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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74092-634-2
»Diese Schmerzen kommen immer wieder, Herr Dr. Görgens«, sagte Vanessa Sielke. »Eine Weile sind sie völlig verschwunden – und dann auf einmal treten sie wieder auf. Ich kann mir das gar nicht erklären, ich habe noch nie etwas mit dem Magen gehabt. Und die Untersuchungen sind ja auch ergebnislos geblieben. Aber schließlich bilde ich mir die Schmerzen ja nicht ein.«
Der attraktive dunkelhaarige Arzt lächelte charmant. »Natürlich bilden Sie sich die Schmerzen nicht ein, Frau Sielke. Sie haben ohne Zweifel einen gereizten Magen, und das wundert mich nicht. Ihr Beruf ist doch ziemlich stressig, nicht wahr?« Sein Lächeln vertiefte sich. »Jedenfalls nach allem, was ich von Ihrem Verlobten höre.«
»Ja, sicher ist mein Beruf stressig«, antwortete sie, »aber ich kann mir eigentlich nicht vorstellen...«
Er unterbrach sie sanft, aber bestimmt. »Na, sehen Sie, da haben Sie doch Ihre Erklärung.«
Vanessa war Lehrerin an einer Grundschule, ihr Beruf war anstrengend, keine Frage. Aber sie ging gern zur Schule, und sie liebte den Umgang mit Kindern – warum also sollten diese ihr einen gereizten Magen bescheren? Das leuchtete ihr nicht ein, auch wenn Dr. Görgens sehr sicher zu sein schien.
Im Augenblick waren die Schmerzen natürlich wieder einmal verschwunden, so daß sie sich sowieso ein bißchen dumm vorkam, weil sie um einen Termin bei ihm gebeten hatte. »Wenn Sie meinen«, murmelte sie, keineswegs überzeugt.
Er merkte ihr an, daß sie nicht zufrieden war. »Streß kann ungeheuer aggressiv wirken – viele Menschen unterschätzen seine Kräfte, Frau Sielke«, sagte er ernst. »Auch wenn Sie subjektiv nicht das Gefühl haben, daß Ihr Beruf stressig ist – so ist er das objektiv ganz sicher. Große Klassen, zappelige Kinder, ein hoher Lärmpegel, vergessen Sie das alles nicht!«
»Das stimmt natürlich«, gab sie zu. »Manchmal bin ich wie gerädert, wenn ich aus der Schule komme. Dann muß ich mich hinlegen und eine halbe Stunde schlafen.«
»Sehen Sie? Das ist es, was ich meine. Sie haben es ja selbst schon gesagt: Die Untersuchungen haben keinerlei Befund ergeben, auch die Endoskopie nicht. Deshalb bin ich so sicher, daß Sie kein Magengeschwür haben.«
Sie nickte. Die Ergebnisse der Endoskopie hatten sie tatsächlich beruhigt, aber sie wollte endlich wieder schmerzfrei sein. »Vielleicht ist trotzdem etwas übersehen worden?« fragte sie. »Das wäre doch möglich, oder?«
»Möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich«, erwiderte er. »Ich verschreibe Ihnen ein anderes Medikament, und Sie werden sehen, das beruhigt Ihren Magen vollkommen. Ich gehe natürlich davon aus, daß Sie mit dem Essen weiterhin vorsichtig sind. Vielleicht sollten Sie es auch einmal mit autogenem Training probieren.«
Das hörte sich vernünftig an, sie hatte schon von einigen ihrer Freundinnen gehört, daß autogenes Training Wunder wirken konnte. Vielleicht sollte sie das wirklich einmal ausprobieren?
Sie wechselten noch ein paar eher belanglose Sätze, dann verabschiedete sie sich und ging zum Empfang, wo sie ihr Rezept bekam. Anschließend verließ sie die Praxis.
Sie war noch nicht sehr lange Patientin von Dr. Görgens. Ihr Verlobter Hans Sydermann spielte mit ihm Tennis, er hatte ihn ihr empfohlen, und sie war dieser Empfehlung gefolgt, da sie bis dahin keinen Hausarzt gehabt hatte. Dr. Görgens war immer ausgesprochen zuvorkommend und freundlich – sie hatte ihn sogar manchmal im Verdacht, daß er ein wenig mit ihr flirtete. Und einmal hatte er zu ihr gesagt: »Ich setze auf den mündigen Patienten« – das hatte ihr seinerzeit sehr imponiert. Mal sehen, dachte sie, ob ich als mündige Patientin tauge.
Sie mußte lächeln. Der Arzt war besonders bei Frauen beliebt, das war ihr schon aufgefallen: Im Wartezimmer waren Frauen immer bei weitem in der Überzahl. Aber es war schließlich nichts dagegen einzuwenden, wenn ein Arzt nicht nur Krankheiten behandeln konnte, sondern gleichzeitig auch noch gut aussah.
Als sie gerade in ihr Auto steigen wollte, fiel ihr das Rezept ein, und sie verschloß den Wagen wieder. Gegenüber war eine Apotheke, das konnte sie genausogut zuerst noch erledigen. Hoffentlich verschwanden die Schmerzen mit dem neuen Medikament endlich für immer.
Zehn Minuten später war sie zu Hause. Sie mußte noch ein Diktat der dritten Klasse korrigieren, dazu hatte sie keine besonders große Lust. Aber abends würde sie mit Hans in ein neues Restaurant gehen, darauf freute sie sich schon.
Sie ging in die Küche, um sich einen Tee zu kochen. Im Grunde konnte sie zufrieden sein: Ihr Hausarzt hielt sie für gesund, er fand nur, sie müsse ihren Streß reduzieren.
Am besten fing sie gleich damit an, indem sie sich an die Arbeit machte und die Korrektur des Diktats, das sie vor zwei Tagen in ihrer Klasse hatte schreiben lassen, nicht länger aufschob.
Sie setzte sich entschlossen an ihren Schreibtisch, griff zum ersten Heft und begann stirnrunzelnd zu lesen: »Wenn der Winter kommt, müssen wir uns warm anziehn…«
»Oh, nein!« murmelte sie, aber sie lächelte dabei. Sie hatte schon Schlimmeres lesen müssen. Außerdem war es das Heft ihres Lieblingsschülers, der für Diktate nichts übrig hatte, aber ein liebenswerter Bengel war.
*
»Achtjähriger Junge, ist auf einem Spielplatz von einem Klettergerüst gestürzt«, keuchte ein Sanitäter, der gerade gemeinsam mit einem Kollegen im Eilschritt einen verletzten Jungen in die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik in Berlin-Charlottenburg brachte. Sie war eine der größten Notaufnahmen des Landes und wurde von Dr. Adrian Winter geleitet, dem jüngsten Chefarzt der Klinik. Er war als Einziger im Augenblick frei, deshalb nahm er sich selbst des Jungen an.
Der Sanitäter rasselte sämtliche Informationen herunter und schloß mit den Worten: »Die Eltern konnten noch nicht benachrichtigt werden, sie sind beide berufstätig, momentan unterwegs und nicht erreichbar. Eine Nachbarin kümmert sich aber darum, daß sie informiert werden.«
Adrian stellte noch einige Fragen, dann verabschiedeten sich die Männer wieder. Bevor er mit seiner Untersuchung begann, fragte Adrian: »Du heißt Clemens?«
Der Junge nickte. Unter seiner gebräunten Haut war er sehr bleich, die Lippen hatte er fest aufeinandergepreßt.
»Ich muß dich untersuchen, Clemens, das kann weh tun«, erklärte Adrian, während er behutsam den Bauch des Jungen abtastete. Die Bauchdecke war zum Glück weich. Insgeheim atmete er auf, zumindest also hatte Clemens offenbar keine inneren Verletzungen davongetragen. Anschließend untersuchte er die Beine. »Tut das weh?« fragte er, während er den linken Unterschenkel bewegte.
Der Junge schüttelte den Kopf und machte endlich den Mund auf. »Was denn?« fragte er. »Ich spüre gar nichts.«
Adrian ließ sich nicht anmerken, wie sehr er über diese Antwort erschrak. »Und das?« Er bewegte nun, sehr vorsichtig, den rechten Unterschenkel.
Clemens schrie unterdrückt auf. »Oh, Mann!«
Unwillkürlich schossen ihm Tränen in die Augen, seine Gesichtsfarbe wurde noch fahler.
»Tut mir leid«, entschuldigte sich Adrian. »Das rechte Bein und der rechte Fuß sind gebrochen.« Er fuhr mit der Untersuchung fort und stellte nach einer Weile fest: »Die rechte Hand ebenfalls. Du wirst eine Weile nicht schreiben können, Clemens. Und auch nicht laufen, denn Krücken kommen nicht in Frage mit einer gebrochenen rechten Hand.« Er schwieg kurz, dann sagte er: »Wir müssen eine Röntgenaufnahme von deinem Rücken machen.«
»Warum?«
»Es könnte sein, daß er verletzt ist. Das kann man so nicht feststellen. Ich fahre jetzt mit dir in die Röntgenologie, dort werden die Aufnahmen gemacht – danach wissen wir mehr.«
»Tut das weh?«
»Nein, überhaupt nicht, du wirst gar nichts merken. Danach mußt du aber auf jeden Fall operiert werden, Clemens. Deine Brüche müssen gerichtet und eingegipst werden. Ich gebe dir jetzt etwas gegen die Schmerzen, davon wirst du auch ein bißchen müde. Einverstanden?«
»Mhm. Können Sie nicht meine Eltern noch mal anrufen?« murmelte der Junge. »Die arbeiten immer ziemlich lange.«
»Weißt du denn, wie ich sie erreichen könnte?« fragte Adrian. »Ich dachte, eure Nachbarin hätte es schon vergeblich probiert.«
»Handy«, sagte Clemens, während Adrian eine Spritze aufzog. »Meine Mama hat immer ein Handy dabei... die Nummer kennt Frau Schauer gar nicht.«
»Frau Schauer ist eure Nachbarin?« Vorsichtig stach Adrian zu, der Junge zuckte nicht einmal zusammen.
»Ja.«
»Gut, dann sag mir die Nummer«, bat Adrian.
Der Junge sagte sie ohne zu stocken auswendig her, Adrian notierte sie und schob dann das Bett aus der Behandlungskabine. »Ich rufe an, während die Röntgenaufnahmen von dir gemacht werden, ja?«
Die Spritze wirkte bereits, Clemens’ Augen bekamen einen schläfrigen Blick. Vorsichtig schob Adrian das Bett zum Fahrstuhl. Wenn nur der Rücken des Jungen nicht ernsthaft verletzt war!
*
»Du bist ja sensationell in Form«, stellte Dr. Hans Sydermann erstaunt fest, nachdem er auf dem Tennisplatz zweimal hintereinander gegen seinen Bruder Malte verloren hatte, anschließend fuhr er meistens noch einmal in die Praxis, um das aufzuarbeiten, was liegen geblieben war. Meistens spielte er gegen seinen Dauerpartner, der ihn dieses Mal aber versetzt hatte. »Ich dachte immer, du spielst nicht mehr.«
»Manchmal doch«, erwiderte Malte. »Wenn’s mich überkommt – so wie heute, als du angerufen hast. Da hatte ich auf einmal große Lust.«
Auch die nächsten beiden Spiele verlor Hans. Er versuchte, sich seine Verärgerung darüber nicht anmerken zu lassen. Er konnte nicht gut verlieren, schon gar nicht gegen seinen Bruder. Immer hatte es, zumindest von seiner Seite aus, eine versteckte Rivalität gegeben, bis heute.
Malte war der Älteste von beiden, und er war auch der Ruhigere, Überlegtere. Hans hatte ihn, zumindest auf den ersten Blick, längst überholt: Er war Augenarzt und mit seinen vierunddreißig Jahren bereits Partner in einer gutgehenden Praxis. Er besaß eine großzügige Eigentumswohnung und war außerdem mit einer sehr anziehenden jungen Frau verlobt.
Malte dagegen war Regisseur einer freien Theatergruppe, die zwar immer wieder hoch gelobt wurde, aber trotzdem jedes Jahr von neuem um ihr Überleben kämpfen mußte. Es gab eine treue Fangemeinde, die jedoch nicht groß und vor allem nicht einflußreich genug war, um dem Ensemble und seinem Regisseur die Existenz dauerhaft zu sichern.
Malte wohnte in einer bescheidenen kleinen Mietwohnung, die Kreise, in denen sich sein Bruder bewegte, waren ihm fremd. Und daß er nicht mehr Tennis spielte, hatte eher damit zu tun, daß ihm der Sport zu teuer war, als damit, daß er keine Lust mehr hatte, ihn auszuüben. Im Club seines Bruders konnte er nur auf dessen Einladung spielen – was beiden auch wohl bewußt war. Sie sprachen es nur nicht aus.
Obwohl also Hans eigentlich, nach landläufiger Meinung, der Erfolgreichere von beiden war, war er weniger zufrieden als Malte. Malte betrachtete seinen Beruf als Berufung. Wenn er mit seiner Schauspieltruppe arbeitete, war er rundum glücklich. Er wünschte sich kein anderes Leben, während Hans immer nach denjenigen Ausschau hielt, die mehr Geld hatten als er und mehr gesellschaftliche Anerkennung.