Nachbarin gewesen. Oder im Keller. Sie würde bestimmt gleich kommen. Dann würden wir zusammen aufräumen. Ich setzte mich aufs Sofa, blätterte durch die Samstagszeitung.