Eine magische Liebesgeschichte vor historischem Hintergrund
Bei einem Besuch des Wikingermuseums in York wird die junge Rain Jordan ohnmächtig – und erwacht mitten in der Schlacht von Brunanburh im Jahr 937. Dort steht sie dem grausamen Wikingerkrieger Selik gegenüber, den sie zu kennen meint und den sie erretten muss. Doch bevor sie sein wildes Herz erobern kann, muss sie ihn zähmen …
Sandra Hill hat schon in jungen Jahren mit dem Schreiben begonnen und ist selbst eine begeisterte Leserin historischer Liebesromane. Die ehemalige Journalistin sammelt außerdem Antiquitäten und besucht gern Auktionen. Sie ist verheiratet und hat vier Söhne.
Website der Autorin: https://www.sandrahill.net/.
DIE ZÄHMUNG
DES WIKINGERS
Aus dem amerikanischen Englisch
von Susanne Kregeloh
beHEARTBEAT
Digitale Erstausgabe
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Für die Originalausgabe:
Copyright © 1995 by Sandra Hill
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »The Outlaw Viking«
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Covergestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de unter Verwendung von Motiven © thinkstock: Donald34; © iStock: MR1805; © hotdamnstock
eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-5280-1
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Dieses Buch habe ich meinen vier Söhnen gewidmet:
Beau, Rob, Matt und Daniel. Jeder von ihnen hätte das Vorbild für Selik sein können, meinem gutaussehenden Wikingerhelden, der mutig, stark und empfindsam ist. Und in jedem der vier, wen könnte es überraschen, steckt auch ein kleines Stück seines »rebellischen« Geistes.
Und ich habe dieses Buch dem Gott und dessen Sinn von Humor gewidmet, der in diesem Buch zu Wort kommt.
Da er mir vier außergewöhnliche »Wikinger«-Söhne zum Geschenk gemacht hat, sollte er mir »dort oben« ein ganz besonderes Plätzchen freihalten.
York, England
»Mommy, ich kann nichts sehen! Die Frau ist so riesengroß! Sie soll weggehen!«
Thoraine Jordan fühlte ihr Gesicht vor Verlegenheit rot werden, als sich der kleine Junge hinter ihr so lautstark beklagte. Sie spürte, wie sich die Leute umwandten, um nach der Ursache seiner Beschwerde zu schauen. Und sie alle mussten den Kopf in den Nacken legen, um zu Thoraine aufsehen zu können.
Riesengroß! Das war das Schlüsselwort.
Rain verzog das Gesicht. Nach all den Jahren sollte dieses grausame Wort eigentlich nicht mehr wehtun, aber so war es nicht.
Resigniert seufzend sah sie ihre Mutter Ruby an, die die Lippen in unterdrücktem Ärger zu einem schmalen Strich zusammengepresst hatte. Rain griff besänftigend nach ihrer Hand, um zu verhindern, dass ihre überbesorgte Mutter etwas sagen und eine Szene heraufbeschwören würde.
Sie drehte sich zu dem kleinen Jungen um, der unwissentlich die kränkende Bemerkung gemacht hatte. »Komm, Schätzchen, du kannst vorgehen. Wir haben es nicht eilig.«
»O nein, Ma’am«, widersprach die Mutter des Kleinen hastig. »Er wollte Ihnen gewiss nicht zu nahe treten. Er ist einfach nur müde vom langen Warten.«
Die Umstehenden betrachteten sie noch immer neugierig, und Rain wünschte, sie könnte sich unsichtbar machen. »Das ist schon in Ordnung. Es stört uns nicht«, versicherte sie der jungen Frau.
Nachdem sich Mutter und Kind, ein wenig verlegen, vor ihnen in die lange Schlange vor dem Wikingermuseum eingereiht hatten, flüsterte Rains Mutter: »Du bist viel zu höflich. Kindern sollte man ab einem bestimmten Alter beibringen, dass gewisse Bemerkungen unangebracht sind.«
»O Mutter! Der Junge hat doch nur eine Bemerkung über eine unübersehbare Tatsache gemacht. Ich bin einen Meter achtzig groß. Das lässt sich nicht verbergen.«
Ruby tat Rains Erwiderung mit einer kurzen Handbewegung ab. »Süßes, du bist eine wunderschöne Frau. Ich dachte, du hättest diesen Komplex wegen deiner Größe schon vor langer Zeit überwunden. Du hast keinen Grund, dich dessen zu schämen.«
Rain legte ihrer Mutter den Arm um die Schultern und küsste sie auf den Nacken. »Ich bin dreißig Jahre alt, und du sorgst dich noch immer, dass meine Gefühle verletzt werden könnten. Das ist wunderbar.«
»Ach was! Für mich bist du noch immer mein Baby. Für mich zählt es nicht, dass du jetzt Ärztin bist – und schon etliche Babys auf die Welt geholt hast. Für mich wirst du immer mein kleines Mädchen bleiben.«
Rain warf ihren langen Zopf über die Schulter und schaute vielsagend an sich herunter. »Klein? Wohl kaum!«
Ihre Mutter verzog entrüstet den Mund. »Du hast eben ein Gardemaß – genau wie dein Vater. Aber du bist nie übergewichtig gewesen.«
Rain versuchte, dieses altbekannte und daher ermüdende Thema zu wechseln, indem sie ihre Mutter neckte: »Welcher Vater, Mom?« Ein rätselhaftes Lächeln glitt über das noch immer attraktive Gesicht ihrer Mutter. Jahrelang hatte man es als Familienwitz gehandelt, dass ihre unkonventionelle Mutter behauptete, vor dreißig Jahren eine Zeitreise durchlebt zu haben. Eine Zeitreise, auf der sie Thork Haraldsson begegnet war, der übergroßen Wikingerausgabe ihres Ehemannes Jack Jordan. Genau genommen beteuerte Ruby sogar, dass Rain in der Vergangenheit gezeugt und in der Gegenwart geboren worden war. Noch schlimmer war es, dass sie darauf beharrte, dass sie Rains Wikinger-Halbbrüder Eirik und Tykir zurückgelassen hatte, als sie nach Thorks Tod in die Zukunft zurückgekehrt war.
Verrückt!
»Mach dich nicht über mich lustig, junge Dame«, tadelte Ruby sie und drohte ihr in spöttischer Unnachgiebigkeit mit dem Zeigefinger. »Auf gewisse Weise sind beide, Thork und Jack, deine Väter. Sie waren von hohem Wuchs und sich in ihrem Aussehen sehr ähnlich – nur dass dein Wikinger-Vater muskulöser gewesen ist.«
Rain verdrehte die Augen über die Beschreibung dieser Fantasiegestalt. Ihr Vater war ein attraktiver Mann gewesen. Wäre er muskulöser gewesen, hätte er einfach umwerfend ausgesehen.
Ihre Mutter streckte die Hand aus und berührte die antike Drachenbrosche am Revers von Rains weißer Seidenbluse. »Es freut mich, dass du die Brosche trägst, die Thork mir gegeben hat.«
»Dass ich sie trage, heißt nicht, dass ich an die Geschichte glaube.«
Ruby fasste ihrer Tochter zärtlich unter das Kinn. »Das weiß ich doch, Dummchen.« Sie strich liebevoll über die Anstecknadel, und ein verträumter Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht. »Ich frage mich, was wohl aus dem Gegenstück geworden ist, aus der Brosche, die Thork als Schulterschließe für seinen Umhang getragen hat.«
Rain lächelte über den seltsamen Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Mutter. Sie zögerte, ehe sie weitersprach. »Ich habe diesen Humbug nie geglaubt. Ich tue es noch immer nicht, aber in letzter Zeit bin ich ziemlich durcheinander gewesen und – ach, ich weiß auch nicht.«
Ihre Mutter zog fragend eine Augenbraue hoch.
»Der Albtraum ist wieder da.«
Ein leises entsetztes Keuchen entfloh den Lippen ihrer Mutter. »O, Kind, es tut mir so leid. Ich wusste es nicht. Seit dem Tod deines Vaters bin ich so sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen.«
Rain wischte die Betroffenheit ihrer Mutter mit einer Handbewegung beiseite, als sie erklärte: »Dieser Traum ist für mich nichts Neues. Seit ich ein Kind war und Eddie im Libanon bei diesem Bombenangriff getötet wurde, kehrt er immer wieder zurück.« Rain war erst zwölf Jahre alt gewesen, als ihr Bruder in Beirut in Erfüllung seiner Pflicht als Marinesoldat ums Leben gekommen war. Doch dieses Ereignis hatte ihr Leben für immer verändert. »Ich habe den Traum seit langer Zeit nicht mehr gehabt, aber jetzt ist er wieder da – sehr eindringlich.«
»Derselbe Traum?«
»Ja, aber viel intensiver … und lebendiger. Manchmal fühle ich mich, als sei ich in einem Strudel gefangen, als würde ich zu etwas – oder zu jemandem – hingezogen werden, der in tiefer Verzweiflung ist oder schrecklichen Schmerz leidet. Weißt du, auf gewisse Weise ist das der Grund, aus dem ich mich entschieden habe, Ärztin zu werden. Die Bilder von Tod und Verzweiflung, die ich in meinen Träumen sah – ich habe sie als eine Art Berufung für den medizinischen Beruf interpretiert.«
»Das und dein verdammter Pazifismus.«
Rain lächelte. Ihre Mutter, die stets unverblümt ihre Meinung sagte, teilte Rains Ansichten über die Forderung nach Gewaltlosigkeit nicht.
»Weißt du, es bringt nichts, dass du in diesem Getto-Krankenhaus arbeitest. Und über die Sinnlosigkeit von Gewalt predigst, um es den Leuten wie eine tägliche Dosis zu verabreichen.«
Rain beschloss, das Gespräch auf ein weniger heikles Thema zu lenken. Ihre Mutter sähe es bei weitem lieber, wenn ihre Tochter als Chirurgin in einem hübschen, sicheren Stadtteil praktizieren würde, näher an ihrem Zuhause.
»Wie dem auch sei, Mom, die Träume kommen jetzt fast jede Nacht. Ich hasse es, schlafen zu gehen. Und ich wache mit wirklich schrecklichen Kopfschmerzen wieder auf. Ich frage mich, ob …«
Rain verstummte mitten im Satz, als eine Touristengruppe das unter die Erde gebaute Jorvik Viking Centre verließ und die Warteschlange, in der sie stand, ein Stück weiter vorrückte. Seit ihre Mutter vor Jahren von der archäologischen Ausgrabung hier in York gelesen hatte, hatte sie die Zeitungsartikel und Zeitschriftenreportagen förmlich verschlungen, in denen über tausende von Fundstücken berichtet worden war, die man an diesem Ort entdeckt hatte. Schätze, die einen neuen Einblick in das Leben der grimmigen, stolzen Wikinger ermöglichten, die dort, unter einer Reihe von Königen, zwischen 850 und 954 n.Chr. ihre Blütezeit erlebt hatten. Ruby hatte sich danach gesehnt, an den Ort ihrer angeblichen Zeitreise zurückzukehren.
Nachdem sie die Eintrittsgebühr bezahlt und das Gebäude betreten hatten, wurden ihnen von Museumsführern Plätze in »Zeitreise-Wagen« angewiesen, die sie in eine Epoche entführen würden, die seit tausend Jahren vergangen war: in die detailgetreue Rekonstruktion einer Straße in Jorvik, der Stadt York der Wikingerzeit. Überall im Museum sah man lebensgroße, verblüffend echt wirkende Nachbildungen der einstigen Nordmänner stehen, und die Geräusche und Gerüche, die man wahrnahm, vermittelten den Eindruck eines geschäftigen Marktfleckens des frühen Mittelalters.
Rain wandte sich zu ihrer Mutter, um eine Bemerkung über die wunderschön gestalteten Dioramen zu machen, und erschrak, als sie deren bleiches Gesicht und die auf das Herz gepressten Hände sah.
»Mutter! Was ist mit dir?« Sofort wurde die Ärztin in Rain wach. Sie befürchtete, ihre achtundsechzigjährige Mutter litte unter Herzbeschwerden.
»Es sieht genauso aus wie damals«, wisperte Ruby, und ihre Stimme zitterte.
»Was meinst du?«
»Diese Straße – die Coppergate. Siehst du die Strohdächer, die Häuser mit den Wänden aus lehmverputzten Weidengeflecht? O Rain, es versetzt mich zurück in diese Zeit, es ist so lebensecht.«
Rain seufzte aus Erleichterung darüber, dass ihre Mutter nicht krank war. Sie selbst fand die Häuser eher primitiv, und es gelang ihr nicht, Rubys Begeisterung dafür zu teilen. Doch sie behielt ihre Gedanken für sich.
Sie fuhren weiter und erblickten einen kräftig gebauten Schmied, der an einem der viel gerühmten Wikingerschwerte arbeitete. Er verdrehte fünf glühende Eisenstangen zu einem Stab, an dem er dann hämmerte und formte, ihn wieder glühend machte, bis er die todbringende Waffe vollendet haben würde. Währenddessen erklärte er, dass der Formungsvorgang für ein einziges Schwert etwa hundert Stunden in Anspruch genommen hatte. Die Wikinger hielten ihre Schwerter so hoch in Ehren, dass sie ihnen sogar Namen wie Beinbeißer oder Viper gaben.
Während der Wagen sich langsam weiter vor bewegte, erklang eine schöne mittelalterliche Weise, die voller Süße und unvergesslich war. Ein Junge mit hellblonden Haaren spielte sie auf einer grob geschnitzten Panflöte. Genau genommen hatten alle Darsteller dieser Straßenszene helles Haar, vom leichten Platinblond bis zum feurigen Rot. Die riesig aussehenden Männer trugen sorgsam gepflegte Schnauz- und Vollbärte und schulterlanges Haupthaar. Die meisten Frauen und Mädchen hatten sich das Haar zu Zöpfen geflochten, einigen reichten sie bis an die Taille, andere hatten sie hochgesteckt und unter sauberen Stoffkappen verborgen.
Vor den Häusern saßen die Handwerker und arbeiteten fleißig – sie schnitzten Holzschalen, polierten Bernstein oder formten aus Bronze Gefäße. Sie alle straften das herkömmliche Bild Lügen, das den Wikinger als grausamen Vergewaltiger und Zerstörer friedliebender Völker zeigte.
Rain atmete tief durch und nahm die verschiedensten Gerüche wahr. Es roch nach frischem Stroh und den Hobelspänen, die bei den Schiffsbauern anfielen, nach dem Rauch der Herdfeuer und dem Salz des nahen Meeres. Aber es gab auch die unangenehmen Ausdünstungen, die in einer frühmittelalterlichen Stadt dieser Größe vorhanden gewesen sein mussten.
Nachdem die einstündige Rundfahrt durch das Jorvik Viking Centre beendet war, schlenderten Rain und ihre Mutter Arm in Arm durch die übrigen Räume des Wikingermuseums, um dort die Zeichnungen und Fotografien zu betrachten, die die Arbeit an der Ausgrabung dokumentierten.
»Oh!«, rief Ruby überrascht aus und blieb unvermittelt stehen.
Sie standen vor einem großen Ölgemälde, auf dem die Schlacht von Brunanburh im Jahre 937 n. Chr. dargestellt wurde. Das kleine Schild unter dem Gemälde besagte, dass diese Schlacht die Herrschaft der Wikinger über Northumbrien ein für alle Mal beendet hatte. Die Ritter des frühen Mittelalters kämpften auf der ebenen Kuppe eines Hügels in der Nähe der Solway Firth. Das riesige Gemälde zeigte realistisch in allen Einzelheiten die tausende von gefallenen Kriegern. Darunter waren auch fünf Wikingerkönige und sieben Jarls, der Sohn des Schottenkönigs Constantine und zwei seiner Cousins, zwei Earls und zwei Bischöfe als Gefolgsleute des angelsächsischen Königs Athelstan.
Die Stimme ihrer Mutter verlor sich, und Rain hörte nicht mehr, was Ruby sagte. Ein Frösteln lief über ihren Körper, und ein heftiger Kopfschmerz verursachte ein quälendes Stechen hinter ihren Augen. Stumme Tränen liefen ihr über die Wangen.
Rains Albtraum war zum Leben erweckt worden.
Während der vergangenen Jahre hatte sie, wie die Teile eines Puzzles, Bruchstücke dieser Schlachtenszene in ihren Träumen gesehen – blutgetränkte Erde, klaffende Wunden, abgetrennte Gliedmaßen, sich aufbäumende Pferde und ein entsetzliches Gemetzel. Kein Wunder, dass sie zur Pazifistin geworden war, dass sie jeden Krieg als sinnlos ablehnte, nachdem sie diese menschliche Tragödie gesehen hatte – wieder und wieder und wieder.
Selbst der im Mittelpunkt des Gemäldes dargestellte Mann war ihr vertraut. Der blonde Hüne stand mit weit gespreizten Beinen da, die in Lederstiefeln mit kreuzweise gebundenen Kniegürteln steckten. Viele der Männer um ihn herum trugen Leder- oder Metallhelme mit Nasenschutz, doch das lange hellblonde Haar des faszinierenden Wikingers flatterte ungebändigt im Wind. Blut befleckte sein kurzärmliges, wadenlanges Kettenhemd, tropfte von Schwert und Schild, die er mit erhobenen Armen wie inständig flehend zum düster-grauen Himmel emporstreckte, als riefe er in seiner Seelenqual Odin um Hilfe an. Sein von Narben gezeichnetes, verzweifeltes Gesicht schlug Rain in seinen Bann, schien sie fast in das Bild, in diesen schrecklichen Mahlstrom hineinzuziehen.
Impulsiv wich Rain zurück, um der magnetischen Anziehungskraft des Gemäldes zu entfliehen. Das Bild machte ihr Angst.
Das Gesicht ihrer Mutter war schneeweiß geworden, und ihre Lippen bebten, als sie ausrief: »O mein Gott! Das ist Selik!«
»Selik?« Rain brachte nur ein Krächzen heraus. Nur mit Mühe gelang es ihr, ihre verwirrenden Gefühle unter Kontrolle zu halten. »Wer ist Selik?«
»Erinnerst du dich nicht an den jungen Mann, von dem ich dir erzählt habe? Er war ein Ritter der Jomswikinger, genau wie Thork, dein Vater.«
O nein! Nicht schon wieder dieser Zeitreise-Unsinn!
Trotz ihrer Ablehnung kniff Rain die Augen zusammen, um die zentrale Figur des Gemäldes besser erkennen zu können. »Du meinst doch nicht den gut aussehenden Burschen, der jede Frau verführt hat? Den, der dich immer geneckt und mit den Kindern gescherzt hat?«
»Genau das ist er. Er sah umwerfend gut aus, wie ein nordischer Gott. Und er war charmant! Er brauchte nur zu lächeln, und die Frauen schmolzen dahin.«
»Ich weiß nicht«, bemerkte Rain skeptisch. »Dieser Mann sieht viel zu grimmig aus und hat zu viele Narben, um dieser Mann sein zu können. Du musst dich irren.«
Ruby starrte nachdenklich auf das verzerrte Gesicht des Wikingers. »Vielleicht hast du Recht. Selik war ein liebevoller Mann, kein vom Hass zerfressener.«
Rain fröstelte. »Lass uns gehen, Mom. Für heute habe ich genug von den Wikingern.« Ihre Mutter lachte, und sie gingen zurück in ihr Hotel, das nur ein paar Straßen entfernt lag.
In der Nacht kehrte Rains Albtraum wieder, doch dieses Mal fügten sich alle Teile des Puzzles zum Bild einer schrecklichen, grauenhaften Schlacht zusammen, zu einem Bild erfüllt vom Stöhnen und vom Gestank des Todes. Als sie ihren einsamen Wikinger-Krieger sein Schwert und seinen Schild zum Himmel erheben sah und ihn das Leid über seine gefallenen Kameraden hinausschreien hörte, weinte auch Rain. Ihr Weinen weckte ihre Mutter und vermutlich das halbe Hotel. Nachdem sich Rain beruhigt und ihre Mutter wieder ins Bett geschickt hatte, hockte sie sich auf die Fensterbank und starrte wie blind auf die Straße hinaus. Sie wusste, dass sie in dieser Nacht keinen Schlaf mehr finden würde.
Beim ersten Morgengrauen kleidete sie sich an, schrieb eine Nachricht für ihre Mutter und lief dann stundenlang durch die leeren Straßen von York. Sie war die Erste in der Warteschlange, als das Museum um neun Uhr geöffnet wurde.
Rain ging ohne Umweg auf die Wandelhalle zu, in der das Ölgemälde hing. Über Nacht war hier ein Baugerüst errichtet worden, und Arbeiter waren damit beschäftigt, Reparaturen an der hohen Stuckdecke durchzuführen. Rain ignorierte die Sperre, die die Touristen von dem Bereich fern halten sollte, in dem gearbeitet wurde, und trat so nah wie möglich an das Gemälde heran. Sie zog eine kleine Papiertüte aus ihrer geräumigen Umhängetasche, die sie über der Schulter trug. Rain wickelte das Vergrößerungsglas aus, das sie gerade in einem Andenkenladen erstanden hatte, und betrachtete mithilfe des Glases den so unwiderstehlich wirkenden Wikinger-Krieger – Selik, so hatte ihre Mutter ihn genannt. Sie rollte den Namen weich auf ihrer Zunge.
Rain hatte jetzt keine Zweifel mehr. Selik war das Gespenst, das seit Jahren durch ihre Träume geisterte. Verwirrt zog sie die Stirn kraus. Was bedeutete das? Hatte sie eine Art telepathischer Fähigkeit? War der Traum eine Art Botschaft? Oder eine Warnung?
»He, Lady, passen Sie auf!«
Rain schaute hinauf zu dem Mann auf dem Gerüst, der ihr die Worte zugerufen hatte. Fast gleichzeitig hörte sie ein lautes, knackendes Geräusch. Ihr blieb keine Zeit mehr, beiseite zu springen und dem großen Stück Putz auszuweichen, das sich von der Stuckdecke gelöst hatte und jetzt auf sie niederstürzte.
Rain fühlte einen stechenden Schmerz in ihrem Kopf explodieren, dann nichts mehr. Als Ärztin wusste sie augenblicklich, dass sie eine Verletzung erlitten hatte, die fatale Folgen haben konnte. Doch dann spürte sie wunderbarerweise, wie sie geistergleich über dem hohen Berg von Schutt schwebte, der ihren Körper bedeckte, und dass sie die Szene betrachtete, die sich unter ihr abspielte. Arbeiter versuchten verzweifelt, zu ihr zu gelangen, doch Rain kümmerte das nicht.
Ein weiß schimmerndes Licht kam auf sie zu, und Rain lächelte, als sie sich von einem unbeschreiblichen Frieden erfüllt fühlte, der sie einzuhüllen schien.
So also ist es, wenn man stirbt.
Aber dann veränderte sich das wunderbare weiße Licht, wurde zu einer verschwommenen körperähnlichen Gestalt, die leicht das Haupt schüttelte und Rains Reise Einhalt gebot. Die Hand der Gestalt wies sie in eine andere Richtung.
Rain erkannte den süßlichen, Übelkeit erregenden Geruch sofort. Sie hatte in zu vielen Notaufnahmen von Krankenhäusern und Operationssälen gearbeitet, die von der vergeudeten Lebenskraft zahlloser Opfer überfüllt gewesen waren, um den Blutgeruch des Todes ignorieren zu können.
Sie fühlte Feuchtigkeit auf ihrem Gesicht, und das erdrückende Gewicht der herabgestürzten Stuckdecke lastete auf ihrer Brust. Offensichtlich war sie doch nicht gestorben. Sie versuchte, den schweren Gegenstand von sich herunterzuschieben und den Kopf zu heben. Dabei öffnete sie mühsam die bleischweren Lider, um sich umzusehen.
»Hilfe!«, brach es aus Rain bei dem fürchterlichen Anblick heraus, der sich ihr bot. Es war nicht das schwere Schuttstück, das sie auf den Boden niederdrückte, sondern ein Mann – ein sehr großer Mann, nach dessen Gewicht zu urteilen. Sie hatte nicht bemerkt, dass vor dem Unfall noch ein anderer Museumsbesucher neben ihr gestanden hatte. Oder war es einer der Arbeiter? Und die klebrige Feuchtigkeit, die ihr Gesicht und ihre Leinenjacke benetzte – war das ihr Blut oder seines?
Rain schrie erneut, als Schmerz und Verzweiflung wie mit scharfen Klauen ihre Kehle packten. Sie fühlte sich, als sei sie lebendig begraben. Als niemand ihr zu Hilfe kam, zog sie die Beine an, stemmte die Füße fest auf den Boden und drückte die Handflächen gegen die Brust des Mannes. Mit einem gewaltigen Stoß schob sie seinen schweren Körper von sich herunter und stand taumelnd auf.
Verwirrt und wie blind tastete Rain nach der auf dem Boden liegenden Tasche. Sie zog ein paar Kleenex-Tücher und Erfrischungstücher heraus, um sich damit das Gesicht zu säubern. Darauf schaute Rain sich um und stieß einen keuchenden Laut aus. Rasch schloss sie die Augen, um den entsetzlichen Horror um sich herum nicht sehen zu müssen.
Langsam, widerstrebend, mit einem Gefühl dumpfer Vorahnung öffnete sie die Augen wieder, voller Angst vor dem, was sie sehen würde. Irgendwie, auf eine verrückte, unerklärliche, nach menschlicher Logik unmögliche Weise war sie mitten hinein in ihren Albtraum versetzt worden – in die Schlacht von Brunanburh im Jahre 937, mehr als tausend Jahre zurück, und um sie herum sah es genauso aus wie auf dem Gemälde im Museum.
Rain schaute zu Boden und sah, dass dem Mann in dem Kettenhemd, der auf ihrem Oberkörper gelegen hatte, der Kopf halb vom Rumpf abgetrennt worden war. Das erklärte das viele Blut. Unweit von ihm lag ein weiterer Mann – ein gut aussehender Junge, dessen Körper nur durch einen eng anliegenden Helm und ein Wams aus dickem Leder über einer schenkellangen Tunika und Beinlinge geschützt gewesen war, und dem ein Schwert in der Brust steckte. Seine weit aufgerissenen Augen – sie waren von einem hellen, sehr blassen Blau – starrten zu ihr hoch.
Übelkeit drehte Rain den Magen um und löste in ihrer Kehle ein Würgen aus. Sie beugte sich vor und erbrach sich mehrmals, bis sie nur noch bittere Galle von sich gab. Sie warf ihren blutbefleckten Blazer auf den Boden und benutzte den Rest der Papiertücher, um sich den Mund abzuwischen. Dann wandte sie sich einigermaßen gefasst um und überschaute die Umgebung.
Tausende Männer lagen tot oder sterbend auf der scheinbar endlosen Ebene, auf der sich Rain befand. Weondun oder »Heiliger Berg« war im Museumsprospekt als Name für die sich weit hinziehende Fläche genannt worden. »Unheiliger Berg wäre treffender«, dachte Rain und erinnerte sich, dass sich hier einst irgendeine heidnische Kultstätte befunden hatte.
Falls sich Rain in ihren pazifistischen Ansichten je bestätigt gefühlt hatte, dann jetzt. Wohin sie auch schaute, sah sie den Beweis der Unmenschlichkeit von Menschen gegen Menschen. Einige Krieger waren schnell gestorben, durch den raschen Hieb eines Schwertes oder einer Streitaxt; andere waren bizarr verstümmelt, und ihnen fehlten Körperteile – Arme oder Beine oder der Kopf.
Rain erbrach sich erneut, dann hob sie ihre Schultertasche auf und begann, sich zwischen den Leibern der gefallenen Soldaten hindurch vorsichtig einen Weg zu suchen. Mehrmals glitt sie auf dem rutschigen Boden aus, der von den unbeschreiblich großen Mengen vergossenen Blutes getränkt und von menschlichen Eingeweiden übersät war.
Obwohl die Schlacht zugunsten der Angelsachsen ausgegangen zu sein schien, wenn man nach der unverhältnismäßig großen Zahl von hünenhaften, nach Art der Wikinger gekleideten Soldaten mit den konischen Helmen und den Kettenhemden urteilte, die auf dem Schlachtfeld lagen, so hatte der Tod an diesem Tag unter den Tausenden unterschiedslos seinen Tribut gefordert. Hellhaarige Nordmänner, englisch aussehende Angelsachsen, dunkeläugige Waliser, Schotten in den Plaids ihrer Clans, Iren in den engen safrangelben Hosen – sie alle waren gefallen, Seite an Seite.
Voller Verzweiflung klammerte sich Rain an den Gedanken, dass alles nur ein Traum war … ein Albtraum, doch die verrückte Wirklichkeit, die sie umgab, erzählte eine andere Geschichte. Trotz ihres Widerstands begann Rain zu glauben, dass sie in der Zeit zurückgereist war – genau wie ihre Mutter es all diese Jahre von sich behauptet hatte.
Rains Elend lastete schwer auf ihren Schultern. Warum war sie hierher geschickt worden? Gab es etwas, das sie tun konnte?
Eine beträchtliche Entfernung lag zwischen ihr und dem wilden Getümmel des Kampfes Mann gegen Mann, der noch immer auf der gegenüberliegenden Seite der einst von grünem Gras bedeckten Ebene tobte. Rain konnte die angelsächsischen Truppen erkennen, ihre Mauern aus Schilden, in deren Schutz sie mit tödlicher Kraft auf ihre Feinde vorrückten. Die Kompanien der Wikinger verteidigten sich tapfer in einer Keilformation, an deren Spitze die Stammeshäuptlinge kämpften und hinter denen die Krieger der niedrigeren Ränge fächerartig Aufstellung genommen hatten.
Aus irgendeinem Grund empfand sie keine Angst. Nur Entsetzen.
Ein leises Wiehern erregte Rains Aufmerksamkeit, und sie wandte sich um. Ein Pferd von imposanter Größe stand am Rand des Feldes. Sein Sattel war leer, und die Zügel hingen auf den Boden herab. Das Schlachtross stieß mit dem Maul gegen die blutüberströmte, kettenhemdbewehrte Brust des Toten, der vor ihm lag. Dann hob es den Kopf und richtete den Blick aus seelenvollen dunklen Augen auf Rain, als ob sie bewirken könnte, dass sein Herr wieder aufstand.
Rain wischte sich die Nase und wandte sich mit einem Schluchzen wieder dem Schlachtfeld zu. So viele brauchten ihre medizinische Hilfe, weitaus mehr, als ein Arzt allein versorgen konnte. Und die Behandlung der Verwundungen erforderte mehr als die Hilfsmittel, die sie in einem Erste-Hilfe-Set in ihrer Tasche bei sich hatte. Verzweifelt schüttelte sie den Kopf.
Mit einem tiefen Seufzen begann Rain, langsam, Schritt um Schritt, am Rand des Schlachtfeldes entlangzugehen. Wo immer sie das Gefühl hatte, irgendwie von Nutzen sein zu können, blieb sie stehen und half. Bei einem sie um Hilfe anflehenden schottischen Ritter mit einer tiefen Schnittwunde am Ellbogen legte sie eine Aderpresse am Unterarm an. Dabei verwendete sie einen Streifen ledernes Schnürband, das sie von seinem Stiefel abriss. Ob es überhaupt etwas nützen würde, wusste sie nicht. Der Mann hatte sehr viel Blut verloren.
So ging Rain von einem Mann zum anderen, und ungeachtet derer Nationalität stillte sie blutende Wunden, zog hier einem Verwundeten das Schwert aus dem Leib, hielt dort einem anderen tröstend die Hand, schloss totenstarre Augen. Schließlich richtete sie sich auf und reckte ihren steifen, schmerzenden Rücken. Die Hoffnungslosigkeit ihrer Bemühungen überwältigte Rain, und sie begann, sich vom Schlachtfeld zurückzuziehen. Sie schrie auf, als sie gegen einen harten Körper prallte. Sie begann wie hysterisch zu kichern, als sie begriff, dass das Pferd ihr über das Schlachtfeld gefolgt war. Rain schlang die Arme um den Nacken des Tieres und presste das Gesicht gegen die warme, weiße Mähne. »Ach, Pferd, was soll ich nur tun?«
Wie zur Antwort erklang hinter ihr eine Kette lauter Flüche, und Rain hörte Metall aufeinander klirren. Sie erkannte, dass sie sich unbewusst weiter zu der Stelle bewegt hatte, an der noch immer gekämpft wurde.
Dann sah sie Selik.
O Gott im Himmel! Der arme, verlassene Wikinger stand völlig allein einer Übermacht von Feinden gegenüber. Er versuchte, sich gegen ein Dutzend gut bewaffneter angelsächsischer Ritter zu verteidigen, die entschlossen schienen, ihn zu töten.
Auf dem Feld kämpften noch immer ganze Kompanien von Soldaten Mann gegen Mann. Sie schwangen ihre Schwerter und Streitäxte und ihre langen Lanzen. Selik stand allein zwischen den gefallenen Wikingern seiner Truppe und brüllte seine Wut über die angelsächsischen Angreifer heraus. Den Schild in der linken Hand, schwang er mit der rechten gekonnt das Schwert, um einen der angelsächsischen Soldaten nach dem anderen zu Fall zu bringen, die versuchten, ihn zu überwältigen. Wütend über den ausbleibenden Erfolg seiner Anstrengungen riss er sich schließlich den schützenden Helm vom Kopf, und sein langes, blondes Haar wurde sichtbar. Selik schleuderte seinen Schild auf den Boden und hob eine langschäftige Lanze, an deren Ende eine Eisenspitze und eine Streitaxt saßen.
In einem rasenden Wutrausch ging Selik zum Angriff über. Ungeachtet der eigenen Verwundbarkeit und blind für das Gemetzel, das er anrichtete, attackierte er die noch verbliebenen Angelsachsen bis zu deren blutigem Ende. Mit Todesangst in den Augen wichen einige der Soldaten zurück, aber Selik kannte keine Gnade. Er stürmte vor, schlug mit beiden Waffen nach rechts und links, bahnte sich so einen Weg bis zu dem angelsächsischen Jungen, der das mit dem goldenen Drachen geschmückte Banner trug. Mit einem raschen Hieb seiner Axt zerschlug er die Bannerstange, ehe er den Jungen mit einem Lanzenstoß in den Nacken tötete. Blut schoss aus der durchtrennten Arterie und aus der Kehle des bedauernswerten Jungen hervor.
Rain zuckte vor Entsetzen über Seliks Metzelei zusammen. Dieser Mann hatte seit Jahren in ihren Träumen herumgespukt. Über die Jahrhunderte hinweg hatte irgendein rätselhaftes Band sie miteinander verbunden, doch wie konnte es sein, dass sie sich zu einer so brutalen Bestie hingezogen fühlte?
Schließlich stand nur noch einer der Feinde in Seliks unmittelbarer Nähe – ein angelsächsischer Prinz, wie man aus seinem auf Hochglanz polierten Kettenpanzer und dem Helm schließen konnte, der von derselben Insignie geziert wurde wie das Banner, das zu seinen Füßen lag.
»Sprich deine Gebete, du angelsächsischer Hund. Heute wirst du deinen Gott treffen.« Selik stieß diese Worte mit heiserer Stimme hervor, während er und der angelsächsische Ritter mit ihren Waffen aufeinander einhieben. Sie schienen sich in ihrem Können ebenbürtig zu sein.
Ein Hieb traf das Bein des Angelsachsen, doch der ignorierte die Wunde. »Nein, du verdammter Heide! Du bist es, der Odin gegenüberstehen wird, denn wahrscheinlich warten die Feuer der Unterwelt schon lange auf deine schwarze Seele.«
Er parierte den nächsten Schlag von Selik und fügte diesem seinerseits einen Hieb zu, der oberhalb der Taille durch Seliks Rüstung schnitt.
»Sag deinem Gott, dass es Selik der Geächtete war, der dich auf deine letzte Reise geschickt hat.« Ein grimmiges Lächeln verzerrte Seliks Lippen auf grausame Art, fast so, als ob er diese tödliche Auseinandersetzung genösse.
Der Angelsachse erblasste, als er den Namen des berüchtigten Wikingers vernahm. Dann trat ein verschlagenes Grinsen auf sein Gesicht. »Du Hurensohn, wusstest du, dass es mein Bruder Steven war, der deine Frau und dein Kind getötet hat?«, verhöhnte er seinen Widersacher bösartig. »Und Steven behauptet, sie war ein süßes Weib und so willig, als er ihr vor ihrem Tod die Beine spreizte und –«
Die Worte erstarben ihm auf den Lippen, als Selik mit übermenschlicher Kraft, genährt von seiner Wut, zum Berserker wurde. Er bohrte dem Angelsachsen die Lanze in die Brust und trieb sie hinauf und durch den Hals, dann hob er den so Aufgespießten hoch. Er stemmte das Ende des Lanzenschaftes in den Erdboden, sodass der junge Adlige, an der Lanze hängend, starb – vor den Augen seiner entsetzten Kameraden, die in einiger Entfernung standen.
Selik taumelte zu seinem Schild, um es aufzuheben, und wischte die blutige Schwertklinge an seiner Hose ab. Er war einen Augenblick lang verwirrt und starrte blicklos auf das Gemetzel um ihn herum. Er schien zum ersten Mal zu begreifen, dass er ganz allein stand. In gequältem Unglauben überschaute er das Schlachtfeld und erkannte allmählich das überwältigende Ausmaß der Niederlage.
Und dann stand er da, mit weit gespreizten Beinen, und hob Schwert und Schild mit ausgestreckten Armen zum Himmel empor, schrie seine Verlassenheit auf raue und primitive Weise heraus. Sein helles Haar wehte leicht im Wind, und unter der von einem Kettenhemd bedeckten Tunika zeichneten sich seine vor Anstrengung angespannten Muskeln ab.
»Odin! Göttervater!«, rief er. »Trag mich nach Walhalla. Verlass mich nicht.«
Rain hörte ein lautes Geräusch und sah, dass einige der Angelsachsen den Gefechten auf der anderen Seite der Ebene den Rücken gekehrt hatten, um sich zusammenzuschließen und Jagd auf Selik zu machen. Er brauchte Hilfe – dringend.
Ein hartes Schluchzen herunterschluckend, schrie Rain: »Selik!« Doch er hörte sie nicht, obwohl sie nur wenige Meter entfernt stand. »Selik!«
Er reagierte noch immer nicht.
Rain wandte sich hektisch um, suchte nach irgendeiner Möglichkeit zur Flucht. Sie sah das Pferd hinter sich, das ihr getreulich gefolgt war. Gott sei Dank! Sie lief zu ihm und fasste nach den Zügeln.
Rain hatte seit zwanzig Jahren auf keinem Pferd mehr gesessen, das letzte Mal war das im Feriencamp gewesen. Und dies hier war auch kein Pony. Die Verzweiflung gab ihr Mut. »Komm schon, Honigpferdchen«, redete sie dem nervösen Schlachtross gut zu. »Du musst mir helfen.« Nach einigen Fehlversuchen, die von einer Reihe von Kraftausdrücken und Flüchen über das unruhig tänzelnde Tier begleitet waren, kletterte sie schließlich unbeholfen auf den breiten Rücken des Pferdes und lenkte es vorsichtig zu Selik hinüber.
»Selik, komm mit mir. Schnell!«, rief sie laut und befehlend.
Zuerst senkte er nur Schild und Schwert und starrte Rain verwirrt an. In seinen glühenden Augen spiegelte sich die gequälte Mattheit seiner Seele als Nachwirkung des grausamen Kampfes wider.
»Schnell! Wir müssen fliehen«, drängte Rain und streckte ihm die Hand hin.
Wie erwachend wandte Selik den Kopf und schaute auf die rasch näher kommenden Feinde. Er erkannte die Gefahr auf einen Blick. Mit einer blitzschnellen Bewegung schwang er sich hinter Rain in den Sattel, dann packte er die Zügel und trieb das Pferd zu einem raschen Galopp an. Schon nach kurzer Zeit hatten sie die Angelsachsen abgehängt, die ihnen zu Fuß folgten, doch Rain wusste, dass andere, unversöhnlich und mordgierig, ihnen bald zu Pferde folgen würden. Ihnen blieb nicht viel Zeit.
Länger als eine Stunde ritten sie rasch und schweigend dahin. Unterwegs begegneten sie anderen fliehenden Soldaten, die meisten von ihnen zu Fuß. Selik rief ihnen mit tiefer, schroffer Stimme zu, wo sich alle sammeln sollten.
Der harte Ritt bereitete Rains Hinterteil arge Schmerzen, und an den Innenseiten ihrer Schenkel scheuerte der Stoff der Leinenhose ihr die Haut wund. Trotz alledem fand ein Teil von ihr es seltsam tröstend, in der Wiege von Seliks Armen gehalten zu werden. Eine Aura des Friedens kam über sie, übertragen durch die Kraft, die Seliks Körper spüren ließ, und Rains Verzweiflung minderte sich durch das unerklärliche Gefühl von Richtigkeit. Trotz der entsetzlichen Grausamkeiten, die Selik verübt und die sie mit angesehen hatte, spürte Rain, dass dieser barbarische Wikinger den Schlüssel zu ihrer Zukunft in Händen hielt und er der Grund für ihre Reise in die Vergangenheit war.
Rain versuchte mehrere Male, etwas zu sagen, aber durch die raschen Bewegungen des Pferdes, die sie durchschüttelten und ihr das Atmen erschwerten, war das Sprechen so gut wie ausgeschlossen. Hinzu kam, dass es ihr nicht möglich war, sich zu Selik umzudrehen, um ihm ihre Fragen zu stellen. Sie hatte alle Hände voll zu tun, sich an der Mähne des Pferdes fest zu halten. Und Seliks Schweigen bedeutete eine weitere Barriere für eine Unterhaltung.
Deshalb lehnte sich Rain gegen die breite Brust des Wikingers zurück und spürte, selbst durch die beweglichen Kettenglieder seiner Rüstung hindurch, seinen kräftigen Herzschlag. Ein Prickeln unerklärlichen Stolzes durchströmte sie, als sie die kräftigen Muskeln seines Unterarms betrachtete, die sich anspannten, wenn er die Zügel anzog, um das Pferd durch den scheinbar undurchdringlichen Wald zu lenken, den sie jetzt durchquerten.
Endlich hielt Selik an, um das heftig schnaufende Tier ausruhen zu lassen. Trotz seiner hünenhaften Gestalt glitt er leicht aus dem Sattel, dann führte er das Pferd zum Ufer des abgeschieden gelegenen Flusses. Gewandt entledigte er sich daraufhin seines Kettenhemdes, unter dem er eine schweißgetränkte Tunika trug. Selik ließ sich auf die Knie fallen, um gierig von dem klaren Wasser zu trinken, ehe er den Kopf hineintauchte und sich dann wie ein nasser Hund schüttelte. Er ließ Wasser bis hinauf zu den kurzen Ärmeln der Tunika über seine Arme rinnen. Fasziniert beobachtete Rain, wie sich seine Rückenmuskeln unter dem eng sitzenden Kleidungsstück anspannten und bewegten. Ihr Puls beschleunigte sich, als Selik aufstand und seinen kräftigen Körper streckte, ehe er sich auf den Boden setzte. Er lehnte den Kopf gegen einen Baumstamm und schloss müde die Augen.
Er hatte keinen einzigen Blick für Rain, noch hatte er ihr Hilfe beim Absteigen vom Pferd angeboten, das jetzt müßig am Ufer weidete. Sie hätte ebenso gut unsichtbar sein können. Ungeschickt und unter leisem Fluchen stieg Rain aus dem Sattel und kniete sich hin. Das eiskalte Wasser, das sie in ihren zur Schale geformten Händen an den Mund führte, schmeckte wie Nektar. Sie trank sich satt, wusch sich Gesicht und Hände und betupfte mit ihrem angefeuchteten Halstuch einige Blutflecken auf dem Kragen ihrer Bluse. Dann wandte sie sich zu Selik um.
Trotz seiner Erschöpfung strömte Selik eine überwältigende Vitalität aus. Die Empfindungen, die er in ihr wachrief, trotzten ihrer Vernunft, und Rain wusste genau, warum er sie körperlich so sehr anzog. Er musste ungefähr dreißig Jahre alt sein, was ihrem Alter entsprach, aber er war größer als sie – mindestens 1,90 Meter. Und muskulös! Du meine Güte, er sah aus, als könnte er einen ganzen Bus zusammendrücken! Sein langes, helles Haar war verschwitzt und hing ihm glatt bis auf die Schulterblätter herunter, doch Rain wusste, dass es wunderschön sein musste, wenn es sauber war.
Der Gram hatte sein Gesicht mit harten Linien gezeichnet. Seine Nase schien einmal gebrochen gewesen zu sein. Hässliche Narben und purpurfarbene Blutergüsse, alte und neue, prägten das sonnengebräunte Gesicht und die Arme und Beine, wo immer bloße Haut zu sehen war. Am markantesten war eine schreckliche, seit langem verheilte weiße Narbe, die wie eine Zickzacklinie von seinem rechten Auge bis unterhalb des Kinns verlief. Aufwändig gearbeitete breite Armreifen schmückten seine kräftigen Oberarme, halb verdeckt von den Ärmeln seiner Tunika. Sie zeugten von Reichtum oder hohem Stand.
Selik hob die Hand, um sich das nasse Haar aus dem Gesicht zu streichen, und Rain keuchte leise auf, als sie das Wort Rache auf seinem Unterarm las. Die weiß schimmernden, sich deutlich abhebenden Buchstaben mussten vor langer Zeit mit einem scharfen Messer in die Haut geritzt worden sein. Was bedeutete das?
Rains Blick kehrte zu seinem Gesicht zurück. Sein trotz der Narben anziehendes Aussehen nahm sie völlig gefangen, auch wenn sie einräumen musste, dass die modernen Frauen von heute ihn vielleicht als zu ungezähmt und muskulös einstufen würden – als nicht perfekt im herkömmlich-ästhetischen Sinn.
Selik musste ihren prüfenden Blick gespürt haben. Er öffnete träge die Augen, und Rain ahnte die Gefahr, in deren rätselhafter graugrüner Tiefe ertrinken zu können. Auch wenn eine unübersehbare Kälte von ihnen ausging, ein Ausdruck seelenloser Gleichgültigkeit.
»Wer zur Hölle bist du?«
Welch herzliches Willkommen!
Aber zumindest konnte Rain seine Sprache verstehen. Sie hatte schon befürchtet, dass es ihr nicht möglich sein würde, sich mit diesen unkultivierten Menschen zu verständigen. Eigentlich sollte Selik eine Form des mittelalterlichen Englisch sprechen, dachte Rain und runzelte die Stirn. Verdammt, wahrscheinlich tat er das auch, aber Gott – oder wer auch immer der Drahtzieher dieses Fiaskos war –, hatte ihr auf geheimnisvolle Weise die Fähigkeit des Verstehens verliehen. Falls alles nur ein Traum ist, lässt sich das Fehlen der Sprachbarriere leicht erklären, überlegte Rain. Doch wenn es sich wirklich um eine Zeitreise handelte, dann sollte die Sprache im Augenblick die geringste ihrer Sorgen sein.
Sie schüttelte den Kopf, um ihn klar zu bekommen, und beantwortete seine Frage nach ihrem Namen. »Rain. Rain Jordan.«
»Rain? Das bedeutet Regen – was für eine Art Name ist das?«, spottete er verächtlich, während er sie langsam von oben bis unten musterte, sein Blick auf beleidigende Weise von ihrem Kopf zu ihren Zehen und wieder zurück wanderte. »Warum nicht Schnee oder Hagel oder Schlamm?« Und er fügte nach einem kurzen Augenblick geringschätzig hinzu: »Oder Baum?«
Baum! He, wenn ein kleiner Junge, der es nicht besser wusste, sie wegen ihrer Körpergröße beleidigte, so war das die eine Sache. Aber sich so etwas von einem verrückten, bösartigen Wikinger sagen zu lassen, dessen Leben sie gerade gerettet hatte? Auf keinen Fall!
»Du undankbarer Bastard! Ich habe dir gerade das Leben gerettet.« Rain blinzelte, um die Tränen zurückzuhalten.
Selik erhob sich und streckte die Arme aus, um die vom langen Ritt verspannten Glieder zu lockern. »Es ist kein Gefallen gewesen, den du mir damit erwiesen hast, Frau«, erwiderte er ausdruckslos. »Es wäre weitaus besser gewesen, ich wäre gestorben. Dieses Leben hält nichts mehr für mich bereit.«
Rain starrte ihn wütend an; es war ihr jetzt egal, dass er ihre demütigenden Tränen sah. »Wie kannst du dich unterstehen, das Leben so gering zu schätzen? Weißt du überhaupt, wie viele Menschen du heute getötet hast?«
»Nein. Weißt du es vielleicht?«, fragte er gelangweilt und legte das Kettenhemd wieder an. »Hast du sie gezählt?«
Rain spürte das Blut in ihre Wangen schießen. »Nein, aber ich wette, es waren hunderte. Empfindest du denn gar keine Reue über das Gemetzel, das du veranstaltet hast?«
»Nein. Warum sollte ich? Sie haben verdient, was sie bekommen haben, und noch viel mehr.«
»Wie kannst du das sagen? Besonders über diesen Jungen mit dem Banner, den du mit als Letzten umgebracht hast?«
»Ich habe einen Jungen getötet?« Selik neigte fragend den Kopf, offensichtlich versuchte er, sich an den Vorfall zu erinnern. Wie kann jemand einen Menschen töten und sich nicht daran erinnern?, fragte sich Rain traurig. Schließlich schüttelte Selik den Kopf, als sei diese Frage nicht von Bedeutung. »Jeder Angelsachse ist mein Feind, ob Mann oder Knabe. So sagt es die Inschrift auf dem Runenstein, den ich vor langer Zeit errichtet habe und auf dem ich König Athelstan Rache geschworen habe.« Dann sah er Rain argwöhnisch an. »Bist du vielleicht eine von Athelstans Lagerdirnen?«
»Dirne!« Rains Wangen brannten von einer Röte der Entrüstung. »Nein, du Witzbold, ich bin keine Hure – und auch keine Angelsächsin!«
Rain begriff erst jetzt, dass Selik wieder in den Sattel gestiegen war und Anstalten machte, davonzureiten. Ohne sie!
»Warte! Du kannst mich hier nicht zurücklassen!«
Selik zog hochmütig eine Augenbraue hoch, als wollte er fragen: »Was willst du eigentlich von mir?«, und ließ das Pferd wenden. »Ach, kann ich das nicht?«
»Das Pferd gehört mir«, schwindelte sie rasch.
»Lügnerin«, gab er mit einem aufreizenden Grinsen zurück.
»Komm sofort zurück!«
»Nein, ich werde nicht tun, was du willst, Hexe.« Er grinste. »Aber keine Sorge, es werden gewiss andere Hesire vorbeikommen. Vielleicht wird einer von den Soldaten vom Blutrausch der Schlacht überwältigter sein als ich und dir seinen Schutz anbieten. Als Gegenleistung für eine heiße Scheide für sein Mannesschwert.«
Mannesschwert! Rain sträubten sich vor Empörung die Haare. »Du gemeines Schwein! Ich werde für keines Mannes Schwert die Scheide sein – und schon gar nicht für einen verdammten Barbaren wie dich.«
Selik lachte nur. Dabei blitzten seine weißen geraden Zähne auf und bildeten einen scharfen Kontrast zu seiner tief gebräunten Haut.
Der Schrecken über sein bevorstehendes Verschwinden ließ Rain für einen Augenblick wie erstarrt dastehen. Als er sich anschickte, die Lichtung zu verlassen, brach in Rain Panik aus. Eisige Finger der Verzweiflung zerrten an ihrer Gemütsverfassung.
Was sollte sie in dieser fremden Zeit und an diesem fremden Ort ohne Selik als ihrem Leitstern anfangen, mochte er auch noch so abscheulich zu ihr sein? Sie zermarterte sich das Hirn nach einer Lösung – und es gab nur eine Möglichkeit.
»Selik!«, schrie sie dem Entschwindenden verzweifelt hinterher. »Was würde dein alter Freund Thork dazu sagen, dass du seine Tochter so schändlich im Stich lässt?«
Er hielt sofort an.
Rains Herz begann wild zu hämmern, als sich Selik im Sattel umwandte und Rain mit einem Blick aus seinen eisig grauen Augen zu durchbohren schien. Langsam lenkte er das Schlachtross zu ihr zurück, und Rain war versucht, sich umzudrehen und die Flucht zu ergreifen.
Ihre Frage hatte nicht wie erhofft Seliks Beschützerinstinkt geweckt. Er sah ganz im Gegenteil so aus, als wollte er sie töten. Von den geballten Fäusten und den hervorspringenden Muskeln seiner Arme bis zu dem weißen Strich seiner zusammengepressten Lippen war er das Abbild der Wut. In seinen Augen glitzerte Mordlust. Während er nach dem Dolch in seinem Gürtel griff, glitt Selik aus dem Sattel und kam drohend auf sie zu.
Rain wandte sich um und rannte um ihr Leben.
Wütend fluchend, verfolgte Selik die hoch gewachsene Frau in den Wald. Er musste spurten, um sie einzuholen. Beim Blute Christi! Er verschwendete mit diesem lästigen Weibsbild nur seine kostbare Zeit.
»Halt!«
Die etwas zu groß geratene Waldfee reagierte darauf mit dem Loslassen eines Astes, der zurückschwang und Selik ins Gesicht peitschte, während sie schrill dazu lachte. Eine Spur von Hysterie färbte ihr Lachen. Ohne Atem zu schöpfen, schoss sie behände durch das Walddickicht davon. Auf langen Beinen, die ungehörigerweise von Männerhosen bedeckt wurden.
»Du wagst viel, wenn du behauptest, Thork sei dein Vater«, rief er wütend. »Es wird mir eine Lust sein, dir bei lebendigem Leib die Haut abzuziehen, du Lügenhexe.« Als sie nicht antwortete und ihm weiterhin geschickt auswich, drohte er: »Ich werde dir deine verlogene Zunge herausreißen und sie roh verspeisen.«
Bei dieser letzten, lächerlichen Drohung hörte Selik die Frau aufkeuchen und ein Wort ausstoßen, das so ähnlich wie »Barbar« klang. Ein verhaltenes, rätselhaftes Lächeln spielte um seine Lippen. Soso, dieses dumme Weib hielt ihn für einen Barbaren? Ha! Nun, er würde es ihr zeigen.
»Wenn du jetzt stehen bleibst«, versuchte er sie zu überreden, während er näher ging, »wird es ein schneller Tod für dich sein. Vielleicht ein rasches Abschlagen deines Kopfes. Bestehst du jedoch weiterhin auf dieser sinnlosen Jagd, zwingst du mich, deine Qualen zu verlängern.« Das sollte die Fantasie dieser Person zu einigen lebhaften Bildern anregen!
»Geh zur Hölle!«, schrie das unverschämte Frauenzimmer zurück.
Verdammt sei ihre Unverschämtheit! Wusste das dumme Mädchen denn nicht um die Gefahr, die es heraufbeschwor, wenn es seinen Zorn weiterhin anstachelte? Er hatte schon viele Männer aus nichtigerem Anlass getötet.
Selik zog die Stirn kraus. Goldene Augen? Heiliger Thor, wann war ihm die Farbe ihrer Augen aufgefallen? Er schüttelte den Kopf, um das unwillkommene Bild zu vertreiben, und brüllte ihr dann grausam zu: »Und wehe deinen Augen! Vielleicht sollte ich dir auch die Augäpfel herausreißen!«
Die Frau schnaubte vor Abscheu – oder Unglauben –, und es schwang ein weiterer Ast zurück, der Selik dieses Mal in den Magen traf und die Schwertwunde wieder öffnete, die er auf dem Schlachtfeld erlitten hatte.
Jetzt war er richtig wütend.
Aus der Wunde sickerte Blut, und sie brannte wie das Feuer der Hölle – was noch ein Grund war, dieser starrsinnigen Unruhestifterin ihre Unverschämtheit aus dem Leib zu prügeln. Bei Odins Speer! Er vergeudete wertvolle Minuten damit, dieses dumme Geschöpf zu verfolgen, obwohl er eigentlich so viel Distanz wie möglich zwischen sich und seine angelsächsischen Feinde bringen musste.
Zudem gab es noch eine weitere Bedrohung. Selik hatte den Mann erkannt, den er als Letzten getötet hatte –